Zur Auswertung der mit dem Raum-Classifier und dem StanfordNER automatisch erstellten Annotationen wurden die annotierten Texte der Teilkorpora in CATMA hochgeladen. Hier wurden Abfragen aller Raumkategorien in allen Dokumenten erstellt und ausgewertet.Footnote 1 Dabei wurden zunächst die jahrhundertspezifischen Teilkorpora betrachtet und anschließend das gesamte Kernkorpus. Am Ende wurden drei Perspektiven entwickelt, um die gefundenen Phänomene als Indikatoren der Raumdarstellung auf jeweils einer von drei Ebenen der Korpusbetrachtung zu klassifizieren:

  1. 1.

    Allgemeine Tendenzen literarischer Raumdarstellung und deren diachrone Entwicklung (Ebene des gesamten Kernkorpus);

  2. 2.

    Phänomene, die nur in einem Teilkorpus vorkamen (Ebene der Teilkorpora und damit der Literatur bestimmter Jahrhunderte);

  3. 3.

    Einzeltextphänomene (Ebene des einzelnen Romans).

Die Betrachtung allgemeiner Tendenzen literarischer Raumdarstellung erfolgt in insgesamt sechs beispielhaften thematischen Interpretationslinien (vgl. Abschnitt 8.1). Diese sind zum Teil auf einzelne Kategorien des Raummodells fokussiert, können aber auch kategorienübergreifend angelegt sein. Besondere Berücksichtigung fand bei den Auswertungen allgemeiner Tendenzen literarischer Raumdarstellung die Anschlussfähigkeit an die bisherige literaturwissenschaftliche Forschung. Die Phänomene, die nur in einzelnen Teilkorpora vorkamen, sind hauptsächlich raumthematisch. Hier werden in Abschnitt 8.2 jeweils pro Teilkorpus unterschiedlich viele Spezifika aufgezeigt, die in Form von explorativen, datenzentrierten Untersuchungen betrachtet werden. Das in Abschnitt 8.3 beschriebene Einzeltextphänomen, das bei der Datenauswertung dieser Studie entdeckt wurde, bezieht sich dagegen wieder auf unterschiedliche Kategorien des hier angewendeten Modells literarischen Raumes. Ausreißer-Phänomene wie dieses müssen unabhängig von der Vorgehensweise, sei diese nun auf Anschlussfähigkeit an bisherige literaturwissenschaftliche Forschung ausgelegt oder eher auf die Datenauswertung fokussiert, im Blick behalten werden, um keine Verzerrungen der Gesamtauswertung zu verursachen.

Zur Cross-Validierung der Analysen wurden diese außerdem zuerst mit einer Vorversion des Classifiers durchgeführt, die sich in einem Punkt von der Endversion unterschied. Die Metaphern wurden im Trainingskorpus gelöscht anstatt wie bei der finalen Version in die anderen Kategorien umsortiert zu werden. Diese Version des Classifiers erreicht eine um rund ein Prozent schlechtere Erkennung (74,77%). Durch den Vergleich dieser beiden Analyse-Durchläufe konnte festgestellt werden, welche Phänomene sich als besonders stichhaltig erweisen. Hat der Vergleich entscheidende Abweichungen aufgezeigt, so wird das bei der jeweiligen Teilanalyse im Folgenden explizit benannt.

Die beispielhaft angeführten Interpretationslinien dienen als Proof-of-Concepts und zeigen vor allem, inwiefern die hier entwickelte Methodik zur automatisierten Annotation von Indikatoren für Raumdarstellungen in literarischen Texten dazu dienen kann, Einstiegspunkte in die Betrachtung unterschiedlicher, literaturwissenschaftlich relevanter Phänomene zu finden. Dazu gehört auch, dass an dieser Stelle die entwickelte und angewandte Kernmethode der automatischen Annotation sinnvoll mit anderen Methoden der Digital Humanities verknüpft wird. Auf diese Weise werden Mixed-Methods-Ansätze gezeigt, die neben der CRF-Klassifikation auch Netzwerkanalyse, Aufbau, Abfrage und Visualisierung von Daten in einer relationalen Datenbank und Topic Modeling nutzen. Die insgesamt elf Ansatzpunkte zur genaueren Untersuchung literarischen Raumes können hier nicht vollumfänglich abgehandelt werden. In Anbetracht der Tatsache, dass nicht jeder gefundene Ansatz auf gleiche Weise anschlussfähig an traditionellere Methoden der Literaturwissenschaft ist, wird aber exemplarisch gezeigt, inwiefern die Auswertung der Daten des Raum-Classifiers An- und Rückschlüsse auf analoge, aktuelle literaturwissenschaftliche Forschung erlaubt. Die Methode der automatischen Klassifikation von Indikatoren narrativer Raumdarstellungen wird also einerseits auf ihre Kombinierbarkeit mit anderen Methoden aus dem Bereich der Digital Humanities geprüft und andererseits auf die Möglichkeit, die gefundenen Phänomene mit Erkenntnissen aus den analog arbeitenden Literaturwissenschaften zusammenzuführen.

1 Perspektive: Gesamtkorpus

Im gesamten Korpus wurden vom Raum-Classifier 1.406.802 Annotationen eingefügt. Davon fallen 349.047 Annotationen auf das Teilkorpus des 18. Jahrhunderts, 425.265 auf das Teilkorpus des 19. Jahrhunderts, 307.815 auf das Teilkorpus des 20. Jahrhunderts und 313.513 auf das Teilkorpus des 21. Jahrhunderts (vgl. Tabelle 8.1). Abgesehen vom Teilkorpus des 19. Jahrhunderts ähneln sich die Annotationszahlen erstaunlich stark. Dass die Zahlen im 19. Jahrhundert im Vergleich mit den anderen Teilkorpora herausfallen, hängt damit zusammen, dass in diesem Jahrhundert sehr unterschiedlich mit Raumdarstellung umgegangen wurde und es einige Ausreißer-Texte gibt, bei denen der Anteil der Indikatoren für narrative Raumdarstellungen relativ hoch ist, wie die Auswertung der RIWs in Kapitel 9 zeigt. Durchschnittlich wurden in jedem der 100 Romane 14.068,02 Wörter als Teil von Raumdarstellungen annotiert. Das klingt zunächst einmal recht viel dafür, dass die Darstellung von Raum in literarischen Texten gegenüber anderen Phänomenen eher untergeordnet sein soll, aber natürlich schwanken die RIWs der einzelnen Texte stark, wie in der Gesamtübersicht noch gezeigt werden wird.

Tabelle 8.1 Annotationen pro Korpus und Kategorie

Die Auswertung der Annotationen des Raum-Classifiers hat gezeigt, dass die Rangfolge der Raumkategorien über das gesamte Kernkorpus hinweg fast konstant bleibt (vgl. Tabelle 8.1). Immer sind Relationen auf dem ersten, relationale Verben auf dem zweiten Platz. Auf dem dritten Platz stehen in allen vier Teilkorpora Raumhinweise. Orte sind mit einem relativ großen Abstand immer auf Platz vier, Raumthemen meistens auf Platz fünf und Raumbeschreibungen fast immer auf Platz sechs. Nur im Teilkorpus des 20. Jahrhunderts gibt es eine Abweichung. Hier wurden etwas häufiger Raumbeschreibungen als Raumthemen annotiert. Zwischen Orten und Raumthemen (bzw. Raumbeschreibungen im 20. Jahrhundert) gibt es wieder einen recht großen Abstand, während Raumthemen und Raumbeschreibungen in ähnlicher Anzahl annotiert wurden. Die relationalen Raumausdrücke sind also quantitativ mit Abstand am bedeutsamsten für den literarischen Raum. Das Netz der Relationen ergibt sich, wie in Abschnitt 8.1.1 noch genauer ausgeführt werden wird, hauptsächlich aus Raumhinweisen als Knotenpunkten und Relationen und relationalen Verben als Indikatoren der Zwischenräume.

Raumhinweise sind aber nicht nur als Teil eines relationalen Raumnetzwerkes interessant, sondern dienen häufig auch der Verortung. Zwei zentrale Bereiche stehen einander hier gegenüber: Der Innenraum und der Außenraum. Beide werden häufig über Raumhinweise dargestellt oder impliziert (vgl. Abschnitt 8.1.2).

Für die Kategorie der Orte hat sich in erster Linie das Spannungsfeld zwischen dem Hier und dem Dort (vgl. Abschnitt 8.1.2) als quantitativ bedeutsam erwiesen. Das Setting von Erzähltexten wird viel seltener mit konkreten Ortsbenennungen – Städtenamen, Straßenbezeichnungen, Namen konkreter Etablissements usw. – dargestellt als mit diffusen und nur aus dem Kontext an einem bestimmten Punkt der Topografie eines Erzähltextes festzumachenden Bezeichnungen. Raumdarstellungen in literarischen Texten zeigen sich als Strukturphänomen, das eng mit dem der Figuren verknüpft ist. Diese können zwar auch unabhängig von Raumdarstellungen als absolute Entitäten betrachtet werden, Raumdarstellungen können aber vor allem im Kontext der häufig auftretenden Positionsbezeichnungen „hier“ und „dort“ nur im Zusammenhang mit den Figuren betrachtet werden, die eine Lokalisierung innerhalb der Geografie der storyworld erlauben. Dennoch können Figuren in literarischen Texten auch referenziert werden, ohne dass dabei Informationen zum Raum aufgerufen werden, z. B. wenn Eigenschaften einer Figur beschrieben werden.

Ein weiteres Phänomen, das sich auf das gesamte Kernkorpus erstreckt, ist die überragende quantitative Bedeutung des von Lotman ausgemachten literarischen Raumthemas der Öffnung und Schließung bzw. der Grenze (vgl. Lotman, 1973, 328–329 und Abschnitt 2.2.1 in diesem Buch). Nun ist dieses Thema bei Lotman auch sehr weit gefasst und jede Erwähnung einer Tür, eines Fensters, einer Wand oder einer Treppe (vgl. Lotman, 1973, 328–329), gehört für ihn zu diesem Raumthema, was das semantische Feld, das es bezeichnet, sehr groß macht. Dennoch gehört die Grenzthematik eindeutig essentiell zur literarischen Raumdarstellung dazu, wie in Abschnitt 8.1.3 genauer beschrieben wird.

Eine deutliche Tendenz zunehmender Privatheit der in literarischen Texten dargestellten Räume, die sich im hier untersuchten Kernkorpus zeigt, bietet gute Anknüpfungspunkte dieser digital unterstützen Studie zu Betrachtungen aus der nicht digitalen Literaturwissenschaft. Die in den früheren Texten quantitativ bedeutsameren öffentlichen Räume fallen häufig in die Kategorie der Orte. Privatheit und damit verknüpfte Raumsymbole sind hingegen häufiger in Raumhinweisen impliziert. Auch Raumbeschreibungen wie die explizite Kennzeichnung eines Raumes als privat sind hier von Bedeutung. Wie die Entwicklung zunehmender Darstellung von Privatheit in literarischen Texten sich genau im Wortmaterial und in der Annotation des Raum-Classifiers zeigt, ist in Abschnitt 8.1.4 dokumentiert.

Von im diachronen Verlauf eher abnehmender Bedeutung sind die Begriffe „Welt“ und „Himmel“, die beide in die Kategorie der Orte fallen. Beide Begriffe vereint aber auch die Tatsache, dass sie oft metaphorisch verwendet werden oder Teil längerer metaphorischer Phrasen und Sprachbilder sind. In Abschnitt 8.1.5 wird die Manifestation ihrer abnehmenden Bedeutung im Kernkorpus und – mit Hilfe von Abfragen in der relationalen Metaphern-Datenbank laRa – ihre Bedeutung für die Raummetaphorik in literarischen Texten betrachtet.

1.1 Relationaler Raum in literarischen Texten

Die literarische Darstellung von Raum – das zeigt die Auswertung der automatischen Annotationen ganz deutlich – wird hauptsächlich über Relationen referenziert und entspricht damit einem Konzept, das u. a. von Leibniz vertreten und im 18. Jahrhundert dadurch auch in der Forschung stark diskutiert wurde (siehe Abschnitt 2.3.2). Insgesamt wurden im Kernkorpus 5.217 Types und 419.148 Tokens als Relation annotiert.Footnote 2 Das heißt, dass fast \(2/3\) aller mit dem Raum-Classifier erstellten Annotationen in diese Kategorie fallen. Die zehn am häufigsten annotierten Wörter sind „in“, „auf“, „an“, „aus“, „im“, „zu“, „vor“, „von“, „über“ und „nach“. „In“ ist allerdings mit 81.198 Annotationen mit großem Abstand am häufigsten (am zweithäufigsten ist mit 43.819 „auf“). Die im gesamten Korpus am zweithäufigsten annotierte Kategorie ist die der relationalen Verben. Insgesamt wurden 385.003 Tokens annotiert. Es fallen also – nimmt man die Anzahl der Relationen und der relationalen Verben zusammen – mehr als die Hälfte aller Annotationen in die relationalen Kategorien des hier entwickelten Raummodells. Mit 17.871 Types sind relationale Verben aber viel diverser als Relationen und eignen sich auch besser, um, darauf aufbauend, Interpretationshypothesen aufzustellen.

Die am dritthäufigsten annotierte Kategorie ist mit 341.654 Annotationen die der Raumhinweise. Auch diese Kategorie trägt häufig dazu bei, einen relationalen Raum zu entfalten, denn relationale Verben und Relationen bezeichnen meist Zwischenräume oder die Überbrückung derselben. Diese Zwischenräume entfalten sich zwischen Figuren und / oder zwischen Figuren und Objekten. Referenzen darauf müssen nicht immer Hinweise auf den Raum sein, Raumhinweise bezeichnen aber häufig Objekte, Figuren oder einzelne Teile und Teilbereiche von Objekten oder Figuren. Die Wortvielfalt der Raumhinweise ist hoch, die Annotationen verteilen sich auf 40.295 Wörter. Nicht immer stehen Raumhinweise in engem Zusammenhang mit Relationen, aber sehr häufig. Dass Raumhinweise und Relationen und relationale Verben tatsächlich im Satzzusammenhang oft direkt nebeneinander stehen, zeigt eine Netzwerkanalyse der Raumkategorien in den vier Teilkorpora (vgl. Abbildung 8.1).

Abbildung 8.1
figure 1

Netzwerkvisualisierung der Raumkategorien

Die Netzwerkvisualisierungen der Annotationen in den vier Teilkorpora geben einen Eindruck davon, wie häufig Wörter, die in den unterschiedlichen Raumkategorien annotiert wurden, direkt nebeneinander stehen (Visualisierung der first neighbours). Als Visualisierungstool wurde hier Gephi eingesetzt, eine Software zur Netzwerkerstellung, die unterschiedliche Layouts für Netzwerke anbietet, die auf unterschiedlichen physikalischen Simulationen beruhen (Schumacher, 2020b, §68ff). Die automatisch annotierten Daten, die zur Analyse in CATMA hochgeladen worden waren, wurden mithilfe des Python-Packages GitMA (Vauth et al., 2022) für die Netzwerkanalyse aufbereitet. Grundidee ist, dass zwischen den Knoten Anziehungskräfte bestehen, die Kanten diese aber wie Sprungfedern auseinander drücken. Je nachdem, wie viele Verbindungen ein Knoten zu anderen hat und wie stark diese sind, ergibt sich für eine bestimmte Netzwerkstruktur ein Gleichgewicht. Das hier ausgewählte Layout ist OpenOrd, ein Layout, dass die schwächeren Verbindungen in der Simulation abschneidet und sie so in der Visualisierung von den anderen Knoten und Kanten abrückt (Schumacher, 2020b, §79). Das führt dazu, dass die starken Verbindungen sehr gut sichtbar werden, täuscht aber in diesem Fall etwas, was die Konstellationen im Netzwerk angeht. Da alle Knoten Verbindungen zu allen anderen aufweisen, sind die Kanten eigentlich alle gleich lang und nur unterschiedlich dick. Dadurch, dass die dickeren Kanten hier auch kürzer dargestellt sind, zeigt sich aber sehr schön, dass die Wörter der Kategorien der relationalen Verben und der Raumhinweise in allen vier Teilkorpora am häufigsten direkt nebeneinander stehen, wie z. B. in der Phrase „jemandem die Hand [Raumhinweis] reichen [relationales Verb]“. Relationen stehen dann am nächst häufigsten neben Raumhinweisen (z. B. „zu [Relation] ihr [Raumhinweis]“). Relationen und relationale Verben (z. B. „verborgen [relationales Verb] in [Relation]“) stehen in etwa gleich häufig nebeneinander wie Orte und relationale Verben (z. B. „die Wohnung [Ort] betreten [relationales Verb]“) und die Wörter der Kategorien Raumthema und Raumbeschreibung (z. B. „dicke [Raumbeschreibung] Mauern [Raumthema]“) stehen weit seltener direkt neben denen der anderen Kategorien.Footnote 3 Es gibt aber keine Kategorie, deren Wörter niemals direkt neben denen der anderen stehen, die Vernetzungsgrade sind in allen vier Netzwerken maximal (nämlich bei 1 – jeder Knotenpunkt weist Relationen zu allen anderen auf). Die vergleichsweise häufige direkte Nachbarschaft der Wörter der Kategorien relationale Verben, Raumhinweise und Relationen deutet auf die grundsätzlich relationale Beschaffenheit literarischer Raumdarstellungen hin: Subjekte und Objekte, die häufig unter die Kategorie Raumhinweise fallen, überbrücken, wenn sie mit relationalen Verben zusammen stehen, Distanzen. Relationen drücken genau diese Distanzen aus. Der literarische Raum ergibt sich aus diesem Zusammenspiel, in dem Distanzen aufgebaut und überbrückt werden (oder auch bestehen bleiben). Orte bezeichnen zwar das Setting, tragen aber weniger zu diesem Zusammenspiel bei, ebenso wie Raumbeschreibungen. Der relationale Raum, der in literarischen Texten entworfen wird, ist also überwiegend von Subjekt-Subjekt und Subjekt-Objekt-Relationen geprägt und weit seltener von Distanzen, die sich zwischen Orten erstrecken. Es ist also nicht hauptsächlich ein topografisch-relationaler Raum, sondern eher ein subjekt- bzw. objektorientierter.

Wenn man nun alle Annotationen der so oft nebeneinander stehenden Kategorien zusammenrechnet, die maßgeblich zum relationalen Raum beitragen, so stellt man fest, dass sie rund 80% (genau 81,44%) aller Annotationen im Kernkorpus ausmachen. Auch wenn nicht jeder Raumhinweis zu einem relationalen Raumgefüge beitragen muss, so ist dieser Wert doch so hoch, dass der Schluss nahe liegt, dass der Raum, der in literarischen Texten dargestellt wird, hauptsächlich relational ist.

Zur Interpretation der Kategorie „Relation“

Wörter, die Relationen ausdrücken, also z. B. Deiktika, Bezeichnungen von Zwischenräumen oder von Nähe und Ferne werden am häufigsten dazu genutzt, Informationen zum narrativen Raum zu referenzieren. Abgesehen von dieser These bietet diese Kategorie aber kaum Interpretationspotential. Dass „in“ hier mit Abstand am häufigsten (81.198 Mal) annotiert wurde, sagt, in Anbetracht der Tatsache, dass die Kontexte höchst variabel sind, nicht viel aus. Wie wenig sich die relative Verwendung der hier annotierten Wörter unterscheidet, zeigt sich im Vergleich der Teilkorpora miteinander. Die Rangfolge der ersten vier Wörter dieser Kategorie („in“, „auf“, „an“, „aus“) ist in allen vier Teilkorpora genau gleich.Footnote 4 Erst danach ergeben sich jahrhundertspezifische Besonderheiten, die sich allerdings erst einmal nur in minimalen Abweichungen der Rangfolge zeigen. Im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts ist z. B. „zu“ auf Rang fünf und „im“ auf Rang acht. Letzteres ist aber im Teilkorpus des 20. Jahrhunderts auf Rang fünf. Was sagt das im Hinblick auf eine literaturwissenschaftliche Analyse aus? In erster Linie wohl, dass bei Distant-Reading-Analysen wie der vorliegenden Vorsicht vor zu schnellen Schlüssen geboten ist. Betrachtet man nämlich genauer, in welchen Zusammenhängen z. B. das Wort „in“ im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts stehen kann, dann sieht man vor allem, dass dieses Wort in sehr, sehr unterschiedlichen Kontexten steht.Footnote 5 Die Häufung deutet also keineswegs darauf hin, dass sich Vieles in einem klar definierten Raum abspielt, wie man intuitiv vermuten könnte. Stattdessen zeigen häufig vorkommende Wendungen wie „in die Welt hinaus“, „in allen Gassen“, „in das düstere Tal“, dass „in“ auch in Verbindung mit sehr unkonkreten Räumen stehen kann. Von Ländern über Städte bis zu Zimmern und letztendlich auch bis in Möbelstücke oder, noch kleiner, Kisten, sind Verortungen im Inneren und Äußeren mit dem Wort „in“ gekennzeichnet. Darüber hinaus können auch gerichtete Bewegungen, Blicke oder Rufe, die mit „in“ gekennzeichnet werden (z. B. im Satz „und hier sah er in das Dörfchen“ in Teilkorpus 18: Jean Paul Hesperus oder 45 Hundsposttage). Tatsächlich kann also keine inhaltlich ausgerichtete, belastbare These darüber aufgestellt werden, welche Art von Relationen in einer Zeitspanne mit welchen raumspezifischen Motiven einhergeht und besonders häufig ist. Hinzu kommt, dass das Verhältnis der Häufigkeiten der Wörter, die als Relation annotiert wurden, in allen vier Teilkorpora so ähnlich ist, dass die Vermutung nahe liegt, dass hier weniger eine Korpus- als vielmehr eine Sprachspezifik vorliegt. „In“ scheint einfach insgesamt die am häufigsten zur Raumdarstellung genutzte Relation zu sein.

Eine Frage, die sich bei Betrachtung der Annotationen der Kategorie „Relation“ geradezu aufdrängt, ist, ob die Wörter, die in diese Kategorie fallen, nicht über einen Listenabgleich hätten annotiert werden können. Tatsächlich ist das Wortmaterial der in dieser Kategorie annotierten Wörter sehr klar umrissen. Allerdings sind selbst diese kleinen und unscheinbaren Wörter nicht frei von Ambiguitäten und können in unterschiedlichen Kontexten sehr unterschiedlich genutzt werden. In dem Satz „wenn er in dieser Stimmung war, war einfach nichts mit ihm anzufangen“ bezeichnet das Wort „in“ gar keine Relation. Ein kontextsensitives Tool wie der auf Machine Learning basierende Raum-Classifier kann diese Unterschiede in der Verwendung der Wörter im Satzzusammenhang berücksichtigen. Dennoch kann der hier gewählte Ansatz auch mit Formen des Listenabgleichs zusammengebracht werden, wie in den folgenden Kapiteln noch gezeigt werden wird.

Zur Interpretation der Kategorie „relationale Verben“

Die Kategorie der relationalen Verben bietet deutlich mehr Interpretationspotential als die der Relationen. Dass im gesamten Kernkorpus mit „sehen“ ein Ausdruck optischer Wahrnehmung mit 8.790 Annotationen allein von der Form „sah“ am häufigsten ist, ist sehr bezeichnend. Nicht nur, dass die von Husserl (vgl. Abschnitt 2.3.2) beschriebenen Sichtachsen auch für literarische Texte bedeutsam sind, drückt sich hier aus. Es zeigt sich auch, dass Lesende zwar – anders als beim Werk der bildenden Kunst, um auf Lessing (vgl. Kapitel 1) zurückzukommen – nicht direkt auf eine räumlich manifestierte Szenerie schauen, aber dass der Blick darauf durchaus dargestellt wird, und zwar vermittelt durch Erzählinstanz und / oder Figuren. Durch die Augen derer, die die storyworld beleben, wird auch der Blick der Lesenden gelenkt. Quantitativ weniger dominant sind Verben der Bewegung wie „kommen“, „gehen“, „stehen“ oder „nehmen“Footnote 6, also Verben, die eine zeitliche Abfolge implizieren. Obwohl das Lesen an sich eine Tätigkeit ist, die in zeitlicher Linearität abläuft, muss das Dargestellte also nicht immer analog dazu erfasst werden. In der Beschreibung dessen, was eine Figur sieht, kann durchaus räumliche Plastizität erreicht werden.

In allen vier Teilkorpora (18.–21. Jahrhundert) ist „sah“ das am häufigsten annotierte Wort der Kategorie „relationale Verben“. Im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts wurde „sah“ 2.082 Mal annotiert, im Teilkorpus des 19. Jahrhunderts 2.705 Mal, im Teilkorpus des 20. Jahrhunderts 2.389 Mal und im Teilkorpus des 21. Jahrhunderts 1.614 Mal. Gruppiert man andere Formen des Verbs „sehen“ hinzu, so zeigt sich die quantitative Bedeutung noch deutlicher. Im vierten, dem Teilkorpus des 21. Jahrhunderts, ist mit 1.547 Annotationen das Wort „an“ als Teil eines relationalen Verbs fast ebenso häufig wie „sah“. Im gesamten Kernkorpus sind also Sicht- und Blickachsen von überragender Häufigkeit in der Darstellung des Raumes. Im Teilkorpus des 21. Jahrhunderts kommt durch das häufig im Zusammenhang mit optischer Wahrnehmung auftauchende „an“ (z. B. in „ansehen“, „anblicken“ oder „anschauen“) zu einer stärkeren Richtung dieser Achsen.

Eine genauere Analyse der Zusammenhänge des am häufigsten mit dieser Kategorie annotierten Wortes „sah“ hat gezeigt, dass die Kontexte in vier Gruppen zusammengefasst werden können:

  1. 1.

    Blick auf Figuren

  2. 2.

    Blickachsen zwischen Figuren

  3. 3.

    Blickachsen auf Szenerie und Setting

  4. 4.

    Blick auf Lebensansichten der Figuren

Sehr häufig schauen Figuren sich aber auch ein- oder wechselseitig an, sodass sich zwischen ihnen eine Blick-Relation ergibt. Beispiel für das einseitige ansehen, ist die Passage „\(\ldots \) sie sah ihren Vater vor sich stehen“ (Teilkorpus 18: Huber Die Familie Seldorf) für beidseitiges anschauen ist „Die Mädchen sahen einander verlegen an“ (Teilkorpus 18: Vulpius Rinaldo Rinaldini) ein Beispiel. Schilderungen des Aussehens von Figuren lassen diese beim Lesen plastisch wirken und verleihen den beschriebenen Charakteren eine optische Komponente. „Ich sah ihn in dem Glanze seiner wirklich herrlichen Schönheit“ (Teilkorpus 19: Spielhagen Problematische Naturen) oder „Der Gast sah übel aus“ (Teilkorpus 19: Franzos Leib Pfefferkuchen) sind nur zwei von zahlreichen Beispielen für diese Verwendung. Besonders interessant ist auch, dass über die Blickachse auf die Optik einer Figur auch ein Eindringen in deren Innenwelt geschildert werden kann: „man sah wie tief ihn der Gegenstand und das Scheitern vieler Erwartungen und gehegten Ansichten berührte.“ (Teilkorpus 19: Goedsche Sebastopol), oder „man sah es ihm ordentlich an, welch’ Vergnügen ihm ein Kampf mache“ (Teilkorpus 19: Gerstäcker Flusspiraten des Mississippi) sind zwei relativ willkürlich aus der Menge ausgewählte Beispiele für ein solches Eindringen der Blickachse in eine Figur. Dieses Eindringen kann natürlich auch bewusst abgeschnitten werden, wie die Textzeile „Seine Wangen waren erglüht. Er sah zu Boden.“ (Teilkorpus 19: Stendhal Rot und Schwarz) belegt.

Es war der Hohenstein. Sie kletterten über eine gleiche Holztreppe hinauf. Von ihm sah Witiko die Berge des böhmischen Landes höher und breiter als von den Sesseln, auch sah er neue Waldlehnen emporstehen, aber weiter nichts von dem inneren Lande. (Teilkorpus 19: Stifter Witiko)

In Passagen wie dieser von Stifter oder auch in kürzeren Phrasen wie „[v]or ihnen sah man über die Wipfel hinweg zur Ebene“ (Teilkorpus 19: Spielhagen Problematische Naturen) werden Blicke auf Szenerie und Setting dargestellt. Diese Art von Blickachsen führen häufig über Grenzen bzw. Begrenzungen hinweg. Figuren schauen von innen aus dem Fenster oder aus dem Haus oder von außen hinein.

Seltener sind Darstellungen von Lebensansichten wie z. B. „[s]ie sah alles für ein Verhängnis an“ (Teilkorpus 18: Gellert Das Leben der schwedischen Gräfin von G.). Diese metaphorische Verwendung des Wortes „ansehen“ fällt nicht in die Kategorie der „relationalen Verben“, sondern in die der „Raummetaphern“. Sie ist darum hier nicht von zentralem Interesse. Da der Raum-Classifier in der finalen Version Raummetaphern nicht berücksichtigt, muss dieser Kontext aber durchaus mit einbezogen werden, wenn mit Hilfe dieses Tools eine Analyse des Verbs „sehen“ und verwandter Formen durchgeführt wird.

Die Kontexte des Sehens sind insgesamt vor allem blickführend. Szenerien werden eröffnet, wobei zum Teil Grenzen durchbrochen werden (von innen nach außen oder andersherum), Figuren werden betrachtet und Blickachsen zwischen Figuren als verbindende Elemente gestaltet. Auch hierbei können Grenzen gewahrt, gesetzt oder überschritten werden, nämlich die Grenzen zwischen Außen- und Innenwelt einer Figur. Gemeinsam mit der Figur (oder auch der Erzählinstanz), deren Blicke gerade verfolgt werden, sieht die lesende Person auf diese Weise den Raum der storyworld mit.

Tabelle 8.2 Am häufigsten als „relationales Verb“ annotierte Wörter in den vier Teilkorpora

In zwei der vier Teilkorpora stehen an zweiter Stelle der am häufigsten als relationale Verben annotierten Wörter Bewegungsverben (vgl. Tabelle 8.2). „Kam“ ist im Teilkorpus des 18. und 20. Jahrhunderts am zweithäufigsten. Im Teilkorpus des 21. Jahrhunderts steht nach „an“, „sah“ und „sehen“ an vierthäufigster Stelle das Bewegungsverb „ging“. „Kam“ und „stand“ folgen auf Platz sechs und sieben der am häufigsten annotierten relationalen Verben (auf Platz fünf steht „gehen“). Auch in den anderen Teilkorpora sind Formen des Wortes „gehen“ unter den zehn am häufigsten in dieser Kategorie annotierten Wörter. Es ergibt sich ein insgesamt relativ homogenes Bild, in dem Wahrnehmungsverben, vor allem „sehen“ und gerichtete Bewegungsverben, die zu etwas hin- oder von etwas wegführen, dominieren. Im 21. Jahrhundert nehmen die Richtungen der Blickachsen, die schon bei Betrachtung der anderen Teilkorpora als bedeutsam für die Raumdarstellung identifiziert wurden, an Wichtigkeit zu. Neben Formen des Verbs „sehen“ sind hier vor allem Bewegungsverben häufig, wie z. B. „gehen“, „stehen“ und „kommen“ (siehe Tabelle 8.2). Andere Ausdrücke von Sinneswahrnehmungen wie „hören“ und auch das häufig eng damit verknüpfte „rufen“ sind seltener oder nehmen im diachronen Verlauf an Häufigkeit ab (wie z. B. der Fall bei „rief“ – siehe Tabelle 8.2).

Sowohl die quantitative Bedeutung der Wahrnehmungsverben als auch die der Bewegungsverben für den relationalen literarischen Raum zeigen, dass hier Konzepte der in Kapitel 2 herausgearbeiteten Aspekte des Raumes implementiert wurden und sich darum auch in den Daten widerspiegeln. Die Blick- und Rufachsen nach Husserl wurden bereits erwähnt. Hinzu kommt aber auch das Konzept des Bewegungsraums als Handlungsraum nach de Certeau (vgl. Abschnitt 2.3.2) und das des sozialen Raumes nach Foucault (vgl. Abschnitt 2.3.3). Der zunächst zweidimensional erscheinende, netzwerkartige relationale Raum wird dadurch mehrdimensional. Neben Distanzen und Verknüpfungen werden hier auch Aspekte der zeitlichen Dimension wichtig. „Gehen“ impliziert eine langsamere Bewegung als „rennen“, während im relationalen Verb „kommen“ Geschwindigkeit keine oder nur eine untergeordnete Rolle spielt. Die beispielhaft angeführten Verben „gehen“ und „rennen“ beinhalten aber auch eine Fortbewegungsform, die ohne technische Hilfsmittel auskommt und darum hier auch nicht als dem Raumthema der Reise zugehörig interpretiert wird. Die Distanzen, die mit dieser Bewegungsart überbrückt werden, sind in der Regel eher kurz als lang. Genau wie de Certeau (2006, 345) beschreibt, ist Raum hier „eine mehrdeutige Einheit“. Das Konzept erweist sich ebenfalls als passend für die Sicht- und Rufachsen, da hier neben Distanzen, Zeitlichkeit und Blickführung z. B. auch Emotionen eine wichtige Rolle spielen. Bricht sich eine Emotion z. B. durch einen Ausruf Bahn und dringt somit von der Innen- in die Außenwelt, so kann hier – neben der Emotion selbst – auch noch positive und negative Aufladung derselben, sowie Heftigkeit eine Rolle spielen. Blickachsen, die unterbrochen werden, deuten ebenfalls auf eine emotionale Dimension hin, die hier zu einer direkten Konsequenz für den relativen Raum führt, indem eine Relation unterbrochen wird. Dass Raum „mit zahlreichen Qualitäten behaftet ist und möglicherweise auch voller Phantome steckt“ thematisiert auch Foucault (2006, 319). Darüber hinaus spricht er dem Raum viele Qualitäten zu und beschreibt unter anderem Aspekte des individuellen und sozialen Raums des Innen- und Außenraums von Personen (vgl. Foucault, 2006, 319 und Abschnitt 2.3.3). Dieser Foucault’sche Handlungsraum zeigt sich immer wieder in den hier betrachteten Romanen. Es ist gerade diese Mehrdeutigkeit und Mehrdimensionalität des relationalen Raumes, die es nicht erlaubt, für literarische Raumdarstellungen ein statisches Konzept anzunehmen. In Abschnitt 2.3.4 wurde ein Exkurs in Richtung Archäologie gewagt, um zu zeigen, dass Raum auch mit Hilfe haptischer Elemente wie Erde und Stein, aus denen in der wissenschaftlichen Arbeit einzelne Objekte geborgen werden, betrachtet und zum Teil besser verstanden werden kann. Literarische Raumdarstellungen aber zeigen etwas anderes. Hier gilt es nicht wie in der Archäologie die Schichten von Wortmaterial zwischen den Raumausdrücken abzutragen, sodass eine feste, dem Text unterliegende Struktur zu Tage tritt. Zwar implementiert die Methode der automatischen Raum-Klassifikation einen Teil dieser Idee und lässt die für die Raumdarstellung am häufigsten genutzten Ausdrücke deutlich hervortreten; in der Interpretation gilt es aber das, was gefunden wurde, durchaus im Kontext seiner Variabilität und Mehrdeutigkeit zu betrachten. Vor allem bei den dominierenden relationalen Aspekten von Raum wird hier ganz klar, dass dieser dynamisch konstruiert wird, und zwar nicht nur auf lineare Weise. Der relationale literarische Raum wird nicht im Handlungsverlauf aufgebaut und ist dann am Ende auf irgendeine Weise ein festes Konstrukt. Stattdessen wandelt sich der relationale literarische Raum in jedem Moment des Lesens, indem sich Relationen auf- und wieder abbauen, durchkreuzt, zerstört oder erzwungen werden. Der relationale literarische Raum ist also mehrdimensional (im Sinne von de Certeau (2006) und Foucault (2006)) und dynamisch, wie schon Klotz (1969) und Hoffmann (1978) ihn beschrieben haben. Hinzu kommt, dass die literarische Raumerfahrung auch Rückbezüge zu einer konkret-empirischen und zu einer chronotopischen (nach Bachtin, 2008) Ebene zulässt und somit in ein komplexes Gefüge eingebettet ist. Der Raum, der in einem literarischen Text referenziert wird, kann auf eine konkrete Geografie bezogen werden, ist aber immer auch in literarhistorische Zusammenhänge eingebunden, die vor allem auf soziale und kulturelle Aspekte des Raumes einwirken.

Abbildung 8.2
figure 2

Passage aus Gellert Das Leben der schwedischen Gräfin

In der in Abbildung 8.2 illustrierten Passage zeigt sich deutlich diese Mehrdimensionalität und Dynamik und auch, welche Indikatoren davon vom Raum-Classifier identifiziert wurden. Durch das gegenseitige Ansehen wird eine Blickachse aufgebaut, die in erster Linie die Innenwelten der Figuren miteinander verbindet. Durch diese Relation werden Emotionen sichtbar, aber auch weitere ausgelöst. Es wird ein Kreis um eine der Figuren gebildet, sodass eine Art kollektive Umarmung entsteht, mehr noch: Die fünf erwähnten Figuren werden zu einer einzigen Größe im Raum („waren alle ein Freund“). Dann greift eine andere Figur hinein und löst diese Konstellation wieder auf. Die Figur des Stanley erklärt in der in Abbildung 8.2 gezeigten Passage sein Verhalten durch gesellschaftliche Konventionen und bittet alle, sich zu setzen. Damit ist auch die Situation beendet und das räumliche Gefüge, das eben noch Bestand hatte, wird aufgelöst. Hier zeigt sich auch sehr schön, dass die Annotationen an einzelnen Größen als Indikatoren der Konstellation festgemacht sind. Die soziale und gesellschaftlich kulturelle (und damit auch zeitspezifische und also chronotopische) Ebene des dargestellten Raumes entfaltet sich aber erst, wenn die gesamte Textpassage betrachtet wird.Footnote 7

Bei der Betrachtung der Bewegungsverben darf nicht vergessen werden, dass diese zum Teil auch mit immateriellen Dingen im Zusammenhang stehen. Das Verb „kommen“ steht z. B. häufig in solchen Kontexten (wie im Teilkorpus 18 in Wezels Herrmann und Ulrike in den Passagen „die Unschuld kam an den Ort der Verführung“ und „wenn sie vor mir vorüber gehen, kommen mir alle wie Zwerge vor“ oder in Schnabels Wunderliche Fata einiger Seefahrer: „\(\ldots \) da es nach der Hochzeit zur Untersuchung kam“). In der Regel wird aber wirklich Bewegung ausgedrückt. Sehr häufig ist „zurück-“, „wieder-“ und „ankommen“, genauso wie „zu jemandem oder etwas (hinein-)kommen“. Sehr ähnlich sind die Kontexte des Verbs „gehen“. Auch hier gibt es einige wenige Wendungen, die nicht auf Bewegung hindeuten (z. B. „in Erfüllung gehen“). Meistens wird aber tatsächlich ausgedrückt, dass eine Figur sich auf einem Weg befindet, befunden hat oder befinden wird.

Etwas überraschend ist es, dass im Teilkorpus des 19. Jahrhunderts kein Bewegungsverb nach „sehen“ am häufigsten als relationales Verb annotiert wurde, sondern mit 2.487 Annotationen „rief“ (vgl. hierzu auch Tabelle 8.2). Betrachtet man die Kontexte des Verbs „rufen“ in diesem Teilkorpus genauer,Footnote 8 so stellt man fest, dass es auf zweierlei Weisen raumrelational fungiert. Einerseits rufen Figuren einander zu, um nicht allzu große Distanzen zu überbrücken. „Als sie das junge Mädchen erblickte, nickte sie freundlich und rief hinauf“ (Teilkorpus 19: Marlitt Goldelse) oder „Sie schlug eine der Gardinen zurück und rief hinaus ‚Bärbchen, hast du etwas auszurichten? Wir gehen spazieren und kommen zu deinem Schuh- und Hochzeitmacher!‘“ (Teilkorpus 19: Keller Das Sinngedicht) sind zwei Beispiele dieser Verwendung. Auf der anderen Seite bricht sich durch Rufen häufig eine innere Empfindung Bahn und dringt nach außen. „‚Das Horn! Das Horn!‘ rief er wild. ‚Unser Leben hängt von dem Pulver ab!‘“ (Teilkorpus 19: Goedsche Sebastopol), „‚Heilige! Verklärte!‘ rief jetzt dieser, außer sich vor unaussprechlicher Angst“ (Teilkorpus 19: Schopenhauer Gabriele) oder „‚Sprich du, Isidor, wenn ihr etwas zu sagen habt!‘ rief sie in leidenschaftlicher Vergessenheit dennoch lauter, als sie wollte.“ (Teilkorpus 19: Keller Martin Salander) sind drei Belege für eine solche Kontextualisierung des Verbs „rufen“. Die räumliche Komponente ist hier gewiss nicht vordergründig, denn eigentlich stehen die Emotionen im Fokus, und doch gibt es sie, da das Empfundene von innen nach außen dringt. Wahrnehmung und Ausdruck der Figuren sind also auch Grenzphänomene, bei denen etwas aus dem Körper herausdringen oder in anderen entdeckt werden kann. Ruf- und Blickachsen sind nicht nur potentielle Verbindungen zwischen äußerlich begrenzten Körpern, sondern auch zwischen Innen- und Außenwelten.

Im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts wurde „rief“ zwar sehr viel seltener annotiert (1.094 Mal), steht aber in der Rangliste der häufigsten Wörter der Kategorie relationale Verben immerhin auf Platz sieben. Im Teilkorpus des 20. Jahrhunderts steht es auf Platz acht, in dem des 21. Jahrhunderts erst auf Platz 16. Während Sichtweiten also jahrhundertübergreifend von besonderer Bedeutung für literarische Raumdarstellung zu sein scheinen, sind Ruf-Distanzen und auch der Ausdruck von Empfindungen durch Ausrufe in den früheren Jahrhunderten – insbesondere im 19. – häufiger als in zeitgenössischer Literatur.

Auch die weiteren in dieser Kategorie annotierten Wörter tragen meist zu den drei oben genannten Aspekten bei; Szenerien werden eröffnet, Distanzen zwischen Figuren, und Figuren und Objekten werden durch Sichtachsen (seltener auch durch andere wahrnehmungsbezogene Verben wie „rufen“ / „hören“ oder „tasten“) oder Bewegungsverben überbrückt und Innen- und Außenwelten werden miteinander in Beziehung gesetzt. Dabei spielen Grenzphänomene zwischen diesen Welten eine besondere Rolle. Der hier betrachtete relationale literarische Raum ist dynamisch und erlangt im jeweiligen Kontext Mehrdeutigkeit, bzw. erstreckt sich über mehrere Dimensionen, wie z. B. neben der räumlichen auch der kulturellen und gesellschaftlichen.

Zur Interpretation der Kategorie „Raumhinweise“

Die Auswertung der Kategorie „Raumhinweise“ unterstützt die oben ausgeführten Beobachtungen zu den am häufigsten annotierten relationalen Verben. „Augen“ wurden in dieser Kategorie am häufigsten annotiert (9.193 Annotationen) und auch „Blick“ wurde oft mit dem „Raumhinweis“-Tag versehen (3.250 Mal). Sehr häufig sind Augen Teil der Beschreibung von Blickachsen, die Zwischenräume überbrücken (z. B. in Teilkorpus 20: Spitteler Mädchenfeinde „Während dessen guckte ihr Gerold schelmisch in die Augen“) oder Szenerien eröffnen (z. B. in Teilkorpus 20: Timm Kopfjäger „die See vor Augen“).

Aber auch von den Sichtachsen abgesehen sind Referenzen auf Figuren und auch einzelne Körperteile derselben sehr häufig. „Hand“, „ihm“, „sich“, „mir“, „Kopf“, „Gesicht“ und „Herz“ wurden sehr oft als Raumhinweise annotiert (Platz zwei bis sieben der häufigsten Annotationen dieser Kategorie). Hier zeigt sich, dass die Idee des Menschen als Ursprung und Zentrum der Raumwahrnehmung quantitativ für die Kategorie der Raumhinweise besonders wichtig ist. Dieser über Tuan (1979), Lotman (1973), Kant (2006 und 1993) und Husserl (1991) (vgl. Abschnitt 2.3) ins Modell eingebrachte Ansatz konnte also für die literarische Raumgestaltung als besonders fruchtbar ausgemacht werden.

Bereits die Netzwerkanalysen der Raumkategorien in den vier Teilkorpora haben gezeigt, dass Raumhinweise häufig in sehr engem Zusammenhang mit Relationen und relationalen Verben stehen. Betrachtet man nun den Kontext der in dieser Kategorie annotierten Wörter genauer, so wird deutlich, dass sie tatsächlich häufig als Knotenpunkte einer netzwerkartigen Raumstruktur fungieren. Insgesamt passen die Funde gut zu den Beobachtungen der Kategorie „relationale Verben“. Die Sicht ist insgesamt bedeutender als das Rufen und Hören. Wie aber passt das häufige Vorkommen der „Hand“ hier hinein? Das Tasten spielte unter den relationalen Verben schließlich eine sehr kleine Rolle („fühlen“ kommt zwar deutlich häufiger vor, meint aber auch nur selten die taktile Wahrnehmung). Die Hände aber überbrücken häufig Zwischenräume und sind dadurch für Raumdarstellungen bedeutsam. Hände fahren über (eigene und fremde) andere Körperteile wie Gesichter, Lippen oder Augen (z. B. in Teilkorpus 20: May Im Lande des Mahdi II „legte sich, wie erschrocken, die Hand auf den Mund“ oder Ganghofer Ochsenkrieg: „presste er die rechte Hand auf ihren Mund“). Sie greifen nach oder zwischen Dinge und werden anderen gereicht oder gegeben. Natürlich wird auch die ein oder andere Hand wieder zurückgezogen. Darüber hinaus werden Hände zur Halterung von Objekten und Attributen der Figuren (z. B. in Teilkorpus 20: Wille Abendburg „Brennende Fackeln in der Hand“).

Bei der Betrachtung des Wortes „Hand“ lohnt sich aber auch der Blick in die Datenbank der Raummetaphern, die während des Trainingsprozesses angelegt wurde. Hier zeigt sich, dass räumliche Metaphern mit den Kernwörtern Hand und Hände relativ häufig sind. Im überhaupt sehr Raum-Metapher-freudigen 18. Jahrhundert kommen in elf von 20 Romanen aus dem Trainingskorpus 17 solcher Metaphern vor. Im 19. Jahrhundert gibt es weniger Raummetaphern mit diesen Kernwörtern (sieben Metaphern, davon sind zwei lediglich unterschiedliche Varianten einer einzigen Metapher) und diese kommen in weniger Texten vor (fünf von 20 Romanen aus dem 19. Jahrhundert im Trainingskorpus). In neun von 20 Romanen aus dem 20. Jahrhundert, die Teil des Trainingskorpus waren, kommen zehn unterschiedliche raummetaphorische Phrasen mit den Kernwörtern „Hand“ oder „Hände“ vor. Im 21. Jahrhundert gibt es schließlich nur noch eine Metapher dieser Kernworte in einem Roman. Es zeigt sich außerdem, dass Raummetaphern mit den Kernwörtern „Hand“ und „Hände“ sehr flexibel genutzt werden. Die Wörter „Hand“ und „Hände“ werden nicht als Ein-Wort-Metaphern genutzt, sondern sind Teil von variablen Phrasen. Wie Abbildung 8.3 zeigt, wird nur selten dieselbe metaphorische Phrase in Romanen unterschiedlicher Jahrhunderte verwendet (so der Fall bei „in jemandes Hand sein“ / „jemandem in die Hände fallen“, „alle Hände voll zu tun haben“ und „freie Hand haben“). Da das Wort „Hand“ in dieser Kategorie so häufig annotiert wurde, muss natürlich auch die Häufung der Verwendung in metaphorischen Kontexten berücksichtigt und die räumliche Bedeutung etwas relativiert werden.

Abbildung 8.3
figure 3

Raummetaphern mit den Kernwörtern „Hand“ und „Hände“ im Trainingskorpus

Seltener als Hinweise auf Figuren oder einzelne Wahrnehmungsorgane sind im Kernkorpus solche, die Objekte referenzieren, wie z. B. Tische („Tisch“ 2.051 / „Tische“ 690), Stühle („Stuhl“ 720) oder Sofas („Sofa“ 330). Es wird sichtbar, dass die Idee von Raum als absoluter Größe, die mit Objekten angefüllt werden kann (Objektorientierter Raumbegriff wie in Abschnitt 2.3.1 beschrieben), hier weniger Platz findet als die netzwerkartige Struktur, die sich zwischen Figuren, deren Innen- und Außenwelten, und auch, wenn auch nachrangig, zwischen Figuren und Objekten oder zwischen Objekten ausbreitet. Bei der Analyse zeigt sich einerseits sehr klar, welche theoretischen Prämissen in die Erstellung des Classifiers eingeflossen sind, auf der anderen Seite zeigen die quantitativen Auswertungen wie bedeutsam genau diese Prämissen für literarische Texte sind, zeigen sie sich doch hochfrequent in der literarischen Darstellung von Raum. Es zeigt sich auch, dass Raumhinweise, die nicht unbedingt zu einem relationalen Raum beitragen, sondern z. B. ein landschaftliches Element enthalten (ein Beispiel wäre „Wellen“ mit 340 Annotationen), seltener sind als solche, die Teil eines relationalen Geflechts sind. Außerdem wird der Eindruck bestätigt, dass Rauminformationen oft implizit sind und durch Ausdrücke vermittelt werden, die neben diesen Rauminformationen noch andere Aspekte der Erzählung stützen. Der Satz „Er legte seine große Hand auf ihre kleine“ beinhaltet z. B. neben der Rauminformation darüber, wie viel Platz die Hände einnehmen und wie sie zueinander positioniert sind, noch eine emotionale Dimension, die dem Lesenden eröffnet, wie nahe sich die Figuren stehen und dass es hier wahrscheinlich um eine Situation geht, in der eine Figur größer und stärker ist und die kleinere, schwächere beschützen möchte. Wie im vorigen Abschnitt bereits ausführlich beschrieben, sind also auch Raumhinweise als wichtiger Teil der Darstellung des (relationalen) Raumes mehrdeutig. Dieser Aspekt wird auch bei der späteren Berechnung der RIWs berücksichtigt und die Bedeutung für die Raumdarstellung insgesamt dadurch etwas verringert. Die Erkenntnisse einer solchen übergreifenden Analyse schließen direkt an die konzeptionellen Überlegungen zum literarischen Raum an, die in Kapitel 2 betrachtet wurden. Der digitale Mixed-Methods-Ansatz stützt einige der raum- und literaturtheoretischen Thesen und spezifiziert, welches Raumverständnis literarischen Darstellungen zu Grunde liegt.

1.2 Innen- und Außenwelten

Bereits im vorangegangenen Kapitel wurde deutlich, dass die Körperteile von Figuren, die als Raumhinweise annotiert wurden, nicht nur Teil eines relationalen Raumgefüges sind. Sie sind auch wichtige Verortungspunkte für Innen- und Außenwelten und deren permeable Grenzen. Häufig werden Geschehnisse im Inneren von Figuren oder in deren Umgebung verortet. Nun sind Innenwelten von Figuren zwar ein zentraler literarischer Aspekt, der maßgeblich zum Lesevergnügen beiträgt (Lahn und Meister, 2008, 232), sie sollen hier aber dennoch nicht ausführlich, sondern lediglich in ihrer räumlichen Verankerung, betrachtet werden. Das heißt, dass auch hier wieder konkrete Indikatoren auf Wortebene im Zentrum stehen. Ein wichtiger Faktor, der in der literaturwissenschaftlichen Forschung auch bereits als solcher ausgemacht wurde, ist die „prinzipielle Unzugänglichkeit der fremden Innenwelt“ (Matzat, 2014, 20), die der Darstellung des Bewusstseins von Figuren einen besonderen Reiz verleihe (Matzat, 2014, 20–21). Gegenstandsbedingt liegt der Fokus narratologischer Ansätze zumeist auf der Darstellung figuraler Innenwelten, die mehr oder weniger durch die Erzählinstanz vermittelt werden können oder auf Innenwelten ebendieser Erzählinstanz. Im Zentrum steht häufig die Frage, wie viel die Erzählinstanz von einer oder mehreren Figuren weiß und wie die Erzählsituation gestaltet ist (vgl. Genette und Knop, 1998, 134ff und 232; Martínez, 2007, 64; Lahn und Meister, 2008, 126; Matzat, 2014, 21). Neben dem Wissen der Erzählinstanz ist auch das Sehen und das Sprechen der Figuren von zentraler Bedeutung (Schmid, 2014, 122). Zusammenfassend lässt sich also festhalten, dass sowohl Innen- als auch Außenwelten und vor allem die Frage, was, wie und wie viel einer Innenwelt nach außen dringt, von zentralem Interesse für die Erzähltextforschung ist. Eine detaillierte Untersuchung der Darstellung mentaler Ereignisse findet sich bei Schmid (2017). Schmid entwirft sechs Schablonen der Bewusstseinsdarstellung, die in zwei Gruppen – die markierte und die kaschierte Bewusstseinsdarstellung – fallen (Schmid, 2017, 55). Außerdem stellt Schmid fest, dass mentale Ereignisse auf Ebene der Exegese und auf Ebene der Diegese dargestellt werden können (Schmid, 2017, 81). Für diese Studie ist außerdem relevant, dass Schmid herausarbeitet, dass das Bewusstsein und damit eine Innenwelt auch als Ort oder aber als Motivierungsfaktor einer darzustellenden Zustandsveränderung fungieren kann (Schmid, 2017, 11). Mit der hier entwickelten Methodik kann weniger die genaue Erzählstruktur betrachtet werden. Stattdessen wird von der Einzeltextbetrachtung Abstand genommen, um die häufigsten Indikatoren der Innenwelt-Verortung in einem größeren Textkorpus anzuschauen. Ob diese Indikatoren Teil der Erzähler- oder der Figurenrede sind, ob hier mentale Prozesse mehr oder weniger vermittelt dargestellt werden, wird nicht analysiert. Stattdessen rückt eine auf die Figuren zentrierte Perspektive in den Vordergrund, die eher zum Ziel hat, eine verborgene Struktur im Text sichtbar zu machen, nämlich die relationale und dynamische Konstellation von Innen- und Außenwelten der Figuren, die auf unterschiedliche Weise für andere Figuren oder auch die Erzählinstanz verborgen oder zugänglich sind. An diese Betrachtungen anschließen könnte aber z. B. eine genauere Klassifizierung der Annotationsdaten, die auf Innen- und Außenwelten referenzieren, im Hinblick darauf, ob sie Teil der Erzähler- oder Figurenrede sind und ob sie verbalisiert werden oder zur Gedankenrede gehören oder ob sie zur Darstellung von Handlungen gezählt werden können.

Literarische Außenwelten sind sehr divers und können unter unterschiedlichen Gesichtspunkten betrachtet werden. Zwei wichtige Faktoren von Außenwelten sind z. B. die Verortung von Figuren im Hier und Dort, die in Abschnitt 8.1.3 erläutert wird oder die Darstellung gesellschaftlicher und privater Räume, die in Abschnitt 8.1.6 genauer betrachtet wird. An dieser Stelle werden zu literarischen Außenwelten zunächst ein paar kleinere literaturwissenschaftliche Ansatzpunkte gewählt, um vor allem der Frage nachzugehen, inwiefern diese mit den Annotationsdaten dieser Studie zusammengeführt werden können und ob sich hier gute Einstiegspunkte in weiterführende Interpretationen bieten.

Innenwelten

Im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts steht für die Innenwelt am häufigsten das Herz, gefolgt von Seele und Kopf.Footnote 9 Das Herz ist mit 2.982 Nennungen von „Herz“ und 1.387 von „Herzen“ aber mit deutlichem Abstand die meistgenannte Innenverortung; die beiden Wörter stehen in diesem Teilkorpus sogar auf Platz eins und Platz sieben der am häufigsten annotierten Raumhinweise insgesamt. Die Seele wurde im gesamten ersten Teilkorpus 1.135 Mal als Raumhinweis annotiert, der Kopf 920 Mal. Das Herz ist mit 1.146 Annotationen von „Herz“ und 674 von „Herzen“ auch im Teilkorpus des 19. Jahrhunderts wieder wichtigstes Verortungsorgan für das Innenleben. Der Kopf (1.044 Annotationen als „Raumhinweis“) kann hingegen sowohl für eine Innenverortung („etwas geht durch den Kopf“) stehen als auch über seine Beweglichkeit Innenwelten ausdrücken („den Kopf gesenkt halten“) oder den Blick darauf verwehren („den Kopf abwenden“). Auch hier wird wieder offenbar, wie wichtig die Blickachsen zwischen den und auf die Figuren sind (vgl. Abschnitt 8.1.1). Die Seele nimmt hingegen mit 493 Annotationen im Teilkorpus des 19. Jahrhunderts deutlich an Bedeutung für die Innenverortung ab. Im diachronen Verlauf wird das Herz als wichtige Innenverortung immer seltener aufgerufen. War „Herz“ im Teilkorpus des 19. Jahrhunderts noch auf Platz acht der am häufigsten annotierten Raumhinweise, so steigt es im Teilkorpus des 20. Jahrhunderts auf Platz 13 ab. Im letzten Teilkorpus findet es sich mit 299 Annotationen auf dem 35. Platz. Verzeichnet das Teilkorpus des 20. Jahrhunderts immerhin noch 638 Annotationen von „Herz“ und 337 von „Herzen“, so sind es im 21. Jahrhundert nur noch 299 Annotationen von „Herz“ und 108 von „Herzen“. Ein ähnliches Bild zeigt sich für „Seele“. Im ersten Teilkorpus mit 1.135 Annotationen noch auf Platz neun, rückt es mit 493 Annotationen im zweiten und 198 Annotationen im dritten und 53 Annotationen im vierten Teilkorpus weit in den Hintergrund.

Trotzdem sind sowohl „Herz“ als auch „Seele“ nach wie vor wichtige Hinweise auf Innenwelten der Figuren. Im Teilkorpus des 20. Jahrhunderts sind die Annotationen von „Seele“ z. B. auf 20 der 25 Romane verteilt und kommen damit in 80% der Texte des Korpus vor. Im Teilkorpus des 21. Jahrhunderts finden sich in 17 Romanen Annotationen von „Seele“, also in 68% der Romane. Auf der Außenseite bzw. an der Grenze zwischen Innenwelt und Außenwelt befindliche Körperteile wie Augen und Hände oder auch das Gesicht sind hier aber deutlich häufiger Teil der literarischen Raumhinweise.

Die Tatsache, dass Herz und Seele als Innenverortungen an quantitativer Bedeutung verlieren, könnte vermuten lassen, dass stattdessen der Kopf, der ebenfalls als solche dienen kann, in den Vordergrund rückt. Tatsächlich wurde das Wort „Kopf“ im ersten Teilkorpus nur 920 Mal annotiert, im zweiten dann 1.044 Mal, im dritten 1.103 und im vierten 1.679 Mal (vgl. Abbildung 8.4).

Abbildung 8.4
figure 4

„Kopf“, „Herz“ und „Seele“ als Indikatoren der Innenverortung

Ausschließlich auf Grundlage dieser quantitativen Einblicke in die vier Teilkorpora ist es nicht möglich, eine genaue narratologische Analyse von Bewusstseinsdarstellungen im Besonderen oder auch von Innenwelten im Allgemeinen durchzuführen, die auch die unterschiedlichen Ebenen von Diegese und Exegese oder die Darstellungsformen mit einbezieht. Dennoch stützen die Daten interessanterweise literarhistorische Beobachtungen aus Schmids (2017) umfassender Betrachtung von Bewusstseinsdarstellungen. Es zeigt sich eine Zunahme des Ausdrucks „Kopf“ als Raumhinweis in genau der Zeitspanne, die Schmid als Beginn einer Verlagerung der Handlung von der Außen- in die Innenwelt ausgemacht hat, nämlich im 19. Jahrhundert (Schmid, 2017, 1). Für das 18. Jahrhundert stellt Schmid eine „zunehmend sorgfältigere Motivierung der Handlung durch das Bewusstsein“ (Schmid, 2017, 5) fest. Die in den vier Teilkorpora erhobenen Daten legen nahe, dass diese Handlungsmotivierung zuvor noch vergleichsweise häufig emotionaler Natur war. Je mehr das Bewusstsein zum Ort von Zustandsveränderungen wird, desto bedeutsamer wird der Kopf als Verortung mentaler Prozesse einerseits und als Raumhinweis andererseits. Im Gegenzug nimmt die Erwähnung der emotionaler konnotierten Ausdrücke „Herz“ und „Seele“ ab (auch wenn beide ebenfalls häufig bleiben). Anders als das Herz aber evoziert der Kopf nicht per se eine Innenverortung oder den Hinweis auf Emotionen, da er auch von außen betrachtet werden kann. So steht z. B. in dem Satz „Denken Sie sich auf dieser kleinen Gestalt einen, vielleicht im Verhältnis etwas zu großen Kopf, mit einer festen, an den Schläfen kahlen Stirn, unter der ein paar stechende Augen hevorblitzten [...]“ (Teilkorpus 19: Spielhagen Problematische Naturen. Zweite Abteilung) der Kopf in einem das äußere einer Figur beschreibenden Kontext. Tatsächlich wurde das Wort „Kopf“ im ersten Teilkorpus noch 136 Mal in Kombination mit „in“ oder „im“ im unmittelbar davor stehenden Kontext genutzt. Im zweiten Korpus waren es noch 42 Mal und im dritten nur noch 37 Mal. Im vierten waren es dann schließlich wieder 131 Mal. Da aber Bewusstseinsdarstellungen keine explizite Innenverortung benötigen, sondern auch unmarkiert bleiben können (Schmid, 2017, 55), können die quantitativen Daten dieser Studie diesbezüglich auch nicht als belastbares Fundament für eine Interpretation dienen. Wieder kann hier nur ein Einstieg in eine solche gezeigt werden. Die mit Hilfe des Raum-Classifiers erhobenen Daten können zu möglichen Indikatoren literarhistorischer Phänomene werden und Hinweise auf einen quantitativen Abgleich von Hypothesen geben.

In allen vier Korpora sind Gesicht und Augen besonders häufig Grenzen der Innenwelt und gleichzeitig können sie die Geschehnisse im Innern nach außen zeigen oder äußere Eindrücke hineinlassen. Wie im vorangegangenen Kapitel bereits beschrieben, werden Augen in zweifacher Hinsicht raumsymbolisch eingesetzt. Erstens werden Blickachsen ausgedrückt (z. B. Teilkorpus 18: Wieland Geschichte des Agathon „mit ihren Augen gesehen haben“, Huber Die Familie Seldorf „wo ihr Auge umherspähte“) und zweitens Innen- und Außenwelt verbunden, bzw. Innenwelten dargestellt (z. B. Teilkorpus 20: Ganghofer Ochsenkrieg „die Amtmännin machte erstaunte Augen“ oder Tucholsky Schloß Gripsholm „der allgemeine Irrsinn in den Augen“). Dazu gehört auch, dass eine solche Verbindung abgeschnitten werden kann (Teilkorpus 18: Moritz Andreas Hartknopf „schlugen beschämt ihre Augen nieder“, Miller Siegwart „und schlug schnell das Auge nieder“). Das Gesicht verbindet auf ähnliche Weise Innen- und Außenwelt (Teilkorpus 18: Wieland Geschichte des Agathon „ihr Gesicht war traurig“, ebd. „als sie schon in seinem Gesicht etwas bemerkte“, Schiller Der Geisterseher „Ernst, der das ganze Gesicht überschattete“), muss aber zur Eingrenzung der Innenwelt aktiv verdeckt werden (Teilkorpus 19: Eichendorff Ahnung und Gegenwart „und bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen“, Teilkorpus 18: Miller Siegwart „hielt den Hut halb vors Gesicht“).

Weniger häufig als Augen und Gesicht oder Herz, Seele und Kopf geben die Hände Hinweise auf Innenwelten. Zittern diese jedoch, so meist im Kontext eines nicht mehr zu verbergenden inneren Geschehens (z. B. Teilkorpus 18: Millers Siegwart „Meine Hand zitterte vor Erwartung“). Raumnarratologisch interessant ist hier, dass zwei von Lotman beschriebene Raum-Motive zusammenwirken (vgl. Abschnitt 2.2.1). Einerseits steht das wahrnehmende Individuum im Zentrum, auf der anderen Seite erstreckt sich die Grenzthematik nicht nur auf den Außenraum, sondern kann auch im Zusammenspiel von Innen- und Außenraum erkannt werden. Die Grenzen sind hier in erster Linie die Augen, in zweiter das gesamte Gesicht. Weniger bedeutsam, aber auch vorkommend, sind weitere Wahrnehmungsorgane (wie z. B. die Hände). Ergänzend zu Lotmans achsenbasiertem Raummodell kann festgestellt werden, dass die Verortung im Innenraum nicht mit positiv-negativ-Polen verbunden ist. Stattdessen werden Herz und Seele meist als emotionale Zentren dargestellt, der Kopf hingegen als Sitz des Rationalen. Natürlich kann aber beides auch als Verkehrung ins Gegenteil dargestellt werden (Teilkorpus 18: Gellert Das Leben der schwedischen Gräfin, Teilkorpus 19: de la Motte Fouqué Die Frau des Falkensteins und Marlitt Goldelse „kaltes Herz“ und Teilkorpus 18: Jean Paul Hesperus und Blumen, Frucht- und Dornenstücke „hitziger Kopf“).

Die Verortung von Innenwelten kann mit Hilfe der automatischen Annotation durch den Raum-Classifier in Form von Indikatoren auf der Wortebene identifiziert werden. Dadurch wird eine vergleichende Analyse des Wortgebrauchs möglich. Auch Rückschlüsse über die Verbindungen zwischen den Innenwelten unterschiedlicher Figuren können auf dieser Basis gezogen werden. Wieder spielen die bereits häufig erwähnten Sichtachsen eine besondere Rolle, da sie Relationen aufbauen und in das Innere einer Figur eindringen können. Genauere Charakterisierungen der Innenwelten werden erst möglich, wenn die Distanz zum Einzeltext verringert wird und der Fokus auf den spezifischen Kontext der Indikatoren von Innenwelten gelegt wird. Die bereits genannte Klassifizierung der Indikatoren nach narratologischen Kategorien wäre ein möglicher Zwischenschritt, der auch mit einer mittleren Distanz zum Korpus und einer etwas geringeren Anzahl an Texten insgesamt durchführbar wäre. Eine andere Möglichkeit der Verknüpfung des hier entwickelten Distant-Reading-Ansatzes mit bisheriger literaturwissenschaftlicher Forschung über figurale Innenwelten wäre, mit Hilfe des Raum-Classifiers, eine kleine Anzahl von Texten auszumachen, in denen besonders viele Innenwelt-Indikatoren vorkommen und diese dann im Close-Reading-Verfahren auf die genaue Ausgestaltung innerer Vorgänge und die diesbezügliche Verknüpfung der Figuren untereinander zu untersuchen.

Außenwelten (Dingwelten)

Bisher wurden ausschließlich Phänomene betrachtet, die durch quantitative Aspekte auffallen. Dieser Ansatz ist sehr gängig in den digitalen Literaturwissenschaften (erkennbar z. B. in den Studien von Moretti (2013), Jockers (2013), Underwood (2019) oder Piper (2018)), in nicht digitalen Untersuchungen finden sich aber eher Erkenntnisse, die sich auf Betrachtungen ungewöhnlicher Ausdrücke und Passagen stützen. Für den literarischen Raum des 19. Jahrhunderts haben z. B. Seeburg und Jürjens (beide 2018) postuliert, dass Dingwelten von Bedeutung seien. Dingwelten werden durch besondere Spuren individuellen Lebens konstruiert (vgl. Seeburg, 2018, 46; Jürjens, 2018, 36–37). Nun finden sich z. B. im Teilkorpus des 19. Jahrhunderts auch Gegenstände unter den am häufigsten als Raumhinweis annotierten Wörtern. Dazu gehört mit 587 Annotationen auf Platz 21 der Tisch. Das Bett wurde in diesem Teilkorpus nur 273 Mal annotiert, der Stuhl nur 239 Mal. Aber für die Dingwelten sind diese häufig vorkommenden Objekte auch weniger von Bedeutung als weniger häufig vorkommende, individuellere Ausdrücke. Wörter wie „Nähtischchen“, „Tabaksdose“, „Kaminverzierungen“, „Weihgefäßen“, „Marmorfliesen“, „Billardtische“, „Pistolenkästchen“, „Krückenstock“ oder „Samtröckchen“ wurden jeweils nur ein einziges Mal im gesamten Teilkorpus annotiert, tragen aber eher zu besonderen Spuren und damit zu Dingwelten bei (vgl. Seeburg, 2018, 46; Jürjens, 2018, 36–37). Nun gibt es unter den annotierten Wörtern sehr viele, die nur ein einziges Mal annotiert wurden. Im Teilkorpus des 19. Jahrhunderts, das hier herangezogen wird, weil es dem Forschungsgegenstand entspricht, an dem die Dingwelten-These entwickelt wurde, sind es 8.750 Wörter, die eine Annotationsfrequenz von 1 im gesamten Teilkorpus aufweisen; genug einzigartige Wörter, um Dingwelten in 25 Romanen auszugestalten. Zwar legt auch die hier durchgeführte Studie einen Schwerpunkt auf quantitativ bedeutsame Phänomene, es soll dabei aber nicht vergessen werden, dass die Summe der Hapax Legomena ebenfalls eine beachtliche Größe erreichen kann. Eine These wie die Dingwelten-These kann durch die Betrachtung dieser selten annotierten Raumhinweise gestützt werden. Mit Hilfe des Raum-Classifiers könnte aus den einmalig annotierten Raumhinweisen, die zu Dingwelten beitragen, auch eine Liste erstellt werden, die dann für einen weiterführenden listenbasierten Ansatz genutzt werden kann. Eine andere Möglichkeit wäre, die Distanz zum Korpus zu verringern, um die Dingwelten-These genauer zu betrachten. Es könnte mit dem Raum-Classifier zum Beispiel ein Text ausgemacht werden, in dem besonders viele Raumhinweise nur ein einziges Mal annotiert wurden. Dieser Einzeltext könnte dann genauer betrachtet werden. Eine solche Vorgehensweise kann aber auch genutzt werden, um zu überprüfen, ob eine These, die anhand eines Einzeltextes oder eines sehr kleinen Korpus entwickelt wurde, überhaupt auf andere Texte übertragbar ist. In diesen Beispielen zeigt sich auch das heuristische Potential digitaler Textanalysen wie es z.B von Kuhn (2018), Gius (2020) und Gerstorfer (2020) beschrieben wird.

Eine These wie die, dass im 19. Jahrhundert „vor allem das weiße Leinen und die damit verbundenen Prozesse von Reinigung und Bleiche stapelweise Eingang in die Literatur“ (Jürjens, 2018, 38) finden, hält einer Korpusanalyse z. B. nicht stand. Leinen und Leinenartikel wurden bei einer von den automatisch durchgeführten Annotationen unabhängigen Abfrage einer kurzen Liste von Wörtern in CATMA, die „Leinen“ und „Baumwolle“ inkludiert, im gesamten Teilkorpus des 19. Jahrhunderts lediglich 24 Mal in insgesamt zehn der 25 Romane gefunden. Baumwolle und Baumwollprodukte 31 Mal in fünf Romanen, „reinigen“ lediglich 29 Mal in 9 Romanen. Gebleichtes Leinen kommt nur in seiner Negativform, also als ungebleichtes Leinen, vor. Zwar gibt es in der Tat eine Häufung der genannten Begriffe in Kellers Sinngedicht, welches Jürjens zum Ausgangspunkt ihrer Analyse macht, allerdings zeigt sich hier die begrenzte Übertragbarkeit solcher Thesen auf eine relativ große zeitliche Spanne literarischen Schaffens. Die hier später noch genauer dokumentierte Analyse der Raumthemen zeigt, dass auch die Thematik der Ordnung in diesem Teilkorpus nicht häufiger aufgerufen wird als im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts, sondern dass das Thema „Ordnung“ in der Literatur eher im diachronen Verlauf seltener aufgerufen wird (für das 18. Jahrhundert wurden hier 173 Annotationen zum Thema „Ordnung“ subsummiert, für das 19. Jahrhundert 104, für das 20. Jahrhundert 51 und für das 21. Jahrhundert 61 (vgl. Abbildung 8.11 der Thementafeln in Abschnitt 8.1.5 und das GitHub-Repository mit den Forschungsdaten zu dieser Arbeit). Auch hier zeigt sich also, dass Einzelfallanalysen nicht immer ohne Abgleich mit einem größeren Korpus auf größere Zusammenhänge übertragen werden können. Die Ordnung als zentrales Paradigma der Literatur des 19. Jahrhunderts auszurufen (Jürjens, 2018, 39), scheint in Anbetracht dieser Datenlage etwas gewagt. Eine Zusammenführung quantitativer Methodik im Allgemeinen und in diesem speziellen Fall die Nutzung eines Tools wie des Raum-Classifiers mit Close-Reading-Analysen, ist dabei sehr vielversprechend.

1.3 Das Spannungsfeld zwischen dem Hier und dem Dort

Die Kategorie der Orte ist mit 175.182 Annotationen im gesamten Kernkorpus die vierthäufigste, fällt aber dadurch, dass sie Raum sehr explizit darstellt, auch qualitativ besonders ins Gewicht. Von überragender quantitativer Bedeutung ist in dieser Kategorie das Spannungsfeld zwischen dem Hier und dem Dort.Footnote 10 Zwar sind „hier“ (10.342 Annotationen) und „da“ (7.151 Annotationen) die beiden häufigsten der insgesamt 17.859 Types, die in dieser Kategorie annotiert wurden, es gibt aber noch weit mehr Wörter und auch kontextuelle Aspekte, die zu diesem Spannungsfeld beitragen. Es geht dabei auch um Darstellungen von Nähe und Ferne und darum, ob eher klar umrissene Raumeinheiten benannt werden oder vage, offene Räume.

Im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts sind die Wörter „Hier“ und „hier“ (zusammen 2.464 Annotationen) häufiger als „Da“, „da“, „Dort“ und „dort“ (zusammen 1.901 Annotationen). Im Teilkorpus des 19. Jahrhundert dreht sich das Verhältnis um und das Dort (insgesamt 4.138 Annotationen) wird häufiger erwähnt als das Hier (insgesamt 3.996 Annotationen). Auch in den Teilkorpora des 20. und 21. Jahrhunderts sind die unterschiedlichen Ausdrücke, die das Dort referenzieren, häufiger, allerdings gibt es nur im Teilkorpus des 20. Jahrhunderts einen deutlichen quantitativen Unterschied zwischen Hier (2.598 Annotationen) und Dort (3.680 Annotationen). Dass im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts „Hier“ häufiger annotiert wurde, wird durch die Tatsache aufgewogen, dass mit „Welt“ (1.941 Annotationen) ein Ausdruck am zweithäufigsten annotiert wurde, der ebenfalls als Gegenbegriff zu „Hier“ genutzt werden kann, der aber sehr mehrdeutig ist (vgl. Abschnitt 8.1.4). Literarisch bedeutsam scheint vor allem das Spannungsfeld zwischen einem Hier und einem Dort, einer Nähe und einer Weite, zu sein. Beide Extreme dieses Gegensatzpaares sind – wie die Ähnlichkeit in der Häufung zeigt – nahezu in der Waage. Auch andere häufig als Ort annotierte Wörter tragen zu diesem Spannungsfeld bei. Erstaunlich ist dabei das korpusübergreifend relativ homogene Bild der häufigsten Ausdrücke.

Tabelle 8.3 Am häufigsten annotierte Wörter in der Kategorie „Ort“ in den vier Teilkorpora

Mit „Hause“, „Haus“, „Zimmer“, „Stadt“, „Weg“, „Erde“ und „Boden“ stehen sich bei den nächstplatzierten der am häufigsten mit dem Ort-Tag versehenen Wörter im Kernkorpus Innen- und Außenräume gegenüber (vgl. Tabelle 8.3). Die Platzierungen in der Rangliste und die genaue Anzahl der Annotationen variieren zwar in den Teilkorpora, aber die Abweichungen sind erstaunlich gering. Die Verankerung im klar Umrissenen, Kleinen, Lokalen wird häufig der gesamten, großen, freien Welt gegenübergestellt. Dass dieser Fund auch Thesen aus den analogen Literaturwissenschaften entspricht, wird im folgenden Kapitel thematisiert. Da das Kernkorpus in dieser Hinsicht so homogen ist, wäre es für Anschlussuntersuchungen außerdem interessant, literarische Korpora aus anderen Kulturkreisen zum Vergleich heranzuziehen. Auf diese Weise könnte die Hypothese überprüft werden, dass es sich möglicherweise um ein kulturspezifisches Phänomen handelt.

Schauplätze in Form von einzelnen benannten Städten kommen zwar häufig vor, aber viel seltener als die zuvor genannten Ausdrücke (vgl. Tabelle 8.4). Welche Ortsnamen in den einzelnen Teilkorpora am häufigsten referenziert werden, ist zwar durchaus interessant, sagt aber bei einem Korpus von jeweils nur 25 Texten nicht viel aus. Schon die gehäufte Erwähnung eines einzelnen Ortes in einem einzigen Text kann reichen, um für diesen Ort Werte zu erzielen, die so hoch sind, dass sie unter den häufigsten Annotationen dieser Kategorie platziert werden. Dadurch lassen sich aber keine haltbaren allgemeinen Aussagen für das ganze Korpus ableiten. So schafft es z. B. Peking auf Platz drei des Teilkorpus des 20. Jahrhunderts, weil zwei Romane von Heyking ein entsprechendes Setting haben (vgl. dazu Tabelle 8.4 und auch Abschnitt 8.3).

Tabelle 8.4 Häufigste drei Ortsnamen in den Teilkorpora

Im Hinblick auf die Anwendung der Methode der Named Entity Recognition in der Literaturwissenschaft kann hier ein erster Hinweis darauf entdeckt werden, dass benannte Entitäten für die literarische Darstellung von Orten in Romanen weniger bedeutsam sind als andere Raumkategorien. Statt konkret benannter Städte oder Länder oder auch Straßennamen werden stärker generische Benennungen von Orten wie „Natur“, „Gegend“ oder auch das nicht näher spezifizierte „Dorf“ oder eben Standort-Bezeichnungen wie „hier“ und „da“ bevorzugt. Domänenadaptionen wie die hier vorgenommene sind also unverzichtbar, wenn computerlinguistische Methoden auf die Literaturwissenschaft übertragen werden.

1.4 Die abnehmende Bedeutung von Welt und Himmel für den literarischen Raum

In literaturwissenschaftlichen Analysen werden eher selten einzelne Begriffe genauer untersucht. Im Zusammenhang mit bedeutungshaltigeren Konzepten, können sie aber durchaus eine wichtige Rolle spielen, wie z. B. der Weltbegriff in Krobbs Erkundungen im Überseeischen. Wilhelm Raabe und die Füllung der Welt. Die vom Raum-Classifier unterstützte Analyse lenkt den Blick zuweilen recht stark auf einzelne Wörter, die auffallend häufig oder die in den Teilkorpora sehr unterschiedlich häufig annotiert wurden. Dass eine Einzelwortanalyse vor allem ergänzend zu Ansätzen, die ein ganzes Konzept hinter dem Wort in den Blick nehmen, wie die von Krobb, sinnvoll sein können, wird in diesem Teilkapitel anhand von zwei Fallstudien gezeigt. Neben Begriffen, die für bedeutungshaltigere Konzepte stehen, bieten sich auch Begriffe, die häufig metaphorisch gebraucht werden oder Kernworte von Metaphern sind, für eine solche Einzelwortanalyse an. In diesem Fall können die Annotationen des Raum-Classifiers mit einer Auswertung der Daten in der parallel zum Trainingsprozess aufgebauten Metaphern-Datenbank laRa zusammengeführt werden.

Im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts ist das Wort „Welt“ das am zweithäufigsten als „Ort“ annotierte Wort (vgl. Tabelle 8.3 im vorigen Kapitel). Im diachronen Vergleich fällt auf, dass die quantitative Bedeutung des Wortes im Laufe der Jahrhunderte abnimmt. Ähnliches ist beim Wort „Himmel“ zu beobachten. Beide Wörter werden häufig metaphorisch genutzt. Der Himmel ist darüber hinaus auch ein religiöser Begriff. Beim Himmel kommt hinzu, dass vor allem im literarhistorischen Kontext nicht immer ganz klar ist, ob der religiöse Begriff „Himmel“ einen (jenseitigen) Ort bezeichnet oder eher eine Utopie, also einen nicht-Ort (Foucault, 2005, 11). Die Wandlung von der Bezeichnung eines Ortes, den Gläubige als klar verort- und betretbar klassifizieren würden, zu einer Metapher für einen seligen Zustand, muss hier in die Analyse einbezogen werden. Schon ein kurzer Blick auf eine Visualisierung sämtlicher Raummetaphern in laRa zeigt, dass sowohl „Himmel“ als auch „Welt“ (ebenso wie „hoch“, „groß“ und „Weg“) zu den zentralsten Metaphern im Trainingskorpus gehören (vgl. Abbildung 8.5)

Abbildung 8.5
figure 5

Visualisierung aller Metaphern in laRa mit Fokus auf das Zentrum

Zentral sind diese Metaphern vor allem, da sie mit vielen Variationen verknüpft sind, aber auch, da sie in vergleichsweise vielen Texten vorkommen. Bei den folgenden Fallstudien zu den Begriffskontexten wird darum auch genauer betrachtet, inwiefern der metaphorische Variantenreichtum und die vergleichsweise häufige metaphorische Verwendung in literarischen Texten bei einer digitalen literaturwissenschaftlichen Analyse Berücksichtigung finden kann.

Fallstudie 1: Weltbegriff bei Wilhelm Raabe und im gesamten Teilkorpus

Eine große Stärke quantitativer Ansätze ist es, dass kontrastive Analysen gemacht werden können, die die Untersuchung größerer Korpora und damit auch größerer Datenmengen erlauben. Analoge Ansätze können dadurch sinnvoll ergänzt werden. Ein Beispiel für einen literaturwissenschaftlichen Ansatz, in dem der Weltbegriff eine große Rolle spielt, ist Krobbs Erkundungen im Überseeischen. Hierin wird die These aufgestellt, dass durch die beginnende Globalisierung im 18. und 19. Jahrhundert das Weltempfinden gleichzeitig sehr groß und sehr klein wurde; ferne Länder wurden zunehmend erfahrbar und fanden dadurch Einzug ins Lokale (Krobb, 2009, 9–10). Als Höhepunkt dieses kulturell gewandelten Weltempfindens wird das Ende des 19. Jahrhunderts definiert (Krobb, 2009, 10). Krobb erkennt darin ein wichtiges Motiv für die Literatur dieser Zeit (Krobb, 2009, 10). Als kulturellen Hintergrund nennt Krobb das „zweite Entdeckungszeitalter“, dessen Beginn er für die Mitte des 18. Jahrhunderts festlegt (Krobb, 2009, 10). Zeitlicher Fokus ist also Mitte des 18. bis Ende des 19. Jahrhunderts. Raabes Werke fallen ins letzte Drittel dieses zeitlichen Rahmens. Um Raabes Werk auch literaturgeschichtlich einzuordnen und aufzuzeigen, dass auch andere Werke dieser Zeit den Weltbegriff und das Zusammenspiel von Nähe und Ferne thematisieren, werden bei Krobb Freytags Soll und Haben und Fontanes Stechlin genannt. Ähnlich wie in der Dialektik der gleichzeitig groß und klein empfundenen Welt wird hier also sowohl ein relativ großer zeitlicher Rahmen (etwa 150 Jahre) und eine relativ kleine Auswahl an ergänzenden Beispielen (zwei Romane) betrachtet. Die hier angewendete, quantitativ ausgerichtete Methode bietet die Möglichkeit, dieses Ungleichgewicht etwas auszugleichen. Um zunächst den literarhistorischen Kontext und die Verwendung des Weltbegriffs im diachronen Verlauf zu beleuchten, wird eine Einzelwortanalyse von „Welt“ im Kernkorpus durchgeführt. Zusätzlich wurden für diese Fallstudie sechs Romane Wilhelm Raabes mit Hilfe des Raum-Classifiers annotiert und in Bezug zum Kernkorpus gesetzt.

Mit 1.941 Annotationen wurde „Welt“ im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts nach „hier“ am zweithäufigsten annotiert (vgl. Tabelle 8.3). Im Teilkorpus des 19. Jahrhunderts steht der Begriff mit 1.378 Annotationen auf Platz fünf der Kategorie Ort, auf Platz vier steht er mit 804 Annotationen im Teilkorpus des 20. Jahrhunderts und im 21. Jahrhundert ist er mit 1.071 Annotationen ebenfalls auf Platz vier. Im gesamten Teilkorpus ist „Welt“ also ein wichtiger Begriff bzw. quantitativ bedeutsam für die Raumkategorie „Ort“. Dennoch fällt die Häufigkeit vom 18. zum 20. Jahrhundert ziemlich stark ab und steigt dann wieder etwas an. Dieser Trend bleibt auch dann bestehen, wenn die Anzahl der Nutzung des Begriffes „Welt“ im gesamten Kernkorpus pro Roman und in Relation zu dessen Gesamtlänge betrachtet wird (vgl. Abbildung 8.6) Es lohnt sich aber, zunächst die Kontexte etwas genauer anzusehen.

Werden die 200 am häufigsten mit dem Tag „Ort“ versehenen Wörter im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts in Form von Small Multiple Wordclouds visualisiert, so zeigt sich auf den ersten Blick, dass „Welt“ tatsächlich in der Mehrzahl der Texte zu den am häufigsten genannten Orten gehört (vgl. Abbildungen 30 im Vergleich zu 31 und 33 im elektronischen Zusatzmaterial). Im Teilkorpus des 19. Jahrhunderts wurde „Welt“ sehr viel seltener als Ort annotiert. Neben dem häufigsten Wort „hier“ stehen davor in der Rangliste der am häufigsten annotierten Orte noch „da“, „dort“ und „Hause“. Mit „Haus“, „Zimmer“ und „Stadt“ stehen auch auf den folgenden Plätzen Wörter, die ein heimatliches Umfeld beschreiben können (vgl. Tabelle 8.3). Die Daten bestätigen damit Interpretationshypothesen wie die von Krobb, dass die literarische Welt im 19. Jahrhundert eher im Lokalen, Kleinen, Heimatlichen gezeigt wird (Krobb, 2009, 35). Die oben bereits erwähnte These, dass im 19. Jahrhundert ein Höhepunkt der Verwendung des literarischen Weltmotivs zu erkennen ist (s.o.), kann dadurch aber nicht unterfüttert werden. In den Teilkorpora 20 und 21 sieht es sehr ähnlich aus. Begriffe wie „hier“, „da“, „dort“, „Welt“, „Haus“ und „Hause“ stehen in fast gleicher Reihenfolge auf den ersten Plätzen der Rangliste von Ortsannotationen (vgl. Tabelle 8.3). Immer scheint also der Gegensatz zwischen häuslicher, kleiner, lokaler Welt und großer, globaler Welt für den literarischen Raum konstitutiv zu sein. Für das 18. Jahrhundert wurde bereits gezeigt, dass der Begriff „Welt“ in vielen der Romane des Teilkorpus von überragender Bedeutung ist. Neben den hohen Vorkommnissen in einigen oder sogar vielen Romanen gibt es aber auch eine Breitendeckung, die sich nicht auf das 18. Jahrhundert beschränkt. Die Analyse des Begriffes „Welt“ pro Roman hat gezeigt, dass in allen Romanen des Kernkorpus mindestens ein Mal das Wort „Welt“ als „Ort“ annotiert wurde. Es nimmt also nicht die Anzahl der Erzähltexte ab, in denen „Welt“ referenziert wird, aber die Häufigkeit mit der das geschieht. Folgt man in der Interpretation der Daten dem Ansatz von Krobb, so lässt sich argumentieren, dass mit Beginn der Globalisierung und dem „zweiten Entdeckungszeitalter“ der Begriff „Welt“ geradezu inflationär in der Literatur verwendet wird. Ab dem 19. Jahrhundert setzt dann die von Krobb beschriebene Dialektik von Welt im Lokalen, von Nähe und Ferne ein. Im gesamten 20. Jahrhundert bleibt die Bedeutung des Begriffes für den literarischen Raum ungefähr gleich, bis sie im 21. Jahrhundert, einer durch und durch globalisierten Zeit, wieder etwas ansteigt.

Abbildung 8.6
figure 6

Übersicht der Annotationen des Wortes „Welt“ im Kernkorpus und in sechs Raabe-Romanen

Nach all diesen Einblicken in die quantitative Verteilung des Weltbegriffs im Korpus, ist nun eine vergleichende Einordnung von Wilhelm Raabes Romanen möglich. Dazu wurden sechs Romane des Autors, die nicht zum Kernkorpus gehören, zum Teil aber Teil des Trainingskorpus waren, mit Hilfe des Raum-Classifiers annotiert und in CATMA hochgeladen. Bei dem Text, der Teil des Trainingskorpus war, handelt sich um Die Akten des Vogelsangs (vgl. Auflistung der Trainingsdaten in Tabelle 1 des elektronischen Zusatzmaterials). Für den im Trainingskorpus enthaltenen Erzähltext ist es wahrscheinlich, dass die Erkennung durch den Classifier bessere Resultate erzielt als bei den anderen Texten. Da Die Akten des Vogelsangs aber der Text mit den niedrigsten Annotationen des Begriffes „Welt“ ist, fällt das in dieser Fallstudie nicht ins Gewicht.

Wie im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts steht auch in diesem kleinen Raabe-Korpus der Weltbegriff an zweiter Stelle der Annotationshäufigkeiten der Kategorie Ort. Der Begriff wurde in unterschiedlicher Häufigkeit in jedem der sechs Raabe-Romane annotiert. Die absoluten Annotationszahlen wurden normalisiert, indem sie durch die Gesamtzahl der Worte im Text geteilt wurden. Diese Werte wurden dann in eine Übersicht des ebenso aufbereiteten, ganzen Kernkorpus eingetragen, sodass sich das Bild in Abbildung 8.6 ergab: Die Trendlinie, die an den als dunkle Punkte dargestellten Welt-Annotationen im Kernkorpus ausgerichtet ist, zeigt einen gleitenden Durchschnitt und macht den Abfall vom 18. zum 19. Jahrhundert gut sichtbar. Die hellen Punkte, die für Raabes Romane stehen, zeigen im Vergleich nur zum Teil ein typisches Verhalten für ihren zeitlichen Wirkungskontext. Vier der sechs annotierten Raabe-Romane weisen eine deutlich höhere Verwendung des Weltbegriffs auf als andere Romane der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Nur zwei der Raabe-Romane lassen sich in den generellen Trend einordnen. Zwar sind Raabes Romane in der Tat ein sehr gutes Beispiel, um sich der Welt als literarischem Motiv zu nähern, wie Krobb das in seiner Analyse zu Erkundungen im Überseeischen tut, allerdings scheint der literarhistorische Höhepunkt der Auseinandersetzung mit der Welt nicht in der zweiten Hälfte des 19., sondern rund 100 Jahre früher, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, zu liegen. Zwar erreichen Raabes Romane nicht die Ausreißer-Positionen von Romanen des 18. Jahrhunderts wie Hölderlins Hyperion-Texte und Novalis’ Die Lehrlinge zu Sais, sie bilden aber zusammen mit Auerbachs Barfuessele und Lehnhold sowie Heykings Briefe, die ihn nicht erreichten eine Gruppe von Erzähltexten, in denen die Welt vergleichsweise häufig referenziert wird. Texte in denen „Welt“ ähnlich häufig wie „Ort“ annotiert wurde, finden sich dann erst wieder im 21. Jahrhundert mit Steinhöfels Mitte der Welt (2008) und vor allem Bergs Vielen Dank für das Leben (2012).Footnote 11 Für eine abschließende Aussage dazu ist allerdings auch die Stichprobe des Kernkorpus dieser Untersuchung zu klein. Denkbar wäre ein Vergleich mit mehreren 100 oder gar 1000 Romanen. Doch auch in diesem kleinen, beispielhaften Rahmen zeigt sich schon, wie sinnvoll ein solcher Abgleich sein kann, um nicht allzu schnell vom Besonderen zum Allgemeinen zu schließen und um Text- und Autor*innen-übergreifende Thesen zu untermauern. Ein großer Unterschied zwischen den Auswertungen der Annotationsdaten und einer hypothesengeleiteten Analyse wie der von Krobb ist, dass hier alle als Ort annotierten Vorkommnisse des Wortes „Welt“ betrachtet werden und nicht nur diejenigen, die in einem Globalisierungs- oder Kolonialkontext stehen. Die Häufungen im 18. Jahrhundert könnten z. B. dadurch relativiert werden, dass der Begriff hier in grundsätzlich anderen Kontexten gebraucht wird, in denen damit nicht wirklich die gesamte Welt gemeint ist. Oder es könnte sein, dass „Welt“ besonders häufig metaphorisch genutzt wird. Beide Möglichkeiten sollen nun noch kurz in Betracht gezogen werden. Dass der Weltbegriff in der Tat auch in nicht-metaphorischen Kontexten recht vielfältig eingesetzt wird, wird anhand einer näheren Analyse des Wortes im ersten Teilkorpus deutlich. Längst nicht immer deutet der Kontext einer wörtlichen Verwendung von „Welt“ auf die „große, weite Welt“ hin. Oft wird auch ausgedrückt, dass etwas oder jemand eine bestimmte Qualität gegenüber anderen Dingen auf der Welt habe, häufig wird der großen, weiten Welt entsagt, indem die Einöde oder ein Kloster vorgezogen wird. Ebenfalls vielfältig ist der metaphorische Gebrauch des Wortes „Welt“. Grob zusammengefasst wird der Begriff, abgesehen von der Referenz auf die gesamte geographische Welt, zur Bezeichnung von fünf unterschiedlichen metaphorisch-räumlichen Größen verwendet:

  1. 1.

    gesellschaftliche Welt oder sozialer Kreis,

  2. 2.

    die gesamte Menschheit,

  3. 3.

    Innenwelt,

  4. 4.

    mögliche Welt,

  5. 5.

    Personifizierung und Verdinglichung oder Vergleiche mit der Welt.Footnote 12

In den Texten des 18. Jahrhunderts kommt außerdem die Redewendung „Welt haben“ oder „eine Person von Welt sein“ relativ häufig vor. Beim Vergleich der Kontexte des Weltbegriffs im 18. und 19. Jahrhundert fällt auf, dass hier grundsätzlich dieselbe Mehrdeutigkeit besteht. In beiden Jahrhunderten wird mit dem Begriff „Welt“ bei Weitem nicht nur auf die „große weite Welt“ Bezug genommen und selbst wenn, so geschieht dies nicht immer im Zusammenhang mit kolonialen oder Globalisierungserfahrungen. Häufig wird die Welt auch argumentativ (z. B. in Phrasen wie „das Beste auf der Welt“) eingebunden. Dass die Kontexte sich nicht grundsätzlich unterscheiden, bedeutet, dass diesbezüglich auch keine quantitativen Verzerrungen in Bezug auf den Weltbegriff als Störfaktor der oben ausgeführten Betrachtungen wirken.

Abbildung 8.7
figure 7

Raummetaphern mit Kernwort „Welt“ und deren Quellen

Dass im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts in sehr vielen Texten Raummetaphern vorkommen, die das Wort „Welt“ enthalten, illustriert eine Abfrage der Metapherndatenbank laRa (vgl. Abbildung 8.7). Die Abfrage zeigt aber noch mehr: Es gibt in dem Teil des Trainingskorpus, der aus Ausschnitten von Erzähltexten des 18. Jahrhunderts zusammen gesetzt wurde, den größten Variantenreichtum von „Welt“-Metaphern. Sowohl die Verwendung des Wortes „Welt“ im metaphorischen Kontext als auch der Variantenreichtum nehmen über die Jahrhunderte stetig ab. Wie Abbildung 8.7 zeigt, kommt in 13 von 20 Texten des 18. Jahrhunderts im Trainingskorpus „Welt“ entweder als ein-Wort-Metapher oder als Teil einer metaphorischen Phrase oder eines komplexen Raumbildes in insgesamt 15 Varianten vor. Im Trainingskorpus des 19. Jahrhunderts kommt „Welt“ als Metapher noch in 12 Texten vor, die Varianten nehmen aber schon deutlich ab und sinken auf zehn. In dem Teil des Trainingskorpus, der aus Textausschnitten des 20. Jahrhunderts besteht, kommt „Welt“ als Metapher oder Teil einer Metapher nur noch in acht Texten vor und wieder nehmen die Varianten ab; es sind nur noch acht unterschiedliche „Welt“-Metaphern verzeichnet. Im Trainingskorpus des 21. Jahrhunderts konnte die metaphorische Verwendung des Wortes nur noch in fünf Texten ausgemacht werden. In diesem Teil des Trainingskorpus gibt es nur noch sechs Varianten (alle Variantenzahlen sind inklusive „Welt“ als ein-Wort-Metapher). Von diesen sechs Varianten ist eine besonders interessant, da sie eine Brücke schlägt zwischen einem Text des 21. Jahrhunderts und zwei Texten des 18. und 19. Jahrhunderts: Klings Das Känguru-Manifest, Fontanes Frau Jenny Treibel und Hölderlins Hyperion Fragment – in diesen drei Texten kommt (in den ersten 4.000 Tokens) die „Gedankenwelt“ vor. Auch die Metapher „Nachwelt“ verbindet das Känguru Manifest mit einem Text des 18. Jahrhunderts, nämlich Elisa von Wobeser. Weitere jahrhundertübergreifend genutzte Metaphern sind „Vorwelt“ in Nauberts Alf von Dülmen und de la Motte Fouqués Rodrich sowie „Unterwelt“ in Klingers Faust Leben Taten und Höllenfahrt, Dohms Christa Ruland und Hessels heimliches Berlin und „junge Welt“ in Nauberts Amtmannin von Hohenweiler und Fontanes Frau Jenny Treibel. Mit Ausnahme der ein-Wort-Metapher „Welt“ gibt es keine Metapher mit diesem Kernwort, die in allen vier Jahrhunderten vorkommt. Werden die Zahlenwerte des 18. Jahrhunderts in einen relationalen Wert umgewandelt, so ergibt sich daraus, dass in 65% der Texte im Trainingskorpus, die aus dem 18. Jahrhundert stammen, Welt-Metaphorik enthalten ist. Der Annahme folgend, dass ein ähnlich großer Anteil des ersten Teilkorpus den Ausdruck „Welt“ in einem metaphorischen Kontext enthält, müsste hier in 16 Texten „Welt“ eine metaphorische Bedeutung annehmen. Da die Stichprobe für eine ernsthafte Übertragung der Werte zu klein ist, wird diese Umrechnung allerdings lediglich herangezogen, um einen hypothetischen Vergleichswert zu erhalten, der einen Hinweis darauf gibt, wie groß der Einfluss des metaphorischen Wortgebrauchs sein könnte. Betrachtet man nun die annotierten Instanzen des Wortes „Welt“ genauer und führt eine zusätzliche manuelle Annotation all jener Vorkommnisse durch, bei denen der direkte Kontext auf eine metaphorische Verwendung schließen lässt, so sind Rückschlüsse auf den tatsächlichen Anteil dieser Verwendungsform im Kernkorpus möglich. Im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts wurden 650 der 1941 als „Ort“ annotierten Instanzen des Wortes „Welt“ als Metaphern einer der fünf oben genannten Kategorien interpretiert.Footnote 13 Das heißt, dass 33,5% der Wortvorkommnisse Metaphern sind oder innerhalb von metaphorischen Phrasen stehen. Der betrachtete Kontext erstreckt sich hier auf 10 Wörter vor und 10 Wörter nach dem annotierten Wort. Das Wort „Welt“ wird in diesem Teilkorpus in 24 von 25 Romanen (auch) metaphorisch genutzt. Im zweiten Teilkorpus wurden 488 der als Ort annotierten Vorkommnisse des Wortes „Welt“ als Raummetapher interpretiert. Das sind rund 35%, also ein ähnlich großer Anteil wie im ersten Teilkorpus. Wieder kommt der metaphorische Gebrauch des Wortes „Welt“ in 24 der 25 Romane in diesem Teilkorpus vor. Im dritten Teilkorpus wurden insgesamt 238 Annotationen von „Welt“ als Ort in 23 Romanen als Raummetaphern klassifiziert. Das macht 33,25% aller Annotationen von „Welt“ mit dem „Ort“-Tag aus. Im Teilkorpus des 21. Jahrhunderts wurden schließlich 280 der als „Ort“ annotierten Vorkommnisse von „Welt“ als Metapher bewertet. Das macht 26,17% der insgesamt 1.070 „Ort“-Annotation von „Welt“ aus. Der raummetaphorische Gebrauch des Wortes „Welt“ findet sich hier in 22 Romanen. Es ergibt sich also ein etwas anderes Bild als bei der Auswertung der Datenbank der Raum-Metaphern. Metaphern des Kernwortes „Welt“ kommen in allen vier Teilkorpora in einer eindeutigen Mehrzahl der Texte – nahezu in allen – vor. Der Anteil des metaphorischen Gebrauchs des Weltbegriffs an den gesamten Annotationen dieses Wortes bleibt vom 18. bis zum 20. Jahrhundert nahezu konstant und sinkt dann ab. Eine auffällige Gemeinsamkeit mit der Abfrage der Metaphern-Datenbank ist der Abfall des metaphorischen Gebrauchs von „Welt“ zum 21. Jahrhundert. Betrachtet man nun nicht den relativen Anteil sondern die absoluten Zahlen der Kontextanalyse, so wird erkennbar, dass der metaphorische Gebrauch tatsächlich einem ähnlichen diachronen Verlauf folgt wie die wörtliche Verwendung des Wortes. Daraus kann geschlossen werden, dass in der Tat der tatsächliche, das heißt in diesem Falle räumliche Gebrauch des Wortes „Welt“ Ausschlag gebend für die charakteristische Kurve des Weltbegriffs ist (vgl. Abbildung 8.8).

Abbildung 8.8
figure 8

Quantitative Perspektiven auf den metaphorischen Gebrauch von „Welt“ im Kernkorpus

Wenn der Kontext auch nicht immer nahelegt, dass die Figuren sich in die Welt bewegen, sondern häufig z. B. auch, dass etwas sich von allen anderen seiner Art auf der Welt abhebt, so heißt das doch, dass die Welt in der Literatur des 18. Jahrhunderts häufiger argumentativ oder erzählerisch aufgerufen wird. Für die These, dass der Weltbegriff im 18. Jahrhundert eine besondere Bedeutung hat, die in den folgenden Jahrhunderten stark abfällt, spricht auch der Variantenreichtum des metaphorischen Gebrauchs dieses Begriffes im 18. Jahrhundert. Hier wird deutlich, dass der Weltbegriff nicht nur in seiner tatsächlichen Bedeutung besonders häufig genutzt wird, sondern, dass Autor*innen in diesem Jahrhundert auch besonders kreativ mit diesem Begriff umgehen. Sinne, Jugend, Erinnerungen, Unschuld – vielen nicht-räumlichen Größen wird hier zugesprochen, eine ganze Welt zu eröffnen. Die Daten stützen Krobbs These, dass das zweite Endeckungszeitalter den Weltbegriff auch ins Zentrum der Literatur rückt. Allerdings zeigt sich auch, dass dieser Trend ganz eindeutig im 18. Jahrhundert verankert ist. Einige der betrachteten Romane Wilhelm Raabes, fügen sich also nicht einfach nur in den Trend ihrer Zeit, sondern entsprechen im quantitativen Gebrauch des Weltbegriffes eher dem, was ein Jahrhundert zuvor üblich gewesen zu sein scheint.

Dadurch, dass hier auch zeitgenössische Texte im Vergleichskorpus betrachtet werden, zeigt sich außerdem ein interessanter aktueller Trend. Die Welt wird wieder häufiger aufgerufen und literarisch bearbeitet. Anders als im 18. Jahrhundert führt das aber nicht zu häufigerer metaphorischer Verwendung des Welt-Begriffes oder gar zu einer Steigerung des Variantenreichtums von Welt-Metaphern. Möglicherweise liegt das an einem thematisch nun nicht mehr an der Entdeckung orientierten Weltinteresse. Die Welt des 21. Jahrhunderts ist stark globalisiert. Eine andere Problematik tritt hier aber erstmals im betrachteten Kernkorpus zutage: Der Begriff „Welt“ steht im Teilkorpus des 21. Jahrhunderts erstmalig explizit im Zusammenhang mit der Rettung derselben. Zwar findet sich eine direkte Kollokation von „Welt“ und „retten“ bzw. „Rettung“ (betrachtet wurde ein Wortumfeld von 3 Wörtern vor oder nach dem Begriff „Welt“) nur in zwei Romanen. Allerdings handelt es sich bei diesen Romanen genau um die beiden Ausreißer-Texte, die in Abbildung 8.6 sichtbar wurden, nämlich Steinhöfels Mitte der Welt und Bergs Vielen Dank für das Leben. Das Thema der Rettung der Welt könnte also mit der Häufung der Begriffsverwendung zusammenhängen, selbst wenn die Verwendung der Phrase „Welt retten“ in dieser expliziten Form nicht mehr als ein Einzelfall ist. Um eine solche Hypothese zu verifizieren, müsste allerdings ein ergänzendes Close Reading angeschlossen werden, dass nicht mehr Teil einer Fallstudie zum Weltbegriff bei Raabe sein kann.Footnote 14

Fallstudie 2: Zur Kontextualisierung des Begriffs „Himmel“

Ein zweiter, kulturell stark aufgeladener Begriff, der eine ähnliche Entwicklungslinie aufzeigt wie „Welt“, ist der des Himmels. In dieser zweiten Fallstudie zu einer Einzelwortanalyse wird aber der umgekehrte Weg gewählt wie in der obenstehenden. War beim Weltbegriff die Frage leitend, inwiefern literaturwissenschaftliche Forschung auf quantitative Analysen aufbauen kann, so wird hier der Versuch unternommen, eine quantitative Betrachtung an analoge Forschungsansätze anzuschließen.

Anders als der Weltbegriff steht der Himmel nicht mit den Globalisierungsbewegungen, und damit einem Zeitphänomen, das direkt in den betrachteten Rahmen des Kernkorpus fällt, im Zusammenhang. Stattdessen stellen Oberdorfer und Waldow im Vorwort zu ihrem interdisziplinären Sammelband Der Himmel als transkultureller ethischer Raum fest, dass durch dessen Betrachtung „fundamentale Fragen nach dem Wert des menschlichen Lebens, der Stellung des Menschen im Kosmos und der Unterscheidbarkeit von Gut und Böse aufgeworfen“ (Oberdorfer und Waldow, 2016, 9) werden. Solche Fragen erscheinen zeitlos und keinen besonders großen Trend-Schwankungen unterworfen zu sein. Doch der Begriff des Himmels ist – ebenso wie der Weltbegriff – mehrdeutig. Der Himmel ist nicht nur Projektionsfläche menschlicher Selbstreflexion, sondern auch Forschungsgegenstand der Naturwissenschaften und Sitz des Göttlichen (vgl. Oberdorfer und Waldow, 2016, 10; Mieth, 2016, 105). Oberdorfer arbeitet am Beispiel von Heinrich Heines Literatur heraus, dass der Himmel durch religiöse Aufladung verknüpft ist mit dem Jenseits und damit einer späteren, post-Lebenszeit und mit den dann versprochenen ewigen Freuden (vgl. Oberdorfer und Waldow, 2016, 19; Giacobazzi, 2016, 250; Mieth, 2016, 105). Gleichzeitig sind der Himmel und damit auch die benannten Implikationen geographisch „oben“ verortet (Oberdorfer und Waldow, 2016, 19). Wie bei Bachelard und Lotman stehen also auch hier das Oben und positive Wertung im Zusammenhang miteinander (vgl. Abschnitt 2.2.1). Im religiösen Kontext hat der Himmel zwei Konnotationen: Er ist der Aufenthaltsort Gottes und Verheißungsort des Menschen (Oberdorfer und Waldow, 2016, 21). Im metaphorischen Wortgebrauch bleibt vor allem die positive Aufladung enthalten und der Himmel steht dann nur noch für das Lichte, Helle, für das er in der religiösen Himmel-Hölle-Gegenüberstellung zum Inbegriff wurde (Oberdorfer und Waldow, 2016, 27). Am Beispiel von Meister Eckhart arbeitet Mieth heraus, dass der Himmel außerdem als Verinnerlichung des Göttlichen im Menschen selbst verortet werden kann (Mieth, 2016, 105). Bei der Analyse des Begriffs sind demnach sechs Bedeutungsebenen relevant:

  1. 1.

    Der physisch-geographische Himmel,

  2. 2.

    der Blick in den Himmel als Selbstreflexion,

  3. 3.

    der Himmel als Sitz Gottes, der Engel und anderer religiöser Größen,

  4. 4.

    der Himmel als Jenseitsort,

  5. 5.

    der interiorisierte Himmel,

  6. 6.

    der Himmel als Metapher für das Gute

Schaut man sich nur die quantitative Verteilung des Wortes „Himmel“ im Kernkorpus an, so zeigt sich ein ganz ähnliches Bild wie beim Weltbegriff. Auch hier sinkt der Zahlenwert vom 18. zum 19. Jahrhundert um rund 50% von 1443 auf 676 ab. Vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart gibt es dann eine stetige, aber nur leichte Abnahme auf 574 Annotationen im 20. und 498 Annotationen im 21. Jahrhundert. Um herauszufinden, ob der Gebrauch des Wortes „Himmel“ insgesamt gleichmäßig abnimmt, oder ob einige der Kontextualisierungen von literarhistorischen Schwankungen betroffen sind, wurden die Annotationen des Wortes „Himmel“ den sechs oben benannten, in der an literarischen Texten orientierten Forschung zum Himmel als ein transkulturelles, ethisches Raumphänomen herausgearbeiteten, Kontext-Kategorien zugeordnet.Footnote 15 Es ergibt sich das in Abbildung 8.9 dargestellte Bild.

Abbildung 8.9
figure 9

Nach Kontext zugeordnete Bedeutungskategorien des Himmelsbegriffs im Zeitverlauf

Nur eine der Kontext-Kategorien des Wortes „Himmel“ weist eine leichte Schwankung, bzw. keine deutliche Abnahme im diachronen Verlauf auf: die des Himmels als physisch-geographischer Größe. Himmel als Metapher, als Sitz Gottes und Jenseitsort, sowie der Himmel als Erkenntnis-Spiegel und Interiorisierung des Himmels finden im Zeitverlauf immer weniger Erwähnung. Dieser Fund passt zu der Annahme, dass in der Moderne der Himmel nicht mehr einstimmig als Sitz Gottes angesehen wird, sondern dass Gott zunehmend in Irdischem gesehen wird (Giacobazzi, 2016, 250). Interessant ist auch der Sonderfall der Interiorisierung des Himmels. Auch wenn eine solche Kontextualisierung insgesamt sehr selten ist, so kommt sie im ersten Teilkorpus doch immerhin sieben Mal vor, im zweiten immerhin noch fünf Mal und im 20. und 21. Jahrhundert schließlich nur noch vier und ein Mal. Führt man beide Beobachtungen zusammen, so lässt sich die These aufstellen, dass sich Religiosität vom 18. bis zum 21. Jahrhundert in literarischen Texten immer weniger widerspiegelt. Nicht nur wurde der Himmel als Jenseitsort und Sitz Gottes im 18. Jahrhundert weit häufiger erwähnt als in den folgenden, auch wurden religiöse Ideen, wie die bei Meister Eckhart beobachtete Interiorisierung des Himmels, hier hin und wieder aufgegriffen. Auch bei der metaphorischen Verwendung des Himmelsbegriff spielt Religiosität eine große Rolle. Wenn der Himmel z. B. personifiziert wird, so steht er oft für eine göttliche Macht und selbst die Gleichsetzung von Himmel mit einem positiven Wert kann darauf zurück geführt werden, dass der Himmel als Sitz Gottes und paradiesischer Jenseitsort diesen positiven Wert begründen. All diese Kontexte gehen in der Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts stark zurück. Dagegen bleibt das physisch-geographische Himmelsverständnis für den literarischen Raum in etwa konstant wichtig, was vor allem Schilderungen des Wetters, Beschreibungen von Größenverhältnissen oder die Verortung von fliegenden Tieren betrifft. Der Blick in den Himmel als Erkenntnis-Spiegel wird zwar im 18. Jahrhundert auch auffallend häufig erwähnt, die Zahlen bleiben dann aber vom 19.–21. Jahrhundert relativ konstant. Hier zeigt sich die zeitlose Faszination des Menschen für die unendlich weite und unerreichbare Größe, die, wie Oberdorfer und Waldow es beschrieben haben, dazu beiträgt, den Menschen zu fundamentalen Lebensfragen anzuregen (Oberdorfer und Waldow, 2016, 9). Auch in dieser Fallstudie wurde zum Abgleich die Datenbank laRa nach Raummetaphern des Kernwortes „Himmel“ abgefragt. Wie Abbildung 8.10 zeigt, kommen in den Anfangspassagen von 14 von 20 Romanen (70%) des 18. und 13 von 20 Romanen (65%) des 19. Jahrhunderts Metaphern vor, deren Kernwort „Himmel“ ist. In dem Teil des Trainingskorpus, das sich aus Romanen des 20. Jahrhunderts zusammensetzt, sind es zwei (10%) und in dem aus dem 21. Jahrhundert drei (15%).

Abbildung 8.10
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Raummetaphern mit Kernwort „Himmel“ und deren Quellen

Es zeigt sich also ebenfalls ein deutlicher Abwärtstrend. Vor allem angesichts der relativ kleinen Stichprobe im Trainingskorpus, die zur Basis der Datenbank der Raummetaphern wurde, überrascht es, dass die Daten der Klassifizierung von Annotationen des Ausdrucks „Himmel“ als Metapher im Kernkorpus relativ ähnlich sind wie die der Datenbankabfrage. Im ersten Teilkorpus stehen 623 der als „Ort“ annotierten Vorkommnisse des Wortes in einem metaphorischen Kontext, also rund 43% der insgesamt 1442 Annotationen. Diese Wortvorkommnisse befinden sich in 23 der 25 Romane im ersten Teilkorpus (92%). Im zweiten Teilkorpus wurde „Himmel“ 236 Mal als Raummetapher interpretiert, also 35% Prozent aller „Himmel“-Annotationen und diese Annotationen erstrecken sich auf 24 der 25 Romane (96%). Im dritten Teilkorpus sind es dann 149 (26%) in 22 Romanen (88%) und im vierten 98 (19,7%) in 20 Romanen (80%). Datenbankabfrage und Analyse des Kernkorpus zeigen also ein ähnliches Bild. Es gibt einen deutlichen Abwärtstrend vom 18. bis zum 21. Jahrhundert. Durch die genaue Betrachtung der einzelnen Annotationen im Kernkorpus, die sich jeweils auf ganze Romane beziehen (während in laRa das Trainingskorpus aufbereitet wurde, das aus den Romanen jeweils nur 4.000-Token-Abschnitte enthält), wird sichtbar, dass im 21. Jahrhundert zwar in vielen Romanen „Himmel“ in einem metaphorischen Kontext steht, dass aber die Anzahl der Verwendung innerhalb der einzelnen Romane stark abnimmt. Sowohl in Bovenschen Sarahs Gesetz als auch in Herrndorf Bilder einer großen Liebe oder Uebel Horror Vacui steht jeweils nur ein Mal das Wort „Himmel“ in einem metaphorischen Kontext.Footnote 16 Außerdem zeigt laRa noch zwei weitere Besonderheiten der Himmels-Metapher, die vor allem im Vergleich mit der metaphorischen Verwendung des Weltbegriffs auffallen: Der Variantenreichtum ist im 19. Jahrhundert am höchsten und die Varianten sind nicht nur korpus- sondern nahezu ausnahmslos textspezifisch. Abgesehen von „Himmel“ als ein-Wort-Metapher wird keine Metapher jahrhundertübergreifend genutzt.

Insgesamt kann nach diesen zwei Fallstudien-basierten Tests von laRa festgehalten werden, dass die relationale Datenbank der Raummetaphern schon jetzt, also mit relativ kleinem Datenumfang, ein gutes Werkzeug ist, mit dem eine digitale Textanalyse sinnvoll ergänzt werden kann. Die Stärke des auf Vergleichbarkeit der einzelnen Teilabschnitte des Korpus optimierten Systems liegt darin, allgemeine Trends der Verwendung von Raummetaphern aufzuzeigen und den Variantenreichtum und die damit verbundene Vernetzung sichtbar zu machen. Auf diese Weise können der ungefähre quantitative Einsatz von Metaphern eines bestimmten Kernwortes im literarhistorischen Kontext eingeschätzt und Rückschlüsse auf die kreative Verarbeitung einzelner Begriffe gezogen werden.

Mit „Welt“ und „Himmel“ wurden hier zwei für die literarische Darstellung von Raum quantitativ bedeutsame Wörter betrachtet, die vergleichsweise häufig metaphorisch genutzt werden. In den beiden Fallstudien wurde gezeigt, wie literaturwissenschaftliche Analysen quantitative Ansätze nutzen können, um einen betrachteten Fokus-Gegenstand in größere literarhistorische Kontexte einzubetten oder wie quantitative Analysen an die nicht digital unterstützte literaturwissenschaftliche Forschung anknüpfen können, um z. B. weitere Kategoriensysteme bei der Sichtung von Wortvorkommnissen einzusetzen. Die Verbindung von digitalen und analogen Ansätzen kann sich auf diese Weise sinnvoll ergänzen. Auch der Abgleich mit der Metaphern-Datenbank laRa hat sich als gute Methode erwiesen, um die Abfrage-Ergebnisse der Raum-Annotationen kontextualisieren zu können. Obwohl die Datenbank auf dem Trainingskorpus, also einer relativ kleinen Datenbasis beruht, stimmen die Abfrage-Ergebnisse tendenziell mit den Auswertungen der Klassifizierungen der Raum-Annotationen im Kernkorpus überein oder ergänzen diese. Die Datenbank kann also bei Fallstudien wie den hier beispielhaft durchgeführten bereits entscheidende Hinweise auf den metaphorischen Gebrauch einzelner Wörter in literarischen Texten des 18.–21. Jahrhunderts geben. Ein genauerer Abgleich vermittelt aber einen umfassenderen Einblick in die tatsächlich zum Kernkorpus gehörenden Erzähltexte. Was ein digitaler Ansatz nicht unterstützt, sind Untersuchungen, die konzeptionell den Himmel nicht als Begriff im Text fokussieren, sondern ein metaphorisches Himmelsverständnis zur Basis machen und als Indikatoren dafür implizite Hinweise auf Glück, Liebe und Fantasiewelten ausmachen, wie z. B. Giacobazzi in seinem Aufsatz Die Dialektik von Himmel und Erde zwischen Klassik, Romantik und Realismus (2016: 249–260).

1.5 Der literarische Raum ist ein System der Öffnung und Schließung

Die Betrachtung der Raumthemen hat gezeigt, dass eines von ihnen von überragender Bedeutung ist: das Thema der Grenzen bzw. der Öffnung und Schließung von Räumen. Dieses Thema hatte bereits Lotman (1973) in seinem Modell literarischen Raumes als bedeutsam ausgemacht. Es ist später aber auch in weniger semiotischen und stärker funktional ausgerichteten narratologischen Ansätzen zum literarischen Raum aufgegriffen worden. Bei Ryan et al. wird beschrieben, auf welche Weise Öffnung und Schließung von Räumen die Handlung vorantreiben oder verlangsamen kann (vgl. Ryan et al., 2016, 22 und Abschnitt 2.2 dieser Arbeit). Auch Bal (1985) beschreibt, inwiefern literarische Räume der Öffnung und Schließung mit Themen wie Mobilität und auch mit Figurencharakterisierungen verknüpft sein können. Dabei stellt sie z. B. fest, dass männliche Figuren häufiger beweglich sind, während weibliche eher in statischen Räumen bleiben Bal and van Boheemen-Saaf, 1985, 137. Nun ist der Raum-Classifier zwar darauf trainiert, Wörter zu erkennen, die zu Raumthemen gehören, er weist aber keine Unterkategorien zu. Das hat den großen Vorteil, dass das Machine-Learning-Tool auf diese Weise stärker auf variablen Kontext reagiert und z. B. auch Wörter annotiert, die – aus dem Kontext geschlossen – zu Raumthemen gehören, für die es aber (noch) keine Einzelkategorie gibt. An dieser Stelle zeigt sich deutlich, warum für diese Studie ein Machine-Learning-Ansatz gegenüber listenbasierten Ansätzen bevorzugt wurde. Der Classifier kann durch seine Kontextsensitivität Wörter annotieren, die – aus dem Kontext geschlossen – zu einem Raumthema gehören könnten, die aber nicht von vornherein als Indikatoren für Raumthemen berücksichtigt wurden. Auf diese Weise können auch im diachronen Verlauf sich neu herausbildende Raumthemen erfasst werden. Anders herum könnten aber aus den Annotationen des Raum-Classifiers umfangreiche Listen mit Wörtern erstellt werden, die zu einzelnen Raumthemen gehören, die dann mit Hilfe dieser Listen weiter betrachtet werden können, z. B. in anderen Korpora. Der Nachteil der hier gewählten Kategorisierung ohne weitere Unterkategorien ist, dass die Daten des Raum-Classifiers erst noch einmal weiter klassifiziert werden müssen, bevor sie aussagekräftig werden. Hier ist die automatische Raum-Annotation also ein reines Preprocessing, das für die weitere literaturwissenschaftliche Analyse weiterbearbeitet werden muss. Darum wurden die Wörter, die vom Raum-Classifier als Raumthemen zugehörig annotiert wurden, in einem interpretativen Prozess weiter klassifiziert. Dabei wurden die Tabellen mit allen mit dem Tag „Raumthema“ versehenen Wörtern der vier Teilkorpora einzeln ausgewertet. Aus den in diesen Tabellen quantitativ zusammengefassten Types wurden zuerst diejenigen gruppiert, die klar einem der Raumthemen zugeordnet werden konnten, die in der literaturwissenschaftlichen Forschung bisher hervorgehoben wurden (vgl. Abschnitt 2.2.2). Neben Reise, Abenteuer und der Thematik der Öffnung und Schließung gehören dazu auch die heterotopen Räume des Theaters bzw. der Bühne, des Friedhofs und allem, was mit Bestattungsriten verbunden ist sowie des Spiegels als heterotop-utopisches Objekt. Für Wörter, die nicht einer dieser Kategorien zugeordnet werden konnten, wurden eigene Kategorien gefunden, wie z. B. Freiheit, Krieg, Einsamkeit, Flucht/Zuflucht, Ordnung, Begegnung, Dasein, und Natur/Landleben/Jagd. Insgesamt wurden auf diese Weise 27 Raumthemen identifiziert. Drei dieser Raumthemen kamen im Teilkorpus des 19. Jahrhunderts hinzu (Suche, Weite, Heimat), drei weitere (Einkauf, Tarnung und Fernsehen) im 21. Jahrhundert.Footnote 17

Tabelle 8.5 Auflistung der Raumthemen und zugeordnete Wortanzahl im Kernkorpus

Ganz deutlich zeigt die Übersicht in Tabelle 8.5 die quantitativ überragende Bedeutung des Themas „Öffnung und Schließung“. Zu diesem Thema gehören Wörter wie „Grenze“, „Tür“, „Graben“, „Fenster“, „Treppe“ u. Ä., die sehr häufig deutlich machen, ob ein Innenraum im Fokus steht oder ob eine Figur sich gerade außen aufhält oder ob die Grenzen (z. B. durch die bereits in ihrer Bedeutung hervorgehobenen Blickachsen) überbrückt werden. Der deutliche quantitative Abstand zwischen den beiden am häufigsten aufgerufenen Themen und den folgenden kann zum Teil auch dadurch erklärt werden, dass die semantischen Felder dieser Themen sehr groß sind und sehr viele Wörter (Types) umfassen. Doch auch die nicht in Themen zusammengefassten Rohdaten der Abfrage des Tags „Raumthema“ untermauern den Schluss, dass für literarische Raumthematik die Öffnung / Schließung nach Lotman (1973) besonders wichtig ist. Die am häufigsten mit dem Tag „Raumthema“ belegten Wörter sind nämlich tatsächlich „Fenster“ (2.556) und „Tür“ (2.199).

Abbildung 8.11
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Raumthemen-Tafeln vom 18. (links oben) bis zum 21. Jh. (rechts unten)

Die Visualisierungen der RaumthemenFootnote 18 in den einzelnen Teilkorpora (vgl. Abbildung 8.11) zeigen deutlich, dass das Thema der Öffnung und Schließung (größter heller Kasten) zwar durchgehend von großer Bedeutung ist, dass sich aber eine diachrone Entwicklung abzeichnet. Während im 18. Jahrhundert das Thema Reise (größter dunkler Kasten) noch häufiger aufgerufen wurde (Öffnung/Schließung: 3778, Reise: 5211), so nimmt es in den folgenden Jahrhunderten immer weniger der literarischen Raumdarstellung ein. Im 19. und 20. Jahrhundert gibt es jeweils etwa doppelt so viele Annotationen, die zum Raumthema der Öffnung/Schließung gehören, wie zum Thema der Reise. Im 21. Jahrhundert wurden fast drei Mal so viele Wörter dem Grenzthema zugeordnet wie der Reisethematik.

Interessant ist aber auch, dass im gesamten Kernkorpus Wörter, die für Öffnung stehen wie z. B. „öffnete“ (986 Annotationen), „offen“ (755 Annotationen), „öffnen“ (330 Annotationen), „geöffnet“ (319 Annotationen) oder „offenen“ (275 Annotationen) häufiger sind als solche, die eindeutig Schließung ausdrücken wie z. B. „geschlossen“ (325 Annotationen) oder „schloß“ (169 Annotationen) bzw. „schloss“ (130 Annotationen). Die Darstellungen literarischen Raumes sind also zwar durchzogen von Grenzen, diese stellen sich aber häufiger als permeabel denn als unüberwindbar dar. Raum wird häufiger eröffnet und somit Mobilität ermöglicht; Grenzen sind meist überwindbar.

Die absolute Anzahl der Wörter, die als Raumthemen aufrufend annotiert wurden, schwankt stark. Waren es im 18. Jahrhundert 10.820, so steigt die Anzahl im 19. Jahrhundert auf 14.402. Dann folgt im 20. Jahrhundert ein Tiefstand von 9.047. Im 21. Jahrhundert wurden dann wieder 10.804 Wörter als zu Raumthemen gehörig annotiert. Die Anzahl der Types folgt hier einer ähnlichen Wellenbewegung, wenn die Amplitude auch deutlich schwächer ausfällt. Die Vielfalt der Wörter, die als zu Raumthemen gehörig klassifiziert wurden, bleibt mit 885 Types im 18. Jahrhundert, 1.121 im 19. Jahrhundert, 986 im 20. Jahrhundert und 989 im 21. Jahrhundert immer auf einem ähnlichen Niveau. Dies legt nahe, dass Raumthemen über einen relativ klar definierten Wortschatz aufgerufen werden, der sich zwar über die Jahrhunderte verändert, aber nur in relativ geringem Ausmaß.

Die Betrachtungsweise der Raumthemen, die durch die automatische Annotation des Raum-Classifiers eingeleitet wird, entspricht ziemlich genau dem Distant-Reading-Ansatz nach Moretti (vgl. Moretti, 2013). Damit geht einher, dass hier in geringerem Maße Anschlussfähigkeit an literaturwissenschaftliche Einzeltext- oder Einzelphänomen-Analyse gegeben ist. Auch wenn die Annotationen weiter unterklassifiziert und dann in Gruppen genauer betrachtet werden, ist dies kein Schritt zurück in die literarischen Texte, so wie es z. B. die Kontextanalyse in Abschnitt 8.1.4 war. Eigentlich wird die Distanz zum Einzeltext durch die Gruppierung sogar noch größer, da von den Einzelwörtern, die im Prinzip noch auf die Kontexte zurückführbar wären, weiter abstrahiert wird und am Ende Wortgruppen im Zentrum der Betrachtung stehen. Auch wenn die Anbindung an Close-Reading-Analysen in diesem Falle schwierig ist, so ist stattdessen die Verknüpfung mit konzeptuellen Überlegungen zum literarischen Raum wie denen von Lotman (1973), Bal (1985) oder Ryan et al. (2016) sehr gut möglich. An diese kann nämlich mit allgemeinen Tendenzen angeschlossen werden. Wenn Ryan et al. anhand eines Beispiels illustrieren, inwiefern der literarische Raum die Handlung eines Erzähltextes bestimmt, wenn Figuren, wie z. B. Odysseus beim Kampf gegen die Freier seiner Frau, räumliche Grenzen gesetzt oder Wege eröffnet werden (Ryan et al., 2016, 42), so kann nach der quantitativen Analyse der Raumthemen festgestellt werden, dass die Öffnungen literarischen Raums insgesamt überwiegen. Auf diese Weise kann das gezeichnete Bild eines dynamischen Raums, der am Ende aber eine grundsätzliche Offenheit und Überwindbarkeit von Grenzen suggeriert, abgerundet werden.

1.6 Die zunehmende Privatheit literarischen Raumes

Immer wieder wurde in diesem Kapitel die Frage nach der Anschlussfähigkeit der hier angewendeten Methode an traditionellere Ansätze der Literaturwissenschaften gestellt. Es wurde bereits gezeigt, dass diese z. B. durch Einzelwortanalysen von Begriffen, die für bedeutungshaltige Konzepte stehen, durch Betrachtungen einzelner Raumkategorien wie die der Raumthemen und durch die Anknüpfung sichtbar gewordener Strukturen an konzeptionelle Überlegungen, hergestellt werden kann. Nun soll noch ein weiterer Fall von Anschlussfähigkeit gezeigt werden, nämlich der einer Raumkategorien-übergreifenden Analyse des in den Literaturwissenschaften eher diffus betrachteten Konzeptes der Privatheit. Bevor aber dafür argumentiert wird, dass die Darstellung von Privatheit im diachronen Verlauf zunimmt, muss klar festgelegt werden, wie Privatheit verstanden werden kann.

Im 2018 herausgegebenen Sammelband Privates Erzählen. Formen und Funktionen von Privatheit in der Literatur des 18. bis 21. Jahrhunderts von Burk, Klepikova und Piegsa werden durchaus sehr unterschiedliche Aspekte von Privatheit herausgearbeitet. Grundsätzlich werde diese durch Grenzen konstituiert, die aber überschreitbar sind (Burk, 2018a, 11). Die Thematik der Privatheit kann also als Unterthema der Lotman’schen Grenzthematik klassifiziert werden. Klar ist auch, dass Privatheit mehrere Dimensionen aufweist und auf unterschiedliche Weise betrachtet werden kann. Besonders anschlussfähig für digitale Herangehensweisen scheint ein Konzept von Rössler, in dem zwischen informationeller, dezisionaler und lokaler Privatheit (Rössler, 2001) unterschieden wird und das sowohl auf Manns Buddenbrooks als Roman des 20. (Burk, 2018b, 91–128) als auch auf Überwachungsromane des 21. Jahrhunderts (Huber, 2018, 195–218) gewinnbringend angewendet wurde. Von den drei Aspekten wird der Fokus dieser Analyse entsprechend auf die lokale Privatheit gelegt. Dass die anderen Aspekte aber durchaus in die digitale diachrone Analyse einbezogen werden können, wird am Rande berücksichtigt. Sehr häufig wird die lokale Privatheit mit Innenräumen verknüpft, die allerdings in ihrer Privatheit – je nach kulturhistorischem Zusammenhang – stark variieren können. Im 18. Jahrhundert kann der Innenraum grundsätzlich von Aspekten des Öffentlichen eingenommen werden (Goeth, 2018, 54). Im Idealfall wird er zu dieser Zeit aber zum privaten Rückzugsraum (Lehnert, 2014, 17). Im 19. Jahrhundert gibt es im Philistertum eine geradezu bühnenartige Inszenierung häuslicher Räume, eine echte Privatheit kann hier nicht erreicht werden (Czezior, 2018, 85–86) und auch im 20. Jahrhundert kann eine zu stark auf Repräsentativität ausgerichtete Häuslichkeit nur scheitern (Burk, 2018b, 106ff). Während eine Verortung im lokal privaten Bereich der Wohnung zwar Privatheit markieren kann, so ist doch das wahrhaft Private das diskret Verborgene, wie Dröscher-Teille (2018, 297–314) es am Beispiel von Bachmanns Malina zeigt. In Überwachungsromanen des 21. Jahrhunderts werden private Räume so stark ausgeleuchtet, dass Alternativen z. B. in der Natur gefunden werden müssen (Huber, 2018, 204–207). Scheitert Privatheit in Räumen, die diese eigentlich gewähren sollten, so fliehen die beschriebenen literarischen Figuren häufig – und das zieht sich durch viele Beiträge des oben genannten Sammelbandes – in eine private Innenwelt, die im Extremfall eine Fantasiewelt ist (vgl. Knode, 2018, 39 ff.; Goeth, 2018, 62–63; Czezior, 2018, 82ff; Huber, 2018, 209–210). Auch wenn in literaturwissenschaftlichen, meist auf Einzeltexte oder sehr kleine Korpora beschränkten, Fallstudien viele weitere Aspekte herausgearbeitet werden, so lässt sich doch übergreifend und zusammenfassend festhalten, dass räumliche Privatheit im Idealfall im gesamten häuslichen Wohnumfeld verortet werden kann. Kann sie es nicht, so dringt die Öffentlichkeit zunächst in Räume ein, die als weniger privat empfunden werden, und erst dann in geschütztere Bereiche. Dadurch werden die zuvor privaten Räume dieser Qualität beraubt und in repräsentative Räume verwandelt. Besondere Schutzzonen sind Räume, die mit zwischenmenschlicher Intimität verbunden werden, insbesondere das (weibliche) Schlafzimmer und hier vor allem das Bett (Passavant, 2018, 136). Noch privater sind die Innenwelten der Figuren, die in Abschnitt 8.1.2 bereits thematisiert wurden und darum hier nicht noch einmal ausführlich aufgegriffen werden.

Nun hat sich ein Bewusstsein über die Privatheit von (Innen-) Räumen kulturgeschichtlich erst im 18. Jahrhundert herausgebildet (Lehnert, 2014, 19). Das Korpus dieser Analyse ist darum ein idealer Gegenstand für eine etwas breiter angelegte diachrone Betrachtung dieses Themas. Die Analyse der Types, die zum literarisch bedeutsamsten Raumthema der Öffnung und Schließung (wie im vorangegangenen Kapitel beschrieben) beitragen, hat bereits gezeigt, dass Innen- bzw. Wohnräume und deren Abgrenzung einen wichtigen Teil zu diesem Raumthema beitragen. Privatheit ist ein literarisches Motiv, das sich nicht klar in eine der sechs Raumkategorien einordnen lässt. Es handelt sich zudem um eine skalare Kategorie, da etwas mehr oder weniger privat sein kann. Einige Zimmer, die hier als Ort klassifiziert werden, können z. B. privater sein als andere. Privatheit kann zum Raumthema der Öffnung und Schließung gehören, es kann aber auch ein eigenes Thema werden, wie die Tatsache zeigt, dass im Teilkorpus des 21. Jahrhunderts insgesamt 21 Wörter als einem Raumthema zugehörig annotiert wurden, die eindeutig die Privatheit dieser Räume implizieren (Beispiele sind „Schlafzimmertür“ oder „Badezimmertür“) und die darum als Privaträume klassifiziert wurden (vgl. Abbildung 8.12). Diese Zahl ist sehr klein und zeigt, dass spezifische Themen sich sehr langsam herauskristallisieren. Erstmals wurde ein einzelnes Token dem Thema „Privatraum“ im Teilkorpus des 19. Jahrhunderts zugeordnet. Im dritten Teilkorpus waren es dann 2 Wörter, die als zu diesem Unterthema gehörig klassifiziert wurden. Diese Zahlen berücksichtigt, kann ein Sprung auf 21 Wörter schon als Indikator dafür betrachtet werden, dass sich hier ein neues Unterthema herausbildet.

Abbildung 8.12
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Thementafel des 21. Jahrhunderts mit Zoom auf „Privatraum“

Objekte, die hier meist als Raumhinweise interpretiert werden, können ebenfalls zu Symbolen der Privatheit werden. Am explizitesten weisen aber Raumbeschreibungen auf Öffentlichkeit und Privatheit hin, denn hier werden die Adjektive „privat“ und „öffentlich“ einsortiert, die ich nun als erstes betrachte.

Im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts steht „öffentlich“ noch relativ weit oben auf der Rangliste der am häufigsten als Raumbeschreibung annotierten Wörter.Footnote 19 Der gegenteilige Ausdruck „privat“ spielt hier aber eine noch untergeordnete Rolle. Gegen 167 Annotationen von „öffentlich“, 113 von „öffentlichen“ und 43 von „öffentliche“ stehen insgesamt 16 Vorkommnisse von Wörtern, die mit „privat“ beginnen im gesamten Teilkorpus. Eine Abfrage der Wörter, die mit „privat“ oder „Privat“ beginnen, zeigt 96 Ergebnisse. Keines dieser Vorkommnisse wurde vom Raum-Classifier als „Raumbeschreibung“ klassifiziert. Auch im Teilkorpus des 19. Jahrhunderts wurde „privat“ nicht als Raumbeschreibung kategorisiert. Eine mögliche Ursache ist, dass die Privatheit, die sich kulturgeschichtlich gerade erst herausbildet (s.o.), zu diesem Zeitpunkt noch selten explizit ihren Weg in die Literatur findet. Eine andere Möglichkeit ist, dass das Konzept der Privatheit in den früheren der betrachteten Jahrhunderte noch nicht unbedingt mit Raum verbunden wird. Ergänzende Wortabfragen in CATMA und anschließende Kontextanalysen führen diesbezüglich zu genaueren Einsichten.

Im Teilkorpus des 19. Jahrhunderts ist die attributive Verwendung „privat“ noch seltener als im zuvor betrachteten. Eine CATMA-Wortabfrage zeigt, dass nur zwölf Wörter mit „privat“ beginnen. Automatisch annotiert wurde davon wieder keines. Um festzustellen, ob es sich hier um einen Fehler des Raum-Classifiers handelt, wurden die Kontexte des Lemmas „privat“ analysiert. Bei einer Abfrage der Wörter, die mit „privat“ oder „Privat“ beginnen (insgesamt 81), hat sich gezeigt, dass dieser Wortstamm in der Tat nicht immer raumbeschreibend eingesetzt wird. Stattdessen wird es häufig synonym zu „persönlich“ eingesetzt, wie z. B. in der Phrase „privater Standpunkt“ (in Fontane Unwiederbringlich) oder „private Wohltätigkeit“ (in Goedsche Sebastopol). Im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts ist das Verb „privatisieren“ (bei Jean Paul in Blumen-, Frucht- und Dornenstücke oder in Hesperus oder die 45 Hundsposttage) und die Bezeichnung „Privatperson“ (in Schnabel Fata einiger See-Fahrer) noch vergleichsweise häufig, beide Ausdrücke bezeichnen eher eine Opposition zum Beruflichen denn zum Öffentlichen. Die Abfrage des Wortbeginns „Privat“ zeigt ein ähnliches Ergebnis. Auch hier werden selten lokale Aspekte von Privatheit referenziert, stattdessen wird ebenfalls häufig das nicht-Berufliche bezeichnet oder informationelle Privatheit (z. B. als „Privatangelegenheiten“ oder „Privatgespräch“) angesprochen. Dass diese Types nicht vom Raum-Classifier erkannt wurden, ist also kein Fehler des Tools, sondern zeigt tatsächlich, dass Privatheit in der Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts noch nicht in erster Linie ein Raumphänomen war. Nach Rössler (2001) überwiegt hier also die informationelle die lokale Privatheit. Die Abfrage der Lemmata „Öffentlich“ und „öffentlich“ zeigt, dass sie im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts 405 Mal vorkommen. Davon wurden 323 vom Raum-Classifier erkannt. Im Teilkorpus des 19. Jahrhunderts ergibt dieselbe Suche 172 Ergebnisse, davon wurden 128 vom Raum-Classifier gefunden und klassifiziert. Im Gegensatz zur Privatheit wird das Öffentliche auch im 18. und 19. Jahrhundert häufig schon mit Raum verknüpft. Sowohl im ersten als auch im zweiten Teilkorpus findet das Öffentliche häufiger explizit Erwähnung als das Private. Hier zeigt sich außerdem ein Vorteil der auf maschinellem Lernen basierenden Erkennung und Klassifizierung gegenüber Listen-basierten Ansätzen. Der Raum-Classifier erkennt Begriffe, die mit „privat“ oder „öffentlich“ beginnen tatsächlich meist nur dann als Indikatoren für Raumdarstellungen, wenn der Kontext auf eine solche Verwendung hinweist. Die hier durchgeführten listenbasierten Abfragen eignen sich, wie gezeigt, aber hervorragend, um einen Vergleich der klassifizierten Indikatoren für Raumthemen mit den nicht automatisch annotierten Wörtern durchzuführen. Auf diese Weise lasen sich literarhistorische Entwicklungen von Begriffsverwendungen erkennen und in die Analyse einbeziehen.

Auch im Teilkorpus des 20. Jahrhunderts wurde „privat“ nicht als Raumbeschreibung klassifiziert. Das Lemma „öffentlich“ findet sich nur noch 22 Mal unter den automatisch generierten Annotationen von Raumbeschreibungen. Eine analog zu den für die ersten beiden Teilkorpora durchgeführte Abfrage der Wortanfänge „Privat“ und „privat“ führt 61 Ergebnisse auf. Die Abfrage der Wortanfänge „Öffentlich“ und „öffentlich“ ergibt nur 53 Treffer. Erstmalig geht hier also die explizite Kennzeichnung von etwas als öffentlich gegenüber der Klassifizierung von etwas als privat zurück. Für das Teilkorpus des 21. Jahrhunderts zeigt sich ein ähnliches Bild. Unter den Annotationen der Raumbeschreibungen findet sich keine, die explizit Privatheit bezeichnet, dafür aber 54 Annotationen des Lemmas „öffentlich“. Eine direkte Abfrage der Wortanfänge „Privat“ und „privat“ ergibt aber 106 Tokens, von „Ö/öffentlich“ 115 Tokens. Jenseits der lokalen Privatheit werden Privatheit und Öffentlichkeit also wieder in etwa gleich häufig aufgerufen. Dabei fällt auch auf, dass die explizite Referenzierung von Öffentlichkeit über die Jahrhunderte seltener wird. Aber wie verhält es sich mit privaten Räumen, die auch vom Raum-Classifier erkannt werden können? Die These, dass die Darstellung von Privatheit auch in ihrer räumlichen Dimension im 21. Jahrhundert einen Höhepunkt erreicht, wird nicht nur dadurch gestützt, dass sie zum ersten Mal als Raumthema ausfindig gemacht werden kann, sondern auch noch durch ein ganz anderes Phänomen jenseits der Raumbeschreibungen.

Erstmalig steht im Teilkorpus des 21. Jahrhunderts ein Objekt unter den ersten zehn am häufigsten annotierten Wörtern der Kategorie „Raumhinweis“. „Bett“ hat es hier auf Platz zehn geschafft.Footnote 20 Und damit ist die Privatheit, die im 18. Jahrhundert so langsam anfing in die Literatur einzudringen, nun endgültig darin angekommen. Denn die Kontexte zeigen, dass Figuren sich nicht nur ins Bett zurückziehen, um einen Ort für zwischenmenschliche Intimität zu haben, sondern sehr häufig auch, wenn Erschöpfung sich breit macht oder ein ruhiger Ort zum Nachdenken gesucht wird. Das Bett ist also Ort der Intimität, der Erholung und des Überlegens und meistens auch des Rückzugs und der Einsam-, höchstens Zweisamkeit. Das Bett wird in diesem Teilkorpus aber nicht nur mit insgesamt 801 Annotationen besonders häufig zum Raumhinweis, die Annotationen erstrecken sich auch auf das gesamte Korpus, also alle 25 Romane. Hinzu kommt, dass auch der Körper als potentieller Indikator dezisionaler Privatheit im Sinne einer letzten Rückzugsmöglickeit in die Innenwelt (Huber, 2018, 207–208) in diesem Teilkorpus häufiger als in den zuvor betrachteten als Raumhinweis annotiert wurde.Footnote 21 Wenn das Bett hier für objektgebundene Privatheit steht, so wird der Körper zum subjektgebundenen Pendant. Auch in den Kontexten des Wortes „Körper“ geht es um private Eigenheiten und Geschehnisse. Geschildert werden Einzelkörper oder Zweisamkeiten. Der Körper als physische Manifestation einer Figur wird sowohl intern als auch extern gelesen, d.h. es werden die Empfindungen von Figuren über ihren Körper, über Schmerzen und Verfall z. B. dargestellt, aber auch wie andere Figuren Körper von außen wahrnehmen, als schön oder hässlich, gesund oder ruiniert. Der Körper, der in der literaturwissenschaftlichen Forschung ebenso wie in der Philosophie geradezu als Nullpunkt der Wahrnehmung von Raum ausgemacht wurde (vgl. Abschnitt 2.2 und 2.3), wird in der Literatur des 21. Jahrhunderts zum wichtigen Einschreibungsraum (im Sinne von Deleuze, 2006 vgl. Abschnitt 2.3.3) von Innen- und Außenwelten. Der letzte Rückzugsraum in die Privatheit (s.o.) scheint ebenso vom Verfall bedroht wie die privaten Außenräume. Denn Innen- und Außenwelt stehen in einer Wechselbeziehung. Wie diese beschaffen ist, das zeigt der Körper als Grenze zwischen Innen und Außen. So heißt es z. B. in Zaimoglus Isabel „Arme Christine, tolle Christine, Körper kaputt, Seele futsch.“ und es bleibt offen, ob nun die Zerrüttung der Seele der des Körpers voran ging oder umgekehrt. In einer Passage aus Steinhöfels Die Mitte der Welt ist hingegen klar, dass Krankheit, und damit ein Faktor im Inneren, den Körper prägt. Dort heißt es: „Der Körper ist so ausgemergelt, dass man dessen kantige Umrisse unter der bis an die Brust reichenden Bettdecke kaum ausmachen kann.“ Auch in Trojanows Weltensammler gibt es eine Passage, in der eindeutig die innere Beschaffenheit, dieses Mal allerdings keine physiologische, sondern eine psychische, einer Figur sich in deren Körper einschreibt: „Als sie sein Gehöft erreichen, liegt er [es geht um einen König; Anm. M.K.S] im Schatten des königlichen Baums, ein Körper, aufgedunsen über jedes Maß hinaus, ein Anführer, der keinerlei Bewegung schätzt.“ In einem anderen Roman, Über Nacht von Sabine Gruber, wird die Verbindung von Körper und Raum sogar explizit thematisiert: „Aber im selben Moment musste sie daran denken, dass sie wohl nicht aufhören würde, den eigenen Körper als Nullpunkt eines Koordinatensystems wahrzunehmen, mit dessen Hilfe sie alles um sich herum einteilte“. Während also das Bett ein Objekt im privaten räumlichen Umfeld von Figuren ist, ist der Körper Ausdruck subjektiver Innen- und Außenwelten einer Figur bzw. von deren Zusammenspiel. Schilderungen und Erwähnungen von beiden tragen zur Darstellung sehr privater Räume bei, wie sie in den vorigen Jahrhunderten noch nicht zu finden waren.

Auch wenn nicht zwingend eine Abnahme der Wörter „öffentlich“ und „Öffentlich“ im Zusammenhang mit der Zunahme von Darstellungen privater Räume bis hin zur Schilderung von Intimität als extremer Form der Privatheit stehen muss, so fällt doch auf, dass es eine sinkende Tendenz gibt. Die Anzahl der Vorkommnisse mit Wörtern dieses Wortstamms nimmt vom Teilkorpus des 18. zum Teilkorpus des 19. Jahrhunderts um mehr als die Hälfte ab (von 405 auf 172). Dann sinkt der Wert im Teilkorpus des 20. Jahrhunderts auf einen Tiefstand von 53 und steigt im 21. Jahrhundert wieder auf 106 an. Die quantitative Bedeutung der früheren Jahrhunderte wird also nicht mehr erreicht. Es ist anzunehmen, dass die zunehmende Privatheit nicht nur für sich als Thema immer wichtiger wird, sondern dass diese die Öffentlichkeit als häufig aufgerufenem literarischen Raum (nahezu) ablöst.

Es könnten noch zahlreiche weitere vom Raum-Classifier annotierte Wörter, die implizit oder explizit auf Privatheit hindeuten, in einer tiefergehenden Analyse betrachtet werden. Inwiefern eine auf dem Preprocessing mit Hilfe der automatischen Annotation aufbauende digitale Untersuchung bisherige Ansätze der Literaturwissenschaften ergänzen kann, wird in diesen beispielhaften Betrachtungen aber bereits deutlich. Anhand eines skalaren Verständnisses von Privatheit, das Wohnräume generell, intime Wohnräume insbesondere und Innenwelten als ultimativ privat umfasst, kann hier diachron nachgewiesen werden, dass eine Verlagerung von den weiter außen liegenden Wohnräumen zum Innersten der Privatheit der figürlichen Innenwelt stattgefunden hat. Darüber hinaus konnte gezeigt werden, dass diese Innenräume ebenfalls an Privatheit verlieren, wenn sie sich über die Grenzen des Körpers nach außen zeigen. Was mit Hilfe dieser Methode nicht oder nur schwer erfasst werden kann, ist die kulturelle Umdeutung von Räumen als privat oder intim, wie sie z. B. Huber für die Natur im Überwachungsroman feststellt (Huber, 2018, 204–207) und wie sie auch schon in der Literatur der Romantik stattgefunden hat (vgl. Huber, 2018, 203; Doering, 2013, 352–353). Um den diachronen Verlauf im Blick behalten zu können, wird hauptsächlich mit festen Indikatoren auf Wortebene operiert und doch lässt die Kontextsensitivität des Machine-Learning-Verfahrens es zu, in begrenztem Umfang den Wandel eines eher diffus verstandenen Konzeptes wie das der Privatheit zumindest in Teilaspekten in einem vergleichsweise großen Korpus zu untersuchen und damit Gedanken aus analogen Ansätzen der Literaturwissenschaft weiterzuführen.

2 Perspektive: jahrhundertspezifische Teilkorpora

Anhand der allgemeinen Tendenzen im gesamten Kernkorpus wurde in Abschnitt 8.1 betrachtet, inwiefern die mit dem Raum-Classifier generierten Daten Thesen aus nicht-digitalen literaturwissenschaftlichen Studien ergänzen, stützen oder manchmal auch widerlegen können. Es ist aber auch möglich, die digitale Methode eher explorativ einzusetzen. Dabei werden besondere Häufungen und Relationen zu anderen Teilkorpora in den Fokus genommen. Ein solcher Zugang wird in diesem Kapitel nun anhand der korpusspezifischen Phänomene beispielhaft gezeigt, um auch mit dieser Herangehensweise das Potential der Methodik auszuloten.

Das diachrone Projektdesign dieser Studie bringt die Schwierigkeit mit sich, im ersten Teilkorpus Besonderheiten und spezifische Phänomene auszumachen. Stattdessen legt die Betrachtung der Daten des 18. Jahrhunderts eher den Grundstein, zeigt die Vergleichswerte für die folgenden Analysen. So hat sich bei der Auswertung der Datenbasis aus dem 18. Jahrhundert schon deutlich die Relationalität literarischer Raumdarstellung gezeigt. Auch die Gegenüberstellung von äußeren und inneren Räumen ist im ersten Teilkorpus bereits von großer Bedeutung. Die ebenfalls schon in Abschnitt 8.1.4 geschilderte diachrone Bedeutungsabnahme des Weltbegriffes nimmt ihren Anfang im 18. Jahrhundert. Im Umkehrschluss ist also die relative Häufigkeit des Wortes „Welt“ ein Spezifikum des ersten Teilkorpus. Aufgrund dieser perspektivbedingten Schwierigkeit, korpusspezifische Phänomene im ersten Teilkorpus zu identifizieren und um Dopplungen zu vermeiden, liegt der Schwerpunkt der Betrachtungen dieses Abschnitts eher auf den späteren Jahrhunderten. Eine kleinere, bisher unerwähnt gebliebene Beobachtung konnte aber auch für das 18. Jahrhundert ausgemacht werden. So ist dies das einzige Teilkorpus, in dem das Thema der Reise häufiger aufgerufen wird als das der Öffnung und Schließung. Die Themen Freiheit und Krieg sind im 18. Jahrhundert zwar ebenfalls besonders häufig. Das gilt aber auch und ganz besonders für das Teilkorpus des 19. Jahrhunderts. Zwar bleibt das Kriegsthema auch im Teilkorpus des 20. Jahrhunderts häufig, steht aber wieder weit zurück hinter dem Thema der Freiheit. Außerdem ist interessant, dass im Teilkorpus des 20. Jahrhunderts erst- und einmalig die nationalstaatliche Raumbeschreibung „deutsch“ unter den fünf meistannotierten Wörtern der Kategorie „Raumbeschreibung“ steht. Im 21. Jahrhundert nehmen schließlich die Besonderheiten zu. Das liegt zum einen wieder daran, dass die früheren Jahrhunderte eher als Ausgangspunkt dienen, zum anderen ist aber ein nicht zu unterschätzender Faktor die mangelnde Kanonisierung dieser Texte.Footnote 22 Auch wird hier ein vergleichsweise kurzer Zeitraum literarischen Schaffens abgedeckt, nämlich statt 100 nur rund 20 Jahre, da das 21. Jahrhundert zum Zeitpunkt der Entstehung dieser Studie nicht viel mehr als diese Zeitspanne umfasst. Die Texte liegen also zeitlich näher beieinander und sind gleichzeitig weniger homogen, was die Ansprüche an kanonisierte Texte angeht. Die Besonderheiten, die sich hier zeigen, sind, dass mehr heterotope Räume beschrieben werden, dass die Thematik der Leere sich zunehmend als eigenes Raumthema herauskristallisiert, dass Ausdrücke der „Fremde“ eine semantische Umdeutung erfahren und dass körperliche Beschreibungen bzw. optische Klassifizierungen von Figuren als „dick“ oder „dünn“ viel häufiger sind als in den anderen drei Teilkorpora.

2.1 Spezifika des ersten Teilkorpus (18. Jahrhundert)

Im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts ist das Raumthema der Reise mit 5.211 annotierten Wörtern deutlich präsenter als das der Öffnung und Schließung (3.678 Annotationen). Damit wird dieses Thema nicht nur in diesem Teilkorpus deutlich häufiger aufgerufen als das Grenzthema, das Lotman (1973) als besonders bedeutsam für literarische Raumdarstellung beschrieben hat, sondern auch sehr viel häufiger als in den folgenden Jahrhunderten. Mit 3.541 Annotationen im zweiten, 2.184 im dritten und 2.441 im vierten Teilkorpus zeigt sich insgesamt ein Abwärtstrend. Wie ist nun aber das semantische Feld dieses literarischen Themas im 18. Jahrhundert beschaffen? Auf diese Frage möchte ich kurz eingehen.

Die am explizitesten zum Raumthema der Reise beitragenden Wörter – Reise, reisen, Abreise u. ä. – sind auch die häufigsten. Gefolgt werden sie von Ausdrücken, die die Art des Transportmittels verraten. Dabei werden „Schiffe“ und „Wagen“ am häufigsten erwähnt, die „Kutsche“ und der „Zug“ folgen erheblich später. Häufig sind außerdem Wörter, die den Zustand des Auf-Reisen-Seins mehr oder weniger explizit beschreiben, wie z. B. „unterwegs“ oder auch „Aufenthalt“. Die häufigsten Wörter dieses Themas sind also insgesamt relativ allgemein gehalten und beschreiben die Reise nicht näher. Unter den nur ein Mal als Raumthema annotierten Wörtern, die der Reise zugeordnet wurden, finden sich zwar einige, die die Reise etwas plastischer machen, wie z. B. „Kur“ oder „Badereise“, „Reisecoffre“ oder „Equipage“, doch auch hier findet man viele allgemeine Ausdrücke wie z. B. ungewöhnlichere Schreibweisen eines häufigen Ausdrucks (Beispiele hierfür sind „Rükreise“ und „Rükkunft“). Das semantische Feld des Reisethemas, welches vom Raum-Classifier ausgemacht werden kann, ist also beherrscht von recht unspezifischen und insgesamt eher wenig herausragenden Ausdrücken. In den späteren Jahrhunderten ändert sich das ein wenig. Hier rücken Fahrzeuge, im 19. und 20. Jahrhundert vor allem die Begriffe „Wagen“ und „Schiff“, im 21. Jahrhundert dann auch das „Auto“, deutlich in den Vordergrund. Es ist später also nicht mehr nur wichtig, dass man unterwegs ist, sondern auch wie. Auch wenn die Unterschiede in der Ausgestaltung des Reisethemas nicht sehr groß sind, so zeichnet sich doch eine Entwicklung ab. Im 18. Jahrhundert stand die Reise allgemein im Mittelpunkt, Fahrzeuge wurden ebenfalls häufig benannt, allerdings war insgesamt bedeutender, dass man reiste und nicht die spezielle Ausgestaltung einer Reise. Ab dem 19. Jahrhundert wurde die Ausgestaltung der Reise dann wichtiger, Fahrzeuge wurden häufiger erwähnt. Dass sich das Reisen auch durch technologischen Fortschritt verändert, zeigen die Erwähnungen unterschiedlicher Fahrzeuge von der Kutsche bis zum Auto. Interessanterweise ist für die literarische Reisethematik in allen vier Jahrhunderten das Schiff von besonderer Bedeutung, ein Fahrzeug, das zumindest im zeitgenössischen Alltag seltener zur Fortbewegung genutzt wird als andere. Möglich wäre, dass das Schiff in literarischen Texten bis zur Gegenwart immer wieder benannt wird, da es ein Fortbewegungsmittel ist, das bereits in der Antike mit dem Topos der Reise verknüpft war (wie z. B. in Homers Odyssee). Hier zeigt sich deutlich, dass die in dieser Studie angewendete Methodik ihre Stärken im Identifizieren von meist in hoher Anzahl gebrauchten Wörtern hat, die die Basis eines spezifischen Themas bilden können, dieses aber nicht voll ausdifferenzieren oder gar erzählerisch ausschmücken. An dieser Stelle wäre ein ergänzendes Close Reading sinnvoll, wenn der Fokus auf einem bestimmten Thema liegt und nicht – wie hier – darauf, eine beispielhafte Exploration der Daten zu zeigen.

2.2 Spezifika des zweiten Teilkorpus (19. Jahrhundert)

Dass räumliche Phänomene sich im ersten und zweiten Teilkorpus meist sehr stark ähneln, wurde bereits erwähnt. Das Teilkorpus des 19. Jahrhunderts weist allerdings ein Spezifikum auf, die es deutlich von dem des 18. Jahrhunderts und auch von den folgenden abgrenzt. Im 19. Jahrhundert wird nämlich die Thematik des Krieges vergleichsweise häufig und auf besonders positiv-beschreibende Weise aufgerufen. „Krieg“ ist hier nach „Öffnung und Schließung“, „Reise“ und „Freiheit“ das Raumthema, das die vierthäufigste Wortanzahl in diesem Teilkorpus umfasst. Dass mit 958 Annotationen das Thema der Freiheit sehr ähnlich häufig ist, ist ebenfalls interessant, da die Themen inhaltlich nah beieinander liegen („Gefangenschaft“ wird z. B. zum Thema „Freiheit“ klassifiziert, kann aber auch im Kontext des Krieges stehen). Mit insgesamt 818 Wörtern, die das Kriegsthema im Teilkorpus des 19. Jahrhunderts stützen, hat das Thema ungefähr die dreifache Wortanzahl wie im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts (hier war „Krieg“ mit 287 Wörtern auf Platz fünf). Das Raumthema der Freiheit ist quantitativ (721 Wörter im 18. und 958 im 19. Jahrhundert) in den ersten beiden Teilkorpora dagegen viel näher beieinander. Die Bedeutungszunahme des Themas Krieg zeigt, dass hier regionale und nationale Auseinandersetzungen ins Zentrum rücken. Zu der Tatsache, dass das Kriegsthema hier so häufig aufgerufen wird, passt auch, dass Flucht/Zuflucht ein Thema ist, dass mit 289 Annotationen auf Platz sechs der Raumthemen steht. Deutlich an Bedeutung verliert das Thema des Krieges hingegen im 20. Jahrhundert. Hier umfasst es nur noch 380 Annotationen. Das überrascht zunächst, da das 20. Jahrhundert das Jahrhundert zweier Weltkriege war. Nun ist die Auswahl dieses Teilkorpus per Zufallsgenerator erfolgt und es sind tatsächlich – obwohl zumindest die Zeit des ersten Weltkriegs von den Veröffentlichungsdaten abgedeckt wird – keine zum Genre der Kriegsromane gehörigen Erzähltexte dabei. Die Zeit des zweiten Weltkriegs wird nicht abgedeckt, da die Werke nur weniger Autoren, die zu dieser Zeit und kurz danach veröffentlicht haben, bisher gemeinfrei und darum in digitalen Archiven zugänglich gemacht worden sind. Es ist also möglich, dass hier ein ganz anderer Eindruck entstünde, wenn dezidiert Kriegsliteratur mit aufgenommen worden wäre.Footnote 23 Doch auch in den Werken, die sich nicht explizit dem Thema Krieg widmen, zeigt sich das Thema insgesamt als bedeutend für die Raumdarstellung. Dass das Thema der Freiheit eine ähnliche Entwicklungslinie zeigt (mit 721 Annotationen im 18. Jahrhundert sehr präsent, dann im 19. Jahrhundert mit 958 Annotationen am häufigsten und dann mit abnehmender Tendenz zum 20. mit 572 Annotationen und 21. Jahrhundert mit 360 Annotationen), deutet darauf hin, dass die beiden Themen eng zusammenhängen. Denn gerade in Kriegszeiten (ebenso wie in Vor- oder Nachkriegszeiten) kann die Sehnsucht nach Freiheit präsent sein und gerade in Kriegszeiten ist auch Gefangenschaft häufig. Im Teilkorpus des 21. Jahrhunderts nehmen die Wörter, die zu den Themen Freiheit und Krieg beitragen, weiter ab. Trotzdem umfassen die Themen Freiheit (358) und Krieg (344) weiterhin die dritt- und viertmeisten Wörter der Raumthemen. Hier wirkt einerseits das Weltkriegsjahrhundert noch nach, auf der anderen Seite zeigen sich aber auch Tendenzen zur Globalisierung. Neben den Weltkriegen finden hier z. B. auch Krimkrieg und Koreakrieg Erwähnung. Die Bedeutung des Themas Flucht/Zuflucht nimmt aber im Teilkorpus des 21. Jahrhunderts ab.

Die beschriebenen Tendenzen und semantischen Verschiebungen zeigen sich auch, wenn die einzelnen Wörter, die in einem Teilkorpus der Kriegsthematik zugeordnet wurden, auf Grundlage ihrer jeweiligen Anzahlen in Form einfacher Wortwolken visualisiert und nebeneinandergestellt werden, wie in Abbildung 8.13.

Abbildung 8.13
figure 13

Wortwolken der Kriegsthematik in den vier Teilkorpora

Hier ist schnell ersichtlich, dass im zweiten Teilkorpus die meisten Wörter (Types) zur Thematik des Krieges beitragen. Aber auch qualitative Aspekte werden sichtbar. Im ersten Teilkorpus spielt der Türkenkrieg eine Rolle. Es geht um „Angriff"’, „Einfall“, „Belagerung“, „Untergang“ und „Zerstörung“. Aber auch von „Revolution“ ist die Rede. Neben vergleichsweise neutralen, beschreibenden Ausdrücken fallen hier negativ geprägte Wörter wie „Untergang“ besonders ins Auge. Das Vokabular des 19. Jahrhunderts scheint einerseits militärisch-beschreibender, andererseits positiver. Hier ist der „Kriegsrath“ als häufiges Wort erkennbar, ebenso wie „Kriegsherren“, „Kriegsschiff“ oder „Armee“. „Schlacht“, „Angriff“ und „Kampf“ sind ebenfalls besonders häufig erwähnt. Als positiv besetztes Wort fällt hier der „Sieg“ besonders auf. Im dritten Teilkorpus nimmt die Wortanzahl wieder sichtbar ab. Hier ist der Ausdruck „Angriff“ ausgesprochen häufig. Daneben stehen aber auch deutlich negativ konnotierte Wörter wie „Untergang“, „Rückzug“, „Greuel“ oder „Ausbruch“ unter den häufigsten Ausdrücken. Auch hier wird der „Angriff“ wieder vergleichsweise häufig erwähnt. Das Vokabular nimmt im 21. Jahrhundert wieder deutlich ab. Wieder werden „Angriff“ und „Schlacht“ häufig genannt. Daneben fallen negativ konnotierte Wörter besonders auf, wie z. B. „Untergang“, „Einfall“, „Kriegsgefangenschaft“ oder „Kriegsgebiet“. Wenn auch längst nicht so häufig wie im 19. Jahrhundert (15 Mal), so wird doch auch hier „Sieg“ als positiv konnotierter Begriff noch erwähnt (vier Mal). Außerdem tritt hier das Wort „Weltkrieg“ in den Vordergrund. Von einem eher negativ geprägten semantischen Feld entwickelt sich das Kriegsthema also im 19. Jahrhundert nicht nur zu einem in der Literatur häufig vorkommenden Raumthema, sondern auch zu einem vergleichsweise neutral beschriebenen und zum Teil sogar positiv konnotierten. Im 20. Jahrhundert gibt es sowohl positiv als auch negativ konnotierte Begriffe die häufig sind. Im 21. Jahrhundert schließlich ist das Kriegsthema dann eher eines, das negativ beschrieben wird. Hier zeichnet sich also nicht nur eine quantitative Besonderheit des 19. Jahrhunderts ab, man kann auch sehen, dass in diesem literarhistorischen Abschnitt das Kriegsthema am positivsten dargestellt wird.

2.3 Spezifika des dritten Teilkorpus (20. Jahrhundert)

Das dritte Teilkorpus weist bei den Raumbeschreibungen einen interessanten Peak auf. Hier ist erst- und einmalig das Adjektiv „deutsch“ (das hier im Anschluss an die automatische Annotation manuell lemmatisiert wurde) auf Platz fünf der häufigsten Raumbeschreibungen.Footnote 24 Im ersten Teilkorpus war es mit 235 Annotationen auf Platz elf, im zweiten mit 251 auf Platz zwölf und im vierten Teilkorpus mit nur noch 116 Annotationen auf Platz 19. Auch das semantische Umfeld der nationalstaatlichen Zuschreibungen zeigt interessante Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte.

Im 18. Jahrhundert werden vergleichsweise selten Nationalitäten genannt. Am häufigsten sind hier mit 235 Annotationen die Wörter, die sich auf das Lemma „deutsch“ rückführen lassen (betrachtet werden hier immer die ersten zehn Plätze nationalstaatlicher Raumbeschreibungen). Danach kommt mit 74 Annotationen „englisch“. Es folgen absteigend „italienisch“ (60), „griechisch“ (49), „französisch“ (35), „preußisch“ (16), „polnisch“ (12), „spanisch“ (7), „holländisch“ (6) und „russisch“ (6). Es ist ein sehr westlich-nachbarschaftliches Umfeld, das hier am häufigsten aufgerufen wird. Im 19. Jahrhundert ist überraschenderweise „englisch“ mit 320 Annotationen auf dem ersten Platz. Erst dann folgt mit 251 Annotationen „deutsch“. Dahinter stehen auf Platz drei bis zehn „griechisch“ (213), „französisch“ (190), „russisch“ (163), „polnisch“ (64), „italienisch“ (60), „orientalisch“ (39), „preußisch“ (38) und „türkisch“ (33). Nicht nur weitet sich das geographische Umfeld hier in Richtung Osten und Südosten deutlich aus, es fällt auch auf, dass die absoluten Zahlenwerte der zehn am häufigsten aufgerufenen nationalstaatlichen Zuordnungen viel höher sind als im ersten Teilkorpus. Dieser Faktor relativiert sich im dritten Teilkorpus wieder. Dafür steht hier, wie bereits erwähnt mit 342 Annotationen, „deutsch“ mit Abstand an erster Stelle. Mit 131 Annotationen liegt „englisch“ weit dahinter. Es folgen auf den Plätzen drei bis zehn „chinesisch“ (35), „amerikanisch“ (24), „französisch“ (23), „arabisch“ (21), „italienisch“ (16), „griechisch“ (15), „preußisch“ (14) und „russisch“ (9). Die quantitativ mit Abstand größte Bedeutung von „deutsch“ und die, im Vergleich zum 19. Jahrhundert, abnehmende Tendenz, andere Nationalitäten zu erwähnen, deutet darauf hin, dass das Nationalempfinden und Deutschtum, das im 20. Jahrhundert zu den beiden Weltkriegen führte, sich auch in der literarischen Raumdarstellung niederschlägt. Zwar ist auch hier wieder das geographische Feld, dass durch nationalstaatliche Zuschreibungen erwähnt wird, relativ groß (umfasst jetzt auch das fernöstliche China und mit „arabisch“ auch wieder nah-südöstliche Länder), die Annotationszahlen sind aber so gering, dass es sich dabei auch um Einzeltext- oder Textgruppen-Phänomene handeln kannFootnote 25. Das hier am häufigsten vorkommende länderspezifische Adjektiv „deutsch“ findet sich dagegen in 13 der 25 Romane in diesem Teilkorpus. Dass die vergleichsweise häufige Erwähnung von „deutsch“ tatsächlich ein Spezifikum des dritten Teilkorpus ist, zeigt abschließend auch der Vergleich mit dem vierten Teilkorpus. Hier ist „deutsch“ zwar auch wieder das häufigste Adjektiv, das auf eine Länderzugehörigkeit schließen lässt (die entweder über eine tatsächliche Zugehörigkeit zu einem Land aufgerufen wird oder aber einen Sprachraum betreffen kann, der indirekt aber auch wieder lokale Rückschlüsse erlaubt), allerdings wurde es insgesamt nur 116 Mal annotiert. Auf den Plätzen zwei bis zehn stehen hier „englisch“ (40), „amerikanisch“ (23), „italienisch“ (22) „arabisch“ (20), „griechisch“ (18), „französisch“ (13), „holländisch“ (12), „britisch“ (11), „chinesisch“ (8). Auch hier ist nicht nur eine Abnahme der Annotationen des Adjektivs „deutsch“ zu erkennen, sondern auch insgesamt eine Abnahme der mit Sprachen oder Staaten assoziierten Annotationen anderer Types. Dass in allen vier Korpora englisch immer von großer Bedeutung ist, liegt zum Teil auch daran, dass die englische Sprache als lingua franca im westlich-europäischen Raum so bedeutsam ist.

Mit niedrigeren Annotationszahlen müssen allerdings auch die Phänomene als weniger belastbar eingeordnet werden. Die zur Cross-Validierung durchgeführte Vergleichsanalyse mit einem nur um 1% Erkennungsgenauigkeit abweichendem Tool (bei dem im Trainingsprozess die Metaphern gelöscht wurden anstatt sie so zu klassifizieren als wären sie im eigentlichen Wortsinne gemeint) hat gezeigt, dass die Reihenfolge der ersten Plätze sich nicht verändert, dass es aber bei den unteren Plätzen mit einem leicht abweichend trainierten Tool hohe Schwankungen der Annotationszahlen und auch der Ränge im Gesamtgefüge der Annotationen gibt. Solche Abweichungen müssen mit einberechnet werden, wenn Methoden wie die in dieser Studie angewendete als Preprocessing eingesetzt werden. Sind sie Kernbestandteil der Studie, so können solche Bewegungen durch Analysen mit leicht abweichenden Versionen eines Tools gute Hinweise darauf geben, welche Beobachtungen sich als belastbar ergeben.

2.4 Spezifika des vierten Teilkorpus (21. Jahrhundert)

Das Teilkorpus des 21. Jahrhunderts weist die meisten Spezifika auf. Das liegt zum Teil daran, dass es zeitlich am weitesten vom zuerst betrachteten Teilkorpus des 18. Jahrhunderts entfernt ist, zum anderen spielt hier aber sicher auch der Faktor geringerer Kanonisierung mit herein. Die Texte des 21. Jahrhunderts sind zum großen Teil zu neu, um bereits zum literarischen Kanon zu gehören. Es handelt sich nur in wenigen Fällen um Werke, die bereits in der Literaturwissenschaft betrachtet wurden. Der geringere Korpus-Bias zeigt sich z. B. darin, dass im Teilkorpus des 21. Jahrhunderts auch Genres vertreten sind, die im Allgemeinen eher zur Unterhaltungsliteratur gezählt werden, wie z. B. Kriminalromane. Dadurch könnte es in diesem Teilkorpus zu einer größeren Vielfalt kommen, die sich auch auf die literarische Raumdarstellung auswirken kann.

Insgesamt sind vier Aspekte bei der Auswertung der Annotationsdaten aufgefallen: In diesem Teilkorpus werden erstens besonders viele unterschiedliche Heterotopien erwähnt. Zweitens ist die Leere ein besonders häufig auftauchendes Raumthema, dass sich auch in den Raumbeschreibungen niederschlägt. Inhaltlich sehr ähnlich wie das Raumthema der Leere sind drittens im Teilkorpus des 21. Jahrhunderts die relativ häufig vorkommenden Raumbeschreibungen der Fremde ausgestaltet. Viertens gibt es eine Auffälligkeit im Hinblick auf die Beschreibung von Figuren, die hier vergleichsweise oft als dünn oder dick klassifiziert werden. Diese vier Besonderheiten des literarischen Raumes im 21. Jahrhundert – die Heterotopien, die Themen der Leere und Fremde und die Klassifizierung von Figuren als „dick“ oder „dünn“ – werden im Folgenden kurz beleuchtet.

Darstellung von Heterotopien im Teilkorpus des 21. Jahrhunderts

Der Spiegel, der nach Foucault ein Zwischenraum von Utopie und Heterotopie ist (vgl. Foucault, 2005, 321 und Abschnitt 2.2.2 dieses Buches), steigt langsam über die Jahrhunderte auf eine immer höhere Position innerhalb des Gefüges der Raumthemen. Waren Spiegel im 18. Jahrhundert mit 144 Annotationen noch auf Platz zehn der Raumthemen, so stehen sie mit 139 Annotationen im 19. Jahrhundert auf Platz neun, im 20. Jahrhundert mit 115 Annotationen auf Platz sieben und mit 148 Annotationen im 21. Jahrhundert auf Platz sechs. Es gibt im 21. Jahrhundert aber nicht nur mehr Spiegel in der Literatur als zuvor, auch die heterotop organisierten Raumthemen der Bestattung und Aufführung (im theatralen Sinne) werden hier häufiger thematisiert als in den Jahrhunderten davor (eine Ausnahme bildet das 18. Jahrhundert, in dem sowohl die Thematik der Bestattung als auch der Aufführung auf ähnlichen Plätzen im Gefüge der Raumthemen stehen). Von 64 (19. Jahrhundert) über 45 (20. Jahrhundert) zu 70 Annotationen ist zwar keine große Veränderung, die Tendenz trägt aber zur allgemein häufigeren Erwähnung von Heterotopien bei. Bei Aufführungen ist interessant, dass sie zwar im 18. Jahrhundert relativ häufig (97 Annotationen) erwähnt werden, danach aber sehr viel seltener raumthematisch verarbeitet sind (18 Annotationen im 19., 15 im 20. Jahrhundert). Mit 49 Annotationen wird diese Heterotopie in der Gegenwartsliteratur wieder etwas bedeutsamer. Auch das ist nur ein leichter Trend, der aber dennoch das heterotope Gesamtarrangement stützt. Dass mehr heterotope Orte als Raumthemen annotiert wurden, zeigt, dass die Darstellung von Abweichungen hier an Bedeutung zunimmt. Ob Tod, Mienenspiel oder auch der Spiegel als realweltlicher Blick in eine utopische nicht-Welt, hier werden Räume thematisiert, die gesellschaftliche und individualpsychologische Konflikte aufgreifen, organisieren oder auf andere Weise eine Auseinandersetzung damit erlauben. Wenn Literatur heterotoper wird, so trägt sie auch selbst dazu bei, diese Art von Themen zu verarbeiten. Der literarische Raum bekommt hier also eine leicht heterotope Funktion, die quantitativ zwar nicht überwältigend ist, aber doch in den Annotationen der Raumthemen sichtbar wird.

Das Raumthema der Leere in der Literatur des 21. Jahrhunderts

Das Raumthema der Leere taucht in allen vier Teilkorpora als solches auf und klettert über die Jahrhunderte langsam nach oben in der Rangliste der häufigsten Raumthemen. Mit 36 Annotationen ist es im 18. Jahrhundert auf Platz 16, mit 16 im 19. Jahrhundert auf Platz 19. Im Teilkorpus des 20. Jahrhunderts kommt es mit 50 Annotationen auf den 12., im zeitgenössischen Teilkorpus mit 84 Annotationen auf Platz 10. Das ist zwar eine relative Zunahme der Bedeutung innerhalb der Raumthemen der Teilkorpora, aber die absoluten Zahlen sind nicht besonders beeindruckend. Allerdings haben wir hier einen potentiellen semantischen Unterschied zwischen dem Nomen „Leere“ und dem Adjektiv „leer“, der dazu führt, dass das Modell ersteres als Raumthema, letzteres als Raumbeschreibung erkennt. Der Raum-Classifier differenziert hingegen nicht zwischen einer raumthematischen Verwendung des Adjektivs „leer“ (denkbar wäre eine Wendung wie „der Raum wirkte leer auf sie, obwohl er es gar nicht war“) und einem raumbeschreibenden Gebrauch („die Tasse war leer“). Während der Analyse der Annotationsdaten hat sich gezeigt, dass hier ein Blick auf die Raumbeschreibungen lohnt. Sowohl auffallend als auch für das Teilkorpus des 21. Jahrhunderts typisch ist, dass hier „leer“ auf Platz 3 der am häufigsten als Raumbeschreibung annotierten Wörter steht. Ebenfalls bezeichnend ist der Vergleich mit der Anzahl der Annotationen der Wörter, die sich auf das Lemma „leer“ zurückführen lassen. Im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts betrifft das 230 Annotationen, im 19. Jahrhundert wurde 251 Mal „leer“ annotiert, im 20. Jahrhundert 265 und im 21. Jahrhundert schließlich mit 481 Annotationen beinahe doppelt so viel. Das liegt maßgeblich daran, dass die raumthematische Verwendung des Wortes „leer“ im 21. Jahrhundert im Vergleich zum 20. Jahrhundert zunimmt. Das Adjektiv „leer“ scheint immer dann von einer Raumbeschreibung zu einem Indikator für ein Raumthema zu werden, wenn es sich auf die Figuren bezieht. Das kann der Fall sein, wenn es entweder um innere Leere geht oder darum, dass der Raum um eine oder mehrere Figuren herum leer ist. Innere Leere ist vorhanden, wenn Figuren direkt als leer beschrieben werden (z. B. Zaimoglu Isabel „sie hatte sich leer geredet“) oder die für die Innenwelt oder deren Grenze zur Umgebung stehenden Körperteile Kopf, Herz und Augen entsprechend dargestellt werden (z. B. in Berg Vielen Dank für das Leben „Tom schaute leer“ oder in Mora Das Ungeheuer „Mein Herz war leer“ oder in Berg Vielen Dank für das Leben „Trotz im Blick, abgeprallt an leeren Augen“). Dass die äußere Leere häufig als beklemmend wahrgenommen wird, zeigt die nicht selten vorkommende Verknüpfung mit weiteren Adjektiven, wie z. B. in „wüst und leer war dieses Areal am Anhalter“ in Lange Müllers Böse Schafe. Zum Teil ist dieses Raumthema auch mit einem anderen verknüpft, nämlich mit dem der Einsamkeit (z. B. in der Passage „plötzlich empfindet sie, wie leer das Haus ist“ in Geiger Es geht uns gut oder in „das Bett neben mir ist leer, die Wohnung still wie ein Grab“ in Moosdorf Die Freundinnen). Doch auch wenn die beiden Themen eng miteinander verbunden sein können, wurden sie hier als zwei Einzelthemen beibehalten, denn die Leere steht häufig auch für eine gewisse Emotionslosigkeit oder aber eine negative emotionale Färbung, während Einsamkeit sowohl in negativer als auch in positiver Weise sehr emotional sein kann. Dass die Leere hier so eine Bedeutung erlangt, und das als emotionaler Zustand und damit eher als innenweltliches literarisches Raumthema, unterstützt die Tendenz des zunehmenden Erzählens von Privatem. Die Gefühlswelten der Figuren rücken in den Mittelpunkt. Dass diese emotionalen Räume nicht erfüllt, sondern eben leer sind, kann auf einen gewissen Zeitgeist hindeuten, in dem trotz oder gerade aufgrund von äußerer Fülle wie sie z. B. Globalisierungs- und Digitalisierungsphänomene mit sich bringen, keine innere Zufriedenheit erlangt werden kann.

Raumbeschreibungen der Fremde in der Literatur des 21. Jahrhunderts

Die Annotationen in der Kategorie der Raumbeschreibungen, die Worte umfassen, die sich auf das Lemma „fremd“ zurückführen lassen, zeigen zwar insgesamt eine abnehmende Tendenz vom 18. bis zum 21. Jahrhundert (mit einem leichten Peak im 19. Jahrhundert), aber es gibt hier zwei durchaus interessante und überraschende Phänomene. Im 20. Jahrhundert zeigt sich, dass eine Mehrzahl der insgesamt 369 Annotationen in einem einzigen Text vorkommen. Dieses Phänomen wird in Abschnitt 8.3 genauer beschrieben. Im 21. Jahrhundert zeigt sich hingegen eine inhaltliche Verschiebung. Hier wird zunehmend eine emotionale Entfremdung als „fremd“ bezeichnet.Footnote 26

Im Teilkorpus des 18. Jahrhunderts wird das Fremde entweder mit der Reisethematik, mit Figuren, einzelnen Körperteilen oder auch Besitzverhältnissen verknüpft. Auch in Metaphern kommt das Wort „fremd“ vor. Typisch für die Verbindung mit dem Raumthema der Reise sind Phrasen wie „fremde Gegend“ (z. B. in Wieland Geschichte des Agathon) oder „fremde Himmel“ (z. B. in Hölderlin Hyperion oder der Eremit in Griechenland). Figuren werden z. B. wie folgt beschrieben: „die fremde Frau da“ in Unger Julchen Grünthal oder „der fremde Fürst“ in Heinse Hildegard von Hohenthal. In Andreas Hartknopf von Moritz zeigt eine der Hauptfiguren genannt Knapp „über zwei fremde Gräber weg“; auf diese Weise wird hier das nicht-Eigentum ausgedrückt. Auffallend häufig sind Kombinationen von „fremd“ und Bezeichnungen einzelner Körperteile von Figuren, wie z. B. fremde Hand, fremdes Herz, fremder Kopf. Zu dieser Art Phrasen gehört auch die räumliche Metapher „in fremde Hände fallen / geraten“ bzw. „in fremden Händen sein“ für entführt oder gefangen werden. Bei diesem Ausdruck fällt allerdings auf, dass die gesamte Phrase zwar metaphorisch gebraucht wird, dass die Raumbeschreibung „fremd“ hier aber trotzdem auch als solche wirkt, da sie das nicht-Eigene und häufig auch räumlich andere impliziert. Der Ausdruck wirkt innerhalb der metaphorischen Phrase im Prinzip auf ähnliche Weise vieldeutig wie in einem nicht-metaphorischen Ausdruck (eine Tatsache, die an dieser Stelle noch einmal bestätigt, dass es sinnvoll sein kann, wie hier geschehen, räumliche Metaphern im Trainingsprozess in die übrigen Raumkategorien zu integrieren, statt sie als eigene Kategorie zu betrachten). Ein nahezu identisches Bild ergibt sich für das Teilkorpus des 19. Jahrhunderts. Auch hier werden meist fremde Gegenden, Figuren, auch mal Kleidungsstücke oder Pflanzen bezeichnet. Nahezu immer wird entweder ein Subjekt oder ein Objekt als fremd bezeichnet, seltener wird eine immaterielle Größe wie Macht als fremd bezeichnet. Emotionale Fremdheit spielt hier noch keine Rolle. Auch im Teilkorpus des 20. Jahrhunderts ist „fremd“ eine sehr häufige Raumbeschreibung. Mit 369 Annotationen steht es hier auf Platz fünf. Die inhaltlichen Konnotationen unterscheiden sich nicht sehr von denen des 18. und 19. Jahrhunderts. Die Vielfalt an immateriellen Größen, die mit diesem Ausdruck bezeichnet werden, nimmt etwas zu. Eine „fremde, unbegreifliche monströse Wirklichkeit“ kommt z. B. in Rilkes Malte vor. In Keyserlings Abendliche Häuser sieht eine Figur immer wieder das Gesicht einer anderen vor sich „mit den flackernden Augen und dem fremden Ausdrucke von Erregung und Qual“.

Ähnlich wie im Teilkorpus des 20. Jahrhunderts ist auch im vierten Teilkorpus das Wort „fremd“ relativ weit oben bei den am häufigsten annotierten Raumbeschreibungen dabei (Platz zehn). Die absolute Anzahl (209 Annotationen) und auch die Platzierung hat jedoch gegenüber den anderen drei Teilkorpora deutlich abgenommen. Und auch wenn hier ebenfalls wieder fremde Figuren (auch Blicke, Augen, Hände u. Ä.) und Gegenden oder auch Sprachen vorkommen, so fällt doch eine Kontextverschiebung auf. Häufig geht mit räumlicher Fremde auch emotionale Fremdheit oder Entfremdung einher. Figuren wirken auf ein Mal fremder („Der eigene Mann wird ihr immer fremder“ in Gruber Über Nacht) oder eine Figur, die einer anderen nahe stehen sollte, bleibt fremd („Mein krankes, fremdes, anderes Kind“ in Steinfests Allesforscher). Ebenfalls häufig sind fremde Straßen, Städte oder Welten. Wie zuvor schon, fällt auch hier wieder das Zusammenspiel von Innen- und Außenwelten auf. Das Gefühl, fremd zu sein, nicht dazuzugehören, wird aus einem räumlichen Kontext auf einen emotionalen übertragen. In der Passage „Monika. Minka. Minoka. Gleichzeitig vertraut und trotzdem so fremd, fremder, ferner Stern.“ aus Weins Lazyboy wird genau diese Übertragung des Empfindens emotionaler Fremde auf das räumlicher Fremde beschrieben. Auch in der Formulierung „Und wirklich denkt sie jetzt, während sie auf dem Marktplatz eines fremden Dorfes Münzen einsammelt – wäre sie noch einmal in die Bäckerei gegangen, so wäre sie geblieben und hätte den Steger-Sohn geheiratet, den älteren, dem vorne zwei Zähne fehlen.“ aus Kehlmanns Tyll steht die räumliche Fremde für das Ungewohnte, die Abweichung vom vorgezeichneten Lebensweg. Dass hier viel mehrdeutigere Implikationen als bloße Raumbeschreibungen vorliegen, machen die Beispiele sehr deutlich. Hierin liegt auch ein Grund dafür, dass die Annotationen der Raumbeschreibungen nur zu 60% in die Berechnung des Raumindexwertes (RIW) einfließen. Das Beispiel der Fremde zeigt darüber hinaus, dass die implizite Räumlichkeit von Beschreibungen über die Jahrhunderte nicht konstant sein muss, sondern dynamisch zu- oder abnehmen kann.

Dick oder dünn – Körperklassifizierungen und Schutzzonen in der Literatur des 21. Jahrhunderts

Eine weitere in diesem Teilkorpus relativ häufige Raumbeschreibung ist „dick“ (bzw. Variationen des Wortstamms) auf Platz fünf. Diese Häufung liegt zum Teil daran, dass in Kehlmanns Tyll eine Figur („der dicke Graf“) sehr häufig mit diesem Adjektiv aufgerufen wird. Genau 122 der insgesamt 408 Annotationen des Wortes „dick“ finden sich in diesem Roman. Die übrigen sind allerdings über das ganze Teilkorpus verteilt. In allen 25 Romanen wurde mindestens einmal dieses Wort als Raumbeschreibung annotiert. Es handelt sich also nicht um ein Einzeltextphänomen. Neben Figuren, die sehr häufig als dick beschrieben werden, wird der Ausdruck auch verwendet, um Schutz und / oder Komfort bis hin zum Überfluss zu implizieren. Dicke Decken, Kissen, Pullover und Mäntel kommen ebenso vor wie dicke (schützende) Glasscheiben und Eisdecken. Eine eingehende Prüfung hat ergeben, dass insgesamt 235 Mal in diesem Teilkorpus mit dem als Raumbeschreibung annotierten Wort „dick“ eine Figur beschrieben wurde.Footnote 27 Allein 105 Mal geschieht das in Kehlmanns Tyll. Für die anderen Romane bleiben also noch 130 Vorkommnisse. Davon werden 31 Mal einzelne Körperteile als „dick“ beschrieben. Mit insgesamt 251 annotierten Wörtern, die zu den Lemmata „dünn“ und „dürr“ gehören, sind diese Pendants zu dick ebenfalls häufig („dünn“ ist in diesem Teilkorpus auf Platz neun der am häufigsten annotierten Wörter). Betrachtet man auch diese Annotationen genauer, so ergibt sich ein überraschend ausgeglichenes Bild. Bei 90 der Annotationen des Ausdrucks „dünn“ handelt es sich um Beschreibungen einer Figur. Davon spezifizieren 25 einzelne Körperteile. Die Klassifizierung von Körpern, Körperteilen und Objekten in „dünn“ und „dick“ nimmt demnach nicht nur an Bedeutung zu. Es scheint im 21. Jahrhundert sogar einen Trend zur Binärklassifikation in diese Körperkategorien zu geben, bei der eine relative Ausgeglichenheit herrscht und „dicke“ Figuren nur ganz leicht überwiegen (von überdurchschnittlichem Gebrauch des Wortes „dick“ als Charakterisierung einer bestimmten Figur in einem einzelnen Roman einmal abgesehen).

Dieser Ansatz einer an quantitativen Beobachtungen orientierten Datenanalyse könnte nun noch weiter verfolgt werden, um genauere Körperbilder der Literatur des 21. Jahrhunderts zu beschreiben. Das ist aber nicht das Ziel dieser Studie, die anhand kurzer Beispielanalysen eher zeigen soll, dass die entwickelte und angewendete Methodik solche Einstiegspunkte in die Analyse bestimmter literarischer Motive und Ausgestaltungen bieten kann. Die Fülle der erhobenen Daten führt nicht unbedingt zu sehr genauen Interpretationen. Es zeigen sich aber viele Besonderheiten und Trends, die dann weiter untersucht werden können. Dazu bieten sich die hier beispielhaft gezeigten Unterklassifizierungen der Raum-Annotationskategorien oder auch die Betrachtung von einzelnen auffälligen Wörtern oder Wortgruppen an.

3 Perspektive: Einzeltexte

Unabhängig davon, ob digitale Methoden dazu genutzt werden, an analoge Ansätze anzuknüpfen oder ob ein explorativer Zugang gewählt wird, stellt sich eine Frage, die stets im Blick behalten werden sollte: Sind eventuelle Verzerrungen der Datenbasis durch dominante Einzeltextphänomene vorhanden? Auch im Kernkorpus dieser Studie ist ein solches Einzeltextphänomen aufgefallen, das in diesem Kapitel betrachtet wird, um zu zeigen, inwiefern solche Ausreißer die Analyse verzerren können. Der Schritt zurück von den Annotationen als „Raumbeschreibung“ in einem Teilkorpus zur thematischen Verankerung und auch Ausrichtung in einzelnen Texten wird hier mit Hilfe der Methodik des Topic Modeling vorgenommen. Die Ergebnisse dieser ergänzenden digitalen Methode dienen der Cross-Validierung der bei der Datenanalyse der Annotationen des Raum-Classifiers aufgestellten Thesen. Der betrachtete Beispielfall betrifft die Häufung der Raumbeschreibung „fremd“ in einem bedrohlich-negativen Kontext, die bei der Analyse des Teilkorpus des 20. Jahrhunderts zu Tage kam. Topic Modeling hat den Vorteil, dass durch die Gruppierung anderer Ausdrücke, die häufig mit Wörtern, die Fremde ausdrücken, zusammenstehen, nicht nur deutlich wird, dass ein Thema für ein Dokument von Bedeutung ist. Über die Zusammensetzung der Topics tritt außerdem hervor, welche Ausrichtung das Thema im Text hat. Die fokussierten Einzeltexte sind Heykings Tschun und Mays Im Lande des Mahdi I und II, betrachtet wird die thematische Konnotation des Raumthemas der Fremde.

Bedrohung vs. Exotik – Fremdheit in Heykings Tschun und Mays Im Lande des Mahdi I und II

Insgesamt wurden im Teilkorpus des 20. Jahrhunderts 369 Vorkommnisse des Wortes „fremd“ als Raumbeschreibung annotiert. Fast 1/3 davon (genauer 133 Annotationen) kommen in zwei Romanen von ein und derselben Autorin vor, nämlich in Heykings Tschun und Briefe, die ihn nicht erreichten. Bei der genaueren Betrachtung fallen zwei Dinge besonders auf. Im Vergleich zum Teilkorpus des 19. Jahrhunderts sind Wendungen wie „fremde Truppen“, „fremde Soldaten“ oder auch „fremde Teufel“ häufig. Diese kommen, von wenigen Ausnahmen abgesehen, nur in den bereits benannten Romanen von Heyking vor. Hier scheint das Thema der (bedrohlichen) Fremdheit eine Rolle zu spielen. Von den 369 Annotationen von „fremd“ stammen allein 110 aus dem Roman Tschun, weitere 23 aus Briefe, die ihn nie erreichten. Dass „fremd“ hier ein besonders häufiges Wort ist, das meist in engem Zusammenhang mit Wörtern wie China, chinesisch, Tschun, Kaiser, Kaiserin oder Peking steht, zeigt ein Topic-ModelingFootnote 28 des Teilkorpus (vgl. Abbildung 8.14).

Abbildung 8.14
figure 14

Topic Modeling des Teilkorpus 20. Jahrhundert: Das Topic „Tschun, fremd, \(\ldots \)“ ist ausschließlich für Heykings Romane von Bedeutung.

Sowohl „fremden“ als auch „fremde“ sind in einem Topic relativ weit vorne in der Wortliste, nämlich auf den Plätzen 2 und 57, was bedeutet, dass diese Wörter besonders häufig im Zusammenhang mit den anderen in dem Topic häufigsten Wörtern stehen. Diese Analyse zeigt auch, dass dieses Topic in den beiden bereits genannten Romanen von Heyking besonders präsent ist. Da Fremdheit für die anderen Topics des Korpus weniger bedeutsam ist (es kommt in drei weiteren Topics unter den ersten 100 Wörtern vor, allerdings nie mehr unter den ersten 50), scheint es sich hierbei tatsächlich um ein Ausreißer-Phänomen zu handeln. Die Thematik mag für die Romane Heykings zwar von großer Bedeutung sein, eine Verallgemeinerung auf das gesamte Teilkorpus oder gar die Annahme eines Trends der Literatur des 19. Jahrhunderts ist auf Basis dieser Daten aber vermessen. Bei einem genauen Blick auf das Topic Modeling des Korpus’ mag die Frage aufkommen, ob das Thema der Fremdheit nicht auch in den beiden Romanen von Karl May Im Lande des Mahdi I und II bedeutsam ist. Tatsächlich zeigt das Topic Model, dass es ein Karl-May-spezifisches Topic gibt (analog zum Heyking-Topic). In diesem Topic kommt aber kein Begriff vor, der Fremdheit explizit ausdrückt. Stattdessen sind hier ungewöhnliche und exotisch anmutende Namen besonders häufig. Auch „Kamele“ und „Wüste“ sind unter den ersten 100 Wörtern dieses Topics. Statt der Fremde bei Heyking haben wird hier eher Exotik als Thema etabliert. Der Sprung zurück in die Annotationsdaten in CATMA zeigt, dass das Wort „fremd“ zwar auch in Karl Mays Romanen vorkommt, aber immer zur Bezeichnung des „fremden Effendi“. Auch hiermit wird also Exotik erzeugt und weniger Bedrohlichkeit.

Die beispielhaft angeführten Analysen und Interpretationsansätze haben zwei Dinge deutlich gemacht. Es ist erstens zwar möglich mit Hilfe des Raum-Classifiers Einstiegspunkte in die Interpretation literarischen Raumes zu finden. Die Fülle an automatisch generierten Annotationen macht es zweitens jedoch schwer, allein auf Basis des sechs Kategorien umfassenden Raummodells ausführliche und abschließende Beschreibungen des literarischen Raumes im gesamten Kernkorpus zu erstellen. Häufig ist es Gewinn bringend, die Annotationen einer Kategorie weiter zusammen zu fassen und Unterkategorien zu finden. Die automatische Annotation mit Hilfe des Raum-Classifiers hat sich aber als eine Möglichkeit des Preprocessing für ein mittelgroßes, diachrones Kernkorpus erwiesen, die auf unterschiedlichen Ebenen Ansatzpunkte für die Analyse literarischen Raumes bietet. Auf Ebene des gesamten Korpus wurde sichtbar, dass der literarische Raum überwiegend relational dargestellt wird, dass die Verknüpfung von Innen- und Außenwelten große Bedeutung hat und dass ein Spannungsfeld zwischen dem Hier und dem Dort aufgebaut wird. Diachrone Entwicklungen, wie z. B. die zunehmende Schilderung von Privatheit, zeigten sich bei der vergleichenden Analyse der vier Teilkorpora. Als etwas weniger fruchtbar, aber auch möglich, hat sich der Versuch erwiesen, jahrhundertspezifische Phänomene in einem explorativen Zugang auszumachen. Nicht nur die Tendenz des mit Hilfe von Machine Learning trainierten Raum-Classifiers eher übergreifende Phänomene als neu auftretende zu erkennen, erschwert einen solchen Ansatz. Um Spezifika zu finden, muss immer erst eine Ausgangsmenge definiert werden. Bei einer diachronen Analyse wie der vorliegenden, führt die Perspektive dazu, dass die zuerst betrachteten Korpora als eine solche Norm-Menge wahrgenommen werden. Es ist perspektivbedingt schwieriger, darin Besonderheiten zu finden. Das zeigt sich auch in den in Abschnitt 8.2 angeführten Beispielen und zwar dadurch, dass für das Teilkorpus des 21. Jahrhunderts die meisten Besonderheiten ausgemacht werden konnten. Liegt der Fokus auf quantitativ heraustretenden Merkmalen eines Korpus, so ist es eher selten, dass Einzeltextphänomene zu Tage kommen. Dass dies aber mit der hier entwickelten Methodik auch passieren kann und darum auch berücksichtigt werden sollte, zeigt das als letztes angeführte Beispiel der Fremdheit in Heykings Tschun und Briefe die ihn nicht erreichten. Bei dieser letzten Beispielanalyse hat es sich als besonders gewinnbringend erwiesen, eine weitere digitale Methode zur Cross-Validierung zu nutzen. Mit Hilfe des Topic Modeling konnte nicht nur belegt werden, dass das Fremdheits-Topic sich auf Heykings Romane beschränkt, sondern auch, dass es ein zwar ähnliches aber gegenteilig, nämlich positiv, konnotiertes Topic in Mays Im Lande des Mahdi I und II gibt. Es gäbe noch eine Fülle von Phänomenen, die hier angeführt werden könnten, da sie sich in den Annotationsdaten finden. Da die hier beschriebenen Beispiele aber bereits sehr gut als Proof of Concepts dienen und zeigen, dass die Vorverarbeitung mit Hilfe des Raum-Classifiers auf allen drei Ebenen – der des gesamten Korpus, der der einzelnen Teilkorpora und der des Einzeltextes – für die Untersuchung literarischer Raumphänomene eingesetzt werden kann, wird hier darauf verzichtet, bloß der Vollständigkeit halber, weitere Beispiele anzuführen, die keine wesentlichen neuen Aspekte der Methodik aufzeigen.