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Ein Fünftel aller gesetzlich versicherten Pflegebedürftigen in Deutschland lebt dauerhaft im Pflegeheim. Sie sind in der Regel hochbetagt und multimorbid, zwei Drittel gelten als dementiell erkrankt. Angesichts der damit verbundenen Herausforderungen für die Arzneimittelversorgung dieser Menschen nimmt der Beitrag häufige und potenziell kritische Arzneimitteleinsätze in den Blick: den dauerhaften Einsatz von Antipsychotika bei Demenz bzw. von Benzodiazepinen/Z-Substanzen, die Verordnung von Wirkstoffen gemäß PRISCUS-Liste sowie die Polymedikation. Ausgehend von den literatur- und routinedatenbasierten Analysen des nunmehr abgeschlossenen Innovationsfonds-Projekts „Qualitätsmessung mit Routinedaten in der Pflege (QMPR)“ versteht der Beitrag die Arzneimittelversorgung von Pflegeheimbewohnenden nicht nur als Ergebnis ärztlicher Performanz, sondern verortet diese Prozesse an den Schnittstellen der Versorgung. Während die routinedatenbasierten Ergebnisse zur Häufigkeit potenziell kritischer Arzneimitteleinsätze insgesamt auf deutliches Optimierungspotenzial verweisen, zeigt sich auch: Optimierungsmaßnahmen müssen auf mehreren Ebenen ansetzen und den Stellenwert von Qualifizierungsmaßnahmen für die an der Versorgung beteiligten Berufsgruppen und einer zielgerechten, berufsgruppenübergreifenden Zusammenarbeit anerkennen. QMPR-Indikatoren, die für jedes Pflegeheim einzeln die Häufigkeit potenziell kritischer Arzneimitteleinsätze messen, können hier einen wichtigen Beitrag für mehr Transparenz leisten und letztlich Awareness schaffen.
1 Bedarf und Herausforderungen der Arzneimittelversorgung von Pflegeheimbewohnenden
1.1 Betagte Pflegeheimbewohnende – Menschen mit komplexem Versorgungsbedarf
Rund 700.000 Menschen und damit ein Fünftel (20,7 %) aller gesetzlich versicherten Pflegebedürftigen in Deutschland leben in Einrichtungen der stationären Langzeitpflege (BMG 2022). Sie sind i. d. R. hochbetagt – 77 % der vollstationär gepflegten Frauen und 50 % der Männer sind mindestens 80 Jahre alt (Matzk et al. 2022) – und von multiplen Beschwerdebildern betroffen. Körperliche ebenso wie psychische Beeinträchtigungen sowie Verhaltensstörungen und deren oftmals progrediente Verläufe führen zu einem hohen Grad an Fragilität und Vulnerabilität. Potenziert ist damit auch der Bedarf und die Komplexität einer angemessenen gesundheitlichen Versorgung, die auf den Erhalt einer bestmöglichen Lebensqualität und eines höchstmöglichen Grades an Autonomie der Bewohnenden abzielt.
Die hohe Prävalenz der Demenz ist dabei eine zentrale Herausforderung für alle Beteiligten: Im Schnitt gelten rund zwei Drittel aller Bewohnenden (69,0 %) in deutschen Pflegeheimen als dementiell erkrankt (Behrendt et al. 2022a). Im Laufe ihrer Erkrankung tritt bei der Mehrzahl von ihnen das sogenannte herausfordernde Verhalten (BPSD – Behavioral and Psychological Symptoms in Dementia) auf – und damit Apathie, Depressionen, Angststörungen, Aggressivität, Hinlauftendenzen oder auch gestörte Tag-Nacht-Rhythmen (Preuss et al. 2016; vgl. auch Brodaty und Arasaratnam 2012; DGPPN und DGN 2016; DGPPN). In welcher Intensität und Art dieses herausfordernde Verhalten bei den Betroffenen in Erscheinung tritt, unterscheidet sich je nach Status und Art der dementiellen Erkrankung – und unterstreicht den Anspruch an eine angemessene (nicht-) pharmakologische Prävention und Reaktion (DGPPN und DGN 2016; DGPPN).
Als weitere zentrale Herausforderung seitens der Bewohnenden und gleichermaßen Bedingungsfaktor eines angemessenen Arzneimitteleinsatzes sei hervorzuheben, dass der Umzug in eine Pflegeeinrichtung für diese Menschen in der Regel den Einzug an den Ort der letzten Lebensphase darstellt – und damit auch des Sterbens. Eine aktuelle Analyse mit Routinedaten der AOK zeigt: Ein Drittel aller im Jahr 2019 verstorbenen AOK-Versicherten (31,0 %) lebte in einem Pflegeheim (Schwinger et al. 2022).
Die Versorgung von Bewohnenden meint dabei nicht nur die Pflege und die Arzneimittelversorgung, sondern auch die haus- und fachärztliche Performanz. Eine im Kontext des Pflege-Reports 2017 durchgeführte Befragung von Pflegekräften zum Einsatz von Antipsychotika bei dementiell erkrankten Pflegeheimbewohnenden unterstreicht das Ineinandergreifen von pflegerisch und medizinisch Versorgenden: Ein Viertel (26,7 %) der Befragten wirkte demnach regelmäßig, etwas mehr als die Hälfte (57,4 %) gelegentlich auf die Verordnung von Psychopharmaka hin (Schwinger et al. 2017). Die Arzneimittelversorgung von Bewohnenden in deutschen Pflegeheimen gliedert sich ein in eine komplexe, berufsgruppen- und auch sektorenübergreifende Gesamtversorgung durch ambulant tätige Haus- und Fachärztinnen und -ärzte, Pflegekräfte, therapeutische Fachleute, Apothekerinnen und Apotheker oder auch den Rettungsdienst und das Krankenhauspersonal. Sie bringt erhebliche Herausforderungen für die gesundheitlich Versorgenden ebenso wie für die Bewohnenden selbst und ihre Angehörigen mit sich. Das Pflegeheim ist dabei ein Setting, in dem diese Menschen wohnen und die Arzneimittelversorgung mehrheitlich stattfindet (Behrendt et al. 2022b).
1.2 Potenziell kritische Arzneimitteleinsätze und ihre Risiken für betagte Pflegeheimbewohnende
Insbesondere die Morbidität und das Alter von Pflegeheimbewohnenden wirken in der Summe wie ein Verstärker der ohnehin mit zahlreichen Wirkstoffen assoziierten unerwünschten Arzneimittelwirkungen. Als ursächlich für dieses Risikoniveau gelten vor allem altersbedingte physiologische Veränderungen wie eine zunehmende Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke und eine beeinträchtigte Nieren- und Leberfunktion (Bain et al. 2017; Clegg et al. 2013; Glaeske et al. 2012). Die sich verändernde Verstoffwechselung (Pharmakokinetik bzw. Pharmakodynamik) bei betagten Menschen führt zu einer höheren Empfänglichkeit für sedierende und anticholinerge Nebenwirkungen (Holt et al. 2010). Hinzu kommen unter anderen medikamentöse Wechselwirkungen aufgrund der häufig praktizierten Polymedikation (Leitliniengruppe Hessen und DEGAM 2021). Mit zunehmendem Alter und abnehmender Immunabwehr steigt ferner das Risiko für Infektionskrankheiten, die ebenso i. d. R. medikamentös behandelt werden – und in der Summe damit auch das Risiko für unerwünschte Arzneimittelinteraktionen (Corsonello et al. 2015).
Die Gabe von antipsychotischen Wirkstoffen bei dementiell erkrankten Bewohnenden bezeichnet einen wichtigen Aspekt der Arzneimittelversorgung im Pflegeheim – nicht zuletzt angesichts der beträchtlichen Prävalenz der Demenz. So gelten Antipsychotika nach Analgetika als die am zweithäufigsten verordneten Arzneimittel bei diesen Bewohnenden (Huber et al. 2012; Jacob et al. 2017). Der klinische Nutzen wird hier – im Abgleich mit den erheblichen Risiken – als moderat eingeschätzt (Kirkham et al. 2017). So erhöhen sich bei einer Antipsychotika-Einnahme insbesondere die Risiken für zerebrovaskuläre, d. h. die Gehirndurchblutung betreffende Störungsbilder, für einen rascheren Abbau kognitiver Fähigkeiten und letztlich für eine erhöhte Mortalität bei betagten dementiell erkrankten Menschen (ausführlicher in Behrendt et al. 2022a). Die Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und die Deutsche Gesellschaft für Neurologie (DGN) formulieren in der Leitlinie Demenzen (2016) explizit: Antipsychotika seien bei erheblicher und persistierender BPSD-Symptomatik nur als letztes Mittel der Wahl, kurzfristig, niedrig dosiert und engmaschig kontrolliert zu verabreichen. Eine Gabe von Antipsychotika sei darüber hinaus, so das britische Pendant, bei Verbesserung ebenso wie bei Ausbleiben der BPSD-Symptomatik zu beenden (NICE 2018).
Ebenso kann die Dauereinnahme von Benzodiazepinen und Z-Substanzen – hierzu zählen Anxiolytika, aber auch Hypnotika und Sedativa wie bspw. Zolpidem und Zopiclon – zu vielfältigen somatischen, psychiatrischen und neuropsychologischen Beschwerden führen. Insbesondere aufgrund ihres hohen Risikos für eine Toleranz- und Suchtentwicklung sind diese Wirkstoffe maximal vier Wochen verordnungsfähig (G-BA 2020; Schröder 2013). Ein großer Teil der Medikamentenabhängigkeit bezieht sich auf genau diese Arzneimittel (Buth et al. 2019; Janhsen et al. 2015; Verthein et al. 2013; Wolter 2017; Wucherer et al. 2017). Kurzfristig können sie jedoch u. a. bei Angst- und Schlafstörungen, bei Epilepsie oder auch bei Spasmen indiziert sein (Azermai et al. 2011a; Bourgeois et al. 2012; Verthein et al. 2016). Während die Verordnungsprävalenz von Benzodiazepinen und Z-Substanzen in vielen Ländern zurückgeht, ist diese Reduktion bei Älteren wesentlich geringer ausgeprägt und die Prävalenz des (langfristigen) Einsatzes sehr hoch (Jackson et al. 2014; Kurko et al. 2015).
Bei Pflegeheimbewohnenden bzw. generell bei betagten Menschen zählen diese Wirkstoffe zu den häufigsten Verordnungen potenziell inadäquater Medikation (u. a. Allegri et al. 2017; Anrys et al. 2018; Barnett et al. 2011; Herr et al. 2017; Hillen et al. 2019; Parsons et al. 2012; Schwabe und Paffrath 2015). Gemeint sind hiermit Arzneimittel, deren Nutzen bei Betagten aus klinischer Sicht als geringer einzuschätzen ist als deren Risiken und Nebenwirkungen (Thiem 2012). Relevante Risiken betreffen hierbei unter anderen ansteigende Leberwerte und gastrointestinale Blutungen (DEGAM 2017). Die in Deutschland seit 2010 etablierte und aktuell überarbeitete Zusammenstellung von 83 kritischen Wirkstoffen und ihren sichereren Behandlungsalternativen ist die PRISCUS-Liste (Holt et al. 2010).
Als stärkster Prädiktor für die Verordnung einer potenziell inadäquaten Medikation für Ältere gilt die Polymedikation (Morin et al. 2016; Nothelle et al. 2017; Pohontsch et al. 2017). Die Definitionen in der Forschung variieren jedoch von mindestens fünf bis mindestens zehn in einem bestimmten zeitlichen Rahmen und Setting verordneten unterschiedlichen Wirkstoffen (Masnoon et al. 2017). Zu den schwerwiegenden Folgewirkungen der Polymedikation zählen u. a. eine Verschlechterung kognitiver Fähigkeiten (Peron et al. 2011), das Auftreten von Delirien (Bohlken et al. 2017) und somatische Funktionsbeeinträchtigungen (Maher et al. 2014). Das Risiko für Arzneimittelinteraktionen kann neue Beschwerdebilder und damit weitere Verordnungen hervorrufen. Polymedikation gefährdet nicht zuletzt die Adhärenz der Patientinnen und Patienten (Leitliniengruppe Hessen und DEGAM 2021). Die Auswertung von Routinedaten einer deutschen Krankenkasse identifizierte Polymedikation als stärksten Risikofaktor für den Kontakt zu Akutversorgenden, die den Bereitschaftsdienst, den Besuch der Notaufnahme und ungeplante Krankenhauseinweisungen von Pflegeheimbewohnenden umfassten (Fassmer et al. 2020; weitere Befunde zur erhöhten Hospitalisierungswahrscheinlichkeit vgl. Cherubini et al. 2012; Lalic et al. 2016; Wang et al. 2018).
Der Beitrag möchte vor diesem Hintergrund, dekliniert an vier Beispielen häufiger und als potenziell kritisch einzuschätzender Arzneimitteleinsätze die Herausforderungen, die Praxis und die Beeinflussbarkeit der medikamentösen Behandlung von Pflegeheimbewohnenden vorstellen und diskutieren:
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den dauerhaften Einsatz von Antipsychotika bei Demenz,
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den dauerhaften Einsatz von Benzodiazepinen und Z-Substanzen,
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die Verordnung potenziell für Ältere ungeeigneter Wirkstoffe gemäß PRISCUS-Liste sowie
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die häufig praktizierte Polymedikation.
Ein erhöhtes Risiko für Stürze (Berry et al. 2013; Bor et al. 2017; DEGAM 2017; Endres et al. 2016; Henschel et al. 2015; Landreville et al. 2013; Olazaran et al. 2013; Rojas-Fernandez et al. 2015; Seppala et al. 2018; Wang et al. 2018) sowie eine durch die entsprechenden Neben- und Folgewirkungen der Medikation reduzierte Lebensqualität (DGPPN und DGN 2016; Harrison et al. 2018; Leitliniengruppe Hessen und DEGAM 2021) ist allen hier betrachteten vier Arzneimitteleinsätzen gemein.
Die aus strukturierten Literaturrecherchen und Auswertungen von AOK-Routinedaten gewonnenen Erkenntnisse gehen insbesondere auf das im Juli 2021 beendete Innovationsfonds-Projekt Qualitätsmessung mit Routinedaten in der Pflege (QMPR) zurück (Behrendt et al. 2022a; Behrendt et al. 2022b). Eine Analyse zum Auftreten multipler kritischer Arzneimitteleinsätze in bestimmten Einrichtungen wurde eigens für diesen Beitrag ergänzt.
2 Häufigkeit potenziell kritischer Arzneimitteleinsätze bei Pflegeheimbewohnenden: Ergebnisse der QMPR-Indikatoren
2.1 Datengrundlage und Operationalisierung der Arzneimitteleinsätze
Die hier präsentierten Ergebnisse sind aus dem nunmehr abgeschlossenen Innovationsfonds-Projekt QMPR ausgekoppelt und basieren auf den Routinedaten aller elf AOK-Kranken- und Pflegekassen (weitere Informationen vgl. Band I, Behrendt et al. 2022b). Sie umfassen damit alle AOK-Versicherten (60+ Jahre) mit abgerechneten Leistungen der vollstationären Dauerpflege nach § 43 SGB XI in mindestens einem Quartal des Jahres 2018, die zudem mindestens ein Quartal im Berichtsjahr in der Einrichtung lebten. Bewohnende, die in ein anderes Pflegeheim oder in das ambulante Pflegesetting wechselten, sind nicht Bestandteil der Auswertungen. Aus methodischen Gründen werden darüber hinaus ausschließlich Einrichtungen mit mindestens 30 AOK-versicherten Bewohnenden betrachtet – bei kleineren Fallzahlen könnten sich sonst auffällige Verordnungen bei wenigen Bewohnenden zu stark auf das Einrichtungsergebnis auswirken. Eine Aussage zur Qualität der Arzneimittelversorgung wäre hier nicht möglich (detaillierte Ausführungen zum sogenannten Fallzahl-Prävalenz-Problem in Band I, Behrendt et al. 2022b). In der Summe stehen die hier vorgestellten Ergebnisse für insgesamt 260.483 AOK-versicherte Bewohnende in 5.006 Pflegeheimen und damit in rund der Hälfte aller bundesweiten Einrichtungen in Deutschland.
Für die Analyse des Antipsychotika-Einsatzes bei Demenz verkleinerte sich diese Studienpopulation auf 113.523 Bewohnende in 2.516 Pflegeheimen; der Grund: Hier stehen die dementiell Erkrankten im Vordergrund und somit nur jene Einrichtungen, die mindestens 30 Bewohnende mit dieser Erkrankung aufweisen. Um das bewohnendenseitige Risikoprofil der jeweiligen Pflegeeinrichtung zu berücksichtigen, erfolgt ferner eine Adjustierung nach Alter und Geschlecht, Pflegegrad, Vorliegen einer Demenz (Ausnahme: Antipsychotika bei Demenz, hier sind ja per se nur Bewohnende mit Demenz betrachtet) sowie Komorbiditäten nach dem Elixhauser-Komorbiditätsindex.Footnote 1 Letzterer umfasst 30 Erkrankungsgruppen, stammt aus der Analyse von administrativen Diagnosedaten im Setting Krankenhaus und fokussiert dabei ursprünglich die Krankenhaussterblichkeit, die Verweildauer und die Versorgungskosten (Elixhauser et al. 1998; Quan et al. 2005; zum Adjustierungsverfahren ausführlicher vgl. Behrendt et al. 2022b).
Die Definitionen für eine routinedatenbasierte Messung der Dauerverordnung von Antipsychotika bei Demenz, der Benzodiazepine und Z-Substanzen, der Verordnung von PRISCUS-Wirkstoffen sowie der Polymedikation fasst Tab. 5.1 zusammen. Es handelt sich dabei um die in QMPR entwickelten Indikatoren B1 bis B4 zur Versorgungsqualität an der Schnittstelle Arzneimittelversorgung (vgl. auch Behrendt et al. 2022a).
2.2 Häufigkeit auffälliger Arzneimittelverordnungen je Pflegeheim
Die in QMPR entwickelten routinedatenbasierten Indikatoren an der Schnittstelle der Arzneimittelversorgung von Pflegeheimbewohnenden messen die Häufigkeit der (Dauer-)Verordnung von Antipsychotika bei Demenz, Benzodiazepinen und Z-Substanzen, PRISCUS-Wirkstoffen und Polymedikation für das Berichtsjahr 2018. Tab. 5.1 gibt einen zusammenfassenden Überblick über die Definition dieser Einsätze auf Basis der verwendeten Abrechnungsdaten. Die Ergebnisse weisen auf Einrichtungsebene – d. h. für jedes der einbezogenen Pflegeheime – die Prävalenz des jeweiligen potenziell kritischen Arzneimitteleinsatzes aus.
Am häufigsten betroffen sind Pflegeheimbewohnende offensichtlich von einer Polymedikation: Im Schnitt ein Drittel (31,9 %) der Bewohnenden je Pflegeheim erhielt mindestens neun verschiedene Wirkstoffe innerhalb eines Quartals des Jahres 2018 (Tab. 5.2).Footnote 2
Mehr als ein Fünftel (21,8 %) wies mindestens eine Verordnung auf, die einen Wirkstoff der PRISCUS-Liste beinhaltete und damit als für die ältere Bevölkerung inadäquat eingestuft ist. Die beiden Dauerverordnungsindikatoren zu Antipsychotika bei Demenz und Benzodiazepinen/Z-Substanzen erreichten hier im Schnitt Anteile von 8 % bzw. 7 % und sind damit wesentlich weniger prävalent. Es handelt sich hier jedoch um eine sehr strenge Betrachtung des Verordnungsumfangs zur Definition einer Dauerverordnung (siehe Definition in Tab. 5.1), die durch die entsprechenden Leitlinien explizit zu vermeiden ist. Insofern mögen die Anteile im Vergleich gering sein, beschreiben jedoch etwas weniger als ein Zehntel der Bewohnenden in der jeweiligen Stichprobe (Tab. 5.2).
Die rohen (nicht risikoadjustierten) Anteile der Bewohnenden mit mindestens einer entsprechenden Verordnungsauffälligkeit beim jeweiligen Aspekt verdeutlichen: Die gemessene Häufigkeit variiert zwischen den Pflegeheimen teilweise erheblich (Tab. 5.2). Ein Blick auf das Viertel (Perzentil 75) der Pflegeheime mit den jeweils höchsten Anteilen zeigt: In diesen Einrichtungen erhielten mindestens 11 % der dementiell erkrankten Bewohnenden 2018 langfristig Antipsychotika, ebenso mindestens 11 % der Bewohnenden im gleichen Berichtsjahr dauerhaft Benzodiazepine und Z-Substanzen. Mindestens jede vierte Person in den 25 % der Pflegeheime mit den höchsten Anteilen wies mindestens eine PRISCUS-Verordnung, 40 % der Bewohnenden wiesen eine Polymedikation auf (Tab. 5.2).
Neben den „rohen“ Ergebnissen sind in Tab. 5.2 auch die risikoadjustierten Werte dargestellt (standardisierte Morbiditätsrate, SMR). Tab. 5.2 zeigt hier ein unterschiedliches Ausmaß an Varianz je nach Art des auffälligen Arzneimitteleinsatzes: In einem Viertel der 5.006 Pflegeheime übertraf der beobachtete Wert an Bewohnenden mit Polymedikation bzw. mit PRISCUS-Verordnung jenen angesichts des Heimprofils statistisch erwarteten Einsatz um jeweils 20 %. Mit Blick auf die Dauerverordnung von Antipsychotika bei Demenz waren dies sogar 40 % (hier Bezug zum Viertel der 2.516 Pflegeheime), bei Benzodiazepinen/Z-Substanzen 50 %.
2.3 Multiple Auffälligkeiten in Pflegeeinrichtungen
Neben den Einzelergebnissen zu kritischen Arzneimitteleinsätzen ist auch von besonderem Interesse, inwieweit Pflegeheime bei mehr als einem der hier betrachten Themen auffällige Werte (im Folgenden Auffälligkeit genannt), d. h. eine Position im Viertel der Einrichtungen mit den höchsten risikoadjustierten Anteilen an Bewohnenden mit den jeweiligen Verordnungspraxen (SMR-Wert – Perzentil 75), aufweisen.
Abb. 5.1 und 5.2 veranschaulichen für die jeweiligen Pflegeheime, die in einem bestimmten Arzneimittelindikator im Jahr 2018 auffällige Werte aufwiesen, inwieweit diese Auffälligkeiten auch bei den weiteren hier vorgestellten Arzneimittelindikatoren bestanden.
Auf Basis aller Pflegeheime mit mindestens 30 AOK-versicherten Bewohnenden 2018 (n = 5.006) – und damit unter Nichtbeachtung der Dauergabe von Antipsychotika bei Demenz – zeigt sich: Zwischen 28 und 40 % liegt der Anteil jener Einrichtungen, die ausschließlich beim jeweils betrachteten Arzneimitteleinsatz im auffällig prävalenten Bereich zu verorten sind – und bei keinem weiteren der hier gemessenen Medikationsindikatoren (Abb. 5.1). Rund ein Viertel (26,0 %) der Pflegeheime mit mindestens einer Auffälligkeit weist zudem Auffälligkeiten sowohl bei der Dauergabe von Benzodiazepinen/Z-Substanzen als auch bei der Verordnung von PRISCUS-Wirkstoffen und bei der Polymedikation auf.
Für lediglich die Hälfte aller Pflegeheime mit mindestens 30 dementiell erkrankten AOK-versicherten Bewohnenden (49,8 %) mit potenziell kritischem Antipsychotika-Einsatz bei Demenz lassen sich keine Auffälligkeiten mit Blick auf die anderen drei hier betrachteten Arzneimittelindikatoren feststellen (Abb. 5.2). Dieser Anteil beläuft sich bei Pflegeheimen mit auffälligem Einsatz von Benzodiazepinen/Z-Substanzen auf 27 %, bei Polymedikation auf rund 30 %. Bei Einrichtungen mit PRISCUS-Verordnungsraten im auffälligen Bereich ergaben sich lediglich bei 23 % der Einrichtungen keine weiteren auffälligen Indikatorenwerte (Abb. 5.2). Demgegenüber sind 7 bis 10 % der Pflegeheime mit auffälligen Werten bei allen vier Arzneimitteleinsätzen oberhalb des Perzentils 75 (SMR) positioniert.
Das gemeinsame Auftreten ist nebst zu vermutenden ähnlichen Ursachen im Kontext der Arzneimittelversorgung von Pflegeheimbewohnenden auch rein methodisch begründet, zählen doch – wie bereits beschrieben – Benzodiazepine und Z-Substanzen zu den häufigsten Verordnungen potenziell inadäquater Medikation, zu deren stärksten Prädiktoren die Polymedikation gehört. In der Gesamtschau wird aber dennoch deutlich, dass Auffälligkeiten in einigen Einrichtungen überproportional häufig auftreten. Dies liegt insofern nahe, als – hierzu im folgenden Abschnitt mehr – strukturelle und qualifikatorische Voraussetzungen für die leitlinienkonforme Arzneimittelversorgung als fördernde bzw. hemmende Faktoren bekannt sind.
3 Ansätze zur Optimierung der Arzneimittelversorgung bei Pflegeheimbewohnenden
Zahlreiche Forschungsarbeiten haben sich mit Maßnahmen zur Optimierung der Arzneimitteltherapie bei älteren Menschen oder/und bei Pflegeheimbewohnenden befasst. Viele stammen aus dem internationalen Kontext und können aufgrund unterschiedlicher Gesundheits- und in diesem Sinne auch Pflegesysteme nicht 1:1 auf die Versorgung von Pflegeheimbewohnenden in Deutschland übertragen werden. Doch auch Befunde aus dem Bundesgebiet liegen vor und markieren Ansätze einer Verbesserung. Und: Auch wenn im vorliegenden Beitrag vier spezifische Einzelaspekte des Arzneimitteleinsatzes bei Pflegeheimbewohnenden betrachtet wurden, so lassen sich doch grundsätzliche Eckpfeiler bzw. Anforderungen für eine optimierte medikamentöse Versorgung im Pflegeheim ausmachen – so auch die von van der Spek et al. (2013) herausgearbeiteten vier interagierenden, mit der „appropriateness“ und der „frequency“ assoziierten Bereiche der Antipsychotika-Verordnung. Diese findet im Spannungsfeld von erkrankungs- und versorgungsrelevanten Eigenschaften der Bewohnenden, des sozialen Umfelds, des pflegerischen Alltags und der Qualifikation der Pflegenden (Ressourcen, Arbeitsbelastung und -zufriedenheit), der Qualifikation und Verordnungspraxis der behandelnden ärztlichen Fachleute, der Optionen des Einbezugs von weiteren Versorgenden bspw. für psychosoziale Interventionen sowie der Kultur, Ausstattung und Spezialisierung der Einrichtung selbst statt (van der Spek et al. 2013).
3.1 Strukturierte Erfassung und Überprüfung der Medikation
Prozessual besitzen die Medikationsanamnese und die Erstellung eines Behandlungs- und Arzneimittelplans mit individueller Risiko-Nutzen-Kalkulation für jeden Bewohnenden des Pflegeheims eine immense Bedeutung. Die entsprechenden medizinischen Leitlinien fordern die dortige Dokumentation der aktuellen Medikation, der Darreichung, Dosis und Einnahme- bzw. Verordnungszeitpunkte sowie die Prüfung des Plans unter Integration der Erfahrungen und Perspektiven der Betroffenen und des Versorgungsteams (Leitliniengruppe Hessen und DEGAM 2021; NICE 2016). Relevant sind ebenso die sogenannte Bedarfsmedikation (Dörks et al. 2019) und rezeptfreie Medikamente (DEGAM 2017; Leitliniengruppe Hessen und DEGAM 2021; NICE 2015; NICE 2017). Zu eruieren ist dabei auch, so die britische Leitlinie Multimorbidity: clinical assessment and management, inwieweit nicht-pharmakologische Behandlungen eine Alternative zur jeweiligen Arzneimittelgabe sein können (NICE 2016). Belege und Hinweise für die Wirksamkeit nicht-pharmakologischer Interventionen im Sinne einer reduzierten Verordnungshäufigkeit finden sich in zahlreichen Studien bspw. für Benzopdiazepine und Z-Substanzen (de Souto Barreto et al. 2016; Dou et al. 2019; Smith und Tett 2010; Tordoff et al. 2016). Auch die Leitlinie Demenzen enthält diesbezügliche Empfehlungen (DGPPN und DGN 2016). Der Medication Appropriateness Index (MAI) ist eines der Tools, um die Medikation der Bewohnenden im Hinblick u. a. auf den individuellen Nutzen, die Interaktionen und die auftretenden Nebenwirkungen zu prüfen und nicht (mehr) indizierte Arzneimittel zu detektieren (Leitliniengruppe Hessen und DEGAM 2021).
Eine quasi institutionalisierte Nutzung von validierten Medikation-Screeningtools zur Überprüfung der Qualität der Arzneimittelverordnung bei betagten Bewohnenden steht trotz Vorhandensein derartiger Instrumente nach wie vor aus unterschiedlichen Gründen aus. Eine qualitative Befragung von 47 Hausärztinnen und -ärzten in Deutschland stellte hier unzureichendes Wissen zur PRISCUS-Liste, alternative Routinen der regelmäßigen Medikationsanalyse (wie Blutentnahmen und das Erkundigen nach aktuellen Nebenwirkungen) sowie Vorbehalte gegenüber der PRISCUS-Liste (als Einschränkung der ärztlichen Autonomie) heraus (Pohontsch et al. 2017). Dabei ermöglicht die in Deutschland gängige PRISCUS-Liste in unkomplizierter Manier die Identifikation potenziell inadäquater Medikation und möglicher Alternativen sowie explizite Maßnahmen wie Dosisanpassungen und notwendige Kontrolluntersuchungen (Holt et al. 2010). Warum also nicht die PRISCUS-Liste in das Erstassessment bei Einzug ins Pflegeheim integrieren (vgl. Motter et al. 2018) – und in das Monitoring der Medikationspläne im Verlauf? In einer gemeinsamen Studie der Universität Bonn mit der AOK Rheinland/Hamburg und dem Apothekerverband Nordrhein wurde die Machbarkeit von Medikationsanalysen durch heimversorgende Apothekerinnen und Apotheker untersucht. Bei 94 Heimbewohnenden wurden 154 arzneimittelbezogene Probleme (im Schnitt 1,6 pro Person) identifiziert, darunter 40 % Arzneimittelwechselwirkungen, 16 % potenziell inadäquate Medikationen und 14 % ungeeignete Dosierungen. Die Umsetzungsrate der von den Apotheken an die Hausärztinnen und Hausärzte kommunizierten Empfehlungen war mit 33 % relativ gering, was vor allem auf die noch wenig etablierte interprofessionelle Zusammenarbeit zurückgeführt wurde (Bitter et al. 2019). Nachholbedarf wurde auch in einer Studie aus der Schweiz berichtet, in der 420 Pflegedienstleitungen in Alten- bzw. Pflegeheimen interviewt wurden: 65 % überprüften ihrer Aussage zufolge zwar die Arzneimittelgabe regelmäßig, jedoch nur jede zehnte Person griff dabei auf ein Screening-Tool für potenziell inadäquate Medikation zurück. Ein hierfür standardisiertes Verfahren fand sich in lediglich 7 % der Pflegeeinrichtungen (Niederhauser et al. 2019).
3.2 Nutzung digitaler Unterstützung
Auch digitale Lösungen wie sogenannte Computerised Clinical Decision Support Systems (CCDSS) können hier einen Beitrag zur Qualität des Arzneimittelmanagements bei Pflegeheimbewohnenden leisten. Die britische Leitlinie Medicines optimisation: the safe and effective use of medicines to enable the best possible outcomes (2015) empfiehlt grundsätzlich den Einsatz derartiger digitaler Anwendungen in Institutionen des Gesundheitswesens (NICE 2015). Ziel dieser Software-Implementierungen ist gleichermaßen das Vorbeugen und Identifizieren von unerwünschten Arzneimittelwirkungen bzw. negativen Folgewirkungen (Marasinghe 2015). In ihrem systematischen Review zu Optimierungsstrategien in der Arzneimittelversorgung in Pflegeheimen konnten Loganathan et al. (2011) bereits vor mehr als zehn Jahren eine signifikante Verbesserung der Verordnungspraxis mit Hilfe von CCDSS zeigen; Schulungen und Teambesprechungen zeigten hier ebenso eine optimierende Wirkung (Loganathan et al. 2011; siehe auch: Alldred et al. 2016; Cooper et al. 2015; Fleming et al. 2013; Forsetlund et al. 2011).
3.3 Verbesserung der interdisziplinären und interprofessionellen Zusammenarbeit
Darüber hinaus indizieren Forschungsbefunde, wie wichtig die Zusammenarbeit der Berufsgruppen im Bereich der Arzneimittelversorgungssicherheit ist. Angesichts der komplexen Bedarfslage und der Hochrisikopatientinnen und -patienten im Zentrum der Versorgung, handelt es sich oft um eine komplexe Arzneimitteltherapie. Diese erfordert eine koordinierte, interdisziplinäre Zusammenarbeit zwischen Betroffenen inklusive Angehörigen auf der einen sowie den (fach-)ärztlichen und pflegerischen Leistungserbringenden auf der anderen Seite (Alldred et al. 2016; Deckert et al. 2021; DEGAM 2017; Harrison et al. 2019; NICE 2015; NICE 2017; Niederhauser et al. 2019).
Eng damit verknüpft ist die Organisation der ärztlichen Versorgung im Pflegeheim sowie die Qualifikation aller an der Arzneimittelversorgung Beteiligten. Demnach gibt es Hinweise, dass der Einsatz von Antipsychotika bei Pflegeheimbewohnenden mit Demenz in einer Einrichtung mit der Zahl der behandelnden Hausärztinnen und Hausärzte steigt. Im Forschungsverbund HIOPP (Hausärztliche Initiative zur Optimierung der Patientensicherheit bei Polypharmazie) stellte eine AOK-Routinedatenanalyse heraus, dass eine steigende Anzahl ambulant behandelnder Ärztinnen und Ärzte einer der Risikofaktoren für den Einsatz von potenziell inadäquater Medikation bei Pflegeheimbewohnenden ist (Weinand et al. 2021). Auch eine französische Studie zeigt für 6.275 Bewohnende ein höheres Risiko des genannten Arzneimitteleinsatzes bei Einrichtungen mit 30 und mehr hausärztlichen Behandelnden pro 100 Betten als bei jenen mit maximal zehn Hausärztinnen und -ärzten pro 100 Betten (de Mazières et al. 2015). Auch die Anwendung von standardisierten Verfahren zur Medikationsanalyse in Schweizer Pflegeheimen war signifikant assoziiert mit der Anzahl der externen ärztlichen Behandelnden (Niederhauser et al. 2019). Für ein optimales Medikationsmanagement unterstrich unter anderem die sogenannte PHEBE-Studie im Kontext der Gabe von Benzodiazepinen/Z-Substanzen die Wichtigkeit einer ärztlichen koordinierenden Person mit gerontologischer Qualifikation im Heimsetting(Azermai et al. 2011b). Die Integration geriatrischer, fachärztlicher und pharmazeutischer Expertise in den Verordnungsprozess bei Pflegeheimbewohnenden, so die Befunde weiterer Studien, scheinen einen positiven Einfluss auf die Arzneimitteltherapiesicherheit zu haben (Behrendt et al. 2019; Monroe et al. 2011; Morin et al. 2016; Schulz et al. 2015; Stock et al. 2014).
In dem vom Bundesministerium für Gesundheit (BMG) geförderten Projekt AMTS-AMPEL wurde in insgesamt 18 Pflegeheimen in den Bundesländern Mecklenburg-Vorpommern und Nordrhein-Westfalen eine interprofessionelle Intervention auf ihre Wirksamkeit und Nachhaltigkeit bzgl. der Reduktion vermeidbarer unerwünschter Arzneimittelwirkungen (UAW) überprüft. Die komplexe Intervention bestand aus der Bildung von AMTS-Teams mit Pflegenden und Apothekerinnen und Apothekern, speziellen Fortbildungen und Schulungen für die beteiligten Berufsgruppen, der Bereitstellung einer AMTS-Merkkarte mit Hinweisen zu besonders risikoträchtigen Arzneistoffen und UAW-verdächtigen Symptomen sowie einer strukturierten Kommunikation zwischen den beteiligten Berufsgruppen. Insgesamt 1.016 Pflegeheimbewohnende nahmen teil, 12 % von ihnen zeigten vor der Intervention in einer Beobachtungszeit von 30 Tagen mindestens ein Symptom einer vermeidbaren UAW. Sechs Monate nach Intervention betrug die Prävalenz noch 7 %, nach zwölf Monaten nur noch 6 %. Die meisten UAW hatten medizinische und/oder pflegerische Konsequenzen. Am häufigsten resultierten zusätzliche hausärztliche Visiten oder ein erhöhter Pflegebedarf. Zudem führten etwa 10 % der UAW zu Krankenhauseinweisungen (Thürmann und Jaehde 2017). Alle Beteiligten gaben an, dass sich die Kommunikation der Berufsgruppen untereinander verbessert habe. Das Interesse an der interprofessionellen Zusammenarbeit war jedoch bei Pflegenden und Apothekerinnen und Apothekern höher als bei den Hausärztinnen und Hausärzten (Jaehde und Thürmann 2018).
3.4 Stärkere Berücksichtigung nicht-medikamentöser Maßnahmen
Zur Behandlung der Erkrankungen von Pflegeheimbewohnenden existieren häufig auch nicht-medikamentöse Maßnahmen, deren Nutzen nicht selten durch Studien belegt ist. Eine stärkere Berücksichtigung solcher Therapieoptionen senkt die Arzneimittellast der Bewohnenden und trägt damit indirekt zur Arzneimitteltherapiesicherheit bei. Zu nicht-medikamentösen Maßnahmen besteht noch immer ein hoher Qualifikationsbedarf, wie beispielsweise zu Behandlungsmethoden des herausfordernden Verhaltens bei Demenz (Preuss et al. 2016). Gemäß der Leitlinie Demenzen sind nicht-pharmakologische Strategien Mittel der ersten Wahl bei herausforderndem Verhalten: „[es] sollten alle verfügbaren und einsetzbaren psychosozialen Interventionen ausgeschöpft werden, bevor eine pharmakologische Intervention in Erwägung gezogen wird“ (DGPPN und DGN 2016). Darunter fallen auch die Etablierung von auf Demenz spezialisierten Bereichen und die Schulung der Pflegenden im Hinblick auf das prioritäre nicht-medikamentöse Reagieren bei BPSD (Preuss et al. 2016). Neben der Qualifizierung auf ärztlicher und pflegerischer Seite müssen selbstverständlich den Bewohnenden selbst und ihren Angehörigen die entsprechenden Informationen in umfänglicher und verständlicher Weise vorliegen, um an der Therapieentscheidung aktiv mitzuwirken (Reeve et al. 2016).
3.5 Aktive Mitwirkung der Bewohnenden
Alles in allem machen die oben genannten Ausführungen deutlich, dass die Arzneimittelversorgung im Geflecht berufsgruppenübergreifender Interaktionen stattfindet, in dessen Mitte die Bewohnenden selbst stehen. Folglich ist es nur logisch, dass die Qualität der Arzneimittelversorgung multikausal ist und multimodale Strategien für das Erreichen eines optimalen Medikationsmanagements bei Pflegeheimbewohnenden erforderlich sind. Auf der Ebene der konkreten Versorgungsprozesse kombinieren sie pharmakologische und nicht-pharmakologische Maßnahmen – angefangen von Deprescribing-Prozessen, d. h. dem strukturierten Reduzieren der Wirkstoffdosis oder auch dem Absetzen nicht (mehr) indizierter/potenziell inadäquater Medikation bis hin zu Sensibilisierungsaktivitäten bei den Versorgenden und der Implementierung von informationstechnischen Feedbacksystemen. Auf systemischer Ebene liegen andere Herausforderungen vor, die insbesondere die Verfügbarkeit von Personal in deutschen Pflegeheimen und eine sinnvolle Gestaltung der ambulant-ärztlichen Versorgung von Bewohnenden adressiert, bei der eine enge Koordination der beteiligten Berufsgruppen (vor allem Ärztinnen/Ärzte, Apothekerinnen/Apotheker und Pflegende) zielgerichtet möglich ist und die Bewohnenden bzw. ihre Angehörigen aktiv mitwirken können.
4 Fazit
Die hier präsentierten empirischen Ergebnisse verweisen auf potenziell auffällige Arzneimittelverordnungen in deutschen Pflegeheimen. Zu Beginn jeder Optimierung steht die Erkenntnis ihres Bedarfs. Die Messung, Verfügbarkeit und Kenntnis einrichtungsbezogener und regulär erhobener Daten zu den hier betrachteten Arzneimitteleinsätzen bei den Versorgenden – allen voran den ärztlichen, pharmazeutischen und pflegerischen Leistungserbringenden – besitzt das Potenzial, Awareness und damit einen der ersten Schritte der Optimierung zu schaffen.
Eine optimale Arzneimittelversorgung im Pflegeheim ist – das ist in der Darstellung der Literaturbefunde mehr als deutlich geworden – nicht nur das Ergebnis ärztlicher Performanz. Vielmehr finden auch diese Prozesse an den Schnittstellen der Versorgung statt. Die Arzneimittelverordnung ausschließlich als ärztliche Entscheidung im fachdisziplinären Vakuum zu sehen, greift zu kurz. Optimierungsmaßnahmen, die diese letztlich ärztliche Entscheidung betreffen und auch beeinflussen können, müssen auf mehreren Ebenen ansetzen, Qualifizierungsmaßnahmen für ärztliche, pharmazeutische und pflegerische Akteure vorsehen und insbesondere den Stellenwert einer zielgerechten berufsgruppenübergreifenden Koordination und Kommunikation erkennen und diese gestalten. Überdies bedarf es weiterer Forschung zur Evidenz und konkreten Ausgestaltung nicht-medikamentöser Verfahren.
Das beträchtliche Risikoniveau für unerwünschte Arzneimittelwirkungen ebenso wie die teils sehr konkreten Empfehlungen entsprechender Leitlinien und Befunde nationaler und internationaler Forschungsarbeiten stehen der Prävalenz an kritischen Verordnungsszenarien in der Versorgungswirklichkeit entgegen. Die hier präsentierten Einzelbefunde, vornehmlich aus dem QMPR-Projekt, zeigen teils erhebliche Anteile an Bewohnenden mit diesbezüglicher Medikation; darüber hinaus lassen sich Pflegeheime bei unterschiedlichen potenziell kritischen Arzneimitteleinsätzen im auffällig prävalenten Bereich verorten. Diese Ergebnisse zur Arzneimittelversorgung bestätigen und ergänzen vorhandene Informationen zu diesem Thema und liefern gleichermaßen einen Beitrag, eine Lücke zu füllen. Denn: Einrichtungsbezogene Erkenntnisse zur Versorgung von Pflegeheimbewohnenden an den Schnittstellen der medikamentösen Behandlung sind in Deutschland so gut wie nicht vorhanden. Ebenso wenig finden sich derartige Aspekte in der nunmehr novellierten gesetzlichen Qualitätssicherung in der Pflege. Es bedarf folglich einer Qualitätsmessung der Arzneimittelversorgung von Pflegeheimbewohnenden, die es bisher in diesem Maße in Deutschland nicht gibt.
Notes
- 1.
Zur Abschätzung der Komorbidität wurden neben Diagnosedaten aus dem Berichtsjahr 2018 ebenso entsprechende Diagnosedaten aus dem Vorjahr 2017 berücksichtigt.
- 2.
Die definitorische Festlegung auf eine 9+-Schwelle im angegebenen Zeitraum geht insbesondere auf die Multimorbidität der hier betrachteten Klientel zurück, was häufig die Anzahl verordneter Wirkstoffe multipliziert. Nicht immer handelt es sich dabei per se um eine Fehlversorgung. Daher setzt die Definition von Polymedikation hier bei einer 9+-Schwelle an, um potenziell kritische Auffälligkeiten zu identifizieren. Bedarfs- und Selbstmedikation gehen nicht ein, sodass generell eine Unterschätzung der Polymedikation anzunehmen ist.
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Behrendt, S., Jaehde, U., Özdes, T., Schwinger, A. (2022). Arzneimittelversorgung in Pflegeheimen. In: Schröder, H., Thürmann, P., Telschow, C., Schröder, M., Busse, R. (eds) Arzneimittel-Kompass 2022. Springer, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-662-66041-6_5
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