2.1 Einleitung

Die durch technologische Entwicklungen zunehmend komplexer erscheinende Welt lässt die Beschaffung, Einordnung und Verarbeitung von Informationen immer relevanter werden. Bei der Beurteilung von Informationen ist es nicht nur notwendig, gewisse Fachinhalte in großer Tiefe oder Breite zu verstehen und kritisch zu hinterfragen. Es ist auch nötig abzuwägen, welche Fachinhalte in welcher Breite oder Tiefe erarbeitet werden müssen. Diese Herausforderung wird dadurch erschwert, dass der Umgang mit neuen Technologien und komplexeren Themen sowie mit erweiterten Möglichkeiten der schnellen und umfangreichen Datenerfassung neues oder zusätzliches Wissen erfordert. Diese Tatsachen stellen schon seit geraumer Zeit die „traditionelle“ Sichtweise auf Bildung infrage, allen Menschen über eine initiale grundlegende Ausbildung das Wissen an die Hand zu geben, welches sie in ihrem späteren Leben benötigen. Stattdessen ist es für eine moderne Bildung notwendig, neben dem Erwerb konkreten Fachwissens und einzelner Fähigkeiten und Fertigkeiten auch das Denken über und das eigenständige Erarbeiten von Wissen und Fähigkeiten selbst zu schulen.

Um dieses hohe Ziel zu erreichen, sind viele Fähigkeiten nötig, die gemeinhin als 21st Century Skills oder auch als Future Skills bezeichnet werden (Jang, 2016). Ein besonders relevanter Teilbereich ist das Critical Thinking (im Folgenden mit CT abgekürzt, dt.: kritisches Denken). Neben Fähigkeiten aus dem Bereich der Logik und der Erkenntnisgewinnung spielen beim CT auch das Bewerten und Gewichten von Informationen und Quellen, das begründete Urteilen und das Bewusstmachen möglicher eigener kognitiver Fehlschlüsse eine wesentliche Rolle. Der Begriff bietet damit viele weitere Facetten, Anknüpfungsmöglichkeiten und Zusammenhänge mit anderen Konzepten. Nicht zuletzt wirft diese Vielschichtigkeit auch die Frage nach einer Umsetzung von CT im Unterricht auf. Es ist zwar naheliegend, dass CT prinzipiell in jedem Fach integriert werden kann, die genaue Art und Weise einer Realisierung kann aber durchaus fachspezifisch erfolgen.

Dieser Artikel verfolgt das Ziel, den Begriff CT mit seiner Einbindung in die MINT-Didaktiken zu schärfen. Anhand exemplarischer Lernumgebungen soll aufgezeigt werden, dass und wie CT als kontinuierlicher integraler Bestandteil von MINT-Unterricht der Zukunft verstanden werden kann.

2.2 Theoretische Betrachtung des Begriffes Critical Thinking

Der Begriff „Kritik“ wird in seiner ursprünglichen Bedeutung als „Kunst der Beurteilung“ (Schischkoff, 1978) verstanden, ohne im Vorfeld eine positive oder – wie häufig bei der umgangssprachlichen Verwendung – eine negative Bewertung des behandelten Gegenstandes vorzunehmen. Popper (1997) beschreibt die Methode des kritischen Rationalismus als Errungenschaft der griechischen Antike und als ein Fundament der modernen Naturwissenschaften. Er legt unter anderem dar, inwiefern die damit verbundene Denkweise und die Grundhaltung des „ich kann mich irren, versuche aber, den Irrtum zu erkennen und auszuschalten“, nicht nur den wissenschaftlichen, sondern auch den gesellschaftlichen Fortschritt in offenen Demokratien befördern.

Das in dieser Grundhaltung angewandte „sorgfältige, auf ein Ziel gerichtete Denken“ ("careful thinking directed to a goal"; Hitchcock, 2018) oder „angemessene Denken, das darauf zielt, zu entscheiden, was man für wahr hält oder was zu tun ist“ ("reasonable thinking that is focused on deciding what to believe or do"; Ennis, 1987), wird – auch in diesem Beitrag – als CT bezeichnet. Es stellt dabei auch über hundert Jahre nach der Erwähnung des Konzepts im Bildungskontext durch John Dewey (1909) inzwischen fachübergreifend ein weithin akzeptiertes Bildungsziel dar (z. B. Hitchcock, 2018; OECD, 2019; Rafolt et al., 2019). Der Begriff selbst entzieht sich allerdings durch seine Vielschichtigkeit einer einheitlichen Definition. Diese wird zudem erschwert, da CT zwar domänenspezifisch Anwendung findet, aber selten für ein Fach spezifiziert wird (Rafolt et al., 2019). Vor dem Hintergrund der MINT-Fächer wird CT daher in diesem Beitrag grundlegend im Sinne des ursprünglichen Verständnisses von Dewey (1909) als die Fähigkeit zum sorgfältigen, zielgerichteten, reflektierten Denken verstanden. Dabei lassen sich einzelne Schritte betrachten (z. B. Hitchcock, 2018), welche die Grundlage der Dispositionen und Fähigkeiten von kritisch Denkenden bilden, wie sie zum Beispiel von Ennis (2011; Tab. 2.1) aufgeführt werden. Nach dem Synergiemodell von Rafolt et al. (2019) kommen weitere Aspekte hinzu: Involviertsein mit einem Objekt oder Subjekt, Positionierung, intellektuelle Standards, Selbstregulation, Wissen, Haltung und Motivation, Normen, Werte und Emotionen. Dieses Modell verdeutlicht exemplarisch die Komplexität und Vielschichtigkeit des Konstruktes CT, das unter verschiedenen (fachlichen) Perspektiven betrachtet häufig neue Facetten aufzeigt. Um in dieser Arbeit einen praktikablen ersten Zugang zum CT im MINT-Unterricht aufzuzeigen, wird der Fokus auf den Erwerb und die Weiterentwicklung der Fähigkeiten von kritisch Denkenden als zentrale Komponente des Konstruktes gelegt, auch wenn die anderen von Rafolt et al. (2019) genannten Aspekte nicht zu vernachlässigen sind.

Tab. 2.1 Fähigkeiten des CT (CT Abilities) und Tätigkeiten nach Ennis (2011) in den Lernumgebungen „Ostsee der Zukunft“ (OdZ), „Solaranlagen“ (Solar) und „Evakuierung“ (Ev)

2.3 Relevanz von Critical Thinking im MINT-Bereich

Die hohe Relevanz des Konstruktes CT in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern zeigt sich unter anderem darin, dass sich verschiedene Teilaspekte in den nationalen Bildungsstandards (z. B. KMK, 2005a, b, c) und Rahmenlehrplänen der Länder (z. B. SenBJF, 2015a, b, c) identifizieren lassen. Eine strukturierte Handlungsanweisung für Lehrkräfte in Form eines separaten Curriculums gibt es bisher allerdings weder auf Bundes- noch auf Länderebene und das, obwohl CT international (OECD, 2018; „21st century skills“) und von der EU (EU 2019; „key competencies for lifelong learning“) als eine zentrale zu vermittelnde Fähigkeit des 21. Jahrhunderts aufgefasst wird.

Critical Thinking

Critical Thinking beruht auf einer Haltung, die auf den „Kritischen Rationalismus“ (vgl. Popper, 1997) zurückgeht und damit bis in die Antike zurückverfolgt werden kann. Ennis (2011) beschreibt es als „reasonable and reflective thinking focused on deciding what to believe or to do“. Neben Fähigkeiten aus dem Bereich der Logik und der Erkenntnisgewinnung spielen dabei auch das Bewerten und Gewichten von Informationen und Quellen, das begründete Urteilen und das Bewusstmachen möglicher eigener kognitiver Fehlschlüsse eine Rolle.

Auf die Wichtigkeit eines differenzierten Verständnisses von CT in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern sowohl von Lernenden als auch von Lehrenden verweisen auch Rafolt et al. (2019) und plädieren daher für eine „sensible Implementierung“ von CT in die Lehrpläne und die Lehrkräftebildung, die nicht nur einzelne Aspekte listenartig abfragt, sondern die Lehrenden befähigt, CT ganzheitlich zu vermitteln. Dies setzt eine klare Vorstellung vom Konstrukt CT voraus. Ferner führen Rafolt et al. (2019) als Desiderat eine fachspezifische curriculare Verankerung von CT an. Dies wird beispielhaft an den Fächern Physik und Geschichte mit ihren Unterschieden in der fachkulturellen Auseinandersetzung mit Wissen begründet (Rafolt et al., 2019). Die hierbei beschriebene Diskrepanz ist innerhalb der mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächergruppe allerdings deutlich geringer, sodass ein übergeordnetes Curriculum – analog zu den Bereichen Sprach- und Medienbildung (z. B. SenBJF, 2015d) – sinnvoll erscheint. Eine konkrete Ausschärfung, welchen Beitrag jedes Fach zum Erwerb von Fähigkeiten zum CT liefern kann, steht dazu keinesfalls im Widerspruch; vielmehr würde ein übergeordnetes Curriculum einen Rahmen bilden, um eine umfassende und systematische Förderung von CT in der Schullaufbahn zu ermöglichen.

2.4 Abgrenzung gegen andere Konstrukte

Bei genauerer Betrachtung der von Ennis (2011) dargestellten Fähigkeiten des CT (Tab. 2.1) ist erkennbar, dass diese Überschneidungen mit anderen Kompetenzen (z. B. Experimentieren, Modellieren und fachwissenschaftliches Problemlösen) aufweisen. In diesem Abschnitt werden die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zur Abgrenzung des Konstruktes CT exemplarisch am Beispiel der „Bewertungskompetenz“ und der „Bildung für nachhaltige Entwicklung“ erläutert.

Die Bewertungskompetenz (auch: Beurteilungskompetenz, Urteilskompetenz) stellt einen zentralen Kompetenzbereich in den mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern dar (z. B. KMK, 2020a, b, c). So wird beispielsweise in den Bildungsstandards für den Mittleren Schulabschluss für die naturwissenschaftlichen Fächer argumentiert: Die „naturwissenschaftlich-technische Entwicklung [birgt] auch Risiken, die erkannt, bewertet und beherrscht werden müssen. Hierzu ist Wissen aus den naturwissenschaftlichen Fächern nötig“ (KMK, 2005a, b, c, jeweils S. 6). In den entsprechenden Standards im Fach Geographie wird die Bewertungskompetenz hingegen definiert als die „Fähigkeit, raumbezogene Sachverhalte und Probleme, Informationen in Medien und geographische Erkenntnisse kriterienorientiert … beurteilen zu können“ (DGfG, 2020, S. 9). Dieses Beispiel verdeutlicht die offensichtlichen Überschneidungen mit den unter „Fähigkeiten zum Schlussfolgern“ beschriebenen Kompetenzen von Ennis (2011), insbesondere mit „Wertungen vornehmen und beurteilen“ (s. 8 in Tab. 2.1).

Auch die Bildung für nachhaltige Entwicklung zeigt Überschneidungen mit CT. Das Bundesministerium für Bildung und Forschung versteht sie als „eine Bildung, die Menschen zu zukunftsfähigem Denken und Handeln befähigt. Sie ermöglicht jedem Einzelnen, die Auswirkungen des eigenen Handelns auf die Welt zu verstehen“ (BMBF, 2021). Sie stellt damit die kritische Auseinandersetzung mit den Auswirkungen des eigenen Handelns in den Mittelpunkt. Um diese üblicherweise komplexen Folgen zu verstehen und auf dieser Basis handeln zu können, ist es nötig, externe Quellen heranzuziehen, beobachtbare Folgen zu erkennen sowie diese jeweils zu beurteilen. Eine Überschneidung mit der Teilfähigkeit „Entscheidungsbasis“ (Ennis, 2011) ist erkennbar (s. 4 und 5 in Tab. 2.1). Von der UNESCO wird daher auch CT als eine von acht übergreifenden Schlüsselkompetenzen ("key competencies for sustainability") beschrieben, die zum Erreichen der Ziele für nachhaltige Entwicklung (Sustainable Development Goals) weltweit von Lernenden jeder Altersklasse erlangt werden sollten (UNESCO, 2017).

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, inwieweit CT als weiteres Konstrukt nötig bzw. weiterführend ist, zumal es nicht deutlich von bereits existierenden Konstrukten abgegrenzt werden kann. Dies soll im Folgenden ausgeführt werden. Dabei wird die Ansicht vertreten, dass die angesprochenen Fähigkeiten unabhängige und relevante Teilbereiche des CT darstellen, jedoch stets in Beziehung zum Gesamtkonstrukt CT als übergeordnetem Lernziel betrachtet werden sollten. So wäre beispielsweise denkbar, dass im Bereich der Bildung für nachhaltige Entwicklung ein Themeninhalt (z. B. Plastikmüll im Ozean) repräsentativ aufgearbeitet wird und die Auswirkungen zukünftigen Handelns erkannt und beurteilt werden. Erst vor dem Hintergrund des CT zeigen sich jedoch einige Limitierungen: So sind angemessene Kenntnisse über die Hintergründe des ursächlichen menschlichen Verhaltens notwendig, um Lösungsvorschläge zu identifizieren. Das globale Problem (Plastikmüll im Ozean) kommt durch eine Vielzahl lokaler Entscheidungen (z. B. Plastiktüten) zustande. Das Identifizieren allgemeiner Probleme durch Quellenarbeit ist hier nicht ausreichend. Stattdessen muss zusätzlich auch in konkreten Situationen (z. B. am örtlichen Strand oder Fluss) angemessen abgeleitet werden, wie sich die allgemeinen Probleme an diesem Ort zu dieser Zeit konkret äußern. Dies benötigt angemessene hypothetisierende Denkfähigkeiten und kann aufgrund der Lokalität des Problems in der Regel nicht durch Quellenarbeit und -beurteilung erfolgen. Darüber hinaus sind die bei Ennis (2011) genannten Hilfsfähigkeiten elementar (Tab. 2.1), um identifizierte konkrete Handlungsvorschläge zu bewerben, zu verbreiten und z. B. über einen politischen oder medienwirksamen Prozess in allgemeingültige Regeln umzuwandeln.

Zusammenfassend lässt sich feststellen: CT umfasst Teilfähigkeiten, die in engem Verhältnis zu etablierten Kompetenzen stehen, diese zum Teil enthalten oder erweitern. Diese Teilfähigkeiten strukturieren das Konstrukt. Jedoch ist es nicht ausreichend, eine oder auch alle diese Teilfähigkeiten einzeln zu beherrschen. Stattdessen ist es zusätzlich nötig, die jeweiligen Fähigkeiten vernetzend, situationsgerecht und reflektiert einzusetzen, damit sie CT repräsentieren. Die obigen Überlegungen deuten auch an, dass CT nicht an einen spezifischen Fachinhalt oder eine spezifische fachliche Fragestellung gebunden ist, sondern als Querschnittsthema über verschiedene Themen und Fächer hinweg verstanden werden muss. Sei es bei der Bewertung verschiedener Energiequellen, dem eigenständigen Planen, Durchführen und Auswerten eines naturwissenschaftlichen Experimentes oder etwa der mathematischen Modellierung eines intermodalen Transportnetzes für den Güterverkehr – diese Kontexte geben Lernanlässe, einen oder mehrere Teilfähigkeiten des CT einzuüben. Gegeben, dass CT im (gesellschaftlichen und privaten) Leben jenseits des schulischen Unterrichts in verschiedenen Kontexten erforderlich ist (z. B. Impfdebatte, Datenschutz), sollte diese breite Anwendbarkeit auch im Schulunterricht deutlich werden. Diese Überlegung spricht gegen eine abstrakte, von konkreten Inhalten losgelöste Behandlung von CT und für eine Integration von CT als querschnittliches Lernziel über verschiedene Fächer hinweg. Ähnlich anderer querschnittlicher Bildungsziele (wie Sprachbildung oder naturwissenschaftliche Arbeitsweisen) sollte auch CT in verschiedenen Themen, Fächern und Jahrgangsstufen integraler Bestandteil des Unterrichts sein, um es sukzessive als Denkweise und Haltung bei den Lernenden zu etablieren.

Die „komplexe Umsetzung des Bildungsziels [CT] in realen Lehr-Lernumgebungen“ stellt jedoch eine zentrale Herausforderung dar, da es in diesem Bereich bisher noch wenig Studien gibt (Rafolt et al., 2019, S. 71). Um einen Beitrag zur Klärung der Frage: „Wie … Lernumgebungen zu gestalten [sind], damit Lernende genuine Erfahrung mit [CT] machen können?“ (Rafolt et al., 2019, S. 72), zu leisten, möchten wir im nachfolgenden Praxisteil (vgl. Abschn. 2.5) die Möglichkeit zur Förderung von Teilaspekten von CT exemplarisch an bestehenden Lernumgebungen aufzeigen.

2.5 Praxisanbindung

Die Forderung nach der Verankerung von CT in das schulische Curriculum (s. Abschn. 2.3) führt zu der Frage, wie dies in Anbetracht weiterer Lernziele, zeitlicher Vorgaben und institutioneller Rahmenbedingungen für Lehrkräfte konkret und praktikabel umsetzbar sei. Dazu zeigt die Betrachtung von CT in Relation zu anderen Konstrukten nicht nur Anknüpfungspunkte und Überschneidungen auf, sondern impliziert auch, dass CT ähnlich wie Medienkompetenz oder Sprachkompetenz als ein fächerübergreifendes Konzept zu verstehen ist. Das bedeutet für die Praxis, dass es sich bei CT keineswegs um einen Lerninhalt handelt, der in zusätzlichen Lerneinheiten gefördert werden muss. Der Ansatz dieser Arbeit bzgl. der Frage nach der praktischen Umsetzung ist vielmehr, dass CT durch integrative Ansätze in den fachlichen MINT-Unterricht eingebunden und gefördert werden kann (s. a. Kap. 8 in Band 2). Durch Veränderung des Schwerpunktes von Unterrichtseinheiten und gezielten Fragestellungen können fachliche Inhalte im MINT-Unterricht und Aspekte von CT zusammenspielen und gemeinsam gefördert werden.

Wie diese Einbindung von ausgewählten Aspekten von CT in bestehende Lerngelegenheiten gelingen und so CT im MINT-Unterricht konkret adressiert werden kann, sollen die nachfolgenden Beispiele aus verschiedenen MINT-Fächern verdeutlichen. Die Lernumgebungen sind in der Praxis oder Lehr-Lern-Laboren erprobt und bieten mit ihren verschiedenen zeitlichen Umfängen viele Möglichkeiten. Auch zeigen die Beispiele, dass CT trotz seines prinzipiell hohen theoretischen Anspruchs mit seinen verschiedenen Facetten durchaus ein Lerngegenstand in den verschiedenen, auch unteren Jahrgangsstufen der Sekundarstufe sein kann. Die dargestellten Beispiele sind folglich als individuell erweiterbare Anregungen zu verstehen, CT explizit zum Gegenstand im fachlichen Unterricht zu machen und weniger als detaillierte Anleitung. Tab. 2.1 zeigt, dass alle bis auf zwei Fähigkeiten nach Ennis (2011) in den nur drei ausgewählten Lerngelegenheiten integriert wurden. Eine Orientierung über die verschiedenen Einsatzmöglichkeiten und Schwerpunktsetzungen bietet Tab. 2.2.

Tab. 2.2 Übersicht der Lernumgebungen

2.5.1 Umgebung 1: Evakuierungen

Evakuierungsübungen werden an Schulen regelmäßig durchgeführt und werden im Alltag sowohl von Lernenden als auch Lehrkräften wahrgenommen. Mithilfe dreier Lernumgebungen wird der Nutzen solcher Übungen anhand von Simulationen dargestellt sowie deren Anwendung und Nutzen kritisch hinterfragt. Schulpraktische Realisierungen von Evakuierungsszenarien, auf denen die Lernumgebungen aufsetzen und die als Projektunterricht realisiert wurden, sind in Ruzika et al. (2017) nachzulesen.

Eine erste Station richtet sich an Lernende der 6. und 7. Klasse. Hier wird die Evakuierung eines Klassenzimmers durch einen Zellularautomaten (Ruzika et al., 2019) modelliert. Der Raum wird zunächst auf Papier visualisiert und in Zellen eingeteilt. Im Modell zu evakuierende Personen werden durch Spielfiguren repräsentiert, die nach experimentell ermittelten Regeln zum Ausgang zu bewegen sind (Abb. 2.1). In einer zweiten Station für Lernende der 7. und 8. Klasse werden größere Bereiche simuliert. Dazu wird ein Modell am Computer erstellt und simuliert (Ruzika, 2021). Die Lernenden erstellen einen Zellularautomaten angeleitet durch Arbeitsblätter und führen eine Simulation durch. In einer dritten Station für Lernende der 10. und 11. Klassen wird die Komplexität der Anwendungsbeispiele durch die Einbindung einer Webanwendung weiter erhöht (Greubel et al., 2021). Die flexible Gestaltung der Webanwendung ermöglicht die Variation von Modellparametern, sodass der gewählte Fluchtalgorithmus oder die Bewegungsoptionen angepasst werden müssen. So wird ein Fokus auf die Aspekte der Modellvalidierung und -reflexion gerichtet.

Abb. 2.1
figure 1

Evakuierungssimulation mit Zellularautomaten. Die bunten Figuren werden in einem mit Distanz zum Ziel beschrifteten Gitter platziert. In jeweils zwei Schritten pro Sekunde wandern die Personen zu den Zielpunkten. Die Simulation ist beendet, wenn alle Personen das Ziel erreicht haben (Bild rechts)

Alle drei Lernumgebungen fördern wichtige Aspekte von CT (Tab. 2.1): grundlegende Klärung eines Sachverhalts, Annahme und Integration, Entscheidungsbasis und Schlussfolgerung. Exemplarisch wird nun ein Aspekt näher ausgeführt. Der Aspekt Annahme und Integration wird durch die Tätigkeit „Dispositionen und Fähigkeiten integrieren, um eine Entscheidung zu treffen“ (s. 12 in Tab. 2.1), wie folgt vermittelt: Die Lernenden sollen zur Erstellung des Zellularautomaten einen Maßstab finden, der alle realen Größen bestmöglich abbildet. Dazu messen sie den zu evakuierenden Raum inklusive Gegenstände und Personenradius aus und bestimmen die Schrittgeschwindigkeit der Personen. In der Regel können nicht alle gemessenen Größen durch einen Maßstab genau abgebildet werden, sodass anhand von Diskretisierungsfehlern mögliche Konsequenzen modellbasierter Abweichungen, z. B. Rundungen, reflektiert werden. Dies kann anhand des Parameters der Schrittgeschwindigkeit vergleichsweise einfach erkannt werden, da eine höhere Schrittgeschwindigkeit im Modell eine kürzere Evakuierungszeit bedingt.

2.5.2 Umgebung 2: Aufstellen einer Solaranlage

In einem Lehr-Lern-Labor-Seminar wurde eine Instruktion zum Thema „Solarhaus“ entworfen und mit Lernenden einer 10. Klassenstufe erprobt.Footnote 1 Als zentrale Aufgabe sollen die Lernenden für eine fiktive Familie eine möglichst ertragreiche Solaranlage konzipieren. Dazu wird zum einen experimentell der Einfluss verschiedener Parameter auf die elektrische Leistung einer Solarzelle untersucht. Zum anderen soll eine Problemlösung mithilfe einer Simulation (vgl. Solarrechner der Fa. SMA, https://www.sma.de) gefunden werden, mit der verschiedene Solaranlagen verglichen werden können. Die Lernenden erhalten zunächst die Aufgabe, in Gruppenarbeit drei gegebene Solaranlagen in Bezug auf ihre elektrische Leistung zu ordnen und zu beurteilen. Nach Ennis (2011) kann dies insbesondere den CT-Skills „Argumente analysieren“ (Nutzung von Evidenzen zum Vergleich von Solaranlangen) und „Schlussfolgern“ (abschließende Folgerungen hinsichtlich der Solaranlagen ziehen und die „beste“ auswählen) zugeordnet werden (s. 2 und 7 in Tab. 2.1). Zur Vorbereitung haben die Lernenden u. a. die Einflüsse des Neigungswinkels, der Ausrichtung, der Größe sowie der geographischen Lage einer Solarzelle sowie den Begriff des Wirkungsgrades kennengelernt. Zur Bearbeitung der Aufgabe erhalten die Lernenden Daten verschiedener realer Solaranlagen. Nach diesen einleitenden einfachen Beispielen, in denen die Reihung der Anlagen nach ihrem Ertrag (Leistung) eindeutig ist, können den Lernenden auch Beispiele vorgelegt werden, in denen bestimmte Einflüsse mitunter gegenteilige Wirkungen auf die Leistung der Solarzelle haben, wenn also bspw. die Ausrichtung für ein Präferieren der Solaranlage A, die Fläche für Anlage B und der Wirkungsgrad sowie der Neigungswinkel für Anlage C sprechen. Die jeweiligen Einflüsse müssen von den Lernenden also vergleichend abgeschätzt und bewertet werden. Die Lernenden können Hypothesen aufstellen, diese diskutieren und kritisch bewerten. Nach Ennis (2011) werden hierdurch Kompetenzen wie „klärende/kritische Fragen stellen und beantworten” (Welche Kriterien werden für die Bewertung der Solaranlagen in welchem Maße herangezogen?) und „logisch schlussfolgern und Schlussfolgerungen beurteilen“ (Finden eines abschließenden Urteils im Vergleich der Solaranlagen) gefördert (s. 3 und 6 in Tab. 2.1).

2.5.3 Umgebung 3: Die Ostsee der Zukunft

Die Lernumgebung „Die Ostsee der Zukunft“ (OdZ, https://ostsee-der-zukunft.experience-science.de/start.html, abgerufen am 23.06.2022), die im Rahmen des Leibniz-Campus KiSOC entwickelt wurde,Footnote 2 bietet a) multimediale Informationen über den Lebensraum Ostsee (inkl. verlinkter Quellen) und b) die Möglichkeit, in einer Simulation die Effekte verschiedener Parameter (pH-Wert, Temperatur, Eutrophierung und Salzgehalt) auf die Populationen einer typischen Lebensgemeinschaft sowie wahrscheinliche Auswirkungen auf Wasserqualität, Fischbestand und Tourismus zu untersuchen. Die Simulation basiert auf realen Forschungsdaten des GEOMAR Kiel. Ergänzend werden in einem Schülerlabor Realversuche angeboten, um Experiment und Simulation in Beziehung zu setzen (Abb. 2.2).

Abb. 2.2
figure 2

Zusammenspiel zwischen Simulation („Ostsee der Zukunft“, links) und Experiment (Untersuchung des Einflusses der Wassertemperatur auf die Photosynthese-Rate von Blasentang (Fucus vesiculosus), rechts)

Die Arbeit mit der Simulation kann u. a. das Fokussieren auf eine Frage (s. 1 in Tab. 2.1) fördern. Ein unsystematisches Variieren der Parameter führt nicht zu eindeutigen Ergebnissen bzgl. deren Einfluss auf Wasserqualität, Fischbestand und Tourismus. Fragen wie: "Welche Frage möchtest du untersuchen?", "Woran kannst du mögliche Antworten auf deine Frage ablesen?", "Inwieweit ist die Simulation geeignet, deine Frage zu untersuchen?", halten die Lernenden zu diesem Aspekt kritischen Denkens an und verdeutlichen das systematische Vorgehen in wissenschaftlichen Untersuchungen.

Den Schritt von einem naturwissenschaftlichen Ergebnis zu einem wertenden (politischen) Urteil (s. 8 in Tab. 2.1) können Lehrkräfte z. B. anhand von Aussagen wie: „Die Landwirtschaft zerstört den Tourismus an der Ostsee“, mit Lernenden diskutieren. Simple Wirkketten, die sich dazu beim Explorieren der Parameter in der Simulation ableiten lassen, müssen mithilfe zusätzlicher, bislang nicht berücksichtigter Informationen kritisch hinterfragt werden. Reflexionsfragen wie: "Welche Annahmen liegen der Aussage zugrunde?", "Welche alternativen Annahmen gibt es und wie ändern sie die Aussage?", „Welche Bedeutung haben die verschiedenen Annahmen für deine Aussage?“, verdeutlichen, dass zu einer Problemstellung verschiedene Haltungen und Urteile möglich sind, die auf bestimmten, teils immanenten Prämissen und deren unterschiedlichen Bewertung basieren (s. 10 und 8 in Tab. 2.1).

2.6 Fazit

Die vorangegangenen Beispiele für Lerngelegenheiten verdeutlichen, dass die Förderung von Critical Thinking durch eine Verschiebung des Schwerpunktes und gezielte Fragestellungen an vielen Stellen des MINT-Unterrichts praktikabel integriert werden kann. Die erprobten Beispiele zeigen darüber hinaus die interdisziplinäre Bedeutung des CT als Grundlage domänenspezifischen und -übergreifenden Lernens. So müssen Fragen fokussiert (OdZ), Argumente analysiert (Solar), Beobachtungen gemacht und beurteilt (Ev) und induktive Schlussfolgerungen gezogen (Solar, Ev) sowie Urteile gefällt werden (OdZ): All diese Fähigkeiten stellen Aspekte kritischen Denkens dar (Tab. 2.1, Ennis, 2011). Die Auswertungen experimentell gewonnener oder simulierter Daten müssen kritisch betrachtet und bewertet werden, um fachbezogene sowie überfachliche Kompetenzen zu erwerben – es stehen damit inhaltsbezogene und prozessbezogene Fähigkeiten im Wechselspiel zueinander.

Während es für fachbezogene Kompetenzen in Standards und Lehrplänen für die MINT-Fächer unterschiedliche Systematisierungen gibt, fehlt es bislang an einem schulbezogenen Curriculum zum Critical Thinking. Die drei Lernumgebungen zeigen eine Auswahl von Fähigkeiten des CT, deren Förderung für sich genommen zweifelsohne sinnvoll erscheint. Diese stehen aber (noch) isoliert und ohne einen curricularen Plan, der entsprechende Kompetenzbereiche, deren Beschreibungen und Progressionen systematisch erfasst. Der Ansatz nach Ennis (2011) – auf den sich diese Arbeit stützt – stellt einen ersten Schritt zu einer Systematisierung dar. Neben der curricularen Verankerung von CT im Bildungsprozess ist außerdem mehr schulbezogene empirische Forschung erforderlich. Darauf basierend könnte nicht nur die Verankerung zunehmend systematisiert werden, sondern es können auch gezielt weitere Ansätze und Lerngelegenheiten (weiter-)entwickelt werden, die von Lehrkräften im Unterricht genutzt werden können. Damit einhergehend sollte auch CT in der Lehrkräfteaus- und -fortbildung adressiert werden, um diese zu befähigen, CT eigenständig in ihren Fachunterricht zu integrieren und entsprechende Lerngelegenheiten erkennen und nutzen zu können. Aufgrund der Aktualität des Themas sind zeitnah Schritte zu gehen, um Lernenden zentrale und grundlegende Kompetenzen für das Leben in einer globalen und von Digitalität geprägten Gesellschaft zu vermitteln: Es muss die Zukunft des MINT-Lernens gestaltet werden.