Bis hierher wurde – abgesehen von ein paar wenigen konkreten Beispielen – abstrakt beschrieben, inwiefern Raumdarstellungen aus erzähltheoretischer Perspektive für Erzähltexte grundlegend sind. Um die Indikatoren narrativer Raumdarstellungen in Erzähltexten möglichst präzise erkennen und digital annotieren zu können, muss nun genau definiert werden, wie sich die unterschiedlichen Dimensionen des Raummodells im Text manifestieren können. Das Problem der metaphorisch verwendeten Raumausdrücke wird zwar im Modell selbst nicht abgebildet, muss aber berücksichtigt werden, um später bei der Messbarmachung von Raum in Erzähltexten wieder aufgegriffen (und gelöst) werden zu können. Für die sechs Kategorien von Indikatoren narrativen Raumes und für Raummetaphern werden darum in diesem Kapitel ausführliche Annotationsguidelines vorgestellt, die mithilfe der Best-Practice-Empfehlungen von Reiter (2020) erstellt wurden. Die Definitionen werden von literaturwissenschaftlichen Raumbegriffsbestimmungen gestützt oder von diesen abgegrenzt. Bei der Beschreibung der Kategorien wird jeweils eine Zugehörigkeitsbestimmung zu einem engen, weiten oder metaphorischen Raumbegriff vorgenommen. Das Kategoriensystem kann in Form eines Annotationstagsets nachgenutzt werden und wird im diese Arbeit ergänzenden GitHub-Repository als CATMA-Tagset OpenSource zur Verfügung gestelltFootnote 1 .

FormalPara Annotationseinheiten:

Annotiert wird immer die kleinste mögliche Referenz auf ein Raum-Phänomen. Dies ist in der Regel ein Wort. In seltenen Fällen kann mehr als ein Wort annotiert werden. Besteht z. B. aufgrund der Position im Satz eine Trennung eines relationalen Verbs in zwei Worte, so werden beide als relationales Verb annotiert. Dasselbe gilt, wenn ein Ortsname aus zwei Wörtern besteht, wie z. B. „New York“. Eine Ausnahme-Kategorie ist die der Raummetaphern. Diese bestehen vergleichsweise selten nur aus einem Wort (obwohl auch das möglich ist, z. B. wenn von der Größe einer Person gesprochen wird, damit aber nicht die Körpergröße, sondern eher die Güte gemeint ist). Meistens bestehen Metaphern, die Analogien zu Räumen nutzen, aus mehreren Wörtern und bilden kurze bis mittellange Phrasen. Nicht selten werden sie über einen ganzen Satz oder gar mehrere Sätze entwickelt. In diesem Fall werden alle zum Satzteil, Satz oder den Sätzen gehörenden Wörter als Teil der Raummetapher annotiert.

1 Orte

Grundsätzlich verstehe ich als Ort alles, was als fester, unbeweglicher Punkt oder als feste, unbewegliche Größe beliebiger Ausdehnung innerhalb der Topologie der storyworld identifiziert werden kann. Diese für diese Studie letztgültige Definition von Ort baut auf der im ersten Teil dieser Arbeit angenommenen Unterscheidung von Ort und Raum nach Descartes auf und verbindet diese mit literaturwissenschaftlichen insbesondere narratologischen Aspekten, die die Operationalisierung für Erzähltexte ermöglichen. Indikatoren dafür auf Wortebene sind Ortsnamen, (objektive, d. h. subjektunabhängige) Richtungsangaben und positionsangebende Adverbien. Auch in Unbestimmtheitsfällen können Orte impliziert werden. Leerstellen und nicht-Orte werden dagegen nicht zur Kategorie der Orte klassifiziert.

Das Aufrufen von Ortsnamen, wie Piatti es z. B. im Zusammenhang mit „ready-made-settings“ erwähnt (Piatti, 2008, 232), ist die wohl expliziteste Erwähnung von Raum in Erzähltexten. Dennerlein hat detailliert herausgearbeitet, dass diese expliziten Ortsreferenzen über Eigennamen, Toponymika und Gattungsbezeichnungen funktionieren (Dennerlein, 2009, 77)Footnote 2. Die philosophischen Betrachtungen in Abschnitt 2.3 haben gezeigt, dass Richtungen (oben, unten, Himmel, Erde, Norden, Osten, Westen und Süden) ebenfalls als konkrete Ortsreferenzen fungieren können, wenn sie objektiv, im Sinne von subjektunabhängig, gemeint sind. Aus Genettes Ausführungen zu „Wirklichkeitseffekten“ (Genette und Knop, 1998, 118) lässt sich schlussfolgern, dass Raum zum Teil besonders detailliert beschrieben wird. Anhand seines Beispiels der „Ufer des vieltosenden Meeres“ (Genette und Knop, 1998, 118) wird deutlich, dass diese detaillierte Beschreibung mit einer Häufung von Ortsnennungen einhergehen kann. „Ufer“ und „Meeres“ stehen hier als zwei Gattungsbezeichnungen nach Dennerlein (s. o.), die aber nur einen Ort (detailliert) beschreiben. Doch Orte können nicht nur explizit aufgerufen werden. Sie können auch die Form von Unbestimmtheitsstellen und Leerstellen (Piatti, 2008, 158–161) annehmen. Unbestimmtheitsstellen können durch die lesende Person gefüllt werden, z. B. wenn zu einem späteren Zeitpunkt in einer Erzählung der unbestimmte Raum konkretisiert wird (Piatti, 2008, 158–161). Auch Raumdarstellungen mit mehreren impliziten Hinweisen auf einen Ort können von Rezipierenden erfasst werden. Viehhauser (2020, 374) nennt als Beispiel den Satz „Ich erwachte und blickte der Ärztin ins Gesicht“, in dem Lesende sofort das implizierte Krankenzimmer, evtl. auch ein Krankenhaus erkennen, das aber unbenannt bleibt. Unbestimmtheitsstellen können sich aber auf Ebene des Textes, z. B. in Beschreibungen oder Gattungsbezeichnungen wiederfinden, die lediglich später und nicht als erste Referenz auf einen Ort genannt werden (in Viehhausers Beispiel könnten Krankenzimmer und / oder Krankenhaus demnach in einem anderen Satz innerhalb der Erzählung direkt benannt werden), oder können über andere Kategorien literarischer Raumdarstellung erfasst werden (in Viehhausers Beispiel würden z. B. der Blick und das Gesicht der Ärztin als Raumhinweise erkannt und das Wort „ins“ als Relation, es gibt also in dem Beispielsatz eine Reihe von Rauminformationen, auch wenn das raumthematisch wirkende „Krankenzimmer“ unerwähnt bleibt). Auch in Fällen von Unbestimmtheiten können sich also Rauminformationen finden, die Teil des Raummodells sind. Leerstellen bleiben hingegen leer, können aber trotzdem von Bedeutung für Erzählungen sein, da sie z. B. Sprünge in der Handlung kennzeichnen können (Piatti, 2008, 158–161). Bei Leerstellen geht es aber gerade darum, dass sie nicht im Text auffindbar sind. Sie können also auch nicht in der mentalen (Re-)Konstruktion des konkreten Raumes der storyworld beim Lesen integriert werden. Sie bleiben aus diesem Grund im Modell literarischen Raumes unberücksichtigt. Das gleiche gilt für nicht-Orte wie z. B. „nirgends“.

Definition 4.1

Orte sind konkret lokalisierbare Einheiten. Sie stehen fest und relativ unveränderbar an einer Position, die in einem geographischen Koordinatensystem lokalisiert werden könnte. Häuser, Zimmer, Berge, Landschaften u. Ä. werden als Orte verstanden und annotiert. Als Orte werden i. d. R. ein bis drei Wörter annotiert, meistens handelt es sich um Nomen.

Beispiele:

  • Er ging auf die Bergspitze

  • Sie stand im Zimmer

  • Sie wohnten in New York City

2 Räumliche Relationen

Indikatoren der Darstellung von räumlichen Relationen fallen in zwei Kategorien – Relationen und relationale Verben. Von besonderer Bedeutung sowohl für die Nennung von Orten als auch für die räumlichen Relationen sind die Äußerungen der Erzählinstanz und deren Perspektive. Schmid (2014, 121 ff) beschreibt in seinem Perspektivmodell Raum als einen von fünf Parametern:

Die räumliche Perspektive wird konstituiert durch den Ort, von dem aus das Geschehen wahrgenommen wird, mit den Restriktionen des Gesichtsfelds, die sich aus diesem Standpunkt ergeben. Der Begriff der räumlichen Perspektive erfüllt als einziger der Termini, die einen Bezug des Erfassens und Darstellens auf ein Subjekt ausdrücken, die Intension von Perspektive oder point of view [Hervorhebungen im Original, Anm. MKS] im eigentlichen, ursprünglichen Sinne des Wortes. Alle anderen Verwendungen des Perspektivbegriffs sind mehr oder weniger metaphorisch. (Schmid, 2014, 123)

Ein Erzähler kann die gesamte storyworld kennen und den Lesenden in einer Art Draufsicht mit all seinen konkreten Orten und deren Relationen zueinander präsentieren, Ryan et al. sprechen (ähnlich wie de Certeau s. Abschnitt 2.3.3) vom „Map-View“ und entwickeln damit Stanzels Begriff der „Perspektivierung“ weiter (vgl. Ryan et al., 2016, 6 und 39). Oder die Erzählinstanz kann sich mit den Figuren und damit figurenähnlich durch den Raum bewegen. In diesem Falle kann sie das Gesamtgefüge entweder kennen und wie in einer Tour („Tour-View“ nach Ryan et al., 2016, 7 und 27) durch den Raum präsentieren oder diesen ebenso lückenhaft und vielleicht sogar unstimmig wiedergeben wie Stanzel (Stanzel, 2008, 159–161) es für seinen Begriff der „Aperspektivierung“ beschreibt. Konkret werden diese räumlichen Relationen, die häufig in der Erzählerrede enthalten sind, entweder durch Ausdrücke bezeichnet, die die Relation als solche bezeichnen oder durch Verben, die Relationen oder Veränderungen dieser implizieren können. Relationen können z. B. durch deiktische Ortsangaben bezeichnet werden. Dazu gehören Ausdrücke wie „zwischen“, „links von“ usw. (Dennerlein, 2009, 209). Auch implizite Informationen über Relationen sind möglich, z. B. in Form von Präpositionalphrasen. Relationale Verben sind Verben der Bewegung wie „kommen“, „gehen“, „rennen“, aber auch Verben der Wahrnehmung wie z. B. „sehen“ oder „hören“, die nach Husserl Sicht- und Hörachsen bezeichnen, die Informationen über den Raum enthalten (vgl. Abschnitt 2.3).

2.1 Relationen

Definition 4.2

Als Relationen werden Beziehungen zwischen mindestens zwei Orten, Figuren oder Objekten verstanden. Mindestens einer bzw. eine oder eines dieser beiden Orte, Figuren oder Objekte muss Erwähnung finden, damit etwas als Relation annotiert wird. Annotiert wird allerdings nur das Wort, das für die Beziehung steht. Häufig werden Relationen in Form von Deiktika ausgedrückt. Auch Nomen, die für eine Relation per se stehen, wie z. B. „Distanz“, werden als Relation annotiert. Es handelt sich überwiegend um ein-Wort-Annotationen.

Beispiele:

  • Sie stand auf dem Dach.

  • Dieser Kirchturm war viel höher.

  • Zwischen ihnen gab es viele Missverständnisse.

2.2 Relationale Verben

Definition 4.3

Als relationale Verben werden alle Bewegungsverben, Verben der Wahrnehmung und sonstige Verben, die ausdrücken, dass sich Relationen verändern, annotiert. Sind diese Verben mit Deiktika verbunden, wie z. B. bei „weggehen“, so werden im Falle einer satzbedingten Auseinanderschreibung (z. B. „sie ging weg“) beide zum Verb gehörigen Teile annotiert. Neben expliziten Richtungsverben werden auch alle Ausdrücke als relational interpretiert, die eine Relation implizieren. Dazu gehört z. B. „aussehen“, da der Blick einer Person hier auf eine andere fällt oder „rufen“, da eine Distanz überwunden wird. Relationale Verben werden nicht als solche annotiert, wenn sie zu einem Raumthema gehören. Nicht als relationales Verb annotiert wird z. B. „um nach ** zurückzureisen“, stattdessen wird „zurückzureisen“ hier als Raumthema annotiert.

Beispiele:

  • Er ging in die Natur.

  • Wir kamen überein, uns nicht voneinander zu trennen.

3 Hinweise auf den Raum

In der Literaturwissenschaft werden eine Reihe von Möglichkeiten beschrieben, um implizit auf den Raum hinzuweisen: Über die Wahrnehmung von Figuren, deren Positionierung, deren Bewegungen, die Erwähnung körperlicher Details und die Benennung von Objekten. Sowohl Erzähltheoretiker*innen (vgl. z. B. Hoffmann, 1978, 3–6; Bal and van Boheemen-Saaf, 1985, 136; Dennerlein, 2009, 150–160) als auch Tuan als Geograph weisen darauf hin, dass Raum nicht nur eine physikalische, sondern auch eine Wahrnehmungskategorie ist (Tuan, 1979, 34–35), was im Umkehrschluss bedeutet, dass die Raumwahrnehmung (sei sie nun optisch, auditiv oder taktil) von Figuren oder der Erzählinstanz Hinweise auf den Raum geben kann. Hört eine Figur oder eine Erzählinstanz in einem Roman Kirchenglocken, so bedeutet dies eine relative Nähe („Hörweite“) zur Kirche. Diese Art von Rückschlüssen auf die Position einer Wahrnehmungsinstanz kann ungefähr sein, wie im vorangehenden Beispiel oder sehr konkret wie in einem von Dennerlein angeführten Beispiel, in dem die optische Perspektive einer Figur im stream of consciousness eine ziemlich genaue Positionierung zulässt (Dennerlein, 2009, 150). Nach Husserl (s. Abschnitt 2.3.2) ist es vor allem die Ebene der Sichtachsen, die Hinweise auf den Raum gibt. Erwähnungen von Augen und Blicken tragen also auch dazu bei, dass etwas über den Raum erzählt wird. Neben der Wahrnehmung (die Rückschlüsse auf die Position einer Figur zulässt) ist die explizite Positionierung von Figuren eine wichtige räumliche Komponente, da Figuren eine räumliche Körperlichkeit besitzen und sie ein wichtiger Bezugspunkt im System des relationalen Raumgefüges sind (Ryan et al., 2016, 6). Auch die Einstellungen, Handlungen, Aussagen (Nünning et al., 2004, 49) und Bewegungen (Bal and van Boheemen-Saaf, 1985, 140) von Figuren können Hinweise auf den Raum geben. Sowohl den Ausführungen Husserls zur Verortung von Gefühlen in einem Ich-Ding oder Ichleib (Husserl, 1991, 162), als auch der Idee vom Raum als res extensa (Descartes, 2007, 91,93 und 95) und letztendlich auch der Betonung des menschlichen Körpers als Wahrnehmungsinstanz von Raum (s. o.) folgend, wird die Darstellung körperlicher Aspekte von Figuren auch darauf geprüft, ob sie Hinweise auf Raum enthält. Das bedeutet, dass das gesamte Wortumfeld von Figurennennungen, insbesondere Darstellungen sinnlicher Wahrnehmung, für die literarische Darstellung von Raum von Bedeutung sein kann. Butor stellt fest, dass auch die Nennung bestimmter Möbel oder Gegenstände Hinweise auf den Raum geben können. Er nennt diese Art räumlicher Kategorisierung „Dekor“ (Butor, 1968, 83–84).

Definition 4.4

Als Raumhinweise werden Ausdrücke annotiert, die zwar Informationen zum Raum geben, die aber keine eindeutige Aussage darüber machen, welcher geographische Raum oder welche räumliche Ausdehnung genau gemeint ist. Als Raumhinweise werden zum Beispiel Möbelstücke annotiert. Maßeinheiten wie Meter, Meilen u. Ä. geben ebenfalls Raumhinweise, da sie zwar eine genaue Länge angeben, nicht aber zwingend enthalten, wo sich diese (geographisch) erstreckt. Auch physische Merkmale wie Körperteile werden als Raumhinweise interpretiert. Der Kopf sitzt z. B. immer relativ weit oben, ist aber natürlich beweglich, die Hand ist häufig ein Raum-überbrückendes Element (z. B. beim Hände Reichen oder Greifen von Dingen) usw. Den in Abschnitt 2.3.2 beschriebenen Betrachtungen Husserls folgend, werden als Raumhinweise auch vage Verortungen im Innern von Figuren annotiert. Ebenfalls zurückgreifend auf die Dingvorlesung Husserls können auch Blicke, Geräusche und Ertastetes Hinweise auf den Raum geben. Darüber hinaus werden auch Ausdrücke als Raumhinweise gewertet, die nur vage Rauminformationen enthalten, wie z. B. die Wendung „in seinem Blickfeld“. Die Kategorie „Raumhinweis“ ist sehr weit gefasst und gehört zu einem sehr weiten Raumbegriff.

Beispiele:

  • Sie verloren sich im Gedränge.

  • Sein Blick fiel auf den Kirchturm.

  • Sie waren viele Meilen gegangen.

4 Raumbeschreibungen

Zum „Dekor“ nach Butor gehören aber nicht nur Objekte, sondern auch deren adjektivische Beschreibungen (Butor, 1968, 83–84). Solche Raumbeschreibungen können nicht für sich allein stehen, sondern beschreiben immer ein Objekt in seiner Räumlichkeit. Raumbeschreibungen wie z. B. „glatt“ oder „klein“ weisen relativ explizit auf Raumdarstellungen hin. Raumbeschreibungen können aber auch zu den impliziten Indikatoren narrativer Raumdarstellung gehören. Das Adjektiv „stark“ wie in „mit starkem Arm“ weist z. B. implizit darauf hin, dass der beschriebene Arm recht muskulös ist und darum im Vergleich zu anderen Armen mehr Raum einnimmt (vgl. Chatman, 1993, 102 und Abschnitt 2.2.3).

Definition 4.5

Als Raumbeschreibung werden Adjektive annotiert, die entweder Räume beschreiben oder in einer Beschreibung eine räumliche Verknüpfung implizieren. Nicht als Raumbeschreibung annotiert werden beschreibende Ausdrücke, die Verbformen, wie z. B. das Gerundium nutzen. Diese werden als relationale Verben annotiert, wie z. B. bei „das geschwungene Dach“. Raumbeschreibungen können mehr oder weniger explizit ausgedrückt werden, sodass die Kategorie mehr Ausdrücke umfasst als ein enger Raumbegriff einschließen würde. Die Kategorie Raumbeschreibung gehört darum zu einem erweiterten (aber nicht unbedingt sehr weiten) Raumbegriff.

Beispiele:

  • Es war ein großes Zimmer.

  • Das italienische Kraut.

  • Sie war von schmaler Gestalt.

5 Raumthemen

Die kulturelle Codierung von Räumen kann zur metaphorischen Nutzung von Raumbegriffen führen. Darum wurden literaturwissenschaftliche Ansätze, die diesen Aspekt mit einbeziehen vielfach als metaphorische Raumdeutung bezeichnet (s. Abschnitt 2.2.1). Allerdings unterscheiden z. B. Ryan et al. zwischen einer rein metaphorischen Nutzung von Raumbegriffen und einer semantischen Verwendung, bei der der Bezug zu konkreten Räumen erhalten bleibe (Ryan et al., 2016, 17). Durch literarische Konventionen, die z. B. an ein Genre geknüpft sein können, werden bestimmte Raumausdrücke zu thematischen Symbolen. So stehe im Märchen z. B. das Schloss für Macht, in Sagen der Berg für das Heim des Göttlichen (Ryan et al., 2016, 37). Bal nennt diese literarischen Raumsymbole „Topoi“ (Bal and van Boheemen-Saaf, 1985, 141)Footnote 3. Die Symbolik wird interpretativ bzw. in den Beispielfällen durch Genrewissen erkannt. Nach Lotman gibt es Topoi, die für narrative Texte von besonderer Bedeutung sind, dazu gehört die Grenze (Lotman, 1973, 328–329). Für die Beschreibung von Grenzen sind Nennungen bestimmter Objekte von besonderer Bedeutung, wie z. B. Fenster, Türen und Treppen (Hoffmann, 1978, 470–474). Fahrzeuge sind weitere Raumsymbole, da sie das literarische Reisemotiv unterstützen (Hoffmann, 1978, 470–474). Vom 18. Jahrhundert an gewinnt die Stadt als literarisches Raumsymbol an Bedeutung (Hoffmann, 1978, 388). Auch Erinnerungsräume (zu Erinnerungsräumen in der Literatur vgl. Bal and van Boheemen-Saaf, 1985, 140) wie z. B. Friedhöfe, die mit Trauer assoziiert werden, können als Raumsymbole in Erzähltexten fungieren. Hier überschneidet sich das Konzept des Erinnerungsraum mit dem der Heterotopien von Foucault (s. Abschnitt 2.2.2). Heterotope Räume werden ebenfalls als den Raumthemen zugehörig interpretiert. Sowohl bei Erinnerungsräumen als auch bei Heterotopien entsteht die semantische Ebene nicht allein durch literarische Konventionen, sondern durch eine nicht oder höchstens zum Teil literarische sozio-kulturelle Prägung. Der Begriff des Raumthemas soll hier also auch für semantisch aufgeladene Räume, die ihre Bedeutung im außerliterarischen Zusammenhang bekommen, verwendet werden. Raumthemen werden in literarischen Texten immer wieder aufgerufen und sind dadurch so stark konventionalisiert, dass sie intersubjektiv zugänglich sind und ohne intensive Interpretationsleistung wiedererkannt werden können (wird z. B. erwähnt, dass eine Figur sich im Zug befindet, so wird geradezu reflexartig das Raumthema der Reise aufgerufen, wird ein Sarg genannt, so steht dies in engem Zusammenhang mit dem heterotopen Raum des Friedhofs). Werden sie vom Rezipierenden nicht als Raumthemen erkannt, so können sie trotzdem innerhalb der storyworld eine raumthematische Funktion einnehmen (wie z. B. der Fall bei Wörtern wie „Tür“, „Fenster“, „Wand“, die zum semantischen Feld des Raumthemas der Grenze gehören und für ein System der Öffnung und Schließung stehen). Das Aufrufen komplexer Topoi kann über simple Ortsnennungen funktionieren; die Erwähnung einer Nerven- und Heilanstalt ruft z. B. die Assoziation eines geschlossenen Raumes mit festgelegten Verhaltensmustern auf (Dennerlein, 2009, 178–189). Nünning und Nünning weisen darauf hin, dass diese semantischen Zuschreibungen vor allem, wenn sie sich auf vage Räume beziehen (z. B. Natur oder Heimat), keinesfalls immer gleichen Inhalts sein müssen (Nünning et al., 2004, 50–51). Hofmann schlägt eine Skala vor, die von geschlossener Raumsymbolik bis zur offenen Raumsymbolik reicht (Hoffmann, 1978, 319). Er benennt zehn Kategorien von Raumsymbolen, die unterschiedlich offen bzw. geschlossen sind (Hoffmann, 1978, 320–327). Wie in Abschnitt 2.2.1 bereits ausgeführt, hat Hofmann auch betont, dass Raumsymbolik dynamisch ist und sich innerhalb eines Textes wandeln kann. Das bedeutet auch, dass sie vom intratextuellen Kontext abhängig ist oder zumindest sein kann. Neben Topoi und Raumsymbolen können auch raumzeitliche Symbole für Raumthemen von Bedeutung sein. Dazu gehört z. B. die Uhr (Hoffmann, 1978, 368). Literaturgeschichtlich gibt es außerdem bestimmte prototypische Raumstrukturen, die mit konkreten Themen verknüpft sind, wie z. B. der Inselraum (Dennerlein, 2009, 189–192).

Definition 4.6

In die Kategorie Raumthema fallen Ausdrücke, die zu einem in der Literaturwissenschaft ausgemachten, vom Raum geprägten, Motiv beitragen. Unter dem Begriff Raumthema sind räumliche Motive wie das von Lotman als besonders wichtig hervorgehobene Grenzmotiv, zu dem auch Elemente der Öffnung und Schließung wie Türen, Fenster und Treppen gehören, Bachtins Chronotopoi wie der Reisetopos und Foucaults Heterotopien wie Begräbnisstätten, Feste und Schiffe zusammengefasst. Einzelräume wie Heterotopien gehen zum Teil in größeren Raumthemen auf. So werden z. B. nicht nur die als heterotop klassifizierten Schiffe als Raumthema annotiert, sondern alle Fahrzeuge und Fortbewegungsmittel. Annotiert wird in der Regel ein Wort, das den Bezug zum Raumthema herstellt. Die Raumthemen sind manchmal an konkrete räumliche Elemente gebunden, zum Teil aber auch abstrakter, wie z. B. das Thema der Freiheit. Da in jedem Fall die räumliche Thematik auf einen anderen Bedeutungszusammenhang übertragen wird, der z. B. eher emotional oder auch zeithistorisch bedeutsam ist, gehören Raumthemen zu einem weiten Raumbegriff. Raumthemen haben zum Teil eine metaphorische Bedeutungsebene (z. B. kann die äußere, physische Grenze für eine innere Begrenztheit stehen), sie sind aber meistens an physische Elemente geknüpft. In jedem Fall bietet sich eine Unterkategorisierung in einzelne Raumthemen für einen weiteren Schritt im Analyseprozess an.

Beispiele:

  • Sie kam an eine Tür, zögerte aber, sie zu öffnen.

  • Er betrat das Schiff und segelte davon.

  • Sie mussten sie allzu früh begraben.

6 Annotation von Raummetaphern

Bisher wurde die Raummetaphorik nur am Rande erwähnt, da Ausdrücke ohne Bezug zum konkreten Raum nicht im Zentrum der Betrachtungen stehen. Um einschätzen zu können, inwiefern Metaphern ein Störfaktor der angewendeten digitalen Methodik sind (vgl. Schumacher, 2022) und wie sie in der Analyse berücksichtigt werden müssen bzw. können, ist es aber wichtig, an dieser Stelle festzuhalten, wie Metaphern hier verstanden werden. Die Besonderheit von Metaphern liegt darin, dass sie eine Referenzbeziehung herstellen, die nicht allein zwischen Wort und Objekt besteht, sondern eine weitere Größe einbezieht. Diese dritte Größe ist durch Ähnlichkeit mit den beiden ersten verbunden. Es entsteht also eine Dreiecksbeziehung zwischen Wort, Objekt und Ähnlichem (Wenz, 1997, 32). Nun können Metaphern sowohl als rein sprachliche Stilmittel betrachtet werden oder als prägende Ausdrücke menschlichen Handelns (vgl. Wenz, 1997, 33 und Blumenberg, 1971, 213). Unter der letzteren Prämisse werden Metaphern nicht als einzelne Ausdrücke betrachtet. Stattdessen bündeln Vertreter der kognitiven Metapherntheorie wie Lakoff und Johnson mehrere Ausdrücke zu Metapherngruppen oder -systemen, die alle auf eine Kernmetapher zurückgeführt werden können (Lakoff, 1998, 9). Diese Systeme zeigen nicht nur kulturelle Bedeutungen (Lakoff, 1998, 15) auf, sondern wirken auch auf das Alltagsleben, Wahrnehmen und Handeln von Menschen ein (Wenz, 1997, 33). Blumenberg entwickelte eine wissenschaftliche Analysemethode, die sich hauptsächlich auf Metaphern konzentriert, die Metaphorologie (Blumenberg et al., 2013, 16–17). Auch Blumenberg geht davon aus, dass die Nutzung bestimmter Metaphern im zeithistorischen Kontext, auf Denksysteme, Wahrnehmung und Verstehen der Menschen verweist (Blumenberg et al., 2013, 14). Andersherum wirken sich stark genutzte Metaphern auf die Denksysteme und schließlich auch die Lebenswelt der Menschen aus; es gibt also eine Wechselwirkung zwischen Metaphorik, die genutzt wird, um Denksysteme zu beschreiben, und der Nutzung von Metaphern und diesen Denksystemen selbst (Blumenberg und Haverkamp, 2001, 195).

Dass die Wahrnehmung des Raumes eine essentielle menschliche Erfahrung ist, spiegelt sich auch darin wider, dass es eine große Anzahl von Raummetaphern gibt (Wenz, 1997, 33). In gegenständlichen Kontexten – wie auch der Untersuchungsbereich dieser Analyse einer ist – sind Metaphern allerdings ein Störfall (Blumenberg und Haverkamp, 2001, 194), da sie für das „Uneigentliche“ stehen (Blumenberg et al., 2013, 14), also für etwas, das in der Sprache nicht direkt gesagt wird.

In Abschnitt 2.1 wurde bereits festgehalten, dass räumliche Metaphern, die keinerlei Referenz auf Rauminformationen beinhalten, im entwickelten Modell keine Rolle spielen. Problematisch daran ist, dass räumliche Metaphern, die z. B. Ortsnamen einschließen, nicht von einer automatischen Erkennung ausgeschlossen werden können. Würde es z. B. in einem Erzähltext heißen, jemand trage Eulen nach Athen, so wäre es für eine Software nicht möglich zu erkennen, dass der Raumausdruck „Athen“ hier nicht wörtlich gemeint istFootnote 4. Das Wort selbst, die grammatische Konstruktion des Satzes, vorangehende und nachgestellte Wörter – all das trägt dazu bei, dass trainierte Algorithmen „Athen“ hier eindeutig als Ort erkennen würden. Nur durch die Konventionalisierung dieser Raummetapher wissen Lesende hingegen sofort, dass der fiktive Charakter sich nicht mit Eulen beladen auf den Weg nach Athen macht. Diese Uneigentlichkeit der Metaphern ist es, die für diese Studie am problematischsten ist. Da bisher keine Verfahren zur automatischen Erkennung und damit auch kein automatischer Ausschluss von räumlichen Metaphern in deutschsprachigen Erzähltexten entwickelt wurde, konnten Metaphern als Störfaktor bei der Analyse nicht komplett ausgeschlossen werden. Die Tests des Raumerkennungstools haben aber gezeigt, dass dieser Störfaktor relativ gering ausfällt (vgl. Kapitel 6 und Schumacher, 2022). Um diese Bewertung vorzunehmen, mussten Metaphern im Machine-Learning-Training zunächst als eigene Kategorie mit einbezogen werden. Um Metaphern im Trainingskorpus als solche zu markieren, wurden sie in der Umfeldanalyse nach der MIPVU-Erkennungsmethode (vgl. Steen, 2010) annotiert. Statt sie aber wie die anderen Kategorien im endgültigen Trainingsprozess des Machine-Learning-Tools einzubeziehen, wurde für die im Trainingskorpus enthaltenen Metaphern ein paralleler Workflow entwickelt. Alle im Trainingskorpus enthaltenen Raummetaphern wurden mit Hilfe der Software Neo4J (Graphdatabase, 2022) in eine relationale Graphdatenbank eingepflegt. Die Metaphern wurden nach Umfang in die drei Kategorien „ein-Wort-Metapher“, „metaphorische Phrase“ und „komplexes Raumbild“ unterteilt. Für jede Metapher wurde ein Kernwort identifiziert. Jede Metapher wurde mit dem Roman / den Romanen, in dem / denen sie vorkommt, und dessen / deren Entstehungszeit verknüpft. Die so entstandene Datenbank literarischer Raummetaphern (laRa)Footnote 5, die rund 800 Raummetaphern aus 80 Romanen aus vier Jahrhunderten umfasst, kann z. B. nach Metaphern, Entstehungszeit und Kernworten durchsucht werden. Mit Hilfe dieser Datenbank konnten bei der Analyse der Kernkorpora häufige Raummetaphern berücksichtigt werden, die sich als Störfaktor im Machine-Learning-Modell eingeschlichen haben.

Definition 4.7

Als Raummetapher werden alle Ausdrücke annotiert, die auf Wortebene Räume referenzieren, auf der Bedeutungsebene aber auf etwas anderes abzielen. Autoren von Erzähltexten können Raummetaphern neu einführen und tun dies häufig in vergleichsweise langen Passagen, in denen räumliche Bilder beschrieben werden. Außerdem gibt es Ausdrücke und Phrasen, die hochfrequent raummetaphorisch genutzt werden, wie z. B. „groß“ im Sinne von bedeutend oder die Phrase „etwas (selbst) in der Hand haben“. Schließlich gibt es noch Ausdrücke, die ursprünglich räumlich sind, aber nicht immer unbedingt einen physischen Raum bezeichnen müssen und so hochfrequent für nicht-Räumliches verwendet werden, dass der Gebrauch nicht mehr als metaphorisch bezeichnet werden kann. Dazu gehören z. B. Phrasen wie „das ist doch keine große Kunst“, die nicht als raummetaphorisch gekennzeichnet werden. Die Hauptschwierigkeit bei der Annotation räumlicher Metaphern besteht darin, diese Dynamik von Einführung, Etablierung und Übergang in den normalen Sprachgebrauch richtig zu erfassen, wie auch Thaller (2021) beschreibt. Als Raummetaphern können einzelne Wörter, Phrasen oder längere Passagen von bis zu mehreren Sätzen annotiert werden. Nicht annotiert wird z. B. „Sie hatte große Angst“, da mit „groß“ hier eine quantitative Beschreibung zu dem Wort „Angst“ hinzugefügt wird, die im Sprachgebrauch so etabliert ist, dass sie nicht mehr als metaphorisch kategorisiert werden kann.

Beispiele:

  • Es ist die höchste Zeit, dass ich wieder auf mich selbst und auf den Daumen-, Zeige- und Mittelfinger des Werks zurückkehre.

  • In einer wahren Geschichte das Wort aus dem Munde zu nehmen.

  • Sie war eine große Persönlichkeit.