FormalPara Zusammenfassung

In unserer Gesellschaft des längeren Lebens steigen mit der Lebenserwartung auch die Anteile der Bevölkerung mit chronischen Erkrankungen und Mehrfacherkrankungen und damit der Anteil von Menschen, die dauerhaft fünf oder mehr Medikamente einnehmen. Diese so genannte Multimedikation ist häufig, oft angemessen und sogar notwendig. Sie stellt jedoch Behandelte und Behandelnde vor große Herausforderungen, um den Überblick nicht zu verlieren, wo Risiken den Nutzen übersteigen und wo die Behandlung zur Belastung wird, die nicht mehr in den Alltag zu integrieren ist. Dieses Kapitel referiert Epidemiologie und Zusammenhänge zwischen Multimedikation und Adhärenz und verwandten Konzepten und beschreibt Strategien zur Optimierung von Multimedikation mit dem Ziel, die Versorgung von Menschen mit Multimedikation zu verbessern und damit deren Lebensqualität zu fördern.

1 Einleitung

Die folgenden Abschnitte geben zunächst einen Überblick zur Epidemiologie von Multimedikation in Deutschland, referieren die aktuelle Diskussion zu notwendiger vs. unerwünschter Multimedikation sowie zum Unterversorgungs-Paradox bei Multimedikation. Im Weiteren werden Zusammenhänge zwischen Multimedikation und Gesundheitskompetenz sowie Adhärenz mit deren Auswirkungen auf gesundheitliche Endpunkte dargestellt. Nach diesem Problemaufriss werden im Kapitel unterschiedliche Strategien zum Umgang mit Multimedikation erörtert – etwa zur Frage, wie die Nutzen-Schaden-Bilanz von multiplen Dauerverordnungen zwischen erwünschten und unerwünschten Arzneimittelwirkungen und Arzneimittelinteraktionen bewertet werden kann. Dazu werden wichtige Maßnahmen wie Medikationsanalysen (systematisches Medication Review), das kontrollierte Absetzen bzw. die Arzneimittelreduktion (Deprescribing) und die gemeinsame Entscheidungsfindung – sowie deren Zusammenführung unter Anwendung der Ariadne-Prinzipien – vorgestellt. Insbesondere werden dabei Bezüge zu Patientenpräferenzen und individuellen Kapazitäten bzw. zur Behandlungsbelastung hergestellt, deren Berücksichtigung unverzichtbarer Bestandteil für ein erfolgreiches Medikationsmanagement bei Menschen mit Multimedikation darstellt.

2 Definition und Epidemiologie

Zu den synonym verwendeten Begriffen der Polypharmazie und Multimedikation existieren unterschiedliche Definitionen, insbesondere bezüglich der Anzahl gleichzeitig eingenommener Medikamente. In der Regel ist mit Multimedikation gemeint, dass Menschen fünf oder mehr Dauermedikamente einnehmen (Seiberth et al. 2020), die sowohl verschreibungspflichtige als auch frei verkäufliche Medikamente, sog. Over-the-Counter-(OTC-)Produkte, sein können (Seiberth et al. 2020).

Textbox 1

Datengrundlage des vorliegenden Beitrags sind Arzneimittelverordnungen der AOK-Versicherten des Jahres 2020, die das Wissenschaftliche Institut der AOK (WIdO) ausgewertet und auf alle gesetzlich krankenversicherten Personen in Deutschland hochgerechnet hat (zur Methodik der hier angewendeten Datenauswertung siehe Anhang). In Deutschland ist demnach etwa jede siebente gesetzlich versicherte Person von mindestens drei chronischen Erkrankungen betroffen und nimmt dauerhaft fünf oder mehr Medikamente ein. Ein vergleichbares Ergebnis lässt sich auch für ca. 1,3 von 9 Mio. BARMER-Versicherten finden (Lappe et al. 2022). Von Multimedikation sind dabei in besonderem Maße Ältere und Hochaltrige betroffen. Während weniger als jede 20. Person im Alter unter 65 betroffen ist, nimmt fast jede dritte Person über 65 Jahre fünf oder mehr Medikamente ein. In der Altersgruppe der über 79-Jährigen trifft das sogar auf fast jede zweite Person zu – jeder zehnten bis zwanzigsten Person dieser Altersgruppe werden sogar zehn oder mehr Medikamente dauerhaft verordnet (Lappe et al. 2022).

Seit mehr als 15 Jahren ist bekannt, dass die meisten (evidenzbasierten) Leitlinien krankheitszentriert sind und dass eine unkritische Anwendung mehrerer dieser Leitlinien bei Menschen mit Multimorbidität problematisch ist, da ggf. gefährliche Interaktionen zwischen Erkrankungen und Therapien auftreten und die mit der Behandlung verbundenen Aufgaben die Belastungsgrenze der Betroffenen übersteigen können (Boyd et al. 2005; Muth et al. 2014a). Besonders deutlich wird dies am Beispiel der chronischen Herzinsuffizienz, die in hohem Maße mit Ko- und Multimorbidität assoziiert ist: Fast jede in schottischen Hausarztpraxen ambulant versorgte Person mit chronischer Herzinsuffizienz weist mindestens eine zusätzliche Erkrankung auf (etwa 95 bis 98 %), etwa jede siebente Person hat sieben oder mehr chronische Erkrankungen und erhält mehr als zehn Dauermedikamente (Baron-Franco et al. 2017). Ähnliche Zahlen liegen aus anderen westlichen Ländern vor (Ahluwalia et al. 2011; Braunstein et al. 2003; Carmona et al. 2011; Mastromarino et al. 2014). Die jüngst publizierte Leitlinie der European Society of Cardiology (ESC) (McDonagh et al. 2021) zur Behandlung der Herzinsuffizienz zeigt exemplarisch auf, wie leitliniengerechte Therapie zu einer rasch fortschreitenden Ausweitung des Arzneimittelportfolios eines Patienten führen kann (vgl. Textbox 1).

Bisherige Analysen (zuletzt 2017) weisen darauf hin, dass die Zahl eingenommener Medikamente stark mit der Zahl der Erkrankungen assoziiert ist (Baron-Franco et al. 2017). AOK-Daten zeigen krankheitsspezifische Unterschiede, wobei drei von vier Versicherten mit Herz-Kreislauf-Erkrankungen Multimedikation erhalten. Jede zweite Person mit Diabetes mellitus Typ 2 oder mit chronisch-obstruktiver Lungenerkrankung bekommt fünf oder mehr Dauermedikamente verschrieben. Bei diesen Erkrankungen nimmt jeder siebte der Betroffenen sogar zehn oder mehr Dauermedikamente ein (Tab. 3.1).

Tab. 3.1 Multimedikation bei Personen mit Erkrankungen (alle AOK-Versicherten 2020)

Im letzten Jahrzehnt ist der Anteil der AOK-Versicherten mit Multimedikation (standardisiert auf 2020) bemerkenswert stabil, aber die meisten Studien berichten hier steigende Tendenzen (Carmona-Torres et al. 2018; van den Akker et al. 2019). Der gegenwärtige Anteil von Menschen, die mindestens fünf Dauermedikamente einnehmen, liegt bei 14 %, bei 7 % für diejenigen, die mindestens sieben Dauermedikamente einnehmen, und bei etwa 2 % bei denen, die zehn oder mehr Medikamente dauerhaft einnehmen (Abb. 3.1).

Abb. 3.1
figure 1

Anteil der Versicherten mit Multimedikation, standardisiert auf das Jahr 2020. (Quelle: Wissenschaftliches Institut der AOK (WIdO))

2 Textbox 1

2 Fallbeispiel chronische Herzinsuffizienz

Herr X, 72 Jahre, kommt aus der Klinik, in die er wegen Verdacht auf eine ambulant erworbene Pneumonie eingewiesen wurde. Diese konnte nicht bestätigt werden. Als Vorerkrankung war bei ihm Bluthochdruck, eine Fettstoffwechselstörung sowie ein erhöhter Harnsäurewert im Blut mit anamnestischen Episoden von arthritischen Beschwerden bekannt. Die Vormedikation bestand aus Ramipril, Hydrochlorothiazid (HCTZ), Amlodipin (Kombinationspräparat), Allopurinol und Atorvastatin; unter dieser Medikation waren die jeweiligen Parameter gut eingestellt. Während des stationären Aufenthalts wurde auch eine Echokardiographie angefertigt, in der erstmals eine eingeschränkte linksventrikuläre Pumpfunktion (LVEF 36 %) festgestellt wurde, für die eine linksventrikuläre Hypertrophie bei langjährigem Bluthochdruck verantwortlich gemacht wurde. Es bestand auch eine milde Atemnot bei Belastung, die als NYHA II gewertet wurde, aber es gab keine Zeichen eines Ödems. Daraufhin wurden ihm die Wirkstoffe Metoprolol, Spironolakton und Empagliflozin zusätzlich zur bestehenden Medikation neu verschrieben.

Das Fallbeispiel von Herrn X ist hypothetisch, weist jedoch hinsichtlich Multimorbidität und Multimedikation klassische Merkmale von Patientinnen und Patienten mit Herzinsuffizienz in der Hausarztpraxis auf (s. o.) (Loosen et al. 2022; Unlu et al. 2020; Baron-Franco et al. 2017). Die Verordnung von drei neuen Wirkstoffen zur Therapie der bei Herrn X bislang asymptomatischen Herzinsuffizienz folgt den Empfehlungen der aktualisierten evidenzbasierten Leitlinie der ESC. Diese enthält nach der Klassifikation der New York Heart Association (NYHA) Klasse-I-Empfehlungen für alle NYHA-II- bis IV-Stadien für Angiotensinkonversionsenzym-(ACE-)Hemmer (oder Angiotensin-Rezeptor-Neprilysin-Inhibitoren (ARNI)), Betablocker, Mineralokortikoid-Antagonisten und Dapa-/Empagliflozin und es werden im weiteren Erkrankungsverlauf je nach klinischer Ausprägung bzw. Komplikationen weitere Wirkstoffe empfohlen (Ivabradin, Schleifendiuretika, orale Antikoagulation, Digoxin) (McDonagh et al. 2021).

3 Notwendige vs. unerwünschte Multimedikation und deren Folgen

An dem Primat eines evidenzbasierten Therapieangebots für alle behandlungswürdigen Erkrankungen soll nicht gezweifelt werden und die „Verordnung von Arzneimitteln ist bei weitem die häufigste medizinische Intervention“ (Freitag und Dreischulte 2022). Bei Menschen mit Multimorbidität ist die Verordnung von fünf oder mehr Medikamenten oft notwendig und angemessen. Eine unkritisch eingesetzte bzw. unzureichend überwachte Multimedikation hat aber erwiesenermaßen Folgen, wenn die damit verbundenen Risiken und unerwünschten Arzneimittelwirkungen ihren Nutzen übersteigen: Unerwünschte Neben- und Wechselwirkungen, Hospitalisierungsraten und Behandlungsbelastung steigen. Zudem sinkt die Therapie-Adhärenz der Behandelten und der Überblick geht bei Behandelten wie bei Behandelnden häufig verloren und bereitet den Boden für medizinische Fehler (Schurig et al. 2018).

Speziell am Übergang von stationärer zu ambulanter Versorgung (und vice versa) ist das Risiko einer mangelhaften Informationsweitergabe für Arzneimittelverordnungen besonders hoch. Grund dafür sind Kommunikationsbarrieren wie inkompatible Datenverwaltungssysteme in Krankenhaus und Praxis, fehlende elektronische Patientenakten und ungenügend aktualisierte Medikationspläne. Damit erhöht sich auch das Risiko von inadäquaten Verschreibungen inkl. Fehl- und Doppel-Verschreibungen, die zu unerwünschten Wirkungen führen können (WHO 2019).

Analysen von Versichertendaten zeigen, dass Multimedikation mit stationären Krankenhausaufenthalten korreliert. Der Anteil von gesetzlich Versicherten mit Multimedikation bei Krankenhausaufnahme nimmt von rund 12 % bei den bis zu 64-Jährigen auf fast 50 % bei den über 80-Jährigen zu. 65- bis 79-Jährige sind bei Krankenhausaufnahme gut dreimal so häufig, Menschen ab 80 Jahren viermal so häufig von Multimedikation betroffen wie Menschen bis 64 Jahre. Darüber hinaus zeigen Ergebnisse, dass der Anteil von Menschen mit Multimedikation nach stationärer Entlassung höher ist als vor der stationären Aufnahme (Grandt et al. 2020).

4 Das Unterversorgungs-Paradox bei Multimedikation

Seit Ende der 2000er Jahre wurde vermehrt darauf hingewiesen, dass Menschen, die eine Multimedikation erhalten, gleichzeitig unter dem Risiko stehen, dass relevante gesundheitliche Probleme nicht adäquat behandelt werden (Untertherapie) (Kuijpers et al. 2008). Hier ist bei genauerer Betrachtung jedoch zwischen unzureichender Exposition der Betroffenen (und damit fehlender Wirkung) aufgrund von fehlender oder unzureichender Verordnung (Underuse), unregelmäßiger Einnahme (Nonadhärenz) und Applikationsproblemen zu unterscheiden (Haefeli 2011). Unterversorgung betrifft häufig spezifische Erkrankungen und Konditionen, die bei Multimedikation übersehen und bspw. mit dem validierten START-Instrument erfasst werden können (Gallagher et al. 2008). START ist ein Akronym für „Screening Tool to Alert doctors to Right Treatment“ und beschreibt, getrennt nach Indikationsgruppen, klinische Konstellationen, bei denen das Ansetzen einer Medikation geprüft werden sollte (O’Mahony et al. 2015). Typische Situationen, bei denen bei beschriebener Indikation ggf. eine Medikation fehlt, sind z. B. Beta-Blocker nach Myokardinfarkt bzw. Koronarer Herzkrankheit (KHK) oder ein orales Antikoagulanz bei Vorhofflimmern (Leitliniengruppe Hessen 2021).

5 Gesundheitskompetenz und Multimedikation

Eine umfangreiche Survey-Studie, welche die Gesundheitskompetenz in Deutschland untersuchte, zeigte, dass bei fast zwei Drittel aller Menschen mit mindestens einer chronischen Erkrankung eine eher geringe Gesundheitskompetenz vorliegt. Darüber hinaus weisen Menschen mit Multimorbidität eine signifikant geringere Gesundheitskompetenz auf als Menschen mit nur einer chronischen Krankheit (Schaeffer et al. 2021). Auch für digitale Gesundheitskompetenz sind Menschen mit einer oder mehr chronischen Erkrankungen deutlich im Nachteil, verglichen mit Menschen ohne chronische Erkrankungen (Kolpatzik et al. 2020). Daher müssen Menschen, die von Multimedikation betroffen sind, überwiegend als besonders benachteiligte Gruppe betrachtet werden. Denn die Herausforderungen, die mit dem Finden, Verstehen, Beurteilen und Anwenden von relevanten Gesundheitsinformationen einhergehen, können dabei oft nicht oder nicht ausreichend bewältigt werden.

Zugleich ist ein kompetenter Umgang mit Gesundheitsinformationen Grundlage einer souveränen Entscheidung und der Möglichkeit, Entscheidungen dergestalt zu treffen, dass damit eigene Gesundheits- und Lebensziele erreicht werden. Ein systematisches Review schlussfolgerte, dass gesundheitsbezogene Informationsmaterialien zur Aufklärung von Betroffenen zumeist ein überdurchschnittliches Leseniveau erforderten und damit Menschen mit geringer Gesundheitskompetenz der Zugang verwehrt war (Fajardo et al. 2019). Weiterhin zeigte die Untersuchung, dass in bereitgestellten Informationsmaterialien der potenzielle Nutzen und Schaden von gezielter Arzneimittelreduktion (Deprescribing) nur selten ausgewogen dargestellt wurde. Daraus resultiert, dass bereits das zugrundeliegende Konzept solcher Materialien einen Entscheidungsprozess nur unzureichend unterstützt (Fajardo et al. 2019).

Ein gutes Verständnis von Medikamenten fördert Behandlungseffekte und verbessert die Patientensicherheit. Umgekehrt kann ein unzureichendes Verständnis die Adhärenz beeinträchtigen und zur Entwicklung unerwünschter Therapieeffekte beitragen (Passagli et al. 2021). Von 754 niederländischen Patientinnen und Patienten, die durchschnittlich täglich neun Medikamente einnahmen, kannten nur 15 % die richtigen Indikationen ihrer Medikamente (Bosch-Lenders et al. 2016). Eine brasilianische Studie zeigt, dass nur etwa 4 % der Menschen mit Multimedikation von möglichen Nebenwirkungen ihrer Medikamente wussten. Nur etwa ein Drittel hatte Kenntnisse zu Warnhinweisen bzgl. ihrer Medikamente und wusste um Vorsichtsmaßnahmen, wie sie sich beim Auftreten von Nebenwirkungen zu verhalten haben oder wie sie diesen vorbeugen können. Immerhin kannten etwa drei Viertel den Namen ihrer Medikamente, deren Dosierung und die Dauer der Behandlung (Passagli et al. 2021).

6 Adhärenz

Menschen, die dauerhaft fünf oder mehr Medikamente einnehmen, erleben die Koordination ihrer Versorgung – zusätzlich zu Krankheitssymptomen und den mit ihren Erkrankungen verbundenen Einschränkungen – häufig als große Herausforderung. Das Einnehmen von Medikamenten zu bestimmten Tageszeitpunkten oder das Wissen um Wechselwirkungen zwischen Präparaten erfordert von den Betroffenen und ihrem Umfeld große Aufmerksamkeit, Zeit und kognitive Ressourcen (Foley et al. 2021a). So ist nicht verwunderlich, dass in einer systematischen Übersichtsarbeit ermittelt wurde, dass 43 % aller Betroffenen nicht die notwendige Therapietreue zeigen (Foley et al. 2021b). Menschen erfahren ihre Multimorbidität häufig als größere Belastung, als aus der reinen Summe ihrer individuellen Erkrankungen zu erwarten wäre. Die Komplexität, die mit der Versorgung von Menschen mit Multimedikation einhergeht, erfordert dementsprechend eine krankheitsübergreifende Strategie.

Die Evidenz zur Behandlung von Menschen mit Multimorbidität ist noch lückenhaft und Leitlinien sind in der Regel auf einzelne Krankheitsbilder fokussiert. Die Präferenzen der Patientinnen und Patienten müssen im Rahmen therapeutischer Maßnahmen stärker Berücksichtigung finden, um das oft fragile Gleichgewicht der Selbständigkeit nicht zu gefährden (Haefeli 2011). Dass Betroffene sich möglicher Probleme von Multimedikation sowie mangelnder Therapietreue bei der Einnahme bewusst sind, ist wichtig. In der Kommunikation mit ärztlichem Personal leisten die Patientinnen und Patienten selbst einen wichtigen Beitrag, um potenziell inadäquate Medikation frühzeitig zu erkennen und so die Patientensicherheit zu erhöhen (WHO 2019).

Personen, die Multimedikation erhalten, sehen zwar den Mehrwert ihrer zahlreichen Medikamente sowie den Nutzen von Therapietreue, dennoch äußert ein Drittel der Betroffenen starke Bedenken sowie Angst vor Nebenwirkungen. Dies betrifft insbesondere Medikamente, die der Prävention dienen und über einen langen Zeitraum im Leben der Betroffenen eingenommen werden sollen (Clyne et al. 2017). Möglicherweise werden Betroffene bei der Verschreibung neuer Medikamente nicht immer auf potenzielle Nebenwirkungen hingewiesen oder über therapeutische Ziele aufgeklärt, was beides der Steigerung der Therapietreue zugutekäme. Ärztinnen und Ärzte vermeiden jedoch häufig, über potenzielle Nebenwirkungen zu sprechen. Dahinter steht auch die Angst, die Adhärenz der Betroffenen zu beeinträchtigen oder Nocebo-Effekte hervorzurufen, d. h. einen fälschlichen Glauben, von Nebenwirkungen betroffen zu sein, zu evozieren (Passagli et al. 2021).

7 Strategien zur Bewältigung von Multimedikation

Die meisten Strategien zur Bewältigung von Multimedikation zielen auf die Korrektur der einzunehmenden Präparate ab. Hier kann etwa die Anzahl der verschriebenen bzw. eingenommenen Medikamente verringert, die Dosis angepasst oder die Einnahmetreue verbessert werden. Die Anwendung solcher Strategien kann für viele Betroffene die Lebensqualität deutlich erhöhen, Kosten für das Gesundheitssystem senken, die pharmakologische Wirkung von Medikamenten erhöhen und Betroffene vor unerwünschten Wirkungen und Wechselwirkungen schützen (Kurczewska-Michalak et al. 2021).

7.1 Systematisches Medikationsreview

Zur ärztlichen Überwachung von Menschen mit Multimorbidität und Multimedikation gehört es, neben der Überwachung der üblichen Kontrollparameter (Labor, Blutdruck etc.) einen auf die Lebensqualität zielenden Handlungsbedarf zu erkennen: Wie geht es den Betroffenen mit ihren vielen Medikamenten? Geringer Behandlungsbedarf besteht häufig, wenn Allgemeinzustand, Appetit, Schlaf und Stuhlgang in Ordnung, die Betroffenen mit ihrer Medikation zufrieden sind und sie diese zuverlässig einnehmen. Dringlicher Handlungsbedarf besteht, wenn eine Verschlechterung des Allgemeinzustandes mit einem neu verordneten Medikament einhergeht (Zeeh 2018).

Laut der deutschen Leitlinie Multimedikation gehören Menschen mit Multimedikation (≥ 5 dauerhaft angewendete Arzneimittel) und Multimorbidität (≥ 3 chronische Erkrankungen) sowie Menschen mit zusätzlichen Risiken (z. B. psychiatrische Erkrankungen, psychotrope Medikation) oder nach Ereignissen (z. B. Stürze, Krankenhausaufenthalt) zu den Risikogruppen (Leitliniengruppe Hessen 2021). Gerade bei Menschen mit Multimedikation gehört zu einer sicheren Verschreibung eine regelmäßige Überprüfung der Medikamente. Dabei wird die eventuelle Neuverschreibung indizierter Medikamente und die Rücknahme von inadäquaten Medikamenten geprüft. Letztere betreffen Medikamente, bei denen in Zusammenschau aller Verordnungen die verbundenen Risiken den möglichen Nutzen überwiegen (Wallis et al. 2017). Traditionell sind Ärztinnen und Ärzte für die Verschreibung und Überwachung der Medikamente verantwortlich. Der Mehrwert eines interprofessionellen Medikationsreviews durch Ärzte und Apotheker ist insbesondere in internationalen Zusammenhängen gut belegt. Obgleich zeit- und ressourcenintensiv, erlaubt dieses Vorgehen die Zusammenführung beider professioneller Perspektiven – die medikamenten- und die patientenzentrierte Sicht, sofern alle relevanten und aktuellen Befunde (Diagnosen, klinische Befunde, Laborwerte, Medikationsplan) sowie Angaben zur Medikamentenhistorie vorliegen.

Effekte von Medikationsreviews zeigen unterschiedliche Ergebnisse, mit den besten Erfolgen im Krankenhaussetting und für Gruppen mit höchstem Risiko, etwa älteren Menschen (Hasan Ibrahim et al. 2021). Bisher ist die Evidenz zur Wirksamkeit von Medikationsreviews nicht eindeutig belegt, insbesondere bezüglich der patientenrelevanten Endpunkte Überleben, Krankenhausaufnahmen, Lebensqualität und Stürze. Zur Senkung von potenziell inadäquaten Medikamenten (PIMs) lieferten die Studien inkonsistente Ergebnisse (Rankin et al. 2018). Jedoch weisen einige Untersuchungen auf Effekte hin, die den ethisch unbestrittenen Impetus von Medikationsreviews zur Vermeidung von (behandlungsverursachten) Schäden überschreiten: Eine Metaanalyse (Tasai et al. 2021) zeigt beispielsweise, dass von Apothekerinnen und Apothekern durchgeführte Medikationsreviews zu einem Rückgang von Besuchen der Notfallambulanz führen, wenngleich diese keinen Einfluss auf Krankenhausaufnahmen oder die Lebensqualität hatten. Weiterhin konnte die Effektivität von Medikationsreviews bei bereits hospitalisierten Menschen nachgewiesen werden (Christensen und Lundh 2016).

7.2 Deprescribing

Deprescribing beschreibt die Strategie, rezeptfreie oder verschriebene Medikamente abzusetzen oder in der Dosis zu reduzieren, damit Menschen mehr von den Medikamenten profitieren als sie tatsächlich oder potenziell schaden können. Hierbei bezieht sich der Nutzen von Medikamenten unter anderem auf die Lebenserwartung und funktionelle Eingeschränktheit im Alltag der Betroffenen – aber auch auf Werte, Präferenzen und Einstellungen der Menschen (Scott et al. 2015). Studien zu Interventionen im Bereich von Deprescribing bei nicht-institutionalisierten älteren Menschen zeigen eine Bandbreite von Maßnahmen, wobei am häufigsten das umfassende Medikationsreview zum Einsatz kommt (Bloomfield et al. 2020). Ein umfassendes Medikationsreview ähnelt dem strukturierten Medikationsreview, bezieht aber immer die Patientinnen und Patienten mit ein, indem sie etwa zu Anwendungsproblemen oder Nebenwirkungen befragt werden sowie explizit über Veränderungsvorschläge mitbestimmen (Malet-Larrea et al. 2016; Bosch-Lenders et al. 2016).

7.2.1 Deprescribing – Hürden aus Perspektive der Ärztinnen und Ärzte

Ärztinnen und Ärzte entwickeln ein zunehmendes Problembewusstsein für unangemessene Multimedikation und schätzen das Absetzen von Medikamenten als sinnvoll und notwendig ein. Es gibt jedoch vergleichsweise wenig evidenzbasierte Entscheidungsunterstützung zum Absetzen (im Gegensatz zum Verordnen), und für dessen Umsetzung ist es erforderlich, dass Verordnende sowie Patientinnen und Patienten ihre Einstellung und ihr Verhalten ändern. So hält etwa die Sorge vor Unterversorgung oder als „schlechter Arzt/schlechte Ärztin“ zu gelten, vom erfolgreichen Deprescribing ab. Auch eine mangelnde Selbstwirksamkeitserwartung behandelnder Ärztinnen und Ärzte bis hin zu falschen Annahmen, welche Erwartungen Patientinnen und Patienten an die Verordnung von Medikamenten beim Arztbesuch haben, wurden beschrieben (Anderson et al. 2014). Zudem enthalten Leitlinien, die evidenzbasierte Entscheidungsunterstützung liefern, in ganz überwiegendem Maß Empfehlungen zum Verordnen von Medikamenten, jedoch nur selten Absetzempfehlungen. Wenn das Risiko, eine möglicherweise unangemessene Verschreibung fortzusetzen, als geringer eingeschätzt wurde als die möglichen Komplikationen, die eine Änderung der Medikation mit sich bringt, zögerten die Hausärzte, Änderungen vorzunehmen (Clyne et al. 2016).

7.2.2 Deprescribing – Hürden aus Perspektive der Patientinnen und Patienten

Auch patientenseitige Barrieren spielen für das Gelingen von Absetzprozessen eine erhebliche Rolle (Clyne et al. 2017). Vor allem dauerhaft verschriebene Medikamente und solche, die von Fachspezialisten verordnet wurden, werden häufig für unverzichtbar gehalten und trotz generellem Wunsch nach Reduktion der Medikation oft aus der Liste potenziell abzusetzender Medikamente ausgeklammert. Auch bestehen Ängste, dass ein Medikamentenentzug unerwünschte Wirkungen hervorruft, insbesondere wenn zuvor negative Erfahrungen mit dem Absetzen von Medikamenten gemacht wurden und obgleich diese viel seltener auftreten als unerwünschte Wirkungen von Medikamenten (Luymes et al. 2016). Aber auch individuelle Vor- und Einstellungen zur Pharmakotherapie im Allgemeinen wie auch zum Nutzen von Medikamenten, der auch patientenseitig oft überbewertet wird, spielen bei Betroffenen eine Rolle bei der Entscheidung, (potenziell) unangemessene Medikamente nicht abzusetzen (Reeve et al. 2013).

7.3 Kommunikation und gemeinsame Entscheidungsfindung

In der Regel werden Menschen bei der gemeinsamen Entscheidungsfindung – mit oder ohne Entscheidungshilfe – in die Diskussionen über Behandlungsoptionen sowie die Vor- und Nachteile der einzelnen Therapien einbezogen und zu ihren Präferenzen befragt. So wird eine gemeinsame Entscheidung über das weitere Vorgehen getroffen. Mehrfache Erkrankungen erschweren jedoch die gemeinsame Entscheidungsfindung, da ein optimales Management nicht einfach die Versorgung aller einzelnen Erkrankungen und Konditionen darstellt, sondern eine Therapiestrategie erfordert, die der Komplexität und Dynamik paralleler Erkrankungen und Therapien Rechnung trägt (Hoffmann et al. 2018).

Der Schlüssel zu einer patientenzentrierten Versorgung ist eine sorgfältige und gemeinsame Entscheidungsfindung. Bei der Festlegung von Problem- und Entscheidungsprioritäten sollten die Hauptanliegen, Prioritäten und Präferenzen der Betroffenen ermittelt und anschließend eine patientenzentrierte Zielsetzung vorgenommen werden. Sobald die Ziele gemeinsam festgelegt worden sind, verlagert sich das Gespräch auf das Problem mit der höchsten Priorität und darauf, wie dieses Ziel am besten erreicht werden kann. Idealerweise beinhaltet dies die Diskussion der Behandlungsoptionen, wobei für jede Option Nutzen und Schaden (einschließlich des Ausmaßes oder der Wahrscheinlichkeit jeder Option, möglichst individualisiert) und die Durchführbarkeit (einschließlich der Behandlungslast und der Kosten) offengelegt werden. Auf dieser Basis können die Betroffenen zu einer souveränen Entscheidung gelangen und ihre Präferenzen äußern (Hoffmann et al. 2018).

Textbox 2

7.3 Textbox 2

7.3 Anwendung der Ariadne-Prinzipien auf das hypothetische Fallbeispiel

Für unser hypothetisches Fallbeispiel aus Textbox 1 (Herr X, 72 Jahre) wären zunächst alle vorliegenden Erkrankungen/Konditionen und deren bestehende Behandlungen zu prüfen:

  • Bluthochdruck – Ramipril, HCTZ, Amlodipin: Wenn diese Kombination für die Blutdruckbehandlung hinlänglich war und zudem als Kombinationspräparat verschrieben wird, besteht kein Grund zur Reduktion.

  • Fettstoffwechselstörung – Atorvastatin: Hier trifft dasselbe zu.

  • Erhöhten Harnsäurewert im Blut (Hyperurikämie) mit anamnestischen Episoden von Gichtarthritis – Allopurinol: Zu prüfen wäre, ob auch eine diätetische Behandlung möglich wäre bzw. ob wirklich Gelenkbeschwerden bestehen und nicht nur eine asymptomatische Harnsäureerhöhung vorliegt. Andererseits ist gerade bei kardiovaskulären Erkrankungen eine Normalisierung der Urat-Spiegel aus pathophysiologischen Gründen wünschenswert.

  • Neu: chronische Herzinsuffizienz – Metoprolol, Spironolakton und Empagliflozin (synergistisch zur Hypertoniebehandlung auch Ramipril und HCTZ).

Die Einführung der neuen Wirkstoffe birgt ein umfängliches Aufgaben- und auch Verantwortungspaket für die behandelnden Ärztinnen und Ärzte und setzt die Patientinnen und Patienten neben dem erwarteten Nutzen (der Verhinderung eines Fortschreitens der strukturellen Herzerkrankung) neuen Risiken und Belastungen aus: So erfolgt die Betablocker-Gabe durch einen langsamen Aufbau (Auftitration) zur maximal verträglichen Dosis und mit einer engen (Selbst)Überwachung von Herzfrequenz, Blutdruck und körperlichem Befinden. Hinsichtlich der Einleitung der Gabe von Mineralkortikoid-Rezeptorantagonisten (MRA) muss – der aktuellen ESC-Guideline folgend – mit einer niedrigen Dosis begonnen werden (25 mg); eine Dosiserhöhung auf maximal 50 mg ist nach vier bis acht Wochen zu erwägen, Blutwerte (GFR, K+) sind ein und vier Wochen nach Beginn/Erhöhung der Dosis sowie acht und zwölf Wochen später zu überprüfen; danach in Abständen von vier bis sechs Monaten. Das Hauptproblem ist eine Hyperkaliämie (> 6,0 mmol/l); obwohl dies bei den klinischen Studien selten war, wird es in der klinischen Praxis häufiger beobachtet und zwingt zur Dosisreduktion oder zum Absetzen. Umgekehrt kann bei Menschen mit Herzinsuffizienz ein hochnormaler Kaliumspiegel wünschenswert sein. Auf jeden Fall ist es wichtig, nephrotoxische Mittel (z. B. Nicht-Steroidale Anti-Rheumatika (NSAID)) zu vermeiden. Auch einige diätetische Salzersatzprodukte haben einen hohen Kalium-Gehalt. Auch bei Gabe des Natrium/Glukose-Cotransporter-(SGLT-)2-Hemmstoffs muss die Nierenfunktion regelmäßig überwacht werden.

Mit Herrn X wäre zu besprechen, ob er diese Therapie und deren Konsequenzen für sein Selbstmanagement als eher hilfreich oder eher belastend empfindet, welche persönlichen Therapieziele er verfolgt und welche Risiken und potenziellen unerwünschten Arzneimittelwirkungen (UAWs) er dafür akzeptieren würde.

Für die Festlegung des individuellen Managements spielen – neben seinen Präferenzen für oder gegen die Therapielast – auch Überlegungen zum individuellen Erkrankungsrisiko und zum individuell zu erwartenden Nutzen eine Rolle: Herr X war bislang asymptomatisch hinsichtlich der Herzinsuffizienz, hat als verursachende Erkrankung einen Bluthochdruck und die dokumentierte geringgradige Atemnot bei Belastung ohne Ödem ist bei kritischer Betrachtung nicht notwendigerweise kardial bedingt. Er weist somit eine geringe Krankheitsschwere und bzgl. seiner Grunderkrankung ein geringes Risiko für Progression auf, sofern der Bluthochdruck gut kontrolliert ist. Andererseits wird der Verlust der echokardiographisch bestimmten Auswurfleistung als Zeichen einer strukturellen Herzerkrankung auch ohne klinisch manifeste Symptomatik – die ohnehin von der individuellen körperlichen Aktivität abhängt – als prognostisch ungünstig angesehen. Hinsichtlich des zu erwartenden Nutzens der verordneten Medikamente ist dieser für ACE-Hemmer und Betablocker für NYHA I–II gut belegt. MRAs wurden bislang nur bei höheren Erkrankungsstadien empfohlen, die in die Studien eingeschlossen wurden, die als Evidenzbelege in der ESC-Leitlinie angeführt wurden, ebenso wie bei den SGLT-2-Hemmstoffen (NYHA II–IV). Hinsichtlich potenzieller Gefährdung weisen MRAs bei eingeschränkter Nierenfunktion ein erhöhtes Risiko für eine lebensbedrohliche Hyperkaliämie auf, insbesondere in Kombination mit ACE-Hemmern (Juurlin et al. 2003) und bei Herrn X kann im Alter von 72 Jahren bereits mit einer altersphysiologischen Einschränkung der Nierenfunktion um etwa 35 % verglichen mit einem gesunden Jugendlichen ausgegangen werden (Rule et al. 2010), was zusätzlich für eine Hyperkaliämie prädisponiert. Auch ist die Gabe eines SGLT-2-Hemmstoffs mit einem erhöhten Risiko für Genital- und Harnwegsinfektionen assoziiert (McDonagh et al. 2021).

Es muss im Hinblick auf die Aktivitäten indikationsspezifischer Fachgesellschaften auch anerkannt werden, dass die zugrunde liegende Problematik erkannt wird: So hat die European Society for Cardiology durch ihre Working Group on Cardiovascular Pharmacotherapy kürzlich in einer Übersichtsarbeit analysiert, wie den Herausforderungen begegnet werden kann, vor denen Angehörige der Gesundheitsberufe stehen, wenn sie älteren Menschen mit kardiovaskulären Erkrankungen und Multimorbidität Medikamente verschreiben. Die Arbeit hält auch Informationen bereit, die das Thema Priorisierung ansprechen (Tamargo et al. 2022).

Ergebnis: Auch wenn wir die von Ärztinnen, Ärzten und betroffenen Menschen gemeinsam vereinbarten Ziele und das darauf basierte individualisierte Vorgehen nicht kennen, wird deutlich, dass dieses erheblich vom o. g. Vorgehen abweichen kann. Mit der Anwendung der Ariadne-Prinzipien wird demnach Entscheidungsunterstützung bei multimorbiden Personen bereitgestellt, die geeignet ist, um den „hyperaktiven therapeutischen Reflex“ zu vermeiden (Glasziou 2013).

7.4 Ariadne-Prinzipien

Die oben beschriebenen Strategien gehen in der Regel von einer bereits bestehenden (potenziell inadäquaten) Multimedikation aus und vermitteln Techniken, wie deren Angemessenheit zu prüfen und zu verbessern ist. Demgegenüber wird mit den Ariadne-Konsultationsprinzipien ein anderer und umfassenderer Ansatz verfolgt, der sowohl ex ante (also zur Verhinderung unangemessener Multimedikation) als auch ex post (wenn diese bereits vorliegt) umsetzbar ist. Im Mittelpunkt steht die Vereinbarung realistischer Therapieziele zwischen (Haus-)Ärztin oder Hausarzt und den Betroffenen, die auf einer Interaktionsbewertung aller vorliegenden Erkrankungen/Konditionen und Behandlungsoptionen beruht. Dabei werden bestehende Gesundheitsprobleme priorisiert und ein individualisiertes Management abgestimmt, um die vereinbarten Therapieziele zu erreichen (Muth et al. 2014b). Die Anwendung dieser im Expertenkonsens entwickelten Prinzipien wurde in der spanischen cluster-randomisierten MultiPAP-Studie evaluiert, mit der die Angemessenheit von Multimedikation verbessert werden konnte (Prados-Torres et al. 2020). Auch haben diese Prinzipien international weiteren Eingang in evidenzbasierte Leitlinien zur Multimedikation gefunden (NICE 2015) (vgl. Abb. 3.2 und 3.3). Eine Anwendung der Prinzipien auf unser hypothetisches Fallbeispiel illustriert Textbox 2.

Abb. 3.2
figure 2

Ariadne-Prinzipien. (Aus Muth et al. 2014b)

Abb. 3.3
figure 3

Medikationsprozess laut LL Multimedikation (Leitliniengruppe Hessen 2021; Copyright: AWMF, mit freundlicher Genehmigung)

8 Fazit

Multimedikation, vor allem bei Menschen mit Multimorbidität, ist häufig und oft unerlässlich sowie angemessen. Dennoch ist sowohl unerwünschte Multimedikation als auch Unterversorgung von Menschen mit Multimorbidität nicht selten. Für Patientinnen und Patienten stellt das Management der vielen einzunehmenden Medikamente eine Schwierigkeit dar und trägt zur Therapieuntreue bei. Um die Adhärenz zu fördern, ist die gemeinsame Entscheidungsfindung und die Steigerung von Gesundheitskompetenz wichtig. Zur Bewältigung von Multimedikation können systematische oder umfassende Medikationsreviews angewendet werden, die beim Absetzen (Deprescribing) von Medikamenten unterstützen. Diese Strategien bündeln sich in den Ariadne-Prinzipien, die die Behandlung von Menschen mit Multimorbidität bzw. Multimedikation strukturieren.