Zusammenfassung
Wir leben in einer ‚Kultur der Digitalität‘, in der Menschen mit Formen der digitalen Selbstver-messung konfrontiert werden. Der Begriff des Ver-messens artikuliert einerseits die Ver-messung des Lebens in Form von Zahlen. Andererseits trägt er die Bedeutung sich zu vermessen, also etwas falsch zu messen. An dieser Doppeldeutigkeit setzt der Artikel an und befragt in einem ersten Teil das Phänomen des Self-Trackings auf Anknüpfungspunkte an eine geisteswissenschaftliche Diskussion im Anschluss an Governmentality Studies. Problematisiert werden anschließend die Messung in Zahlen und deren Bedeutung für das ver-messene Selbst. Für die Eröffnung eines Anders-Sein-Könnens wird im abschließenden dritten Teil die Bedeutung von Bildung als kritische Haltung diskutiert. Ziel des Artikels ist eine Re-aktualisierung des Bildungsbegriffs in digitalen Lebenswelten.
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Notes
- 1.
Weitere Typen digitaler Selbstver-messung sind nach Selke: An- und Abwesenheitsbestimmung (Human Tracking), Erinnerungshilfe und Biografiegenerator (Human Digital Memory) und Unterwachung und Selbstverteidigung durch Daten (Sousveillance) (vgl. Selke 2016a, S. 6 f.).
- 2.
Im Vergleich zum Self-Tracking sind klassisch-historische Technologien des Selbst wie zum Beispiel Askese auf den Bereich des guten Lebens ausgerichtet. In Askese, Diätik und Weiteren steht nicht die quantifizierbare Leistungssteigerung im Mittelpunkt, die auf eine bessere Stellung an neoliberalen Märkten abzielt (vgl. hierzu Fröhlich, 2019, S. 210). Bei der antiken Sorge um sich steht viel mehr im Mittelpunkt, dass niemandem von außen auferlegt wird, was ein gutes Leben ist (vgl. Röcke, 2021, S. 174). Es erschließt sich in der nicht veröffentlichten Auseinandersetzung mit sich selbst.
- 3.
Mit der Fokussierung auf die Prozessstruktur von Bildung betont Hans-Christoph Koller die Bedeutung von krisenhaften Erfahrungen als Anlass von Transformationen. Insofern beschreibt der transformatorische Bildungsbegriff einen Prozess bildender Erfahrung. (vgl. ausführlich Koller, 2018). Der Grundgedanke dieser Bildungstheorie knüpft an das foucaultsche Verständnis von Erfahrung an, die etwas ist, „aus dem man verändert hervorgeht.“ (Foucault, 2005a, S. 52) Hinsichtlich dieser foucaultschen Fassung des Erfahrungsbegriffes als transformierende Kraft zeigt Thomas Lemke eine enge Verknüpfung zum Verständnis von Kritik bei Michel Foucault auf (vgl. ausführlich Lemke, 2019).
- 4.
Unter dem Begriff Ideologie werden hier Phänomene und Strukturen verstanden, die nicht reflexiv hinterfragt werden.
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Gröschner, M., Krückel, F. (2023). sich selbst ver-messen. In: Buck, M.F., Zulaica y Mugica, M. (eds) Digitalisierte Lebenswelten. Kindheit – Bildung – Erziehung. Philosophische Perspektiven. J.B. Metzler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66123-9_10
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