Heute etwas zu lernen, das dabei hilft, die Zukunft zu meistern und adäquat mit den sich dann stellenden Problemen und Herausforderungen umgehen zu können, die sich heute bestenfalls als vage Vorstellungen und Projektionen abzeichnen: Das ist der Anspruch an dem sich Bildung entlang der gesamten Bildungskette messen lassen muss. Das gilt nicht nur für das Lernen in den MINT-Fächern Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik, sondern für jede in die Zukunft gerichtete Bildung. Vielleicht sind aber gerade die MINT-Fächer prädestiniert dafür, in einer vernetzten Zugriffsweise Beiträge zum Umgang mit den sich abzeichnenden Herausforderungen der Zukunft von der Digitalisierung über Fragen einer nachhaltigen Entwicklung bis hin zu einer hoffentlich erreichbaren Weltfriedensordnung zu leisten. In diesem Beitrag werden dazu notwendige erwerbbare Kompetenzen von Lernenden, die häufig unter der Bezeichnung 21st Century Skills adressiert werden, umfassend zusammengestellt und diskutiert. Sie enthalten Aspekte wie Problemlösefähigkeiten, aber auch Zugriffsweisen zur Aneignung eines vertieften Verständnisses im Rahmen der Prozesse der Erkenntnisgewinnung, wie etwa das forschend-entdeckende Lernen. Auf dem Weg zur Entwicklung derartiger Fähigkeiten und Fertigkeiten benötigen sowohl Lernende als auch Lehrende absehbar mehr und mehr digitale Kompetenzen, die hier aus mehreren Perspektiven heraus zusammengestellt werden. Besonders wesentlich für die Weiterentwicklung des Lernens sind Lehrpersonen, die durch ihr professionelles Handeln dafür Sorge tragen, dass sich aus Lernenden zukunftsfähige Persönlichkeiten entwickeln. Doch was sind die zentralen Kompetenzen für solch ein Handeln und welche Lerninhalte werden für die Herausforderungen von morgen benötigt? Um diesem Desiderat zu begegnen, haben wir als Herzstück des vorliegenden Beitrags ein Kompetenzmodell der Zukunft des MINT-Lernens für Lehrende entwickelt, das handlungsleitend für Lehrkräfte und die Unterrichtsentwicklung sein soll. Es setzt auf dem Kompetenzmodell von Blömeke et al. (2015) auf und integriert an entscheidenden Stellen weitere Modelle, wie etwa das TPACK-Modell nach Koehler und Mishra (2008) oder die zwingend notwendige Meta-Reflexion der Lehrenden im Sinne des ALACT-Reflexionsmodells nach Korthagen und Nuijten (2022).

Lehrpersonen müssen sich jetzt und in der Zukunft in verstärktem Maße mit digitalen Technologien und digitalen Werkzeugen auseinandersetzen, um ein Lernen für eine digitale Zukunft zu ermöglichen. Wir adressieren wichtige Fragen in diesem Zusammenhang und scheuen uns nicht davor, Definitionen für wichtige Begriffe anzugeben. Dies ist uns so wichtig, dass wir gemeinsam mit allen in diesem Doppelband versammelten Autorinnen und Autoren ein Glossar erarbeitet haben, um diese Begriffe über beide Bände hinweg einheitlich zu verwenden und zu fundieren. Auf dieser Basis gelingt es auch, Antworten auf die wichtige Frage zu geben, wie (digitale) Lernumgebungen ausgestaltet sein sollten, um lernförderlich zu sein und ein Lernen für die Zukunft zu unterstützen.

Auf diese Weise glauben wir eine Basis gelegt zu haben, auf deren Grundlage die weitere Entwicklung des MINT-Lernens für die Zukunft befördert und beforscht werden kann.

1.1 Worum geht es bei der Zukunft des MINT-Lernens?

Sich mit der „Zukunft des MINT-Lernens“ zu beschäftigen stellt für uns vornehmlich ein Weiterdenken der bereits heute in Ansätzen vorhandenen, aber noch bei Weitem nicht großflächig untersuchten oder gar umgesetzten Möglichkeiten des MINT-Lernens für die Zukunft dar. Dabei müssen aktuelle mathematisch-naturwissenschaftliche Methoden der Erkenntnisgewinnung, laufende gesellschaftliche und kulturelle Entwicklungen sowie vorhandene oder erst aufkommende technologische Möglichkeiten und Innovationen in den Kontext der Wissensvermittlung gesetzt werden, um zu ergründen, wie und womit in den vor uns liegenden Jahrzehnten mathematisch-naturwissenschaftliche Inhalte gelehrt und gelernt werden können oder gar sollten. Dies geschieht vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Übergangs von einer Wissenskultur, die vornehmlich durch gedruckte Bücher geprägt ist (McLuhan, 1962), zu einer auf digitalen Technologien und Inhalten beruhenden Praxis (vgl. z. B. Coy, 1995), welcher gemeinhin unter dem Begriff „Digitalisierung“ subsumiert wird. Niemand wird sich der immer stärkeren Durchdringung der physischen Welt durch die digitale „Infosphäre“ (Floridi, 2017) vollständig entziehen können. Die Dichotomie „online – offline“ zur Beschreibung eines persönlichen Zustands wird immer mehr zu einem „onlife“ (Floridi, 2017), in dem vernetzte Geräte jederzeit Kommunikation ermöglichen und Informationen bereitstellen. Dadurch ergeben sich nicht nur Veränderungen im Umgang mit Wissen, sondern es entsteht eine ganze „Kultur der Digitalität“, die sich vom Privaten über die Arbeitswelt bis ins Politische durch alle Bereiche des Lebens zieht und sich auf diese auswirkt (vgl. Stalder, 2016).

Im Bereich der MINT-Fächer hat dieser Prozess nicht nur das „I“ für Informatik hinzugefügt und zu einem beschleunigten weltweiten Austausch von Forschungsergebnissen und der Vernetzung von Forschenden beigetragen, sondern auch in den „klassischen“ Disziplinen Methoden und ganze Fachbereiche hervorgebracht, die von Klimamodellierung bis zur Systembiologie, Genomik und anderen „…omiks“, von theoretischer Chemie bis zu allen Bereichen der Mathematik nicht (mehr) ohne die Rechenkapazität von Computern auskommen und mit ihrer Hilfe neue Arten wissenschaftlicher Erkenntnisse liefern. Digitale Technologien können aber auch vollkommen neuartige Zugänge zu mathematisch-naturwissenschaftlichen Phänomenen und Lerninhalten bieten und so das MINT-Lernen unterstützen. Darüber hinaus ermöglicht das Internet auch MINT-Lernenden und -Lehrenden jederzeit direkten Zugang zu einer rapide anwachsenden Menge an Informationen und Wissen, die gefunden, bewertet und kritisch eingeordnet werden müssen (vgl. Bergstrom & West, 2020), sowie zu freien Bildungsmedien, die sich zu einer zentralen Komponente der globalen Wissensvermittlung entwickeln (Orr et al., 2015).

Diese Entwicklungen lassen es für angebracht erscheinen, sowohl intensiv darüber nachzudenken, wie das Lernen der Zukunft in Bildungseinrichtungen stattfinden kann, als auch einen Blick darauf zu werfen, was in Unterricht und Lehrkräftebildung gelehrt und gelernt wird. Seit 2018 widmen sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler von fünf Universitätsstandorten im von der Deutschen Telekom Stiftung geförderten Verbundprojekt „Zukunft des MINT-Lernens“ diesen Fragen im Hinblick auf den MINT-Unterricht an Schulen, die Arbeit in Lehr-Lern-Laboren und die Lehrkräftebildung. Sie wurden dabei von einer internationalen Expertengruppe begleitet, die sich aus Mitgliedern der Mediendidaktik, der Lehr-Lern-Forschung, der MINT-Fachdidaktiken sowie Vertreterinnen und Vertretern aus der Schulpraxis zusammensetzt. Die ausgewählten Standorte eint neben der fachdidaktischen Expertise auch die Tatsache, dass sie allesamt außerschulische Lernorte im MINT-Bereich betreiben, diese als Lehr-Lern-Labore in der MINT-Lehrkräftebildung einsetzen und bereits als Verbund Beiträge zu deren theoretisch fundierten und empirisch abgesicherten Weiterentwicklung geleistet haben (Roth & Priemer, 2020). Die vorliegenden Bände bieten nun einen Einblick in die erfolgten Arbeiten zur „Zukunft des MINT-Lernens“, die einen Bogen von der Reflexion des MINT-Unterrichts und der Förderung notwendiger Kompetenzen für das Zeitalter der Digitalität über die Verwendung digitaler Diagnosemethoden bis hin zur Entwicklung und zum Einsatz digitaler Werkzeuge in konkreten Lehr-Lern-Situationen spannen.

In diesem einleitenden Kapitel sollen nun grundlegende Konzepte näher beleuchtet und zentrale Begriffe definiert werden, um einen Rahmen für die in den vorliegenden Bänden dargestellten Aspekte des MINT-Lernens für die Zukunft und die damit verbundenen Fragestellungen zu setzen. Anhand verbreiteter Modelle wird zuerst dargelegt, was der Kompetenzbegriff im Hinblick auf das MINT-Lernen der Zukunft bedeutet, welche Kompetenzen bei Lernenden zu fördern sind, um sie auf das Leben in einer von Digitalität geprägten Gesellschaft vorzubereiten, und welche Auswirkungen dies wiederum auf die benötigten professionellen Kompetenzen von Lehrkräften hat. Zusammengeführt werden diese Überlegungen in Abschn. 1.2.5 in einem “Kompetenzmodell der Zukunft des MINT-Lernens”, das insbesondere auch zur Diskussion der Frage beitragen soll, welche (digitalen) Kompetenzen Lehrende und Lernende entwickeln sollten, um den gesellschaftlichen, beruflichen und privaten Anforderungen im 21. Jahrhundert begegnen zu können. Anschließend werden digitale Technologien und insbesondere deren gezielter didaktischer Einsatz als digitale Werkzeuge thematisiert (Abschn. 1.3). Dabei spielen nicht nur die Möglichkeiten, die digitale Werkzeuge für das Lehren und Lernen bieten können, eine Rolle, sondern auch die Anforderungen, die an diese Werkzeuge gestellt werden sollten. Dies wird nicht zuletzt dann deutlich, wenn digitale Werkzeuge bei der Gestaltung von Lernumgebungen eingesetzt werden (Abschn. 1.4). Neben einem Überblick über generelle Qualitätskriterien für Lernumgebungen werden mithilfe des Begriffs der Instrumental Genesis Kriterien und Ziele digitaler Lernumgebungen ausgeführt und einige der sich durch die Verwendung digitaler Werkzeuge ergebenden Möglichkeiten näher betrachtet. Abschließend erfolgt in Abschn. 1.5 ein inhaltlicher Ausblick auf die insgesamt 23 Beiträge, die in diesem Doppelband versammelt sind und in denen verschiedene in diesem Beitrag diskutierte Konzepte in aktuellen Forschungskontexten untersucht und in konkreten Entwicklungen für die Lehrkräftebildung und den MINT-Unterricht ausgeführt werden.

1.2 Kompetenzen

Grundlage der vorliegenden beiden Bände “Die Zukunft des MINT-Lernens” bildet der mehrdimensionale und anforderungsbezogene Kompetenzbegriff von Weinert (2001), wonach Kompetenz eine latente situationsübergreifende Disposition darstellt. Dieses Modell wurde von Blömeke, Gustafsson und Shavelson (2015) um die Perspektive situationsspezifischer kognitiver Fertigkeiten erweitert, die die Transformation von Kompetenz in Performanz vermitteln (Abb. 1.1). Das Modell unterscheidet damit verschiedene kognitive Qualitäten.

Abb. 1.1
figure 1

(Blömeke, Gustafsson & Shavelson, 2015; translated and used with permission from Zeitschrift für Psychologie, © 2015 Hogrefe Publishing, all rights reserved)

Allgemeines Kompetenzmodell.

In Anlehnung an Shulman (1986) kann die dispositionale kognitive Kompetenzfacette in Fachwissen, fachdidaktisches und allgemeinpädagogisches Wissen ausdifferenziert werden. Kognitionspsychologisch betrachtet handelt es sich vor allem um systematische deklarative Wissensbestände, die während des Studiums erworben werden und die in Praxisphasen mithilfe von Wissenskompilation, -optimierung und -verfeinerung in situationsspezifisch organisiertes prozedurales Wissen überführt werden (Anderson, 1995). Die tatsächliche Umsetzung von mental repräsentierten Handlungsabläufen bezeichnet dann die Performanz (Krapp & Weidenmann, 2006). Wissensnetzwerke und kognitive Schemata können durch praktische Erfahrung sowie geeignete Fördermaßnahmen erweitert, ausgebaut und ausdifferenziert werden (Krapp & Weidenmann, 2006).

Kompetenz

Kompetenz bzw. kompetentes Verhalten fußt nach dem Kompetenzmodell von Blömeke, Gustafsson und Shavelson (2015) auf zugrunde liegenden latenten kognitiven und affektiv-motivationalen Dispositionen sowie situationsspezifischen Fähigkeiten und wird sichtbar in domänenspezifischer Performanz, sprich dem beobachtbaren Verhalten.

Ausgehend von diesem Kompetenzbegriff entwickeln wir im Folgenden ein Kompetenzmodell für Lehrende, das insbesondere auch die Perspektiven der immer stärker in den Vordergrund tretenden Digitalität des Alltags und die Frage der Relevanz für das MINT-Lernen der Zukunft bei Lernenden adressiert. Dazu werden zunächst verschiedene Theoriestränge vorgestellt und anschließend in unserem Kompetenzmodell zusammengeführt.

1.2.1 21st Century Skills für Lernende

Die durch den Prozess der Digitalisierung geänderten und sich stetig weiter ändernden Anforderungen an die von Lernenden zu erwerbenden Kompetenzen, um in einer immer stärker vernetzten globalen Gesellschaft privat und beruflich agieren und gedeihen zu können, werden häufig unter dem Begriff 21st Century Skills subsumiert (z. B. Ananiadou & Claro, 2009; Chu et al., 2017). Bereits 2003 erfolgte durch das DeSeCo-Projekt (Definition and Selection of Competencies) eine Einordnung von Schlüsselkompetenzen in die drei Kategorien:

  • (1) Interagieren in heterogenen Gruppen,

  • (2) autonome Handlungsfähigkeit und

  • (3) interaktive Anwendung von Medien und Mitteln (z. B. Sprache, Technologie; Rychen & Salganik, 2003).

Den Kern der Schlüsselkompetenzen bildet die Fähigkeit zur Reflexivität, die die Anwendung metakognitiver Fähigkeiten und eine kritische Haltung voraussetzt (Rychen & Salganik, 2003). Im von der OECD veröffentlichten Learning Compass 2030 (OECD, 2019) werden die 21st Century Skills in ein allgemeines Rahmenkonzept für die Gestaltung globaler Bildung integriert. Ebenfalls in dieser Entwicklungslinie, wenn auch im Learning Compass nicht explizit erwähnt, steht das 4K-Modell, das als zentrale Zukunftskompetenzen jene zur Kollaboration, Kommunikation, Kreativität und kritischem Denken betrachtet (z. B. Siewert, 2021). Da diese überfachlichen Modelle auch für das MINT-Lernen von Relevanz sind, sollen sie im Folgenden kurz beschrieben werden.

1.2.1.1 OECD Learning Compass 2030

Die Arbeitsgruppe Future of Education and Skills 2030 der OECD, in der Forschende, politische Entscheidungsträgerinnen und Entscheidungsträger, Schulleitungen, Lehrkräfte, Lernende sowie zivilgesellschaftliche Partnerorganisationen aus über 40 Ländern vertreten sind, veröffentlichte 2019 den OECD Learning Compass 2030 (OECD, 2019, seit 2021 auch in einer deutschen Übersetzung vorliegend).

Der Learning Compass unternimmt den Versuch, ein dynamisches Rahmenkonzept für die langfristige Weiterentwicklung des Lernens in der Gesellschaft sowie dessen Reflexion und Umsetzung in Bildungssystemen zu formulieren, ohne dabei auf fachspezifische Details einzugehen. Auf Grundlage einer Extrapolation bestehender Trends und Entwicklungen wie der Digitalisierung werden dabei unter anderem Wissensinhalte, Fähigkeiten, Haltungen und Werte dargelegt, die heutige Lernende benötigen werden, um in der Welt von morgen zu leben und zu gedeihen und diese im Hinblick auf Nachhaltigkeit und kollektives Wohlergehen mitzugestalten. Diese erarbeiten sich Lernende in zunehmender Eigenverantwortung unterstützt durch ihr Umfeld und insbesondere ihre Lehrkräfte. Deren Bedeutung wird von der Arbeitsgruppe nach einer Verlagerung des Fokus vom „Lernen für 2030“ auf das „Lehren für 2030“ derzeit konzeptualisiert, weshalb an dieser Stelle eine Fokussierung auf die im Learning Compass dargelegte Lernendenperspektive erfolgt:

Zentral ist die Feststellung, dass sich Lernpfade in einem vielschichtigen Konstrukt aus Lerngrundlagen, Wissen, Fähigkeiten, Haltungen und Werten individuell unterscheiden und Lernende daher in die Lage versetzt werden sollen, ihren Lernprozess auf verantwortungsbewusste Weise selbstständig zu steuern („student agency“), wobei sie mit ihrem sozialen Umfeld und (im Falle von Lernenden) den Lehrenden interagieren und von diesen unterstützt werden („co-agency“). Dieses Ziel kann im Kontext des MINT-Unterrichts bspw. durch die Konzepte des Problemlösens (vgl. Abschn. 1.2.3), des forschend-entdeckenden Lernens (vgl. Abschn. 1.2.3) und des Critical Thinking (vgl. Kap. 2 in Band 1) verfolgt werden.

Zu den Lerngrundlagen werden im Learning Compass sozial-emotionale, gesundheitliche und kognitive Grundlagen gezählt. Letztere umfassen neben Lese-, Schreib- und Rechenfähigkeiten auch eine auf ihnen aufbauende digitale und datenbezogene Literalität, welche den gezielten Umgang mit digitalen Anwendungen, das Filtern und kritische Bewerten von Informationen sowie die Fähigkeit, Bedeutung aus Informationen abzuleiten und mit diesen zu argumentieren, einschließt. Diese überfachlichen Kompetenzen werden als unerlässlich für Lernprozesse und den Erwerb weiterer Kompetenzen in einer von Digitalität geprägten Gesellschaft erachtet.

In den vorliegenden Bänden finden sich Ansätze zu ihrer Förderung im MINT-Unterricht durch die reflektierte Verwendung digitaler Werkzeuge und die gezielte Beschäftigung der Lernenden mit Datenerhebung und -auswertung. Dabei bleibt der Erwerb von disziplinärem Wissen als wesentliche Verständnisgrundlage auch für interdisziplinäres, epistemisches und prozedurales Wissen erhalten.

Die überfachliche Perspektive und der ganzheitliche Anspruch des Learning Compass wird auch in der Formulierung von Fähigkeiten deutlich, die neben kognitiven und metakognitiven (wie kritisches Denken, Kreativität, Selbstregulierung), praktischen und physischen (wie Umgang mit Technologien, künstlerische Tätigkeiten, Sport) auch soziale und emotionale Fähigkeiten (wie Empathie, Zusammenarbeit, Respekt) beinhalten. Unter der Annahme, dass Computertechnologien in Zukunft mehr und mehr Routine-Aufgaben übernehmen können, sollen diese Fähigkeiten insbesondere zur Bewältigung von Nicht-Routine-Aufgaben und den komplexen Anforderungen des zukünftigen Alltags vorbereiten. Dies gilt es in Zukunft, auch bei der Gestaltung neuer Lerngelegenheiten im MINT-Bereich zu berücksichtigen.

1.2.1.2 4K-Modell

Als eingängige „Zusammenfassung“ der 21st Century Skills erscheint das auf die Non-Profit-Organisation Partnership for 21st Century Learning (2015) zurückgehende 4K-Modell, das als zentrale Kompetenzen jene zur Kollaboration, Kommunikation, Kreativität und kritischem Denken – also vier Begriffe mit „K“ – betrachtet (vgl. Fadel et al., 2017). Aspekte dieser vier Kompetenzen finden sich auch in unterschiedlichen Bereichen des Learning Compass, so zum Beispiel bei den erwähnten metakognitiven Fähigkeiten, wieder. Das Modell mag auf den ersten Blick wie eine pauschale Simplifizierung auf vier Schlagworte wirken, kann aber bei näherer Betrachtung aufgrund der Vielschichtigkeit der vier Kompetenzen bei der Diskussion um die zukünftige Entwicklung von Unterricht von Nutzen sein.

An der PH Zürich wurde beispielsweise ein Studienmodell für angehende Lehrpersonen entwickelt, das sich am 4K-Modell orientiert (Sterel et al., 2018). Muuß-Merholz (2021) beklagt hingegen einen Mangel an konzeptionellen Grundlagen des 4K-Modells im deutschsprachigen Raum. Er sieht darin zwar den Vorteil der Anpassbarkeit des Modells an individuelle Umstände, aber auch eine gewisse „Beliebigkeit der 4Ks“. Um ihre Bedeutung im Hinblick auf konkrete Umsetzungen zu schärfen, müssten sie noch stärker konzeptionell ausgearbeitet und operationalisiert werden (Muuß-Merholz, 2021). Dies wird dadurch erschwert, dass die sehr weit gefassten Kompetenzen in der Praxis teils sehr eng miteinander verwoben sind (vgl. Germaine et al., 2016). So können beispielsweise Kooperation und Kommunikation als zusammengehörig aufgefasst werden (z. B. Soo, 2019) und es existieren Schnittmengen zwischen Kreativität und kritischem Denken (Hitchcock, 2018). Die explizite Implementierung von 21st Century Skills in die MINT-Fächer setzt – ebenso wie die Überlegung, inwiefern diese bereits implizit vermittelt werden – eine Operationalisierung der Kompetenzen voraus, um in Verbindung mit fachlichen Inhalten bei der Gestaltung konkreter MINT-Lernumgebungen Anwendung zu finden. Andersen et al. (Kap. 2 in Band 1) demonstrieren in ihrem Beitrag zum Critical Thinking, wie dies in der Praxis geschehen kann.

1.2.2 Digitale Kompetenz für Lehrende und Lernende

Betrachtet man die Kompetenzen, die im letzten Abschnitt mit Blick auf das MINT-Lernen der Zukunft zusammengetragen wurden, so kann man festhalten, dass insbesondere auch das Zusammenspiel mit digitalen Technologien in jeder Phase des Lehrens und Lernens in der Zukunft eine immer wichtigere Rolle spielen wird. Vor diesem Hintergrund ist es sinnvoll, von digitaler Kompetenz zu sprechen. Eine mögliche Zugangsweise dazu findet sich im Amtsblatt der Europäischen Union:

Digitale Kompetenz

Digitale Kompetenz umfasst die sichere, kritische und verantwortungsvolle Nutzung von und Auseinandersetzung mit digitalen Technologien für die allgemeine und berufliche Bildung, die Arbeit und die Teilhabe an der Gesellschaft. Sie erstreckt sich auf Informations- und Datenkompetenz, Kommunikation und Zusammenarbeit, Medienkompetenz, die Erstellung digitaler Inhalte (einschließlich Programmieren), Sicherheit (einschließlich digitalem Wohlergehen und Kompetenzen in Verbindung mit Cybersicherheit), Urheberrechtsfragen, Problemlösung und kritisches Denken (Rat der Europäischen Union, 2018, S. 9).

Liest man diese Definition, so ist auffällig, wie breitgefächert, das Portfolio der Teilkompetenzen in diesem Konstrukt ist und wie vielfältig die sich daraus ergebenden Aufgaben für alle Bereiche des lebenslangen Lernens entlang der gesamten Bildungskette sind. Auch für die Bildungsforschung beschreibt dies ein weites Tätigkeitsfeld, in dem es erheblicher Anstrengungen in Grundlagen- und angewandter Feldforschung bedarf. Nicht zuletzt muss im Sinne des allgemeinen Kompetenzmodells nach Blömeke, Gustafsson und Shavelson (2015) die digitale Kompetenz nach dafür relevanten Dispositionen, kognitiven Fertigkeiten und Performanz-Aspekten ausdifferenziert werden. Trotz dieses weiten Forschungsfelds, das sich hier eröffnet, kann schon heute festgehalten werden, dass digitale Kompetenz im Bildungsbereich für alle Lehrenden und Lernenden gleichermaßen sowie auf allen Ebenen anzustreben und auszubilden ist.

1.2.3 Problemlösen als Facette des Prozesses der Erkenntnisgewinnung

Zur Erreichung der zukunftsorientierten Bildungsziele der 21st Century Skills gehören neben dem Fachwissen auch Kompetenzen der Erkenntnisgewinnung, die als „komplexer, kognitiver und wissensbasierter Problemlöseprozess“ verstanden werden (Mayer, 2007). Als Teil ihres Professionswissens sollten auch Lehrkräfte über Kompetenzen der Erkenntnisgewinnung verfügen (Lederman & Lederman, 2012). Diesen Anspruch formuliert die Kultusministerkonferenz (KMK, 2019) insbesondere für die erste Phase der Lehrkräftebildung an der Universität für alle Schulformen und Fächer. Problemlösen als eine Möglichkeit, Lernen über Erkenntnisgewinnung anzuregen, hat in allen MINT-Fächern eine Tradition. Im Folgenden wird ausgehend von der Definition eines Problems, der Problemlöseprozess als Teilfacette des Erkenntnisgewinnungsprozesses beleuchtet.

1.2.3.1 Problem

Ein Problem bezeichnet eine Situation, in der eine Person von einem Ausgangszustand zu einem gewünschten Zielzustand kommen soll, wobei zwischen beiden eine Barriere liegt, die verhindert, dass das Ziel direkt erreichbar ist. Ziel ist stets, einen Übergang vom Ausgangszustand zum Ziel zu finden – die Lösung. Dabei können Ausgangs- und Zielzustand, die Barriere(n) sowie die möglichen Operatoren unklar, unbekannt oder unterspezifiziert sein (vgl. Dörner, 1976).

Problem

Ein Problem beschreibt eine Situation, in der eine Person einen angestrebten Zielzustand nicht mithilfe routinierter Denk- oder Handlungsprozesse erreichen kann. Es besteht eine sogenannte Barriere bzw. ein Hindernis für die Erreichung des Ziels (Betsch et al., 2011; Mayer, 2007).

1.2.3.2 Problemlöseprozess

„Problemlösen bedeutet das Beseitigen eines Hindernisses oder das Schließen einer Lücke in einem Handlungsplan durch bewusste kognitive Aktivitäten, die das Erreichen eines beabsichtigten Ziels möglich machen sollen“ (Betsch et al., 2011, S. 138). Beim Lösen von Problemen gibt es eine Vielzahl an Fähigkeiten und Strategien, die das Lösen des Problems vereinfachen oder gar erst ermöglichen.

Mit Bezug auf Polya (1965) wird dem Mathematikunterricht oft die Funktion zugesprochen, Heurismen des Problemlösens zu entwickeln. Bei den experimentellen Fächern bedeutet Problemlösen neben den Arbeitsweisen auch das theoriegeleitete Beobachten als Startpunkt für das Zerlegen des Problems und das Experimentieren zur Überprüfung. Damit werden die Hoffnung und Erwartung verbunden, dass generalisierbare Kompetenzen aufgebaut werden, die auch über die Schule hinaus als Basis für lebenslanges Lernen dienen können. Die verschiedenen Phasen des Problemlösens sind allgemein durch jeweils charakteristische kognitive Aktivitäten gekennzeichnet:

  • Problemidentifikation,

  • Ziel-­ und Situationsanalyse,

  • Planerstellung,

  • Planausführung und

  • Ergebnisbewertung.

Problemlösekompetenz wird als eine der Schlüsselkompetenzen der 21st Century Skills unserer modernen Gesellschaft gehandelt. Durch ihre theoretische Nähe zum Computational Thinking und insbesondere zum algorithmischen Denken wird oft davon ausgegangen, dass Programmiertätigkeiten zu einer verbesserten (digitalen) Problemlösekompetenz führen.

Problemlösen

Als Problemlösen beschreibt man die kognitive Aktivität, die zum Überwinden eines Hindernisses und damit zum erfolgreichen Erreichen des angestrebten Ziels nötig ist (Betsch et al., 2011; Mayer, 2007).

Im Kontext dieser Definition des Problemlösens lässt sich Computational Thinking als Synopse aus verschiedenen Argumentationssträngen verstehen. Wichtig hervorzuheben ist einerseits, dass beim Computational Thinking eine Person sich eines realweltlichen Problems annimmt und dieses mithilfe von Algorithmen und weiteren Problemlösestrategien, die dem Computational Thinking inhärent sind, bearbeitet. Dabei ist zunächst nicht entscheidend, ob ein Computer bei diesem Prozess involviert ist oder nicht (Wing, 2006). Vielmehr ist das Computational Thinking eine Art des Denkens (Knöß, 1989, S. 121), die dazu genutzt wird, Probleme zu lösen. Innerhalb des Computational Thinking lassen sich mehrere Teilkomponenten identifizieren, die sich nach Autor und Jahr unterscheiden und unterschiedlich breit ausdifferenziert werden. Während bei Hsu et al. (2018) 19 verschiedene Komponenten im Rahmen eines Reviews zusammengetragen werden, fokussieren Angeli et al. (2016) auf fünf Komponenten, die Problemlöseprozesse im Allgemeinen kennzeichnen: (1) Abstrahieren, (2) Generalisieren, (3) Dekomposition/Zerlegen in Teilprobleme, (4) algorithmisches Denken mit den Unterkategorien Sequenzieren von Algorithmen und Kontrollfluss und (5) Debugging/Umgang mit Fehlern (vgl. Weber et al., 2021).

Im Folgenden wird in diesem Kontext das forschend-entdeckende Lernen fokussiert, welches den Lernenden neben Fachwissen auch Denk- und Arbeitsweisen vermittelt, die typisch für den MINT-Bereich sind, z. B. Erkenntnisgewinnung und Problemlösen. Durch ein hohes Maß an eigener Aktivität und Handlungsorientierung steigen die Problemlösungskompetenz der Lernenden und das vernetzte Denken.

1.2.3.3 Forschend-entdeckendes Lernen

Nach Huber (2009, S. 11) zeichnet forschend-entdeckendes Lernen, welches im englischsprachigen und internationalen Bildungskontext unter dem Begriff Inquiry-based Learning weitverbreitet ist, sich vor anderen Lernformen dadurch aus, dass die Lernenden den Prozess eines Forschungsvorhabens, das auf die Gewinnung von auch für Dritte interessanten Erkenntnissen gerichtet ist, in seinen wesentlichen Phasen (vgl. Pedaste et al., 2015) – von der Entwicklung der Fragen und Hypothesen über die Wahl und Ausführung der Methoden bis zur Prüfung und Darstellung der Ergebnisse in selbstständiger Arbeit oder in aktiver Mitarbeit in einem übergreifenden Projekt – (mit-)gestalten, erfahren und reflektieren.

Zentrale Charakteristika des forschend-entdeckenden Lernens sind die Partizipation an der Forschung, die Selbstständigkeit beim Forschen(-lernen), die Reflexion sowie ein Theoriebezug und ein inhaltliches Erkenntnisinteresse. „Das Wichtigste am Prinzip des Forschend-entdeckenden Lernens ist die kognitive, emotionale und soziale Erfahrung des ganzen Bogens, der sich von der Neugier oder dem Ausgangsinteresse aus, von den Fragen und Strukturierungsaufgaben des Anfangs über die Höhen und Tiefen des Prozesses, Glücksgefühle und Ungewissheiten, bis zur selbst (mit-)gefundenen Erkenntnis oder Problemlösung und deren Mitteilung spannt“ (Huber, 2009, S. 12). Unter dem Begriff Inquiry hat Dewey (1910), neben Fachwissen, Wissen über den Erkenntnisprozess als Teil naturwissenschaftlicher Bildung gefordert. Die Erkenntnisgewinnung wird dabei nach Mayer (2007) als relativ komplexer, kognitiver und wissensbasierter Problemlöseprozess verstanden.

Von der Kultusministerkonferenz wurde der Bereich der Erkenntnisgewinnung als einer der Kompetenzbereiche für den naturwissenschaftlichen Unterricht definiert. Der Weg der Erkenntnisgewinnung in den Naturwissenschaften erfolgt über grundlegende Methoden der Naturwissenschaften (Beobachten, Vergleichen, Experimentieren), die der Logik des hypothetisch-deduktiven Vorgehens folgen. Empirische Untersuchungen im Sinne eines hypothetisch-deduktiven Vorgehens leisten einen wesentlichen Beitrag zum Erkenntnisprozess der Lernenden (Mayer, 2013).

Forschend-entdeckendes Lernen

Forschend-entdeckendes Lernen bezeichnet Vermittlungsansätze, bei denen im Kontext eigenständiger wissenschaftlicher Untersuchungen fachliche Inhalte erarbeitet und zugleich experimentelle Kompetenzen aufgebaut werden (Abrams et al., 2008). Diese lernendenzentrierten Ansätze werden als förderlich für die Entwicklung komplexer kognitiver Fähigkeiten, wie z. B. Problemlösen, angesehen. Im englischsprachigen und internationalen Bildungskontext sind sie unter dem Begriff Inquiry-based Learning weitverbreitet (Abrams et al., 2008).

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Fähigkeiten im 21. Jahrhundert vor allem durch das offene Herangehen zum Lösen von Problemen gekennzeichnet sind. Inzwischen prüfen die PISA-Tests neben den drei Hauptbereichen Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften auch typische 21st Century Skills wie kollaboratives Problemlösen (OECD, 2016) oder globale Kompetenz. Die Bedeutung dieser Kompetenzen wird untermauert durch den Wegfall von physischen und kognitiven Routinearbeiten auf dem Arbeitsmarkt aufgrund der Digitalisierung. Im Weiteren erfordern die Arbeitstätigkeiten zunehmend die Fähigkeiten, Probleme zu lösen, Wissen zu organisieren und zu kooperieren. Ebenso werden wir im Alltag mit einer enormen Menge an verfügbaren Informationen, Fakten und Meinungen konfrontiert, mit denen wir lernen müssen umzugehen. Schülerinnen und Schüler sollen relevante und vertrauenswürdige Quellen erkennen, (multimediale) Informationen verstehen, das Gelesene für eigene Zwecke verarbeiten und die so gewonnenen Erkenntnisse teilen können. Die zentrale Frage in diesem Kontext lautet, wie Lehrkräfte Lernende an selbstgesteuertes Forschen und Problemlösen heranführen können, worauf im folgenden Abschn. 1.2.4 eingegangen wird.

1.2.4 Professionelle Kompetenzen für Lehrende

Um Lernende beim MINT-Lernen jetzt und in Zukunft zielführend unterstützen zu können, benötigen Lehrkräfte eine ganze Reihe von Kompetenzen, die auf ihr jeweiliges Professionswissen aufsetzen. Im Folgenden wird zunächst das TPACK-Modell als Ordnungsrahmen für das Professionswissen von Lehrkräften vorgestellt und kritisch reflektiert, bevor mit dem europäischen Referenzrahmen für die digitale Kompetenz von Lehrenden (DigCompEdu) ein ganzes Kompetenzspektrum aufgezeigt wird, in dem sich Lehrkräfte bewegen und weiterentwickeln, um MINT-Lernen für die Zukunft ermöglichen und ausgestalten zu können. Diese Weiterentwicklung setzt dabei notwendigerweise auch die Reflexion des individuellen professionellen Handelns voraus. Anhand des ALACT-Modells wird aufgezeigt, wie ein solcher Reflexionsprozess idealtypisch abläuft und zu einer iterativen Weiterentwicklung der professionellen Kompetenzen führen kann.

1.2.4.1 TPACK-Modell

In der folgenden Definition wird das TPACK-Modell von Mishra und Koehler (2006) zunächst knapp zusammengefasst und in Abb. 1.2 ein Überblick über die Komponenten dieses Ordnungsrahmens für das Professionswissen von Lehrkräften gegeben.

Abb. 1.2
figure 2

TPACK-Modell

TPACK -Modell

Das TPACK-Modell („technological pedagogical content knowledge“) von Mishra und Koehler (2006) ist ein Ordnungsrahmen für das seitens einer Lehrkraft benötigte Professionswissen, um digitale Technologien lernzielorientiert, effizient und didaktisch begründet in den Unterricht zu integrieren. Das Modell basiert auf einer Ergänzung des Professionswissens nach Shulman (1986) um das technologische Wissen (TK) und die drei dadurch resultierenden Schnittmengen mit pädagogischem (PK), fachlichem (CK) und fachdidaktischem (PCK) Wissen. Anstelle einer Fokussierung auf rein technologisches Wissen, gehen die Autoren davon aus, dass alle drei Wissensbereiche (PK, CK, TK) in Verbindung gebracht werden müssen, um zielgerichtetes Lernen mit digitalen Technologien zu ermöglichen (TPACK).

Das technologische Wissen (TK) umfasst nach Mishra und Koehler (2006) das technische Wissen über die Anwendung der vorhandenen bzw. sich neu entwickelnden digitalen Technologien wie Software, Hardware und die Kombination aus beidem. Das technologische Inhaltswissen (TCK) ist das Wissen darüber, wie Technologie und Fachwissen sich gegenseitig beeinflussen. Dazu gehört auch das Wissen über technische Hilfen zur Darstellung von Fachwissen (z. B. die Darstellung von Funktionen mit dem dynamischen Mathematik-System GeoGebra). Beim technologisch-pädagogischen Wissen (TPK) geht es um die Auswirkung des Einsatzes von Technologien auf Lehr-Lern-Prozesse.

Aus fachdidaktischer Sicht ist insbesondere das technologisch-pädagogische Inhaltswissen (TPACK) interessant: TPACK bezieht sich auf das fachdidaktische Wissen zum Einsatz von Technologien beim Erarbeiten fachlicher Inhalte. Es handelt sich dabei um eine Synthese aller oben genannten Wissensbereiche und ist als professionelles Wissen notwendig zur Bewältigung komplexer Unterrichtssituationen. TPACK zeigt sich daran, dass eine Lehrkraft Wissen aus verschiedenen Domänen flexibel aktivieren und diese Wissensdomänen untereinander sowie zum Kontext in Beziehung setzen kann (Koehler & Mishra, 2008, S. 66).

Das TPACK-Modell wird auch deshalb häufig zitiert, weil es verdeutlicht, dass eine ausschließliche Fokussierung auf technologisches Wissen oder Wissen zur Bedienung digitaler Technologien nicht ausreicht, um diese adäquat im Unterricht einsetzen zu können. Das TPACK-Modell ist, wie viele andere Modelle auch, nicht dazu geeignet, die Frage zu beantworten, ob ein und ggf. welcher Einsatz digitaler Technologien für das Erreichen eines Unterrichtsziels adäquat ist.

Die Planung von MINT-Unterricht sollte immer von der Frage ausgehen, welche Inhaltsziele erreicht werden und welche fachlichen Kompetenzen die Lernenden weiterentwickeln sollen. Die Basis einer Planung von MINT-Unterricht bilden also genuin fachdidaktische Fragestellungen, die fachdidaktisches Wissen erfordern. Im Anschluss daran ist die Frage zu klären, wie das Ziel für diese Lerngruppe bestmöglich erreicht werden kann, was die Berücksichtigung der Interdependenz zwischen Medienwahl, Inhalten und Voraussetzungen erfordert (Petko, 2014). Dies legt eine Hierarchie in den TPACK-Wissensdomänen nahe, deren Ausgangspunkt das fachdidaktische Wissen bildet. Einen ähnlichen Ansatz zur Sequenzierung des TPACK-Modells wählen Hammond und Manfra (2009, S. 163).

Durch die gleiche Größe der Komponenten des TPACK-Modells wird eine gleiche Gewichtung aller Wissensdomänen suggeriert, die – zumindest bzgl. der Reihenfolge – nicht mit dem hier beschriebenen Ansatz zur Unterrichtsplanung in Einklang zu bringen ist. Da die Gefahr besteht, dass digitale Technologien Lernende überfordern (van Merrienboer et al., 2003), sollten diese nur eingesetzt werden, wenn die Arbeit mit ihnen lernzieldienlich ist. Darüber hinaus sollte die Arbeit mit digitalen Technologien angeleitet und begleitet werden (Smetana & Bell, 2012, S. 1358). Folglich ist die Fähigkeit zur begründeten Entscheidung für oder gegen den Einsatz digitaler Technologien und ggf. zu dessen Rahmung in Form von Lernumgebungen wesentlicher Bestandteil des benötigten Professionswissens für Lehrkräfte.

Aus empirischer Sicht erscheint das TPACK-Modell problematisch. Das Hauptproblem liegt in der bisher fehlenden Validität und Reliabilität von Messinstrumenten (Drummond & Sweeney, 2017). Eine grundlegende Problematik der meisten Studien besteht darin, dass die Daten nur auf einer Selbstauskunft der Probanden basieren. Zum anderen werden die Selbsteinschätzungen, im Widerspruch zum TPACK-Modell, das damit untersucht werden soll, häufig ohne fachlichen Bezug abgefragt (Drummond & Sweeney, 2017). Hier eröffnen sich vielfältige Forschungsdesiderate.

Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass der Einsatz digitaler Technologien primär dem Erreichen von fachlichen Inhalts- oder Prozesszielen dienen soll. Erst wenn sich Lehrende auf der Basis ihres fachdidaktischen Wissens für oder gegen den Einsatz digitaler Technologien entschieden haben, benötigen sie für das weitere Vorgehen eine Form von TPACK (vgl. die Metastudie Smetana & Bell, 2012, S. 1359).

1.2.4.2 Rahmen für die digitale Kompetenz von Lehrenden (DigCompEdu)

Um das Potenzial digitaler Technologien für das Lehren und Lernen ausschöpfen zu können, benötigen Lehrende nicht nur Wissen, wie es etwa im TPACK-Modell dargestellt wird, sondern auch ein breites Spektrum an Kompetenzen. Einen Versuch der Zusammenschau dieser Kompetenzen stellt der europäische Referenzrahmen für die digitale Kompetenz von Lehrenden (DigCompEdu) dar (Redecker, 2017).

DigCompEdu

Der europäische Rahmen für die digitale Kompetenz von Lehrenden (DigCompEdu) beschreibt in sechs Bereichen die professionsspezifischen Kompetenzen, über die Lehrende zum Umgang mit digitalen Technologien verfügen sollten. Die Bereiche umfassen die Nutzung digitaler Technologien im beruflichen Umfeld (z. B. zur Zusammenarbeit mit anderen Lehrenden) und die Förderung der digitalen Kompetenz der Lernenden. Kern des DigCompEdu-Rahmens bildet der gezielte Einsatz digitaler Technologien zur Vorbereitung, Durchführung und Nachbereitung von Unterricht (Redecker, 2017).

Wie der Definition des DigCompEdu-Rahmens zu entnehmen ist, zielt er im Kern auf Fragen, die sich bei der Vor- und Nachbereitung sowie Durchführung von Unterricht mithilfe digitaler Technologien ergeben. Auch hier wird deutlich, dass für einen gelingenden Einsatz von digitalen Technologien im MINT-Unterricht ein ganzes Kompetenzportfolio bei Lehrkräften erforderlich ist. In ihrem Beitrag (Kap. 3 in Band 1) gehen Ghomi et al. ausführlicher auf die Kompetenzbereiche des Modells ein.

Eine Gegenüberstellung des DigCompEdu-Rahmens und des international häufig zitierten TPACK-Modells von Mishra und Koehler (2006) zeigt, dass das DigCompEdu-Modell im Gegensatz zum TPACK-Modell nicht den Anspruch erhebt, das gesamte Professionswissen von Lehrkräften zu beschreiben. Der Fokus des DigCompEdu-Modells mit seinen 22 Kompetenzen und jeweils sechs Kompetenzstufen stellt eine detaillierte Erweiterung des Professionswissens dar, ohne diese weiteren Bereiche näher zu beschreiben (vgl. Ghomi et al., 2020). TPACK hingegen wurde durch Hinzufügen des technischen Wissens (TK) zu Shulmans PCK-Modell entwickelt, welches das Professionswissen von Lehrkräften mit den drei Bereichen des Fachwissens (CK), des pädagogischen Wissens (PK) und des pädagogischen Fachwissens (PCK) darstellt (vgl. Mishra & Koehler, 2006; Shulman, 1986).

Reflexionskompetenz

Die Entwicklung professioneller Kompetenzen – nicht nur von Lehrkräften – ist wesentlich davon geprägt, eigenes (Unterrichts-)Handeln zu reflektieren und mit den (Lern-)Ergebnissen (der Lernenden) abzugleichen. Diese reflektierende Haltung wird mit Blick auf einen Unterricht, der MINT-Lernen für eine durch technologisch-gesellschaftlichen Wandel geprägte Zukunft organisieren will, vermutlich noch wichtiger. Was macht Reflexion aber aus? Für Dewey (1909) konstituiert sich Reflexion im bewussten Nachdenken über eine Unsicherheit mit dem Ziel, diese aufzulösen. Für den Unterricht kann dies etwa bedeuten, dass Lehrkräfte alternative Handlungsoptionen erkunden, wenn sie Lernschwierigkeiten bei Schülerinnen und Schülern feststellen, Handlungsoptionen in ihr präferiertes Handlungsrepertoire aufnehmen, wenn diese zu erfolgreichen Lernprozessen bei Lernenden führen, oder auch die eigene Haltung gegenüber einer Lerngruppe, einem bestimmten Unterrichtsinhalt oder einer Methode erfahrungsbasiert überdenken. Diese Reflexion kann sowohl während der Handlung stattfinden als auch nach der Unterrichtssituation gezielt initiiert werden (Schön, 1983). Dabei geht ein Reflexionsprozess nach Korthagen und Nuijten (2022) immer von einer zu reflektierenden Handlung aus und führt im Idealfall zu einer optimierten Handlung. Sie betonen die große Bedeutung, die der Reflexion in allen Phasen der Lehrkräftebildung zukommt, gerade auch mit Blick auf die enge Verzahnung zwischen der Reflexion und dem (adäquaten) Unterrichtshandeln der Lehrperson. In Abb. 1.3 wird das sogenannte ALACT-Modell („Action (experience), Looking back on the experience, Awareness of essential aspects, Creating alternative methods of action and making a choice, Trial“) des Reflexionsprozesses dargestellt (vgl. Korthagen & Nuijten, 2022, S. 6), das insbesondere bei der Reflexion von Unterrichtsprozessen hilfreich sein kann.

Abb. 1.3
figure 3

ALACT-Reflexionsmodell

In diesem Reflexionsmodell startet die Reflexion mit (1) einer Handlung, an der man Erfahrungen sammelt, gefolgt von (2) einer Rückschau auf die gemachten Erfahrungen, in der es zunächst um eine Wahrnehmung und ggf. Beschreibung dieser Erfahrungen geht. Erst im darauffolgenden Schritt (3) macht man sich die wesentlichen Aspekte der gesammelten Erfahrungen bewusst und gleicht sie mit Theoriewissen ab. Hier finden im Reflexionsprozess die eigentliche Theorie-Praxis-Verzahnung sowie die theoriegestützte Deutung der gewonnenen Erfahrungen statt. Es werden idealerweise wesentliche Aspekte der handelnden Personen (Lehrkraft, Lernende), des Inhalts (inhaltsspezifische Strukturen, methodische Vorgehensweisen, …), der eingesetzten (digitalen) Unterrichtsmaterialien sowie des Lehr-Lern-Prozesses theoriegestützt berücksichtigt und analysiert. Auch die Auswahl, welche Aspekte als “wesentlich” betrachtet werden, kann Ansatzpunkt der Reflexion sein. Darauf aufbauend werden (4) Handlungsalternativen für den Unterricht identifiziert sowie eine Entscheidung bzgl. der konkreten umzusetzenden Handlung(en) getroffen, die (5) im letzten Schritt erprobt, also in Unterrichtshandeln umgesetzt werden. Diese Erprobung stellt eine Handlung dar, die Erfahrungen verursacht, welche Ausgangspunkt für einen neuen Reflexionszyklus sein können. Systematisch Reflexionsprozesse im Sinne des ALACT-Modells bewusst und motiviert initiieren sowie umsetzen zu können und zu wollen, um so das eigene Unterrichtshandeln beständig (weiter) zu entwickeln, konstituiert insgesamt professionelle Reflexionskompetenz.

1.2.5 Kompetenzmodell der Zukunft des MINT-Lernens für Lehrende

Im letzten Abschnitt wurde deutlich, dass Lehrende zur adäquaten Adressierung und Begleitung des MINT-Lernens für die Zukunft über eine vernetztes Bündel von Kompetenzen verfügen sollten, das die Performanz der Lernenden in den Blick nimmt und die Fähigkeit zur regelmäßigen Meta-Reflexion zu allen wesentlichen Facetten der Lehrperson und des Lehr-Lern-Prozesses umfasst. Vor diesem Hintergrund haben wir ein Kompetenzmodell für Lehrende entwickelt, das wichtige Aspekte dieser Kompetenzen vernetzt darstellt (Abb. 1.4). Es verzahnt dabei insbesondere das Kompetenzmodell von Blömeke, Gustafsson und Shavelson (2015) mit dem TPACK-Modell von Köhler und Mishra (2009), den 21st Century Skills der OECD (2019) sowie dem ALACT-Reflexionsmodell nach Korthagen und Nuijten (2022).

Abb. 1.4
figure 4

Kompetenzmodell für Lehrende mit Blick auf die Zukunft des MINT-Lernens

1.2.5.1 Professionelle Kompetenz von Lehrenden

Gemäß dem Kompetenzmodell von Blömeke, Gustafsson und Shavelson (2015) kann die professionelle Kompetenz von Lehrenden als Kontinuum gedacht werden, das beginnend bei deren individuellen Dispositionen, angereichert durch situationsspezifische Fertigkeiten schließlich in beobachtbarem Verhalten resultiert. Diese Aspekte der professionellen Kompetenz der Lehrenden werden in Abb. 1.4 im inneren, am linken Rand mit „Lehrende“ beschrifteten, in abgestuften Blautönen gestalteten abgerundeten Rechteck dargestellt. Im Rechteck wird über die angedeutete Pfeilrichtung von links nach rechts der Wirkmechanismus von Dispositionen über situationsspezifische Fertigkeiten zur beobachtbaren Performanz visualisiert. Diese Wirkrichtung setzt sich fort in dem Pfeil, der sich von der Performanz der Lehrenden hin zur Performanz der Lernenden (im roten abgerundeten Rechteck) erstreckt. Er symbolisiert die direkte oder zumindest mittelbare Auswirkung der professionellen Kompetenzen der Lehrenden und des daraus erwachsenden Unterrichtshandelns auf den in der Performanz der Lernenden zum Ausdruck kommenden Kompetenzerwerb im Lehr-Lern-Prozess.

Grundlegend für die professionelle Kompetenz von Lehrenden sind deren individuelle Dispositionen, die wiederum in affektiv-motivationale und kognitive Dispositionen unterteilt werden können. Bei den affektiv-motivationalen Dispositionen handelt es sich bspw. um Einstellungen zum Fach, zum Lehrberuf oder zu den Lernenden, um Selbstwirksamkeitserwartungen und vieles mehr. Die kognitiven Dispositionen setzen sich mit Blick auf die professionellen Kompetenzen von Lehrenden im Zeitalter der Digitalisierung in unserem Modell aus den Professionswissenselementen des oben vorgestellten TPACK-Modells von Mishra und Koehler (2006) zusammen.

Diese Dispositionen sind wichtige Prädiktoren für die darauf aufbauenden situationsspezifischen Fertigkeiten, die wiederum wesentliche Voraussetzungen für die Performanz der Lehrenden, also ihr (adäquates) Unterrichtshandeln, sind. Die situationsspezifischen Fertigkeiten setzen sich aus den für eine zielgerichtete Diagnose von Lernprozessen notwendigen Komponenten Wahrnehmung, Interpretation und darauf abgestimmte Handlungsplanung zusammen, die wechselseitig ineinandergreifen. Letzteres wird in Abb. 1.4 durch die gezackten Trennlinien zwischen den entsprechenden Teilfeldern des weißen Rechtecks verdeutlicht, die auch als Pfeile nach oben und unten, also in beide Richtungen, gedeutet werden können. Schließlich ist die Performanz der Lehrenden ihr beobachtbares Verhalten, das sich in der Planung, Durchführung und Bewertung des Unterrichts manifestiert. Diese Resultate des Lehrendenhandelns bauen jeweils aufeinander auf, was durch die angedeutete Pfeilrichtung von oben nach unten innerhalb des entsprechenden weißen Rechtecks dargestellt wird.

Alle bisher genannten Aspekte der professionellen Kompetenz von Lehrkräften wirken sich, vermittelt durch das Unterrichtshandeln der Lehrenden, auf die Kompetenz der Lernenden aus, die wiederum über deren Performanz, also das beobachtbare Verhalten, von Lehrenden erfasst werden kann. Dies wird in Abb. 1.4 durch den aus dem blauen Rechteck der Lehrendenkompetenz hervorgehenden blauen Pfeil repräsentiert, der in das rote Rechteck, das für die Performanz der Lernenden steht, hineinreicht.

1.2.5.2 Über die Performanz erfassbare Kompetenzen von Lernenden

Als Zielebene für die Kompetenzen der Lernenden, deren beobachtbarer Teil die Performanz darstellt, gelten die sogenannten 21st Century Skills, also Wissen und Fertigkeiten, die für die persönliche Weiterentwicklung und das erfolgreiche Navigieren in verschiedensten gesellschaftlichen Kontexten im 21. Jahrhundert benötigt werden. Als gezielt zu fördernder Bestandteil sind sie in Abb. 1.4 in einem weißen Rechteck dargestellt, in welchem sich ein rotes Sechseck mit den weiter oben bereits beschriebenen „4K“, nämlich kritisches Denken, Kommunikation, Kreativität und Kollaboration, als weitgefasste Kompetenzbereiche der 21st Century Skills befindet. Die Tatsache, dass das rote Sechseck mehr als vier Ecken hat, soll verdeutlichen, dass sich die 21st Century Skills weder in diesen vier Aspekten erschöpfen noch vollkommen trennscharf zueinander sind. Im Zentrum des Sechsecks finden sich Inhaltskompetenzen, die die Grundlage für die Anwendung der „4K“ bilden und für deren fach(bereichs)spezifische Ausformung essenziell sind. So gilt etwa ein grundlegendes Verständnis für die graphische Darstellung funktionaler Zusammenhänge als notwendig, um kritisches Denken auf visualisierte Daten anwenden zu können. Inhaltskompetenzen und 21st Century Skills sind wechselseitig aufeinander angewiesen und eng miteinander verzahnt.

Das in der Performanz der Lernenden zum Ausdruck kommende (Zwischen-)Ergebnis der Förderung von Kompetenzen ist einerseits das Ziel jeglichen Unterrichtshandelns von Lehrenden, andererseits auch Objekt der Diagnose der Lehrenden. Da diese Diagnose und die anschließende Reflexion nur an den beobachtbaren Handlungen der Lernenden ansetzen kann, weil sich anderes dem analysierenden Zugriff der Lehrenden in der Regel entzieht, sind weitere Dimensionen der Kompetenz von Lernenden, wie beispielsweise deren affektiv-motivationale Dispositionen, im Modell nicht abgebildet.

1.2.5.3 Meta-Reflexion der Lehrenden

Unerlässlich für die individuelle Weiterentwicklung der professionellen Kompetenz der Lehrenden und des von ihnen organisierten Unterrichts ist, wie Korthagen und Nuijten (2022) betonen, eine umfassende Reflexion der Resultate der beim Unterrichten stattfindenden Prozesse und ihrer Ursachen. Das oben erläuterte ALACT-Reflexionsmodell (vgl. Korthagen & Nuijten, 2022, S. 6; Abb. 1.3) mit seinem fünfschrittigen Reflexionskreislauf wird in unserem Modell in Abb. 1.4 im äußeren abgerundeten Rechteck angedeutet. Dieses ist in hellblau, also in der Farbe der Lehrenden gehalten und adressiert die für die professionelle Kompetenz der Lehrenden wesentliche Ebene ihrer Meta-Reflexion über Unterricht. Diese Meta-Reflexion bezieht einerseits die gesamte Lehrendenpersönlichkeit mit allen ihren Kompetenzfacetten mit ein und berücksichtigt andererseits als Ergebnis des Unterrichts die Performanz der Lernenden. Dieser Meta-Reflexionskreislauf wird in Abb. 1.4 über die beiden blauen Pfeile visualisiert, die oben in das rote Rechteck der Performanz der Lernenden hineinragen und sich unten aus der Performanz der Lernenden herausbewegen.

Im Kompetenzmodell für Lehrende werden etwa durch die Integration des TPACK-Modells insbesondere auch Kompetenzen mit Blick auf den Umgang mit digitalen Technologien und speziell digitalen Werkzeugen im Rahmen von Unterrichtsprozessen berücksichtigt. Im folgenden Abschnitt werden beide Begriffe erläutert und eingeordnet.

1.3 Digitale Technologien und digitale Werkzeuge

Der Begriff „digitale Technologien“ wird in der Literatur nicht einheitlich verwendet. In diesem Doppelband nutzen wir ihn entsprechend folgender Definition:

Digitale Technologien

Digitale Technologien werden als Sammelbezeichnung für technische Geräte (Hardware), die darauf befindlichen digitalen Inhalte (Software) sowie für Kombinationen aus beidem verwendet.

Digitale Technologien (Medien) können nach Petko (2014) unterschiedliche Funktionen beim Lehren und Lernen erfüllen: Informations- und Präsentationsmittel, Gestaltung von Lernaufgaben, Werkzeuge und Arbeitsmittel, Lernberatung und Kommunikation sowie zur Prüfung und Beurteilung. Die Funktion der digitalen Technologie ist zum einen abhängig von der Technologie selbst und zum anderen ist sie abhängig davon, wie diese in eine Lehreinheit eingebunden ist (Schwanewedel et al., 2017).

In einer digitalen Welt ist insbesondere die Entwicklung fachdidaktisch begründeter Konzepte unter Einbezug digitaler Technologien im Sinne einer Unterrichtsentwicklung essenziell (KMK, 2016).

Dazu zählt auch der Einsatz digitaler Werkzeuge im Unterricht, die das Spektrum an Unterrichtsmedien erweitern. Sie können in Form von materiellen und informativen Lehr- und Lernhilfen dazu beitragen, Lernprozesse gezielt anzuregen und Lernende individuell zu fördern.

Digitale Werkzeuge

Digitale Werkzeuge sind im Sinne der MINT-Didaktiken konkrete digitale Anwendungen und technische Geräte, deren interaktive Funktionalität gezielt dazu eingesetzt wird, um den Kompetenzerwerb bei Lernenden zu fördern und den Prozess der Erkenntnisgewinnung zu unterstützen.

Knaus und Engel (2015b) verstehen allgemein unter pädagogischen und didaktischen Werkzeugen „komplexe, adaptive, konvergierende und hybride Konstrukte, die in Bildungs-, Lehr- und Lernkontexten in noch komplexere soziale Systeme und Prozesse … eingreifen”, bei denen aber „unterstützende und lernförderliche Funktionen“ im Vordergrund stehen. Digitale Werkzeuge unterstützen ein interaktives Lernen, indem z. B. gesprochene oder geschriebene Texte mit Videos, Animationen oder (steuerbaren) Simulationen multimedial kombiniert werden (s. Kap. 2 in Band 1, Kap. 7 in Band 2 und Ulrich et al., 2014). Die Partizipation aller Lernenden am MINT-Unterricht stellt hohe Ansprüche an Lehrende und Lernende. Insbesondere die MINT-Fächer zeichnen sich durch komplexe Inhalte, hohes Abstraktionsniveau, Mathematisierung und Modellierungen aus. Bei experimentellen Fächern sind zusätzliche Anforderungen hinsichtlich der speziellen Denk- und Arbeitsweise zu berücksichtigen (Stinken-Rösner et al., 2020). Digitale Werkzeuge erlauben multimodale Zugänge, die passend zur Lerngruppe ausgewählt und adaptiert werden können. Im Sinne des Universal Design for Learning (Hall, Mayer & Rose, 2012) ermöglichen sie die barrierefreie Gestaltung von digitalen Unterrichtsmaterialien und damit die Partizipation aller am Erkenntnisprozess.

Digitale Werkzeuge verfügen über Kommunikationselemente und können damit auch die Wahrnehmungsräume von Menschen beeinflussen. Nach Keil (2006) verschmelzen das Werkzeug und das Erkenntnisinstrument in digitalen Technologien miteinander. Digitale Werkzeuge unterstützen menschliche Kognition und/oder Kommunikation und dienen nach Petko (2014) “zur Verarbeitung, Speicherung und Übermittlung von zeichenhaften Informationen“.

Digitale Werkzeuge besitzen eine Reihe von Potenzialen, um Lernprozesse zu gestalten: Sie können bei der Durchführung von Lern- und Lehrmethoden eingesetzt werden, wie z. B. zur sozialen Interaktion beim Lernen in kooperativen Lernszenarien (Kerres, 2013). Kerres (2013) geht davon aus, dass durch die individuelle Anpassung des Lerntempos und der Mediennutzung sich kürzere Lernzeiten ergeben. Beim forschenden Lernen können digitale Werkzeuge das selbstständige Forschen unterstützen und fördern. Das kollaborative Lernen kann beispielsweise durch die Nutzung digitaler Plattformen orts- und zeitunabhängig und auch global organisiert werden (Schulz-Zander, 2005).

Mehrere Studien (z. B. OECD, 2015) belegen, dass der (didaktisch) unbegründete bzw. beliebige Einsatz von digitalen Werkzeugen im Unterricht nicht automatisch einen Lernautomatismus in Gang setzt. Technik allein hat nicht das Potenzial, Lernen zu fördern, sondern führt im schlimmsten Fall zum Gegenteil (Knaus, 2013, Knaus & Engel, 2015a). Daher gilt bei der Gestaltung und der Nutzung von digitalen Lehr- und Lernwerkzeugen generell nicht das Primat der Technik. Im Vordergrund stehen didaktische Fragen, pädagogische und fachspezifische Ziele (Preußler et al., 2014). Das setzt eine reflektierte Auseinandersetzung mit den fachspezifischen Inhalten voraus und die daraus resultierende Einschätzung, welchen Mehrwert der Einsatz von digitalen Werkzeugen im Unterricht leistet.

Wo digitale Technologien reflektiert und in bewusster Kombination zu Lerninhalten von Lehrpersonen eingesetzt werden, treten lernförderliche Effekte ein (Fullan & Quinn, 2016). Dafür sind spezifische digitale Kompetenzen neben den fachlichen, pädagogischen und fachdidaktischen notwendig, die das Kompetenzprofil von Lehrkräften ergänzen (Mishra & Koehler, 2006, Koehler et al., 2007, Koehler & Mishra, 2008).

Ein Beispiel aus den experimentellen Fächern verdeutlicht, dass das Experimentieren unter Einbindung digitaler Messwerterfassung im Unterricht noch immer den dafür tauglichen Strukturen und Prinzipien folgt (Bruckermann et al., 2016), deren Kenntnis und Beherrschung keine digitalen Kompetenzen darstellen. In diesem Fall beschränkt sich die digitale Kompetenz auf die durch den Einsatz digitaler Technologien zusätzlich geforderten Fähigkeiten und Fertigkeiten, z. B. zu entscheiden, ob und wie digitale Sensoren zielführend in diesen Prozess integriert werden können (Ghomi & Redecker, 2019).

Zu digitalen Werkzeugen gehören neben Notebooks und Tablets, die mit entsprechender Hardwareerweiterung ausgestattet sind, auch Taschenrechner und andere Geräte, wie z. B. Digitalmikroskope, Audiostifte, digitale Arbeitsblätter (Graf et al., 2016), aber auch Softwareprodukte z. B. zur Durchführung von Simulationen oder zur Modellierung komplexer Systeme oder Suchplattformen.

In den experimentellen Fächern ermöglichen virtuelle oder ferngesteuerte Experimente eine Auseinandersetzung mit Phänomenen, die z. B. aus Sicherheitsgründen nicht real im Klassenraum dargestellt werden können.

In einzelnen MINT-Fächern und Jahrgangsstufen haben sich spezifische Perspektiven auf digitale Werkzeuge herausgebildet. So stellt etwa Roth (2019) für den Mathematikunterricht der Sekundarstufen fest: „Digitale Werkzeuge sind für den Mathematikunterricht im Wesentlichen Tabellenkalkulationsprogramme, Computer-Algebra-Systeme, dynamische Geometrie-Systeme und als deren Integration dynamische Mathematik-Systeme (auch Multi-Repräsentations-Systeme genannt). Wichtig im Zusammenhang mit dem Einsatz digitaler Werkzeuge im Mathematikunterricht sind auch auf der Basis von digitalen Werkzeugen gestaltete Applets. Dies gilt unabhängig von der Art des Geräts (Taschenrechner, Smartphone, (Tablet-)Computer …) auf denen diese laufen. Mit Blick auf den Einsatz digitaler Werkzeuge im Mathematikunterricht ist zunächst die fundamentale Frage zu beantworten, inwiefern deren Nutzung das Erreichen der Ziele des Mathematikunterrichts nachhaltig unterstützt” (Roth, 2019, S. 234).

Die Verwendung digitaler Werkzeuge kann zur Verschiebung von Arbeitsschwerpunkten im Unterricht führen. Bei der Verwendung z. B. von digitalen Messsensoren treten der eigentliche Messvorgang sowie die Auswertung und grafische Aufarbeitung von Daten in den Hintergrund. Im Gegenzug dazu steht mehr Unterrichtszeit für die Interpretation der Ergebnisse und die Diskussion von Messfehlern zur Verfügung. Alternativlos ist der Einsatz digitaler Werkzeuge bei Routinemessungen, bei der Langzeiterfassung von Parametern und bei Reihenmessungen mit kurzer Taktung bzw. großen Datenmengen (Lampe et al., 2015).

An digitale Werkzeuge werden spezielle Anforderungen gestellt, dabei steht die Erkenntnisgewinnung immer im Vordergrund. Beim problemlösenden, entdeckenden und kooperativen Arbeiten und Lernen können digitale Werkzeuge unterstützen, indem sie z. B. Routinetätigkeiten übernehmen (spezielle Software für Datenauswertung, Darstellung, Modellierungen und Simulationen). Die Erfassung von Messwerten über Sensoren mit Smartphone, Tablet oder PC ist für die Lernenden oftmals intuitiver als mit einem unbekannten Messgerät. Mobile digitale Werkzeuge, wie z. B. Smartphones und Tablets, die zum Alltag der Lernenden gehören, nehmen dabei eine gesonderte Rolle ein. Es wird angenommen, dass neben der Alltagsbezogenheit eines Themas auch die Authentizität der zum Lernen verwendeten digitalen Werkzeuge eine förderliche Wirkung auf die Lernleistung und Motivation hat (materiale Situierung; Kuhn & Vogt, 2013, 2015). Daneben wird bei selbstständiger Verwendung eines Smartphones oder Tablets ein verstärktes Autonomieerleben der Lernenden angenommen (Ryan & Deci, 2000a, 2000b).

Nach Dori und Sasson (2008) können digitale Technologien im Vergleich zu konventionellen Unterrichtsmedien zu einem tieferen Lernverständnis bei Lernenden führen, wenn diese mit ihrem „eigenen“ digitalen Werkzeug etwa Messwerte erfassen und diese z. B. als Wertetabellen, Diagramme oder Bilder dargestellt werden. Der sichere Umgang mit verschiedenen Darstellungsmöglichkeiten, der insbesondere durch digitale Multirepräsentationssysteme unterstützt werden kann, führt bei den Lernenden in der Regel zu einer Verbesserung ihres Konzeptverständnisses und ihrer Fachsprache (Ainsworth, 2006; Kohl & Finkelstein, 2005; Mayer, 2002; Höffler & Leutner, 2007).

Betrachtet man digitale Technologien und Werkzeuge unter dem Blickwinkel ihrer Auswirkung auf Design und Transformation des Unterrichts, dann kann die Berücksichtigung des SAMR-Modells (Substitution, Augmentation, Modification, Redefinition), das von Puentedura (2006) entwickelt wurde, sinnvoll sein. Es nimmt die unterrichtsgestalterische Perspektive ein und beleuchtet den Einsatz digitaler Technologien und Werkzeuge unter dem Blickwinkel ihrer Auswirkung auf den Unterricht. Am Beispiel der Gestaltung und Bearbeitung von Unterrichtsmaterialien mit digitalen Technologien wird nachfolgend anhand des Modells verdeutlicht, dass es jeweils ganz unterschiedliche Qualitäten hinsichtlich des Einsatzes digitaler Technologien gibt. Dabei veranschaulicht das vierstufige SAMR-Modell, wie die Gestaltung und Bearbeitung von Materialien mit digitalen Technologien mit jeder Stufe an Bedeutung für das Lernen gewinnen. In Abb. 1.5 erkennt man, dass das Modell in zwei Bereiche unterteilt ist. Die gestrichelte Linie visualisiert die (fließende) Grenze zwischen den Bereichen Enhancement, bei dem digitale Technologien das Lernen verbessern, und Transformation, in dem diese das Lernen verwandeln. Darüber hinaus ermöglicht das SAMR-Modell Lehrenden, ihr eigenes und fremdes Materialangebot dahingehend zu analysieren und zu reflektieren, auf welcher Stufe Technologien zur Lernunterstützung eingesetzt werden.

Abb. 1.5
figure 5

SAMR-Modell

Auf der ersten Stufe wird analoges Material durch digitale Technologien 1:1 ohne funktionale Änderung ersetzt (Substitution). Das „Heft“ wird durch ein digitales Medium ausgetauscht. Dabei bleiben die Inhalte die gleichen und nur die Werkzeuge ändern sich. Die Lernenden üben auf dieser Stufe den Umgang mit digitalen Technologien. Darüber hinaus stehen die Inhalte in digitaler Form zur weiteren Verwendung zur Verfügung. Mit dieser Ersetzung sind aber noch keine methodischen Erweiterungen verbunden. Wenn Lehrende beginnen, mit digitalen Medien zu arbeiten, haben auch Szenarien ihre Berechtigung, in denen digitale Medien analoge „nur“ ersetzen. Dauerhaft werden so Potenziale aber nicht ausgeschöpft.

Bei der zweiten Stufe werden Arbeitsaufträge methodisch funktional erweitert (Augmentation), indem digitale Technologien integriert werden. Dadurch wird eine Verbesserung (Enhancement) des Arbeitsablaufes beobachtbar, der mit rein analogem Arbeitsmaterial nur eingeschränkt möglich ist. So können z. B. zum Üben Lern-Apps eingesetzt werden, von denen die Lernenden ein direktes Feedback erhalten. Die Nutzung von Lern-Plattformen bietet den Lernenden neben Informationen auch die Möglichkeit, sich untereinander auszutauschen. Methodische Veränderungen finden sich auf der zweiten Stufe der Augmentation (Erweiterung), wenn digitale Technologien im Vergleich zu analogen Medien neue Funktionen eröffnen. Beispiele können etwa die Nutzung einer Rechtschreibhilfe, die Erweiterung eines Wörterbuchs durch Tonbeispiele und die Anreicherung digitaler Karten mit zusätzlichen Informationen sein. Auch auf dieser Ebene sieht Puentedura (2006) noch keine grundlegende Veränderung von Unterricht, sondern nur eine Erweiterung des bestehenden Repertoires an Handlungsmöglichkeiten. Mit anderen Worten: Methodisch bleibt der Unterricht ähnlichen Konzepten verschrieben wie der Unterricht nach der zuvor geübten Praxis mit rein analogen Medien. Allerdings bieten die erweiterten Möglichkeiten bereits Verbesserungen, wenn etwa durch multimediale Inhalte andere bzw. mehr Lernkanäle angesprochen werden.

Mit der dritten Stufe der Änderung (Modification) beginnt gleichzeitig der Schritt zur Umgestaltung des Lernprozesses (Transformation). Auf dieser Stufe werden Materialien so verändert, dass eine digitale Unterstützung notwendig wird, um diese zu bearbeiten. Die Lernenden können eigenständig in ihrem Lerntempo arbeiten und Schwerpunkte auf visuellen und/oder auditiven Input legen. Beispielsweise können Dokumente mit Tabellenkalkulationen, grafischen Darstellungen sowie textuellen, visuellen und auditiven Werkzeugen bereichert werden. Grundlegende Veränderungen finden auf der dritten Ebene der Modifikation statt. Hier sind grundlegende neue Arbeitsweisen in den Lernprozess integriert, etwa wenn ein dynamisches Mathematik-System entdeckendes Lernen unterstützt oder dazu dient, Rechenwege eigenständig zu kontrollieren. Digitale Technologien unterstützen Lernende auf dieser Ebene dabei, ihren Lernprozess selbst zu gestalten und zu bewerten. Dabei bedürfen sie aber weiterhin der Betreuung und Beratung durch Lehrende.

Bei der vierten Stufe der Neudefinition (Redefinition) wird Lernmaterial oder werden Aufgabentypen im Unterricht eingesetzt, welche es ohne digitale Technologien nicht geben würde, und somit Grenzen schulischen Lernens aufgebrochen und überschritten. Damit können neue Lernwege bestritten werden, bei denen das problemlösende, forschende und entdeckende Lernen im Vordergrund steht. Die Lernenden arbeiten völlig eigenständig und nutzen dabei Hilfsmittel z. B. aus dem Internet. Die Dokumentation ihrer Lösungen erfolgt z. B. in Form eines Erklärvideos, eines Blog-Artikels oder eines Social-Media-Beitrags. Digitale Technologien werden hier also etwa zur Reflexion und Dokumentation von Lernprozessen genutzt oder es wird über digitale Technologien Expertise von außen in den Klassenraum geholt.

Puentedura (2006) geht davon aus, dass der pädagogische Nutzen digitaler Technologien mit den Stufen zunimmt. Das Modell soll damit anregen, die eigene Nutzung digitaler Technologien im Unterricht zu analysieren, und fördern, dass – über den einfachen Ersatz analoger Medien hinaus – kreative Lösungen entwickelt werden, die einen solchen pädagogischen Nutzen beinhalten. Dabei muss es nicht zwangsläufig Ziel sein, immer die Stufe der Neudefinition (Redefinition) umzusetzen. Zu fragen ist vielmehr, auf welcher Ebene das gewählte Lernszenario angesiedelt wäre und ob damit die Potenziale digitaler Technologien in der gegebenen Lernsituation ausgeschöpft werden.

Eine Möglichkeit für den zielführenden Einsatz digitaler Technologien für das Lernen ist es, diese in (digitale) Lernumgebungen einzubinden. Der folgende Abschnitt widmet sich dieser wesentlichen Facette des MINT-Lernens für die Zukunft.

1.4 Digitale Lernumgebungen als Rahmen für das MINT-Lernen

Bei Sichtung fachdidaktischer Literatur fällt auf, dass immer häufiger digitale Lernumgebungen thematisiert werden, wobei oftmals nicht explizit wird, was jeweils genau mit dieser Bezeichnung gemeint ist. Wir werden den Begriff digitale Lernumgebung folglich zunächst unter Rückgriff auf den Begriff Lernumgebung definieren und erläutern, wie er sich vom Begriff digitales Werkzeug unterscheidet. Darauf aufbauend werden Qualitätskriterien für (digitale) Lernumgebungen genannt und diskutiert. Mit Blick auf das MINT-Lernen der Zukunft werden schließlich Ziele des Einsatzes digitaler Lernumgebungen reflektiert.

1.4.1 Lernumgebung – Begriffsklärung

Roth (2022) konstatiert, dass der Begriff Lernumgebung – bzw. international synonym Learning Environment – in der fachdidaktischen sowie pädagogisch-psychologischen Literatur zwar häufig verwendet, aber nur sehr selten definiert wird. Er beruft sich unter anderem auf Hannafin (1995), der feststellt, dass die Bezeichnung Lernumgebung für nahezu alles vom Klassenklima bis hin zu spezifischen Lerntechnologien verwendet wird. Es gibt auch spezifischere Annäherungen an den Begriff Lernumgebungen, z. B. bei Hirt und Wälti (2012), die aber mit Blick auf Lernumgebungen für den MINT-Unterricht allgemein etwas zu eng sind. Vor diesem Hintergrund werden wir zunächst definieren, was wir unter dem Begriff Lernumgebung verstehen, bevor wir darauf eingehen, was digitale Lernumgebungen sind und inwiefern Letztere sich von digitalen Werkzeugen unterscheiden. Wir stützen uns auf eine Definition zu Lernumgebungen von Roth (2022), der allerdings in seiner Definition charakterisierende Eigenschaften und Qualitätskriterien vermischt. Wir liefern deshalb zunächst eine knappe Definition und gehen anschließend auf Qualitätskriterien für lernwirksame Lernumgebungen ein.

Lernumgebung

Lernumgebungen bilden den Rahmen für das selbstständige Arbeiten von Lerngruppen oder individuell Lernenden. Sie organisieren und regulieren den Lernprozess über Impulse, wie z. B. Arbeitsanweisungen.

1.4.2 Qualitätskriterien für Lernumgebungen

Um hilfreich für zukünftiges MINT-Lernen sein zu können, sollten Lernumgebungen einer Reihe von Qualitätskriterien genügen (Roth, 2022). Dazu gehört, dass sie Lernende zu Prozessen aktiver Wissenskonstruktion anregen, denn die Fähigkeit zur aktiven Wissenskonstruktion ist eine der Voraussetzungen für lebenslanges Lernen, das wiederum notwendig für zukunftsfähiges Handeln ist. Dabei sollten die Lernenden durch Impulse unterstützt werden. Dies kann etwa durch geeignete Arbeitsanweisungen geschehen, die durch Leitgedanken inhaltlich aufeinander bezogen und bzgl. des zu erarbeitenden Inhalts sowie der intendierten Lernprozesse sinnvoll strukturiert sind. So kann das zielgerichtete Arbeiten der Lernenden unterstützt werden. Gleichzeitig sollten die durch die Lernumgebung gesetzten Impulse hinreichend offen sein, um eigenständiges Arbeiten der Lernenden zu ermöglichen und differenzierend zu wirken. Lernumgebungen sollten Impulse enthalten, die zur Reflexion über das Erarbeitete herausfordern. Bei Lernumgebungen für Lerngruppen sind Aufforderungen zur Kommunikation über die Inhalte sowie deren Bearbeitung essenziell.

Die Lernenden sollten durch Impulse innerhalb der Lernumgebung auch zur Dokumentation angehalten werden, denn es hat sich für den Lernprozess als vorteilhaft erwiesen, wenn Lernende ihre Ergebnisse und Vorgehensweisen schriftlich protokollieren. Nach Dörfler (2003) erleichtern derartig selbstständig erzeugte externe Darstellungen die zur Begriffsbildung notwendige reflektierte Abstraktion sowie Schematisierung und ermöglichen eine tiefere Verarbeitung des Lerngegenstandes. Durch das Erzeugen externer Darstellungen kann ein Teil der beim Arbeiten mit digitalen Lernumgebungen notwendigen kognitiven Aktivität ausgelagert und so das Arbeitsgedächtnis entlastet werden, da nicht alle Informationen im Arbeitsgedächtnis behalten werden müssen (Schnotz et al., 2011). Anhand von Videoaufzeichnungen von Gruppen von Lernenden, die an Lernumgebungen arbeiten (Roth, 2013), zeigt sich, das Lernende in Phasen, in denen sie Ergebnisse und Vorgehensweisen schriftlich festhalten sollen, in der Regel neue Erkenntnisse generieren, obwohl sie vorher bereits dachten, die Bearbeitung der entsprechenden Aufgabe sei inhaltlich erfolgreich abgeschlossen. Das Protokollieren von Arbeitsergebnissen und Vorgehensweisen fördert also die Reflexionstiefe. Daneben können durch soziale Reflexions- und Aushandlungsprozesse über von Lernenden selbst erzeugte Darstellungen die Vorstellungen zu Begriffen und Zusammenhängen präzisiert und abstrahiert werden (Cox, 1999; Reisberg, 1987; Schwartz, 1995). In einer qualitativen Studie zur Arbeit mit einer digitalen Lernumgebung von Jedtke und Greefrath (2019) erleben Studierende das Protokollieren auf Papier positiv und als hilfreiche Aktivität. Darüber hinaus ermöglichen diese Protokolle auch das spätere Weiterarbeiten an den erzielten Ergebnissen. Ergebnisse einer Studie von Schumacher und Roth (2015) deuten darauf hin, dass das Protokollieren in Lernumgebungen dadurch unterstützt werden sollte, dass sie durch Prompts neben leeren Protokollkästen zum Protokollieren aufgefordert werden. Dies erlaubt es Lernenden, ihre jeweils eigenen Wege zur Protokollierung zu finden und sich nicht an Vorgaben orientieren zu müssen, die ggf. nicht zu ihren eigenen Denkweisen passen. Lernumgebungen sollten darüber hinaus bei Bedarf individuell abrufbare Hilfestellungen sowie Möglichkeiten zur Ergebniskontrolle enthalten.

Die neben geeigneten Impulsen, wie etwa Arbeitsaufträgen, wichtigsten Elemente von Lernumgebungen sind geeignete Medien und Materialien, die eine aktive und vielfältige Auseinandersetzung mit einem inhaltlichen Phänomen ermöglichen. Dieses Qualitätskriterium für Lernumgebungen liefert uns die Basis, um im Abschn. 1.4.3 die Frage zu beantworten, was eine digitale Lernumgebung ausmacht.

Völlig unabhängig von der Frage, ob es sich um eine digitale oder rein analoge Lernumgebung handelt, sollten Lernumgebungen von einem unterrichtlichen Gesamtsetting gerahmt werden, in dem die Lernenden durch eine Lehrperson auf die Arbeit mit der Lernumgebung vorbereitet, wieder daraus abgeholt und insbesondere beim Systematisieren ihrer gewonnenen Erkenntnisse unterstützt werden. Diese Rahmung ist unabdingbar, um eine systematische und zielgerichtete Entwicklung von Wissen und Fähigkeiten von Lernenden zu erreichen.

1.4.3 Digitale Lernumgebungen

Ein wesentliches Qualitätskriterium für Lernumgebungen ist das Vorhandensein von passgenauen und lernförderlichen analogen Materialien bzw. digitalen Technologien, die eine aktive Auseinandersetzung der Lernenden mit den jeweiligen Inhalten und Phänomenen zielgerichtet unterstützen.

Digitale Lernumgebung

Digitale Lernumgebungen bilden eine Teilmenge der Lernumgebungen. Eine digitale Lernumgebung konstituiert sich bereits dann, wenn eine Lernumgebung von Lernenden interaktiv nutzbare computerbasierte Elemente (z. B. Applets) enthält, die aus fachdidaktischer Perspektive einen essenziellen Beitrag zum Lernerfolg liefern.

Der Medieneinsatz hat seit jeher eine große Bedeutung für das Lehren und Lernen. Die in obiger Definition explizierte Sicht auf digitale Lernumgebungen verdeutlicht, dass vor dem Hintergrund der immer größer werdenden Relevanz der digitalen Technologien auch die “traditionellen” Medien neu bewertet und in ihrem Verhältnis zu den digitalen Technologien gesehen werden müssen (Schmidt-Thieme & Weigand, 2015). In diesem Zusammenhang fordert Krauthausen (2018) aufgrund der veränderten Bedingungen für die Nutzung von Medien und der Fülle an digitalen (Lern-)Produkten auf dem Markt ein neues Nachdenken über den Einsatz digitaler Technologien. Dabei sind nicht nur Lehrende und Lernende an Schulen gefordert immer wieder Neues zu lernen. Im expandierenden App-Markt müssen auch die MINT-Didaktiken als Design Science aus ihrem Primat heraus agieren, konstruktiv-kritische Stellung beziehen und Qualitätskriterien für Lern-Apps anbieten. Nur qualitativ hochwertige Applets, die solchen Qualitätskriterien genügen, sollten in digitale Lernumgebungen für den MINT-Unterricht der Zukunft integriert werden.

1.4.4 Beziehung zwischen digitalen Lernumgebungen und digitalen Werkzeugen

Im Abschn. 1.3 wurde der Begriff digitales Werkzeug geklärt, der vorliegende Abschnitt setzt sich mit dem Begriff digitale Lernumgebung auseinander. Inwiefern lassen sich die beiden Begriffe digitale Lernumgebung und digitales Werkzeug voneinander abgrenzen? Eine mögliche Antwort auf diese Frage lautet: Wenn mit einem digitalen Werkzeug erzeugte und geeignet gestaltete Applets in eine digitale Lernumgebung eingebunden werden, kann das erheblich dazu beitragen, dass MINT-Inhalte zielführend und verständnisfördernd gelernt werden. Fehlt diese Einbindung, dann kann ein digitales Werkzeug als Hilfsmittel zur Problemlösung bzw. Erkenntnisgewinnung eingesetzt werden. Dies funktioniert allerdings nur dann, wenn die Nutzerin bzw. der Nutzer über entsprechende Expertise verfügt, wenn das digitale Werkzeug sich also im Sinne der Instrumental Genesis im Zusammenspiel mit dem Problem, dem MINT-Inhalt und den eigenen mentalen Schemata zum individuellen, persönlichen Instrument (Verillon & Rabardel, 1995) entwickelt hat, das zielgerichtet genutzt werden kann.

Instrumental Genesis

Das Konzept der Instrumental Genesis basiert auf einer Idee von Vygotsky (1930/1985), der das Problemlösen und die damit verbundenen mentalen Prozesse als einen instrumentellen Akt beschreibt. Dieser instrumentelle Akt hängt sowohl von gegenständlichen bzw. digitalen Instrumenten (Materialien) als auch von kognitiven Instrumenten (mentalen Schemata) ab. Diese Instrumente haben einen bedeutsamen Einfluss auf die mentalen Prozesse des Problemlösens. Verillon und Rabardel (1995) unterscheiden zwischen Artefakten und Instrumenten. Ein Artefakt ist ein bloßer Gegenstand, solange der Nutzer nicht weiß, wie es im Kontext einer konkreten Aufgabe einzusetzen ist. Erst wenn das Artefakt in eine Wechselbeziehung mit dem Nutzer tritt, der an einer Aufgabe arbeitet und dabei geeignete mentale Schemata anwendet, wird das Artefakt zu einem Instrument (Drijvers & Gravemeijer, 2005). Diese Transformation hängt also von drei Aspekten ab: dem Artefakt, der Aufgabe und der Anwendung bestehender Schemata, die sich auf die Verwendung des Artefakts und die anzuwendenden Konzepte beziehen. Die mentalen Schemata entwickeln sich auch weiter, während sie im Prozess der Umwandlung eines Artefakts in ein Instrument genutzt werden. Drijvers und Gravemeijer (2005) kommen daher zu dem Schluss, dass das Instrument sowohl das Artefakt als auch die mentalen Schemata beinhaltet, die für eine bestimmte Klasse von Aufgaben entwickelt wurden. Darüber hinaus beeinflusst das Artefakt die mentalen Schemata, die angewendet werden, um mit dem Artefakt eine Aufgabe zu lösen. Dies wird Instrumentierung genannt (Rabardel, 2002). Außerdem beeinflussen die angewandten mentalen Schemata, wie das Artefakt verwendet wird. Dies wird als Instrumentalisierung bezeichnet (Rabardel, 2002). Der Instrumentierungs- und der Instrumentalisierungsprozess werden zur Instrumental Genesis zusammengefasst (Rabardel, 2002) und bezeichnen den Prozess, in dem ein Artefakt zu einem Instrument wird.

Aus dieser Zusammenstellung zeichnet sich der Kern einer Diskussion ab, die seit vielen Jahren zum Einsatz digitaler Werkzeuge geführt wird. Es geht um die Frage, wann Lernende direkt mit dem digitalen Werkzeug, also ohne vorbereitete Umgebung, arbeiten sollten und wann eher die Nutzung von mit dem digitalen Werkzeug erstellten Applets, die in eine Lernumgebung eingebunden sind, zielführend ist. Dabei geht es im Kern um das Ausbalancieren folgender beiden Ziele: (1) Einerseits sollten Lernende ein im Unterricht eingesetztes digitales Werkzeug im Sinne der Instrumental Genesis zu ihrem eigenen Werkzeug weiterentwickeln und selbstbestimmt damit Probleme lösen können. Die Voraussetzung dafür ist, dass das digitale (Universal-)Werkzeug, z. B. ein dynamisches Mathematik-System wie GeoGebra, von den Lernenden selbstständig als Werkzeug genutzt und ggf. geeignet angepasst wird, sodass es als Spezialwerkzeug für den aktuellen Zweck genutzt werden kann. Da dies ein langwieriger Prozess ist, sollte möglichst von Anfang des Einsatzes digitaler Werkzeuge an so gearbeitet werden. (2) Andererseits sollten sich Lernende im MINT-Unterricht immer mit den MINT-Inhalten auseinandersetzen und beim Lernen unterstützt werden, sodass das MINT-Lernen nicht durch das zusätzliche notwendige Lernen der Handhabung eines Werkzeugs belastet oder gar verdeckt wird. Aus dieser Perspektive ist das Arbeiten mit vorgefertigten Applets, in denen nur die für das Lernen der intendierten MINT-Inhalte notwendigen Variationen möglich und geeignete Fokussierungshilfen eingebaut sind (Roth, 2008, 2017), im Rahmen von digitalen Lernumgebungen zielführend. Bei der Nutzung dieser Applets können auch grundlegende Fähigkeiten bzgl. der Bedienung des zugrunde liegenden digitalen Werkzeugs, mit dem das Applet z. B. von der Lehrperson für die Lernenden der eigenen Klasse erstellt wurde, mitgelernt werden, ohne die Fokussierung auf die MINT-Inhalte zu verdecken. Vor diesem Hintergrund könnte man die Unterscheidung zwischen digitalen Werkzeugen und digitalen Lernumgebungen wie folgt knapp auf den Punkt bringen: Digitale Werkzeuge dienen der Problemlösung und müssen durch die Nutzerin bzw. den Nutzer durch geeignete Ausgestaltung zu Spezialwerkzeugen für den jeweiligen Zweck gemacht werden. Digitale Lernumgebungen setzen einen Rahmen für das selbstständige Lernen. Dazu werden – häufig von Lehrpersonen – unter anderem Applets auf der Basis von digitalen Werkzeugen zur Unterstützung von selbstständigen Lernprozessen von Lernenden in die digitale Lernumgebung integriert. Immer dann, wenn das primäre Lernziel nicht die Ausbildung von Nutzungsexpertise bzgl. des verwendeten digitalen Werkzeugs ist, sondern ein MINT-Inhalt durchschaut und verstanden werden soll, ist die Einbindung in eine digitale Lernumgebung sinnvoll.

1.4.5 Ziele der Nutzung digitaler Lernumgebungen

Der Blick auf die Beziehung zwischen digitalen Lernumgebungen und digitalen Werkzeugen im letzten Abschnitt weist bereits auf mögliche Ziele hin, die mit digitalen Lernumgebungen verfolgt werden. Es geht darum, in geeigneter Aufbereitung und mithilfe passgenauer (digitaler) Unterstützungstechnologien das selbstständige und verständnisbasierte inhaltliche Lernen von MINT-Inhalten zu ermöglichen. Damit unterscheiden sich digitale Lernumgebungen deutlich von Drill-and-Practice-Programmen, in denen Übungsaufgaben zu einem Thema aufeinanderfolgend und ohne weitere Erläuterungen dargeboten werden. Ziel des Einsatzes von Drill-and-Practice-Programmen ist es in der Regel, bereits vorhandenes Wissen durch Wiederholen und Üben zu festigen und zu automatisieren (Kerres & Nattland, 2009). Anhand von digitalen Lernumgebungen soll dagegen an inhaltlichen Vorstellungen ausgerichtet gelernt werden, wobei die darin genutzten digitalen Technologien ganz unterschiedliche Qualitäten haben können (vgl. das in Abschn. 1.3 erläuterte SAMR-Modell).

Dabei können unter anderem folgende beiden Einsatzszenarien für digitale Lernumgebungen sinnvoll sein. (1) Im Rahmen der selbstständigen Exploration eines neuen Inhaltsbereichs können Lernende mithilfe einer digitalen Lernumgebung erste grundlegende Vorstellungen dazu erarbeiten. (2) Darüber hinaus können digitale Lernumgebungen auch dazu genutzt werden, gegen Ende einer Lernsequenz noch einmal vernetzend verschiedene Sichtweisen auf das Stoffgebiet einzunehmen und mit erarbeiteten Vorstellungen dazu in Verbindung zu bringen. Digitale Lernumgebungen sind so gestaltet, dass Lernende daran individuelle Vorstellungen ausbilden können, die konform mit gesichertem fachlichen MINT-Wissen sind, und so Kompetenzen für zukünftiges MINT-Lernen aufbauen.

1.4.6 Adaptive digitale Lernumgebungen

Digitale Lernumgebungen eröffnen über die bisher genannten Möglichkeiten hinaus auch die Option, die Pfade, die Lernende beim Bearbeiten der Lernumgebung durchlaufen, adaptiv zu gestalten (Roth, 2022). Konkret wird es hier möglich, Lernenden automatisiert und adaptiv passgenaue Aufgaben zu präsentieren oder spezifische individuelle Feedbacks zu erkennbaren Fehlermustern in ihren Aufgabenbearbeitungen zu geben. Diese Möglichkeit besteht bei nicht-digitalen Lernumgebungen zwar auch, bleibt hier aber der betreuenden Lehrkraft vorbehalten und stellt für diese einen hohen, je nach Lerngruppe evtl. gar nicht leistbaren Aufwand dar. Natürlich besteht auch die Möglichkeit, dass Lernende Teilthemen oder Aufgaben aus dem Angebot der Lernumgebung nach ihren eigenen Fähigkeiten oder Bedürfnissen selbst auswählen. Dies setzt allerdings ausgeprägte Selbstregulationskompetenz der Lernenden voraus, die nicht durchgängig gegeben ist. Hier bieten digitale Lernumgebungen potenziell mehr Möglichkeiten zur adaptiven Gestaltung. Adaptivität hat sich in einer Reihe von Studien als zielführend für digitale Lernumgebungen herausgestellt (vgl. Ma et al., 2014). Sie wird hier häufig als adaptives Eingehen auf die Aufgabenbearbeitung von Lernenden umgesetzt. Dabei werden, auf Basis fachdidaktischer Erkenntnisse zu schwierigkeitsgenerierenden Aufgabenmerkmalen, den Lernenden in Abhängigkeit von ihrer Bearbeitung der vorhergehenden Aufgaben jeweils automatisiert Folgeaufgaben mit passender Aufgabenschwierigkeit zugewiesen. Dies kann zur Steuerung des Lernprozesses beitragen und der Gefahr einer Über- bzw. Unterforderung von Lernenden entgegenwirken. Dies gelingt allerdings nur, wenn es im entsprechenden Inhaltsbereich bereits belastbare fachdidaktische Forschungsergebnisse zu typischen Schülerfehlern und deren Ursachen gibt. Ist dies nicht gegeben, kann auf den Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) gesetzt werden, bei der auf Basis von automatisierten Auswertungen umfangreicher Datensätze zu erfolgreichen und weniger erfolgreichen Pfaden von Lernenden durch die jeweilige digitale Lernumgebung eine jeweils passende nächste Aufgabe und damit Verzweigung im Lernweg dargeboten wird.

Neben der automatisierten Auswahl von Wegen durch eine Lernumgebung kann Adaptivität automatisiert auch in Form von Feedback erfolgen. Aus den Ergebnissen von Moreno (2004), aber auch der Metaanalyse von Hattie und Timperley (2007) kann geschlossen werden, dass Feedback sich dazu eignet, Lernende auf konkrete Fehlvorstellungen aufmerksam zu machen, sie beim Schließen vorhandener Wissenslücken zu unterstützen, und hilfreich dafür sein kann, die Vernetzung bereits vorhandener kognitiver Schemata zu unterstützen. Feedback erfolgt im Rahmen von digitalen Lernumgebungen als direkte Reaktion auf die (teilweise) Bearbeitung einer Aufgabe. Während korrigierendes Feedback die Lernenden im Wesentlichen darauf hinweist, ob Bearbeitungen bzw. Teile von Bearbeitungen richtig oder falsch sind, kann erklärendes Feedback in verschiedenen Ausprägungen auftreten. So können zusätzliche Informationen, gestufte Lösungshilfen, Erläuterungen zur Frage, warum eine Schülerlösung falsch ist und wie man zur korrekten Lösung kommt, angeboten oder Anpassungen teilweise richtiger Bearbeitungen von Lernenden vorgenommen werden. Darüber hinaus lässt sich anhand geeigneter Repräsentationen aufzeigen, warum ein vom individuellen Lernenden genutztes Konzept nicht zielführend ist, und so ein Konzeptwechsel anstoßen (vgl. Roth, 2022). Auch hier sind elaborierte fachdidaktische Forschungsergebnisse zum jeweiligen Lerninhalt unabdingbare Voraussetzung, um die genannten Feedbackmaßnahmen nicht nur technisch, sondern insbesondere auch inhaltlich zielführend umsetzen zu können. Perspektivisch bietet sich auch hier ein weites Feld denkbarer zukünftiger Einsatzmöglichkeiten für künstliche Intelligenz und maschinelles Lernen zur Nutzung für automatisiertes Feedback.

Nicht nur (digitale) Lernumgebungen bieten mannigfaltige Möglichkeiten zur Ausgestaltung eines für die Zukunft befähigenden MINT-Lernens. Mit diesem Beitrag wurde das Feld bereitet, um die vielfältigen wissenschaftlichen Perspektiven einzuordnen, die im Rahmen des durch die Deutsche Telekom Stiftung initiierten und geförderten Think-Tanks “Die Zukunft des MINT-Lernens” bearbeitet und aufeinander bezogen wurden. Dabei wurden in interdisziplinärer Kooperation Grundlagen der weiteren Arbeit gelegt, unter anderem indem gemeinsam Definitionen für wesentliche Grundbegriffe gefunden und weiterentwickelt wurden, die im Glossar der vorliegenden beiden Bände abgedruckt und in den einzelnen Beiträgen jeweils als Kästen integriert hervorgehoben werden. Im folgenden Abschnitt werden die Inhalte der Kapitel des Doppelbandes, der die Ergebnisse der Arbeit des Think-Tanks bündelt, kurz zusammengefasst und so auf die Lektüre der beiden Bände vorbereitet.

1.5 Ausblick auf die Inhalte des Doppelbandes

Der vorliegende Doppelband vereint Beiträge aller an der “Zukunft des MINT-Lernens” beteiligten Hochschulstandorte. Er spannt inhaltlich einen Bogen von konzeptionellen Perspektiven auf und für den MINT-Unterricht im 21. Jahrhundert über den Einsatz digitaler Technologien und die Förderung digitaler Kompetenzen in der Lehrkräftebildung, die Verwendung digitaler Methoden zur Diagnostik bis hin zur Entwicklung und zum Einsatz digitaler Werkzeuge und Lernumgebungen für den schulischen MINT-Unterricht.

Als Kooperation von Autorinnen und Autoren von vier Standorten mit unterschiedlichen fachlichen Hintergründen eröffnet der Beitrag von Andersen et al. (Kap. 2 in Band 1) die Perspektive, wie Aspekte eines zentralen 21st Century Skills, nämlich des Critical Thinking, in konkreten Lernumgebungen zum Teil bereits implizit vorhanden sind, aber auch konkret in zukünftige Lernumgebungen implementiert werden können. Verbunden wird diese Darstellung mit der Forderung, Critical Thinking in Zukunft als einen integralen Bestandteil des MINT-Unterrichts zu begreifen. Im darauffolgenden Beitrag präsentieren Ghomi et al. (Kap. 3 in Band 1) eine qualitative Untersuchung der Vorstellungen und Visionen von Lehrkräften, Lehramtsstudierenden und Bildungsadministratorinnen und -administratoren für den „Unterricht der Zukunft“. Sie gleichen diese „Perspektive der Praxis“ mit dem DigCompEdu-Referenzrahmen zur digitalen Kompetenz von Lehrenden ab und ziehen Rückschlüsse auf den Transfer digitaler Technologien in die Unterrichtspraxis. Dieser Transfer ist auch Bestandteil des Beitrags von Beyer et al. (Kap. 4 in Band 1), in welchem die fachunabhängigen Kompetenzfacetten des Computational Thinking beleuchtet und Lernumgebungen zu ihrer Förderung im Mathematikunterricht der Grundschule – unter anderem durch Verwendung eines Lernroboters – untersucht werden.

Der gezielten Förderung digitaler Kompetenzen von (angehenden) Lehrkräften kommt, wie in diesem Beitrag dargelegt, eine zentrale Bedeutung für die Gestaltung der Zukunft des MINT-Lernens zu. Sechs Beiträge fokussieren daher den Einsatz digitaler Technologien und den Erwerb digitaler Kompetenzen in der Lehrkräftebildung:

Im ersten der sechs Beiträge beschreiben Grave-Gierlinger et al. (Kap. 5 in Band 1) die Selbstwirksamkeitserwartung von Lehramtsstudierenden hinsichtlich des Einsatzes digitaler Technologien im Mathematikunterricht. Scherb et al. (Kap. 6 in Band 1) zeigen entlang der Evaluation eines Video-Analysetools Möglichkeiten zur Bewertung der Usability und des Designs von Online-Lernplattformen, um diese besser auf das Verhalten und die Bedürfnisse der Lernenden (in diesem Fall Lehramtsstudierenden) anpassen zu können. Der Frage, inwiefern bereits digitale Kompetenzen in Lehramtsstudiengängen an deutschen Universitäten gefördert werden, gehen Lachmann et al. (Kap. 7 in Band 1) in ihrem Beitrag nach und untersuchen die Wirksamkeit eines Seminarkonzepts, das eine solche Förderung basierend auf dem DigCompEdu-Kompetenzrahmen anstrebt. Engelhardt et al. (Kap. 8 in Band 1) stellen in ihrem Beitrag die Entwicklung eines Lehr-Lern-Labor-Seminars vor, in dem Studierenden die Fähigkeit zur Beurteilung interaktiver Arbeitsblätter als Beitrag zu den digitalen Kompetenzen angehender Lehrkräfte vermittelt wird. Im Beitrag von Henninger und Kaiser (Kap. 9 in Band 1) werden die Entwicklung, die Inhalte und die Durchführung eines offenen Online-Kurses für Studierende dargestellt, der Teilnehmende dazu befähigen möchte, verschiedenste digitale Lernangebote in Zukunft selbst zu gestalten, während Andersen et al. (Kap. 10 in Band 1) anhand der digitalen Weiterentwicklung eines lehramtsspezifischen Elektronikpraktikums im Fach Physik unter anderem das Selbstvertrauen der angehenden Lehrkräfte, sich in neue Technologien einzuarbeiten, untersuchten. Der Beitrag von Becker et al. (Kap. 11 in Band 1) stellt eine Eyetracking-Studie (Blickdatenanalyse) zum Vergleich visueller Aufmerksamkeitsprozesse bezüglich linearer Graphen im Kontext der Mathematik mit anderen Kontexten, insbesondere der Physik, vor. Untersucht wurden die Schwierigkeiten der Interpretation linearer Funktionen in Kontext von Kinematik und Mathematik von Lernenden der neunten Klasse. Bastian und Mühling (Kap. 12 in Band 1) stellen eine Studie vor, in deren Rahmen relevante Faktoren für den Erfolg im Anfängerunterricht des Programmierens erhoben und ihr Einfluss quantifiziert werden mit dem Ziel, Regeln für die automatisierte Generierung von Items mit einer vorher bestimmbaren Schwierigkeit zu erproben. Band 1 wird abgeschlossen mit einem Beitrag von Lutz (Kap. 13 in Band 1), in dem die Entwicklung feedbackorientierter Lernumgebungen zur Gestaltung immer offener gefasster Aufgabenstellungen mit Machine Learning (ML), Augmented Reality und 3D-Druck thematisiert werden.

Der zweite Band fokussiert mit seinen insgesamt zehn Kapiteln die Themen digitale Tools und Methoden für das Lehren und Lernen über die verschiedenen Schulstufen hinweg. Einleitend stellt der Beitrag von Digel et al. (Kap. 1 in Band 2) digital gerahmte Experimentierumgebungen als dynamischen Zugang zu Funktionen dar. Das Vorgehen dieser Arbeit zeigt exemplarisch, wie digitale Unterrichtselemente lernförderlich eingebettet werden können, indem ausgehend von den zu fördernden mathematischen Konzepten digitale Artefakte anhand ihrer Passung zu den intendierten Handlungen eingesetzt werden. Neff et al. (Kap. 2 in Band 2) berichten aus dem Projekt der Open MINT Labs, wie virtuelle Labore für die naturwissenschaftlichen Fächer an den weiterführenden Schulen entwickelt und getestet werden mit dem Ziel einer digitalen Vor- und Nachbereitung realer Experimentiereinheiten. Im Beitrag wird zum einen die Konzeption des virtuellen Labors zum Sauerstoffgehalt eines Gewässers vorgestellt und zum anderen eine Teilstudie präsentiert, in der die Nutzungsmuster der virtuellen Labore („digitale Lernpfade“) anhand der Logfiles der Schülerinnen und Schüler analysiert werden. Das Thema Flipped Classroom im Physikunterricht der Sekundarstufe I und Auswirkungen auf die Veränderung des individuellen Interesses im Bereich der Elektrizitätslehre werden im Beitrag von Lutz et al. (Kap. 3 in Band 2) genauer beleuchtet. Es werden Ergebnisse zur Veränderung des individuellen Interesses aus einer Vergleichsstudie zwischen dem Flipped Classroom und dem klassischen Physikunterricht im Bereich der Elektrizitätslehre vorgestellt. Becker et al. untersuchen in ihrem Beitrag (Kap. 4 in Band 2) die Lernwirksamkeit Tablet-PC-gestützter Videoanalysen im Mechanikunterricht der Sekundarstufe 2. Die Ergebnisse dieser Studie zeigen, dass die Zeit-Ort-Koordinaten bei Bewegungen mit hoher zeitlicher und räumlicher Genauigkeit digital erfasst sowie in unterschiedlichen Repräsentationsformen visualisiert werden können und damit den experimentellen Lernprozess digital unterstützen. Ausgehend von Simulationen über Virtual- bis hin zu Augmented-Reality-Experimenten wird in dem Beitrag von Mukhamatov et al. (Kap. 5 in Band 2) das naturwissenschaftliche Phänomen optischer Abbildungen durch Sammellinsen entlang des virtuellen Kontinuums exemplarisch an drei multimedial-basierten Erweiterungen realer Experimente beschrieben. Deren Eigenschaften werden abschließend vergleichend diskutiert sowie Vor- und Nachteile gegenübergestellt. In dem Artikel von Schwanke und Trefzger (Kap. 6 in Band 2) wird das Vorgehen zur Erstellung einer Augmented-Reality-Applikation beschrieben. Ein wichtiger Punkt stellt das Konstrukt der Usability dar, deren Unterkategorie der Nutzerzufriedenheit mittels einer explorativen Mixed-Methods-Studie quantitativ und qualitativ evaluiert und berichtet wird. Mithilfe von HyperDocSystems (HDS), einem von der Fachdidaktik Chemie der TU Kaiserslautern entwickelten digitalen Werkzeug, zeigen Fitting et al. (Kap. 7 in Band 2), wie binnendifferenzierende Arbeitsmaterialien von Lehrkräften erstellt werden können. Die Ergebnisse dieser Interventionsstudie zeigen die Benutzerfreundlichkeit und das Interesse von Schülerinnen und Schülern beim Bearbeiten der HyperDocs über eine vierstündige Unterrichtsreihe im Vergleich zu analogen Arbeitsmaterialien im Fach Chemie. Mit der Entwicklung der virtuellen Spielumgebung „MINT-Town“ stellen Dictus und Tiemann (Kap. 8 in Band 2) eine mögliche Umsetzung der Konstrukte Problemlösen und Critical Thinking in den naturwissenschaftlichen Fächern im Rahmen eines motivierenden Lernsettings vor. Der Beitrag von Mühling und Bastian (Kap. 9 in Band 2) zum Thema KI-Labor berichtet von drei digitale Lernumgebungen für den Bereich des maschinellen Lernens bzw. der künstlichen Intelligenz: Perceptren, künstliche neuronale Netze und Verstärkungslernen. Zentral für alle Umgebungen ist eine interaktive Exploration von Systemen, welche durch stärker oder weniger stark geleitete Bearbeitungswege und Aufgaben ergänzt wird. Das abschließende Kapitel von Rieger et al. (Kap. 10 in Band 2) formuliert Gestaltungsprinzipien für schulisch geeignete VR-Lernumgebungen. Im Rahmen des Projekts wird zunächst ein schulrelevanter VR-Prototyp vorgestellt, welcher mit Schülerinnen und Schülern erprobt und hinsichtlich des Designkriteriums „räumliches Präsenzerleben“ evaluiert wurde. Aus den Ergebnissen der empirischen Studie werden allgemeine Gestaltungsprinzipien zu den Bereichen „Selbstlokation“, „Handlungsmöglichkeiten“ sowie „Nutzungshäufigkeit“ abgeleitet.

Als Herausgeberinnen und Herausgeber des Doppelbandes und Vertreterinnen und Vertreter aller fünf am Think-Tank beteiligten Universitätsstandorte in Berlin, Kaiserslautern, Kiel, Landau und Würzburg bedanken wir uns bei der Deutschen Telekom Stiftung für die Initiative zur Einrichtung dieses Think-Tanks sowie die finanzielle Unterstützung und wünschen unseren Leserinnen und Lesern nicht nur eine informative Lektüre, sondern insbesondere Anregungen für eigene Beiträge zur Ausgestaltung der Zukunft des MINT-Lernens.