Die Bedeutung des Begriffs „Versorgung“ umfasst im Sinne von „Bereitstellen“ das Verfügbarmachen von Gütern oder Leistungen, aber auch im Sinne von „sich Kümmern“ die Übernahme von Zuständigkeit und Verantwortung. Arzneimittelversorgung aus ärztlicher Sicht beinhaltetet „Bereitstellen“ insofern, als die ärztliche Verordnung verschreibungspflichtiger Arzneimittel für Patientinnen und Patienten Voraussetzung für den Zugang zu diesen Arzneimitteln ist. Größere Bedeutung aber hat aber der Aspekt „sich Kümmern“, der im Kontext der ärztlichen Behandlung im Bereich der Arzneimittelversorgung die korrekte Indikationsstellung, die Information der behandelten Person über die therapeutischen Optionen im Vergleich zur Nicht-Behandlung, die Ermittlung des Patientenwunsches und der Patientenpräferenzen, die Risiko- und Sicherstellungsaufklärung der behandelten Person und die Überwachung der Arzneimitteltherapie und Anpassung bzw. Beendigung der Therapie beinhaltet. Ein komplexer Prozess, für den Ärztinnen und Ärzte im Rahmen des Behandlungsvertrages Verantwortung übernehmen und bei dem eine unzureichend sichere Organisation zu Patientengefährdung und patientenrelevantem Schaden führt.

Aus Sicht der Ärzteschaft ist dies zunächst einmal aber ein täglich vielfach erfolgender Prozess, für den weniger Zeit als eigentlich erforderlich zur Verfügung steht. Ein Prozess, bei dem die Behandelnden sich daran gewöhnt haben, dass die Voraussetzungen für eine sichere, d. h. von vermeidbaren Risiken freie Arzneimittelverordnung häufig nicht gegeben sind. Das beginnt bei der fehlenden Übersicht über die Gesamtmedikation der Patientinnen und Patienten. Die Idee des bundeseinheitlichen Medikationsplans ist gut, die papiergestützte Umsetzung aber untauglich. Auch ist nicht gewährleistet, dass verordnungsbedingte Risiken erkannt werden. Bei 1.860 verschiedenen ambulant verordneten Arzneimittelwirkstoffen in mehr als 454.000 verschiedenen Kombinationen im Jahr 2016 (Grandt et al. 2018) ist es fahrlässig, darauf zu bauen, dass der Arzt oder die Ärztin gefährliche Kombinationen schon erkennen wird. Dass eine inhaltlich vollumfängliche Prüfung jeder Verordnung gegen die tatsächliche Gesamtmedikation erfolgen muss, ergibt sich aus den Festlegungen zum bestimmungsgemäßen Gebrauch der Arzneimittel und der Sorgfaltspflicht der Behandelnden. Bei den meisten Verordnungen wird dieser Standard aber nicht erreicht. Es ist unverständlich, dass im Straßenverkehr notwendige risikokontrollierende Maßnahmen vorgeschrieben und durchgesetzt werden, bei der Arzneimitteltherapie vermeidbare Risiken für Patienten jedoch akzeptiert und perpetuiert werden. Eine prospektive Risikoanalyse und die Entwicklung einer fehlertoleranten Arzneimittelversorgung fehlt weiterhin. Die Verordnung von stark teratogenen Arzneimitteln in der Frühschwangerschaft – dokumentiert durch Grandt et al. (2021) – unterstreicht die Relevanz des Problems.

Auf Nicht-Lieferbarkeit von Arzneimitteln wird der Arzt bei der Verordnung nicht hingewiesen. Der Arzt wird auch nicht darüber informiert, welches Arzneimittel tatsächlich auf seine Verordnung hin abgegeben wird – es sei denn, der Patient oder die Patientin teilt es ihm mit. Denn nur er/sie weiß, was er/sie erhalten hat. Auch eine Rückverfolgbarkeit von Arzneimitteln zum Patienten gibt es nicht. Diese wäre aber notwendig, um Patienten zum Beispiel bei nachträglich festgestellten Herstellungsmängeln zu informieren. Was beim Auto selbstverständlich ist, wird bei der Arzneimittelversorgung versäumt. Die dargestellten Defizite der Arzneimittelversorgung aus ärztlicher Sicht zeigen, dass unzureichende Arzneimitteltherapiesicherheit kein unvermeidbares, weil mit dem Behandlungsprozess untrennbar verbundenes Phänomen, sondern Organisationsversagen vor allem auf Systemebene ist.

Man muss feststellen, dass die Organisation des Arzneimitteltherapieprozesses in den letzten Jahrzehnten kaum weiterentwickelt wurde, während die Multimorbidität von Patientinnen und Patienten und die Komplexität der Behandlung stetig zugenommen haben: Etwa durch neue Arzneimittel, die bei Nichtbeachtung von Anwendungsregeln mit einem hohen Risiko für patientenrelevanten Schaden assoziiert sind. Zudem sind im Durchschnitt immer ältere und multimorbidere Patienten, die gleichzeitig von mehreren Ärztinnen und Ärzten mit Arzneimitteln behandelt werden, das neue Normal. Dies ist mit höheren Risiken für die Patienten verbunden, die allerdings durch eine fehlertolerante Organisation des Behandlungsprozesses kontrolliert werden könnten. Jeder Arzt muss einen resilienten Arzneitherapieprozess anstreben, kann dies aber nicht allein leisten. Dazu notwendige Rahmenbedingungen und Voraussetzungen sind nur auf Systemebene zu schaffen.

Warum ist bis heute nicht sichergestellt, dass – wie für bestimmungsgemäßen Gebrauch jedes Arzneimittels erforderlich – der verordnende Arzt sicher die Gesamtmedikation seiner Patientinnen und Patienten kennt? Warum erhält der Arzt/die Ärztin nicht bei jeder Verordnung elektronisch unterstützt Hinweise auf klinisch relevante Risiken, zum Beispiel durch ungünstige Wechselwirkungen von Arzneimitteln? Noch nicht einmal die hierzu erforderliche elektronische Verordnung ist bisher etabliert. Warum können Arzneimittel nicht bis zum Patienten zurückverfolgt werden, um exponierte Patienten bei chargenspezifischen Risiken zu schützen? Dass Rückverfolgbarkeit möglich ist, zeigt jeder Paketversand täglich. Der Vergleich zeigt aber auch das Problem: Es fehlt in der Arzneimittelversorgung der Entwurf eines fehlertoleranten Ideal-Prozesses und der Wille, diesen zu realisieren. Digitalisierung ist dafür erforderlich, aber Digitalisierung zur Abbildung der fehlerbehafteten Ist-Prozesse wird das Problem nicht lösen. Dass am Patientennutzen ausgerichtete digital unterstützte neue Versorgungsformen sich lohnen, hat das gerade abgeschlossene Innovationsfondsprojekt AdAM der BARMER und der KVWL (https://www.kvwl.de/adam) gezeigt: Erstmals konnte in einer prospektiv-randomisierten Studie im Vergleich zur Routineversorgung die Mortalität nicht selektierter Patientinnen und Patienten mit Polypharmazie signifikant und relevant reduziert werden. Nicht nur ein Arzneimittel, auch adäquate, digital unterstützte Prozessorganisation kann Leben retten.