Zusammenfassung
Der fremde Blick wird im Kontext von Digitalisierung vornehmlich unter dem Aspekt der Überwachung thematisiert. Daneben können dem Blick philosophiegeschichtlich auch andere Funktionen zugeschrieben werden. So gereicht die unmittelbare leibliche Begegnung im Blickaustausch bei Jean-Paul Sartre zur reflexiven Bewusstwerdung des Subjekts oder geht bei Emmanuel Levinas mit einem ursprünglichen ethischen Anspruch einher. Innerhalb digitalisierter Lebenswelten werden demgegenüber immer mehr Begegnungsräume eröffnet, die ohne physische Präsenz auskommen. Vor diesem Hintergrund wird in diesem Beitrag diskutiert, welche Stellung Technologien im Welt-Selbst-Verhältnis des Individuums einnehmen und wie Virtualität sich auf die Erfahrung von Andersheit auswirkt. Im Vordergrund steht dabei immer die Frage, ob eine existentialistische Ethik, die auf leiblicher Begegnung basiert, im Zuge zunehmend entkörperlichter Kommunikation noch gangbar ist – und ob nicht gerade die Offenheit, die die unmittelbare leibliche Erfahrung kennzeichnet, zentral für Bildungsprozesse ist.
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Notes
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In Einklang mit der prominenten Lesart der merleau-pontyschen Leibphänomenologie soll mit dem Leibbegriff in diesem Beitrag derjenige Leib gemeint sein, der physische sowie mentale Aspekte in sich vereint bzw. erst in nachträglicher Differenzierung aufweist. Die Rede vom Körper dahingegen bezieht sich ausdrücklich auf die physische Existenz des Leibes.
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An anderer Stelle schreibt Levinas: „Das Antlitz in seiner Nacktheit als Antlitz präsentiert mir die Blöße des Armen und des Fremden“ (Levinas, 1987[1961], 308). Quasi in Umkehrung findet sich dieser Gedanke bei Sartres Betrachtungen offizieller Porträts. Hier entblößt gerade der Blick hinter den Blick das reine, immanente, verletzliche Fleisch des Anderen (vgl. Sartre, 2010[1970]; Breil 2021, 204–211). Die Verletzlichkeit, die dergestalt bei Sartre an der reinen Immanenz des Menschen zu haften scheint, was einer dualistischen Interpretation den Weg ebnen würde, ist bei Levinas an die absolute Transzendenz der Andersheit gebunden. Lediglich in Levinas’ Betrachtungen zur Scham lässt sich beschämende Nacktheit als Verweis auf Faktizität deuten, als „Bloßstellung unseres Seins“ (Levinas, 2005[1982], 43), die als etwas erfahren wird, das nicht geflohen werden kann. Auch hier lässt Levinas allerdings nicht den Hinweis vermissen, dass es bei den Betrachtungen „nicht nur um die körperliche Nacktheit“ (Levinas, 2005[1982], 41) geht, sondern um eine Nacktheit von transzendentem Charakter.
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So zeigt etwa Bernadette Kneidinger-Müller (2017), dass der Vorwurf, soziale Medien hätten ihre User/innen narzisstisch gemacht, zu kurz greift. Die Stream-Identität ist vielmehr Ausdruck eines Wertewandels weg von der Innen- und hin zur Außenorientierung, der schon vor dem Aufkommen Sozialer Medien stattgefunden hat (vgl. Kneidinger-Müller, 2017, 70).
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Trotz der geteilten Hervorhebung von Gleichheit kritisiert Levinas Merleau-Ponty für dessen anti-humanistische Tendenzen, die mit der Grundlegung aller im Fleisch einhergeht und keinen Raum für die Andersheit des Anderen lässt (vgl. Bedorf, 2019, 74). Die Gleichheit, an der Merleau-Ponty interessiert ist, scheint eine ontologische zu sein, während Levinas unbedingter Fokus auf einer ethischen Gleichstellung liegt, die jenseits von Seinskategorien beschrieben werden muss.
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Zwar wartet Fuchs nicht mit einer Definition des Virtuellen auf, doch sein Argumentationsgang lässt darauf schließen, dass Virtualität hier im weitesten Sinne als Simulation i. S. einer Vorstellung zu verstehen ist. Wie bei Waldenfels geht es Fuchs also nicht um die (Nicht-)Realität des Anderen, sondern um den Anderen in seinen Möglichkeiten.
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Demgegenüber hebt Fuchs jedoch die Widerständigkeit hervor, die Levinas der radikalen, uneinholbaren Andersheit des Anderen zuschreibt, die auch bei der körperlich-leiblichen Begegnung mit dem Anderen eine gewisse Projektionsfläche eröffnet (vgl. Fuchs, 2014, 164).
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Auf diese Weise kann, so Fuchs, parallel zum Anstieg entkörperlichter Kommunikation der Rückgang empathischer Fähigkeiten insbesondere seit den 2000er Jahren erklärt werden (vgl. Konrath et al., 2011).
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Breil, P. (2023). Virtuelle Blicke. Zur unmittelbaren Leiberfahrung als Ursprung von Ethik. In: Buck, M.F., Zulaica y Mugica, M. (eds) Digitalisierte Lebenswelten. Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66123-9_7
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