Zentral für die Betrachtung narrativer Raumdarstellung mit Methoden der Digital Humanities, genauer mit Machine Learning, ist ein Kategoriensystem, mit Hilfe dessen Indikatoren für Raumdarstellungen im Text identifiziert werden können. Ebenso zentral ist, dass dieses Kategoriensystem auf der einen Seite theoretisch fundiert ist und sich auf der anderen Seite zu einem Modell zusammenführen lässt. Das Modell – in diesem Falle eine schematische Darstellung – bringt die Kategorien in einen mehrdimensionalen Zusammenhang. Auf diese Weise hilft es dabei, die Kategorien nicht nur getrennt voneinander zu betrachten, sondern über das Zusammenwirken nachzudenken. Ein Zusammenwirken, das, wie schon erwähnt, in mehreren Dimensionen stattfinden kann. Ein solches Modell sollte nicht statisch, sondern dynamisch anpassbar sein, um auf unterschiedliche literaturwissenschaftliche Studien angewendet werden zu können.

1 Das fuzzy-set-Modell zur Betrachtung der narrativen Raumdarstellung

Das Kategoriensystem für Indikatoren narrativer Raumdarstellung umfasst insgesamt sechs Kategorien. Neben Indikatoren, die in einem buchstäblichen Sinne narrative Raumdarstellung referenzieren, wurden auch Metaphern berücksichtigt, die zwar eher als Störfaktor betrachtet wurden, als solche aber beim Modelltraining zunächst Berücksichtigung finden mussten. Ein Ausschluss aus dem Machine-Learning-Training hätte bedeutet, dass nicht hätte getestet werden können, wie groß dieser Störfaktor tatsächlich ist. Metaphern werden darum zwar in dieser Studie mitgedacht, in das Raummodell aber nicht integriert.

Aus der aristotelischen Philosophie (mehr dazu in Abschnitt 2.3.1) stammt die Idee der Lageveränderung als Basis allen Raumempfindens. Diese beinhaltet auch, dass Raum über Positionen und den Wechsel derselben bestimmbar ist. Die Unterscheidung zwischen Ort und Raum wurde von Descartes übernommen (mehr darüber in Abschnitt 2.3.2. Orte werden demnach als Positionen oder Lagebestimmungen, Raum als mehrdimensionales Konzept definiert. Die im Modell dargestellten Kategorien sind unabhängig von einer Unterscheidung zwischen faktualen und fiktiven Räumen, da hier angenommen wird, dass die Erzählerfiktion, die für die betrachtete Textsorte grundlegend ist, erlaubt, dass neben mimetischen Darstellungen von Raum auch unvollständige oder gar inkonsistente storyworlds referenziert werden können (vgl. Nünning et al., 2004, 58). Die Modellierung orientiert sich einerseits an der fuzzy-set-theory in ihrer Anwendung durch die spatial humanities und greift auf der anderen Seite Aspekte der mathematischen Methode der principle component analysis (PCA) auf. Dabei werden potentiell unendlich viele Dimensionen eines Phänomens zu wenigen, meist zwei oder drei, voneinander unabhängigen, vektoriellen Komponenten (den principle components) heruntergerechnet, um umfangreiche Datensätze anschaulich zu machen (zu Grundlagen der PCA vgl. Jackson, 2003, zur Anwendung innerhalb der Digital Humanities vgl. z. B. Schöch und Steffen, 2014 oder Leufkens, 2020)Footnote 1. Nun ist ein zentraler Vorteil eines von Machine-Learning-Methoden unterstützten Ansatzes, dass ein theoriebasiertes Modell auf konkrete Daten angewendet werden kann und dass die Schwierigkeiten des ersten Anwendungsversuches dazu genutzt werden können, das Modell noch einmal zu reflektieren. Die erste, konkreteste Kategorie im Raummodell ist die des Ortes. Die anderen Anwendungskategorien sind räumlich. Die sechs Kategorien referenzieren Rauminformationen im Text auf unterschiedliche Weise und können mit Hilfe der visuellen Metaphern in Abbildung 2.1 veranschaulicht werden.

Orte :

Orte sind häufig sehr konkret und über einzelne Wörter im Text referenziert, sind aber phänomenologisch geprägt davon, in Zentren und Peripherien unterteilbar zu sein und nicht klar nach außen abgegrenzt (wie das Beispiel des Berges in 1 verdeutlicht).

Relationen :

Relationen werden ebenso explizit und anhand einzelner Wörter im Text referenziert. Sie wirken allerdings nur als Verbindung und / oder Zwischenraum zweier anderer Größen, die ihrerseits zwar häufig ebenfalls Informationen zum Raum referenzieren, die dies aber nicht zwingend tun müssen.

Relationale Verben :

Auch relationale Verben rufen über einzelne Wörter Informationen zum Raum auf. Die Kategorie umfasst sowohl Bewegungsverben als auch Verben der Wahrnehmung, die im Husserl‘schen Sinne eine Subjekt-Objekt-Relation eröffnen (vgl. 2.3.2) und weitere Verben, die auf Relationen hindeuten wie z. B. „tragen“, „küssen“, „umarmen“, „begleiten“, „begegnen“ und andere. Mit Ausdrücken, die in diese Kategorie fallen, wird ausgedrückt, dass Zwischenräume überbrückt und Relationen verändert werden. Die Verbindung zu anderen Größen im Text ist aber weniger eng als bei Relationen. Informationen darüber, inwiefern der relationale Raum sich durch diese Art der Verben verändert, können sich auch an weit entfernten Positionen im Text finden.

Raumthemen :

Zu Raumthemen tragen viele Wörter bei, die sich an sehr unterschiedlichen Textstellen finden können und dennoch zusammenwirken. Es ergibt sich ein unsichtbares Muster.

Raumbeschreibungen :

Raumbeschreibungen stehen in engem Zusammenhang mit einer anderen Größe, deren Räumlichkeit näher beschrieben wird. Das kann ein Teil des Settings und damit eine andere Rauminformation sein. Es kann sich aber z. B. auch um eine Figur handeln. Der räumliche Aspekt der Informationen, die diese Wörter referenzieren, muss nicht im Vordergrund stehen. Es kann also sein, dass die Indikatoren dieser Kategorie vage auf Raum hindeuten.

Raumhinweise :

Raumhinweise sind in Texten zahlreich und überall zu finden. Sie bilden aber keine feste Struktur, wie die Raumthemen, sondern wirken eher assoziativ zusammen. Die Rauminformationen, die sie enthalten, sind sehr implizit.

Abbildung 2.1
figure 1

Kategoriensystem für Indikatoren narrativer Raumdarstellung

Insgesamt kann die Art der Referenzierung von Rauminformationen im Text auf einer Skala von explizit \(\rightarrow \) implizit abgebildet werden. Auf dieser Skala können aber noch weitere Aspekte der Referenzierung räumlicher Informationen in Texten abgebildet werden, wie z. B. die Konkretheit des beschriebenen Phänomens oder auch, inwiefern Rauminformationen semiotisch im Vordergrund stehen. Der Vektor der Explizitheit wird darum, im Sinne der PCA, als erste zentrale Komponente literarischer Raumdarstellung definiert. Dieser erste Vektor bzw. diese zu einer Dimension zusammengerechnete Komponente beinhaltet Phänomene, die auf Ebene des Textes wirken.

Die sechs Kategorien können zusammengefasst werden zu einem fuzzy-set-Raummodell. Im Sinne der von (Zadeh, 1965) entwickelten Idee von fuzzy setsFootnote 2 gibt es Objektklassen, bei denen nicht klar, sondern nur graduell, über eine Zugehörigkeit entschieden werden kann. Solche Objektklassen sind zwar unpräzise definiert, aber fundamental für menschliche Kommunikation und Abstraktion (vgl. Zadeh, 1965, 338). Fuzzy ist das Raummodell einerseits, weil – je nach Raumbegriff – die einzelnen Kategorien mehr oder weniger zentral für ein Raummodell sind. Zwischen den Polen „definitiv zu einem Raummodell gehörig“ und „nicht Teil eines Raummodells“ gibt es graduelle Abstufungen, die die hier definierten Kategorien annehmen können. Eine solche Klassifizierung kann individuell durchgeführt und das Raummodell somit als eine Art Werkzeugkasten benutzt werden, der für eigene Untersuchungen angepasst werden kann. Das Modell kann z. B. genutzt werden, um einen relationalen Raumbegriff zu betrachten, indem lediglich zwei der sechs Kategorien (Relationen und relationale Verben) in ein eigenes Raummodell übernommen werden. Je nachdem wie viele der Kategorien in ein eigenes Modell übernommen werden, ergibt sich ein engerer oder weiterer Raumbegriff. Werden z. B. nur Orte betrachtet, so entspricht dies einem sehr engen Raumbegriff, da die Kategorie „Orte“ als sehr nah beim Faktor „gehört definitiv zu einem Raummodell“ bewertet werden kann. Werden alle sechs Kategorien angewendet, so wird ein sehr weiter Raumbegriff betrachtet. In Enge und Weite des Raumbegriffs manifestieren sich mehrere andere Dimensionen von Raum. Physikalische Aspekte finden sich eher in den Kategorien enger Raumbegriffe, während soziale und kulturelle Dimensionen nur in weiten Raumbegriffen mit erfasst werden. Der Vektor eng \(\rightarrow \) weit wurde aufgrund dieser Überlegungen als zweite zentrale Komponente (in Analogie zur PCA) ausgemacht. Dieser Vektor kann unabhängig vom Fokus auf Texte funktionieren. Beide Vektoren entbehren einen Nullpunkt. Die Nennung eines Ortes im Text z. B. ist maximal explizit im Sinne dessen, was an Explizitheit in einem semiotischen Modell möglich ist. Da immer auch implizite Informationen in einem Ortsausdruck enthalten sind, kann hier kein tatsächlicher Extremwert erreicht werden. Das Gleiche gilt für die Enge des Raumbegriffs. Ein hypothetischer maximal enger Raumbegriff müsste intersubjektiv als solcher definiert werden. Da aber jede Begriffsdeutung interpretationsabhängig ist, kann das, was aus einer Perspektive maximal eng wirkt aus einer anderen Teil einer weniger engen Konzeptionierung sein. Ein Nullpunkt ist auch hier nicht erreichbar.

In einem zweiten Sinne fuzzy ist das Modell durch die grundlegend nicht-binäre Beschaffenheit der einzelnen Kategorien, d. h. die zu einer Kategorie klassifizierten Ausdrücke können mehr oder weniger eindeutig zu dieser Kategorie gehören. Einem in einem Erzähltext namentlich referenzierten Fluss wie z. B. „Elbe“ kann ein höherer Wert in Bezug auf seine Zugehörigkeit zur Kategorie „Orte“ zugeschrieben werden als dem unspezifischen Ausdruck „Fluss“. Auch dieser Faktor ist interpretationsabhängig auch wenn im Rahmen dieser Studie die Interpretation darauf ausgerichtet ist, dass das Raummodell und die darin enthaltenen Kategorien anschlussfähig sind, indem die Kategorien so eindeutig wie möglich definiert werden. Dabei kommt erschwerend hinzu, dass die Kategorien des fuzzy-set-Raummodells nicht starr sind und einander überlappen können. Bei den im Kapitel 6 dokumentierten ausführlichen Tests des Raum-Classifiers hat sich herausgestellt, dass zum Teil Ambivalenzen zwischen den Kategorien bestehen. Andere sind klarer voneinander abgrenzbar. Generell gilt, dass es jeweils beliebig viele Wörter geben kann, die den Kategorien zugeordnet werden können und dass sie potentiell durchlässig oder auch unterschiedlich stark ausgeprägt sind. Das zweidimensionale, skalar-vektorielle und auf sechs Kategorien beruhende fuzzy-set-Raummodell kann wie in Abbildung 2.2 visualisiert werden.

Abbildung 2.2
figure 2

fuzzy-set-Raummodell

Die Inhaltskategorien der Raumausdrücke und -hinweise unterscheiden sich sowohl auf textlicher als auch auf semiotischer Ebene stark voneinander. Orte fungieren analog zu Punkten als kleinste Einheiten. Diese Punkte sind aber nicht hermetisch abgeschlossen, sondern können auch eine Durchlässigkeit an den Rändern aufweisen. Orte werden im Text ganz konkret benannt. Das gleiche gilt für Relationen. Dennoch referenzieren sie einerseits ein grundlegend anderes Phänomen und gehören auf der anderen Seite (zumindest potentiell) zu einem anderen Raumverständnis. Relationen sind Teil eines relationalen Raumbegriffs, der grundsätzlich etwas weiter geht als Raumkonzepte, die auf konkrete Ortsnennungen beschränkt sind. Relationale Verben referenzieren Rauminformationen viel impliziter als Orte und Relationen. Sie können ganz andere Bedeutungen aufrufen, die sogar gegenüber den Rauminformationen im Vordergrund stehen können. Relationale Verben rufen häufig kulturell und historisch bedingte Assoziationsketten auf – wie z. B. „tanzen“ in einem Erzähltext aus dem 18. Jahrhundert einen ganz anderen gesellschaftlichen Rahmen, ein ganz anderes Milieu impliziert als in einem Roman des 21. Jahrhunderts – und gehören darum zu einem erweiterten Raumbegriff. Auf ganz ähnliche Weise können Raumbeschreibungen lediglich implizit auf Informationen zum Raum verweisen. Sie geben zwar Hinweise darauf, wie ein Objekt im Hinblick auf seine Räumlichkeit beschaffen ist, ob es z. B. viel oder wenig Raum einnimmt, häufig ist das aber nicht die primäre Information. Auch Raumbeschreibungen gehören also zu einem erweiterten Raumbegriff. Einzelne Wörter, die zu Raumthemen beitragen, können dies auf sehr implizite Weise tun. Sie zeigen meist primär soziale, kulturelle und historische Aspekte. Das Wort „Kutsche“ z. B. gehört zum Raumthema der Reise. Es deutet aber auch oder vor allem auf eine heute nicht mehr gebräuchliche, ziemlich beschwerliche Form der Reise hin, die vergleichsweise viel Zeit in Anspruch nimmt bzw. nahm. Raumthemen werden also nicht nur implizit referenziert, sie sind auch sehr stark in gesellschaftliche, historische und kulturelle Kontexte eingebettet und gehören darum zu einem weiten Raumbegriff. Raumhinweise referenzieren Raum schließlich lediglich indirekt und niemals als primäre Wortbedeutung. Die enthaltenen Rauminformationen wirken nur zusammen mit umfangreichem Kontext- bzw. Weltwissen. Wie viel Raum z. B. ein „Esstisch“ einnimmt, der in einem Roman aus dem 19. Jahrhundert erwähnt wird, dessen Setting einen bürgerlichen Stadtteil von Paris beschreibt, ist nicht explizit, kann aber durchaus beim Lesen erfasst werden. Die maximal impliziten Raumhinweise, die eigentlich nur mit umfangreichem Kontextwissen dekodiert werden können, gehören zu einem sehr weiten Raumbegriff.

2 literaturwissenschaftliche Grundlagen der Raumdarstellung für das fuzzy-set-Modell

In den letzten Jahren sind einige umfassende Abhandlungen zur Thematik des Raumes in der Literatur erschienen, die sehr unterschiedliche Schwerpunkte bei der Betrachtung setzen. Im Jahr 2008 erschien Barbara Piattis literaturgeographische Abhandlung Die Geografie der Literatur. Hier werden in erster Linie die Relationen zwischen realweltlichen und in der Fiktion erwähnten Räumen untersucht. Piatti entwirft eine Reihe systematisch aufgebauter, abstrakter, grafischer Modelle, anhand derer das Verhältnis von kartographiertem Raum und Raum in der Literatur sehr genau bestimmt werden kann. In ihrem topologischen Ansatz berücksichtigt sie vor allem konkret genannte Raumreferenzen auf Städte oder Landstriche, die auf Karten eingetragen werden können. Anhand eines kleinen Textkorpus zeigt sie mit Hilfe von Kartenvisualisierungen, welche Orte (Städte, Wege, Landschaften und Ähnliches) von besonderer Bedeutung für die betrachteten Texte sind. Da diese Kategorien sehr gut operationalisierbar sind und z. B. mit Hilfe von Listen und / oder Machine Learning sehr einfach automatisch in einem Text ausfindig gemacht werden können, ist dieser Ansatz auch für diese Studie von großer Bedeutung. Allerdings schließt Piatti mit ihrem Vorgehen viele erzähltheoretisch relevante Referenzen auf den Raum bewusst aus.

Dennerlein nähert sich dem Phänomen Raum in der Literatur hingegen von einer anderen Seite. In ihrer 2009 erschienenen Raumnarratologie unternimmt sie den Versuch, die bisherigen Betrachtungen der Raumkategorie in der Erzähltheorie zu systematisieren und zu einem eigenen Modell weiter zu entwickeln. Dabei konzentriert sie sich hauptsächlich auf textimmanente Merkmale, die den narrativen Raum konstruieren. Im Gegensatz zu Piatti betrachtet sie nicht nur Räume, die einen kartographierbaren Bezug aufweisen, sondern auch fiktive Räume oder Kategorien wie Innen- und Außenraum, räumliche Objekte und Raumreferenzen und -beschreibungen. Sie berücksichtigt nicht nur konkrete Raumreferenzen, sondern auch relationale Aspekte des Raumes und arbeitet gleichzeitig heraus, wie diese auf Wortebene ausgemacht werden können. Dabei schließt sie – ebenso wie Piatti (Piatti, 2008) vor ihr und Ryan et al. (Ryan et al., 2016) nach ihr – bewusst eine metaphorische Konnotation des Raumbegriffes aus. Im Hinblick auf die Operationalisierung des literarischen Raumes hat Dennerlein bereits wichtige Vorarbeit geleistet, auf die hier aufgebaut wird. Vor allem ihre Systematisierung räumlicher Bezüge in literarischen Texten, die eine konkrete Zuordnung sprachlicher Phänomene zu Kategorien von Raumreferenzen beinhaltet, ist für diese Studie von grundlegender Bedeutung. Eine Verbindung der beiden Ansätze der Literaturgeografie und der Raumnarratologie, für die Piatti auf der einen und Dennerlein auf der anderen Seite hier exemplarisch angeführt wurden, haben Ryan, Foote und Azaryahu in ihrem 2016 erschienenen Buch Narrating Space/Spatializing Narrative. Where narrative Theory and Geography meet hergestellt. Hier werden zunächst vor allem die Funktionen von Raum in Erzähltexten untersucht und dann die Rolle von Karten (materiellen und kognitiven), sowie Straßennamen und anderen geographischen Gegebenheiten, die ein Erzähltext widerspiegeln kann, betrachtet. Von den zwei Perspektiven, denen die Autor*innen hier nachgehen und die bereits im Titel benannt werden, ist für diese Studie nur eine essentiell. Die Idee, dass Raum durch Erzählen aufgebaut werden kann (narrating space), legt den Schluss nahe, dass dies mit bestimmten Bausteinen geschieht. Diese Bausteine narrativen Raumes in Form von konkreten Bezeichnungen räumlicher Elemente sind es, die für die Operationalisierung eines narrativen Raumkonzeptes als Vorarbeit zur Computerlesbarkeit herausgearbeitet werden müssen. Mit der Phrase spatializing narrative bezeichnen die Autor*innen einen Prozess, der zwischen Text und Leser*in bzw. interpretierender Person stattfindet. Der Erzähltext wird verräumlicht. Da in dieser Untersuchung aber nur der Text im Fokus steht, werden die Aspekte des spatializing narrative hier nicht berücksichtigt.

Auch seitens der kulturwissenschaftlich interessierten Literaturwissenschaft ist unlängst ein umfangreicher Sammelband mit Beiträgen zum Thema Raum in der Literatur erschienen (Dünne und Mahler, 2015). Hier wird zumeist ein anthropozentrisches Raumverständnis gegen einen eher mathematisch, geographisch oder topologisch geprägten Raumbegriff gestellt (vgl. Mahler, 2015, 17–19 und Nitsch, 2015, 31). Eine weitere Ebene, die hier den bisher beschriebenen Ansätzen hinzugefügt wird, ist, dass das Erzählen selbst als Kulturtechnik der Verräumlichung verstanden wird (Dünne, 2015, 44–45). Das Erzählen von Raum wird bei Dünne zu einem dynamischen konstitutiven Akt (Dünne, 2015, 44). Dies bedeutet, dass Raum nicht nur während des Erzählens für die Erzählung als solche entwickelt wird, sondern dass der Erzähltext als in sich geschlossenes Gesamtgefüge sich auch auf außertextuelle, kulturelle Räume auswirkt und diese prägt (Dünne, 2015, 49–52). Dieser Ansatz ist zwar an sich interessant und geht über das hinaus, was in anderen Traditionslinien der Betrachtung narrativen Raumes festgestellt wurde, in der vorliegenden Untersuchung kann genau dieser Aspekt allerdings keine Berücksichtigung finden, da er nicht unabhängig von einer Erzählsituation gedacht werden kann. Die Verräumlichung geschieht entweder beim Erzählen – bzw. im Falle der Literatur beim Schreiben – bzw., beim Zuhören oder beim Lesen. Beides lässt sich nicht in die hier gewählten computergestützten Verfahren integrieren.

Dass in den letzten Jahren nicht nur konzeptionelle Methoden, sondern auch konkrete informationstechnologische Verfahren aus dem Bereich der Geographie vermehrt in der gesamten geisteswissenschaftlichen Forschung eingesetzt wurden, zeigen Publikationen wie Spatial Humanities von (Bodenhamer et al., 2010), Towards Spatial Humanities von (Gregory and Geddes, 2014) oder Hypercities. Thick Mapping in the Digital Humanities von (Presner, 2014). Hier steht der Einsatz von Geoinformationssystemen (GIS) z. B. in den Geschichts- und Politikwissenschaften im Zentrum des Interesses. Dass Ansätze zur GIS-Technologie nicht nur für die geisteswissenschaftliche Forschung fruchtbar gemacht werden konnten, sondern dass andersherum auch narratologische Erkenntnisse in Theorien zur digitalen Kartographie einfließen, zeigen die Autor*innen von Deep Maps and Spatial Narratives, das 2015 von Bodenhammer, Corrigan und Harris herausgegeben wurde. Jenseits von geographischen Aspekten und Geoinformationssystemen als deren Visualisierungstools, gibt es aber auch Ansätze für eine digitale Raumnarratologie (Barth und Viehhauser, 2017; Viehhauser, 2020). Hier wurde bereits begonnen, auch andere Informationstechnologien aus den Digital Humanities bei der Untersuchung narrativer Räume einzubeziehen. Dazu gehören z. B. der Einsatz von Tools aus dem Methodenkomplex des Natural Language Processing (NLP) und (manuelle) digitale Annotation. Auch Visualisierungen wie z. B. Netzwerkanalysen und Distributionsgraphen wurden hier bereits erprobt. An diese aktuellen Entwicklungen – die Verbindung von Raumgeographie und Raumnarratologie und deren Weiterentwicklung in den Digital Humanities – schließt die hier vorliegende Untersuchung an.

Raum wurde in der Literaturwissenschaft aber nicht nur unter geographischen, erzähltheoretischen, kulturwissenschaftlichen und informationstechnologischen Gesichtspunkten betrachtet. In unterschiedlichen, einander teilweise abwechselnden oder ergänzenden literaturwissenschaftlichen Traditionslinien wurde literarischer Raum unter sehr unterschiedlichen Gesichtspunkten untersucht. In Abschnitt 2.2.1 wird nachgezeichnet, inwiefern in den Literaturwissenschaften ein symbolischer, kultureller und metaphorischer Raumbegriff von Bedeutung ist. Im Anschluss stehen Raumthemen im Fokus, die in der literaturwissenschaftlichen Forschung besonders häufig betrachtete wurden (Abschnitt 2.2.2). Eine weitere Betrachtungsweise, die in Abschnitt 2.2.3 beschrieben wird, ist die des literarischen Raumes als Strukturphänomen von Texten. Eine Herangehensweise an literaturwissenschaftlich relevante Raumphänomene, die für diese Studie weniger zentral ist, und in Abschnitt 2.2.4 darum nur kurz skizziert wird, ist es, Raum als Konstruktion zwischen Text und Leser*in zu sehen. Alle Aspekte der literaturwissenschaftlichen Analysen narrativen Raumes, die operationalisierbar sind und darum in die Modellentwicklung einbezogen wurden, werden in Abschnitt 2.2.5 zusammengefasst.

Neben diesen generellen Untersuchungen zum Raum in der Literatur wurden zahlreiche Einzeltextanalysen und Betrachtungen einzelner Phänomene in kleineren Korpora vorgelegt (vgl. z. B. Menzel, 2005; Gromes, 2005; Wintgens, 2005; Kurzenberger, 2005; Schneider, 2005; Whybra, 2005; Zetzmann, 2020; Rocchi, 2020 oder Hafner, 2020). Diese Einzeltextanalysen oder allzu stark auf kleine, homogene Korpora ausgerichtete Studien werden aber nicht zur Modellentwicklung herangezogen, da es ihnen zumeist an Übertragbarkeit mangelt. Stattdessen stehen Konzepte im Vordergrund, die zu einer allgemeinen Schärfung des Raumbegriffes in der Literatur beitragen. Die unterschiedlichen Ansätze werden anhand der Frage geprüft, ob sie zu einer Operationalisierung des Raumkonzeptes beitragen können, die zum Ziel hat, Raum in Erzähltexten computerlesbar zu machen. Dabei ist mit Lesbarkeit kein Textverständnis gemeint, sondern die Fähigkeit des Computers, Wörter zu erkennen (Erkennung), die zu Raumdarstellungen beitragen, und diese anhand vorher erlernter Kategorien zu annotieren (Kategorisierung).

2.1 Symbolischer, kultureller und metaphorischer Raumbegriff

Einer der frühen Ansätze zur Thematik des Raumes in der Literatur ist die Essay-Reihe Spatial Form in Modern Literature von (Frank, 1945a). In seinen Essays stellt Frank fest, dass die avantgardistische Literatur der Moderne über eine sehr spezifische Räumlichkeit verfügt (besonders deutlich weist Frank, 1977, 231 auf die enge Verknüpfung von Räumlichkeit und literarischer Moderne in seinem Essay Spatial Form: An Answer to Critics hin). Sowohl die Poesie als auch die Erzählliteratur entwerfen ein System aus Referenzen, welches sich dem Lesenden in einer Komplexität darstellt, die nur als räumlich und retrospektiv wahrgenommen werden kann. Diese retrospektive Erfassung der Räumlichkeit folgt einem Prinzip, das Frank als „principle of reflexive reference“ (Frank, 1945b, 230) bezeichnet. In Franks Essays wird der Raumbegriff rein metaphorisch verwendet und steht im Grunde für ein System thematischer Referenzen, aus denen sich eine Struktur ergibt (Herman, 2010, 555). Anders als bei Rauminformationen generell kann hier zwischen Texten unterschieden werden, die diese Art der „spatial form“ aufweisen und denen, die dies nicht tun (ebd.). Obwohl seine Feststellung, dass Texte Räumlichkeit besäßen also durchaus als bahnbrechend bezeichnet werden kann (auch wenn Frank (1977) selber sie eher als eine Ausnahme zur Bestätigung der Laokoon-These sieht denn als Falsifikation derselben), ist seine Theorie nur ansatzweise auf Texte übertragbar, die nicht zur Moderne gehören. Da sein Raumbegriff ein Phänomen bezeichnet, das zwischen Text und Leser*in entsteht, und das im Prinzip einem System aus nicht expliziten Relationen zwischen thematischen Einheiten von Texten entspricht, kann Franks Ansatz nichts zu einem Modell beitragen, das Raum in Erzähltexten computerlesbar macht.

Die Traditionslinie, die einen hauptsächlich thematisch-inhaltlichen und damit stärker textgebundenen Raumbegriff zum Gegenstand hat, beginnt bei Bachelard. In seiner Poetik des Raumes (1960) entwickelt er eine stark von der Psychoanalyse geprägte Typologie räumlicher Motive. Die Verknüpfung von Psychoanalyse und Poesie begründet er damit, dass fiktive Räume immer von einer Einbildungskraft geschaffen werden, die an Individuen gebunden ist (Bachelard, 1987, 30). Der reale Raum könne vermessen und objektiviert werden, der poetische Raum sei hingegen immer ein erlebter Raum (ebd.). Bachelard schlägt darum eine Topo-Analyse vor, die er als „systematisches, psychologisches Studium der Örtlichkeiten unseres inneren Lebens“ beschreibt (Bachelard, 1987, 40). Bachelard entwickelt eine Raumsymbolik, die auf Dualismen fußt. Am Beispiel des Hauses verdeutlicht er, dass die vertikale Achse von oben nach unten eine Aufladung von positiv (oben) zu negativ (unten) erfährt. Darüber hinaus symbolisieren die oberen Räume wie z. B. der Dachboden über ihre Nähe zum Himmel das Licht, die Aufklärung und insgesamt den Intellekt. Die Kellerräume stehen hingegen für Dunkelheit, Angst und Bedrohung. Verbunden sind diese Räume durch Treppen, die den Aufstieg, und damit das zunehmend Positive oder den Abstieg, und damit das zunehmend Negative, symbolisieren (Bachelard, 1987, 49–62). Neben dieser vertikalen Achse gibt es nach Bachelard die ebenfalls symbolisch zu deutende Zentralisierung von außen nach innen (Bachelard, 1987, 50). Auch für Klotz ist der Verweischarakter literarischen Raumes grundlegend (Klotz, 1969, 29). In seinen Einzelanalysen von Romanen aus unterschiedlichen räumlichen, sprachlichen und zeitlichen Zusammenhängen wird deutlich, dass Raum im Roman auf unterschiedlichen Ebenen eingesetzt werden kann. Auf Ebene der Gesamthandlung, auf Ebene einzelner narrativer Einheiten wie z. B. eines Dialogs und auf Wortebene (Klotz, 1969, 26). Als räumlich determinierte Mikro-Einheiten des Romans benennt er „Panorama“, „Tableau“ und „Stadt“. Darüber hinaus macht er im Verlauf seiner Betrachtungen einige wiederkehrende Raumsymbole aus, die für die Literatur von besonderer Bedeutung sind, wie z. B. das Fenster als Verbindung von Innen- und Außenwelt (Klotz, 1969, 176 und 349). Anders als Bachelard, der ein System fester Codes entwirft, betont Klotz stets die Dynamik räumlicher Codierung. War in einem Textbeispiel das Private noch das Schutz spendende Element, welches von der Stadt bedroht wurde, so kann diese Bedeutung in einem anderen Beispiel ins Gegenteil verkehrt sein und die Stadt wird zum Symbol der Geborgenheit, während das Private eine Bedrohung darstellt (Klotz, 1969, 283). Klotz erkennt in seinen Analysen außerdem, dass Raum bzw. in seinen Beispielen die Stadt und das Städtische für sich stehen, auf Figuren einwirken, zur Charakterisierung von Figuren beitragen oder sogar zum handelnden Individuum stilisiert werden kann (Klotz, 1969, 64, 152, 226 und 279). Ähnlich wie Bachelard verfolgt auch Lotman einen dualistischen Ansatz und entwickelt daraus ebenfalls ein Raummodell, das auf Achsen beruht. Ausgangspunkt ist der menschliche Körper als Wahrnehmungsinstanz von Raum. Wie bei Bachelard gibt es eine Achse von oben nach unten. Dazu kommt eine horizontale rechts-links-Achse, die eine ebenso positiv-negative Aufladung hat wie die vertikale Achse (Lotman, 1973, 313–326). Das Herausragende an Lotmans Ansatz ist die enge Verknüpfung seiner Raumsemantik mit kulturellen Modellen oder „Weltbildern“ (Lotman, 1973, 313–326). Statt, wie Bachelard, ein starres Deutungsmuster aufzubauen, ist Lotmans Ansatz – ähnlich wie der von Klotz – die Basis für ein dynamisches System, das offen für Umdeutungen ist. Er betont in erster Linie die Abhängigkeit der Belegung von Raumausdrücken mit nicht-räumlicher Bedeutung von den kulturellen Zusammenhängen, in denen diese stattfinden. Es handelt sich hierbei um kulturelle und damit vor allem auch kulturraumspezifische Codierungen (Lotman, 1973, 313–326). Diese kulturelle Codierung von Raum wird auch in späteren literaturwissenschaftlichen Arbeiten zum Raum immer wieder betont (z. B. von Bal and van Boheemen-Saaf, 1985, 138). Zusätzlich zu diesem an Achsen und Dualismen orientierten Ansatz führt Lotman die Grenze als zentrales literarisches Raumsymbol ein (Lotman, 1973, 328–329).

Der in der Literaturwissenschaft relativ häufig rezipierte Humangeograph Tuan hat in Space and Place (1977) eine Theorie entwickelt, die den Ideen Lotmans zur literarischen Raumdarstellung stark ähnelt. Auch Tuan setzt die Erfahrung des Menschen als körperliches Wesen an den Ausgangspunkt jeglicher Raumerkenntnis. Genauso spielen bei Tuan am Körper orientierte Achsen und die kulturelle Codierung ihrer Pole eine große Rolle. Statt jedoch wie Lotman die semantische Dimension zu betonen und den Verweischarakter herauszuarbeiten, hebt Tuan eher auf eine Metaphorik des Raumes ab (Tuan, 1979, 34–50). Ausgehend von der Erfahrung der meisten Menschen als Rechtshänder z. B. (Tuan, 1979, 43), entwickeln sich in ihrem Ursprung raummetaphorische Ausdrücke wie „der rechte Weg“, „rechtschaffen“ oder auch „er ist meine rechte Hand“. Der Wortstamm „recht“ hat in den unterschiedlichen Ausdrücken graduell von seiner Raumsemantik verloren und steht zum Teil (z. B. bei rechtschaffen) nur noch für den positiven Wert, der durch die menschliche Erfahrung der rechten Hand als derjenigen, mit der alles gut erledigt werden kann, hervorgerufen wird. Zurückgehend auf die Nähe der Ansätze von Lotman und Tuan wird in der heutigen Literaturwissenschaft meist verallgemeinernd von einem metaphorischen Raumbegriff gesprochen, um einen Rückbezug zu dieser eigentlich semantisch-kulturell-metaphorisch geprägten Tradition herzustellen (so z. B. bei Ryan et al., 2016, 17).

Die literaturwissenschaftlichen Ansätze von Bachelard, Klotz und Lotman werden von Hofmann in seiner Abhandlung Raum, Situation, erzählte Wirklichkeit (1978) weiter verfolgt und ausgebaut. Er arbeitet sehr deutlich heraus, dass die räumlichen Achsen, die sowohl bei Bachelard als auch bei Lotman die Basis der semantischen Verknüpfung bilden, von der Raumerfahrung des Menschen ausgehen (Hoffmann, 1978, 3–6). Dualismen wie oben-unten, nah-fern oder links-rechts gehen immer von einem Subjekt aus. Hinzu kommt, dass die Verknüpfung mit Qualitäten wie gut-schlecht, vertraut-fremd u.ä. auch immer von einem Subjekt (und nicht zwingend von einer ganzen Kultur wie bei Lotman) ausgehen muss (Hoffmann, 1978, 3–6). Um seinen subjektzentrierten Ansatz zu systematisieren, führt Hofmann auf unterschiedlichen Ebenen Unterscheidungskategorien ein, die jedoch weit davon entfernt sind, sich in ein Gesamtkonzept narrativen Raumes einfügen zu lassen. Seine Kategorien wie die Unterscheidung von gelebtem Raum und erzähltem Raum (Hoffmann, 1978, 1–3), Anschauungsraum, gestimmtem Raum und Aktionsraum (Hoffmann, 1978, 3–6) oder auch die zum Teil von Klotz übernommene Verwendung von Szene, Panorama und Tableau als räumliche Einheiten von Erzähltexten erweisen sich in seinen Einzeltextanalysen als unscharf. Die größte Stärke von Hofmanns Ansatz liegt darum nicht bei der Entwicklung allgemein gültiger Analysekategorien, sondern in der engen Verknüpfung von Raum und SubjektFootnote 3. Damit zeigt er, was in Lotmans Modell bereits in Ansätzen und bei Klotz schon deutlich angelegt ist, nämlich, dass Raum dynamisch interpretierbar ist (Hoffmann, 1978, 9–11). Unterschiedliche Figuren können nicht nur im Erzähltext unterschiedliche Raumsemantiken nutzen, sondern die Codierung räumlicher Begriffe kann sich für eine Figur auch innerhalb der Erzählung wandeln. Außerdem schlägt Hofmann eine Typologie der Raumsymbolik vor, deren Kategorien sich vor allem durch Offenheit der Codierung voneinander abgrenzen (Hoffmann, 1978, 319–327). Hier integriert er binäre symbolische Raumrelationen wie oben-unten und symbolische Raumeinheiten wie das Haus oder die Grenze. Außerdem ergänzt er das kontextbezogene Raumsymbol und die Unterscheidung zwischen übergreifender Raumsymbolik eines ganzen Romans und einzelnen Raumsymbolen, die als narrative Einheiten wirken (Hoffmann, 1978, 319–327).

Von den bisher betrachteten Ansätzen dieser Traditionslinie sind vor allem zwei Einsichten für diese Studie von zentralem Interesse:

  1. 1.

    Raumreferenzen können mit einem Bewertungssystem verknüpft sein, welches auf eine Skala zurückgeführt werden kann, die von negativ bis positiv verläuft und

  2. 2.

    Raumausdrücke können ihre ursprüngliche, räumliche Bedeutung verlieren und nur noch metaphorisch gebraucht werden.

Es sollte also klar zwischen Räumen, die eine Bewertung erfahren, wie z. B. das Haus als Ort der Geborgenheit, und Raumausdrücken, die für einen Wert stehen, wie z. B. „er war am Boden zerstört“, unterschieden werden. In der Operationalisierung narrativer Raumdarstellung wurde außerdem berücksichtigt, dass semantisch aufgeladene Raumausdrücke vom Computer erkannt werden sollen, Raummetaphern hingegen nicht. Denn Raummetaphern beschreiben keine Orte und Räume, obwohl sie Ausdrücke enthalten, die üblicherweise genau dazu verwendet werden, sondern stehen immer für etwas anderes.

Ein anderes Oppositionspaar als das positiver und negativer Bewertung ist zentral für die feministische Narratologie, die an die oben skizzierte Traditionslinie anknüpft. Sowohl Bal (Bal and van Boheemen-Saaf, 1985, 137) als auch Nünning und Nünning (2004) stellen die Semantisierung des Raumes in Zusammenhang mit geschlechterspezifischen Strukturen. Wie bereits Klotz und Hofmann betonen auch Nünning und Nünning die enge Verbindung zwischen Räumen und Figuren. Unterschiedliche Figuren erleben unterschiedliche Räume auf ihre eigene Weise (Nünning et al., 2004), und Raumerfahrungen tragen entscheidend zur Identitätsbildung bei (Nünning et al., 2004, 56). Besonders bedeutsam für die gendertheoretische Betrachtung literarischen Raumes ist die Möglichkeit der Figuren, sich von einem zu einem anderen Ort zu bewegen und Grenzen zu überschreiten. Die Möglichkeit hierzu sei stets von den Machtverhältnissen geprägt (Nünning et al., 2004, 52). Diese literaturwissenschaftliche Forschungsrichtung berücksichtigt noch stärker als Vorgänger wie Lotman den sozialen Kontext von Erzähltexten. Wie Warhol (2012) am Beispiel von Jane Austen zeigt, kann das Wissen darüber, welche Räume zur Entstehungszeit des Textes mit welchen Genderstereotypen verbunden waren, die Interpretation leiten. Öffentliche Räume bzw. Räume, in denen Frauen zur Zeit Jane Austens wenig oder gar nicht präsent waren, spielen auch in ihren Texten eine untergeordnete Rolle (Warhol, 2012, 93). Das heißt auch, dass aus dieser Perspektive nicht nur erwähnte Räume oder Raumkategorien für Erzähltexte von Bedeutung sein können, sondern dass auch von der Erzählung weitgehend ausgeschlossene Räume im Hinblick auf eine feministische Interpretation zentral sein können. Zwar können mittels computergestützter Methoden in einem Text hauptsächlich Räume berücksichtigt werden, die auch erwähnt werden, doch bietet eine diachron angelegte Studie wie diese, die Möglichkeit, Differenzialanalysen durchzuführen. Für bestimmte Raumausdrücke, Kategorien oder Gruppen von Raumausdrücken und -kategorien kann in einem Korpus eine Art „Normalverhalten“ ermittelt werden. Diese kann dann mit einem kleineren Textkorpus oder auch einem Einzeltext verglichen werden. Eine solche Differenzialanalyse wird in Abschnitt 8.1.4 anhand des Weltbegriffs bei Wilhelm Raabe beispielhaft durchgeführt. Außerdem kann dieser Ansatz fruchtbar gemacht werden, indem Raumdarstellungen mit anderen narratologisch bedeutsamen Größen wie z. B. Figuren zusammen betrachtet werden. Zwar scheint die Verknüpfung von Räumen mit Genderstereotypen und Machtsystemen weniger dazu geeignet, Raumbeschreibungen in Erzähltexten aufzuspüren, zu einem späteren Zeitpunkt der Analyse kann ein solcher Ansatz aber wieder aufgegriffen werden, z. B. für eine Kategorisierung der gefundenen Raumausdrücke.

Neben dem semantischen Wertesystem, welches in der oben skizzierten feministischen Narratologie entscheidend auf Raummodelle einwirkt, gibt es in dieser Traditionslinie auch den semiotischen Ansatz, in dem der narrative Text als Zeichen- bzw. SinnsystemFootnote 4 mit weltbildnerischer Funktion betrachtet wird (Bauer, 1997, 1–3). Während die Semantisierung des narrativen Raumes bei Bal, Nünning und Warhol eher mit dem Text als Spiegel der Gesellschaft verknüpft ist, rückt Bauer die Wechselwirkung von Literatur und der Lebenswelt der Lesenden ins Zentrum der Betrachtung (Bauer, 1997, 65–68). Nach diesem Verständnis narrativen Raumes fungieren Lesende als Angelpunkt zwischen Text und Lebenswelt. Erst die Decodierung durch eine lesende Person vervollständigt den narrativen Raum (Bauer, 1997, 216) und fügt ihrer Lebenswelt eine Bedeutungsebene hinzu. Aus zwei Gründen kann dieser Ansatz bei der auf Automatisierung ausgerichteten Operationalisierung literarischer Raumdarstellung nicht weiter berücksichtigt werden. Zum einen ist das Raumverständnis nicht ausreichend klar definiert und der Begriff „Welt“ wird mal metaphorisch als Bezeichnung für das Bedeutungssystem des Textes und dann wieder konkret für die reale Welt bzw. Lebenswelt der lesenden Person (die aber unterdefiniert bleibt) verwendet. Zum anderen steht hier eine rezeptionsästhetische Deutung des Raumkonzeptes im Zentrum. Da die Konstruktion narrativer Räume durch Lesende hier nicht untersucht wird, wurde sie auch nicht in die Modellentwicklung einbezogen.

2.2 Topoi – Raumthemen

Die Forschung zu bestimmten literarischen Topoi ist divers, meist stark in literarhistorische Kontexte eingebunden und nur selten für ein übergeordnetes Modell generalisierbar. Literarische Topoi sind so wandelbar, dass sie zum Teil bereits innerhalb ihres literarhistorischen Kontextes unterschiedlich, manchmal sogar konträr eingesetzt werden. Zum Beispiel beschreibt Cohen (2015) den Topos der Südsee, der vor allem in der frühen Neuzeit für ein Naturparadies und die Erfahrung neuer Möglichkeiten jenseits des Strebens nach Fortschritt stand. Derselbe Topos stand aber auch für die Strapazen einer Bezwingung des Ozeans auf einer Überfahrt von der „alten“ in die „Neue Welt“ (Cohen, 2015, 371). Weitere Topoi, die literarhistorisch bedeutsam, aber nicht immer einheitlich codiert sind, sind das Mittelmeer (Janka, 2015, 301 ff), Athen als Zentrum einer mehr oder weniger demokratischen antiken Macht (Gödde, 2015, 312 ff), Rom als sich ausdehnendes Imperium (Teuber, 2015, 324 ff), der ritterliche Hof, der oftmals in machtpolitischen Krisen dargestellt wird (Jing, 2015, 335 ff), die Kathedrale als Raum der imposanten Größe und des Sakralen (Lechtermann, 2015, 344 ff) und die „Neue Welt“ (Ehrlicher, 2015, 355 ff). In all den hier aufgeführten Untersuchungen bestimmter Topoi wird deutlich, dass eine semantische oder semiotische Deutung bestimmter Räume zwar werkübergreifend möglich ist, dass eine bestimmte Deutung aber immer nur innerhalb vergleichsweise kleiner Korpora konsistent bleibt. Lechtermann (2015) stellt für den Kathedralen-Topos sogar fest, dass jedes einzelne literarische Werk eigene Raumfigurationen inszeniere (Lechtermann, 2015, 345).

Ein singulärer Status innerhalb der literaturwissenschaftlichen Forschung zum Raum kommt Bachtins Chronotopos (1975) zu. Bachtins Abhandlung wurde vielfach rezipiert und das Konzept des Chronotopos häufig neben andere literaturwissenschaftliche Raumkonzepte gestellt. Dabei konnte es allerdings nicht wesentlich weiter entwickelt oder in ein Gesamtmodell narrativen Raumes integriert werdenFootnote 5. Da Bachtin in seiner Abhandlung vor allem bestimmte Chronotopoi als raumzeitliche Themen beschreibt, soll er hier im Zusammenhang mit Raumthemen betrachtet werden.

Bachtins Chronotopos-Begriff basiert auf der Idee der Raumzeit, die Einstein in seiner Relativitätstheorie entwickelte. Die Grundannahme ist, dass die Zeit eine vierte Dimension des Raumes ist und dass Raum und Zeit darum nicht losgelöst voneinander betrachtet werden können (Bachtin, 2008, 7). Für Bachtin muss eine literarische Analyse des Raumes also stets unter raumzeitlichen Gesichtspunkten durchgeführt werden. Bachtin betrachtet den Chronotopos als eine Form-Inhalt-Kategorie (Bachtin, 2008, 7). Sein primäres Interesse richtet sich nicht auf chronotopische Mikroeinheiten, wie einzelne Erwähnungen von Orten zu einem bestimmten Zeitpunkt der Erzählung oder hochfrequente Nutzung von Raumausdrücken. Stattdessen betrachtet er übergeordnete Ortskategorien in ihrer Historizität. Statt chronotopische Strukturen systematisch aufzudecken, beschränkt sich Bachtin darauf, einzelne herausragende Chronotopoi als übergeordnete literarische Raumzeit-Phänomene auszumachen und diese diachron in einer Betrachtung des europäischen Romans nachzuweisen. Ein besonderer Schwerpunkt liegt dabei auf der Betrachtung einiger Werke Rabelais’. Da Bachtin den Begriff Chronotopos für so unterschiedliche Phänomene wie „Abenteuerzeit“ (Bachtin, 2008, 12), „fremde Welt“ (Bachtin, 2008, 25), „Folklore“ (Bachtin, 2008, 30), „Begegnung“ (Bachtin, 2008, 182) und „Idylle“ (Bachtin, 2008, 160) verwendet, entsteht keine stringente, direkt übertragbare Analysekategorie.

Sowohl die anfangs genannten Untersuchungen als auch Bachtins Chronotopos und noch weitere raumthematische Untersuchungen – von denen es weit mehr gibt als hier erwähnt werden können und denen häufig auch die Generalisierbarkeit fehlt, die für diese Studie von zentraler Bedeutung ist – vereint die Grundannahme, dass narrativer Raum nicht unbedingt durch einzelne Worte oder Phrasen konstruiert wird. Zum Topos der Südsee gehört z. B. weit mehr als das Wort „Südsee“ und verwandte Ausdrücke wie „Strand“ oder „Meer“. Stattdessen sind es eher semantische Felder, ganze Wortgruppen, in denen räumliche und nicht-räumliche Ausdrücke zusammen wirken. Solche Wortgruppen können automatisch generiert werden und somit kann die Idee, dass Raumthemen nicht in einzelnen Wörtern, sondern Wortfeldern sichtbar werden, sehr gut in eine computergestützte Untersuchung einbezogen werden. Auch der diachrone Aspekt, der angesprochen wird, ist für die Betrachtung des hier vorliegenden Korpus’ von zentraler Bedeutung und findet darum in der Modellentwicklung ebenfalls Berücksichtigung.

2.3 Raum als Strukturphänomen von Texten

In der post-strukturalistischen Tradition wurde der Versuch unternommen, Raum mit verschiedenen Analysekategorien zu verknüpfen und so besser aus zu differenzieren. Als einer der ersten stellte Chatman (1978) fest, dass zwischen story-space und discourse-spaceFootnote 6 unterschieden werden könnte. Außerdem entwickelt er fünf Parameter für die Analyse von story-space (scale, contour, position, degree, clarity) (Chatman, 1993, 97–98), die allerdings alle sehr Film-spezifisch sind, da sie den Bezug zu Kamera, Licht und anderen Einstellungen mit einbeziehen. Discourse-space umfasst nach Chatman alles, was als räumlicher Rahmen einer Erzählung gedeutet werden kann (Chatman, 1993, 102). In verbalen, nicht-filmischen Narrativen werde hier der Fokus auf das gesetzt, was Lesende auf abstrakte Weise als mentale Räume „sehen“ können (ebd.). Darüber hinaus verdeutlicht Chatman auch, wie implizit Hinweise auf den Raum einer storyworld sein können. In dem Beispiel einer Figur, die eine 200 Pfund schwere Hantel mit einer Hand tragen kann, sieht er die Information, dass ihr Bizeps vergleichsweise groß sein muss (ebd). Allerdings ist diese Information auf der Textebene nur sehr vage verknüpft (über das Objekt der Hantel und die Hand als Teil eines Subjekts), sodass sie nur über diese computerlesbar wird. Ein wichtiger Unterschied zwischen filmischen und verbalen Darstellungen von Raum ist für Chatman, dass nicht-filmische Erzähltexte auch im „Nirgends“ also ohne Raum erzählt werden könnten (Chatman, 1993, 106), eine These, die hier auf dem Prüfstand steht, da auch ein „Nirgendwo“ durch die Manifestation innerhalb einer Erzählwelt zu einem „Irgendwo“ werden müsste, in dem sich die Figuren aufhalten können. Bei Chatmans Ausführungen zur Differenzierung zwischen Figur und Setting (Chatman, 1993, 139) wird deutlich, dass diese beiden Konzepte im Hinblick auf ihre Räumlichkeit nicht klar voneinander getrennt werden können. Chatman versucht einen Weg zu finden, zwischen (Haupt-)Figuren zu unterscheiden, die nicht Teil des Settings sind, sondern sich von diesem abheben, und solchen (nebensächlichen Figuren), die zum Setting gehören (Chatman, 1993, 139). Die hier durchgeführte Korpusanalyse zeigt hingegen, dass eine solche Trennung nicht dazu beiträgt, sämtliche Aspekte des literarischen Raumes im Blick zu behalten. Figuren sind unabhängig von ihrer Bedeutung für einen Erzähltext ein wichtiger Bestandteil literarischen Raumes und prägen diesen ganz erheblich (wie in Kapitel 8 ausführlich beschrieben wird). Statt zwischen Figuren mit Charakter und Figuren ohne (die darum nach Chatman eher als Teil des Mobiliars klassifiziert werden sollten (Chatman, 1993, 140) zu unterscheiden, bietet es sich eher an, zwischen der räumlichen Komponente von Figuren (z. B. ihre Körperlichkeit, ihre Wahrnehmung von Raum) und ihrer charakterlichen Ausgestaltung zu differenzieren. Auch Chatman erkennt, dass es nicht unbedingt sinnvoll ist, Charaktere nach Wichtigkeit zu klassifizieren, sondern besser, ihre Eigenschaften im Hinblick auf die Erzählung zu betrachten. Er kommt dabei allerdings nicht bis zu dem Punkt, an dem Räumlichkeit eines dieser möglichen Features ist (Chatman, 1993, 141). Interessant ist auch Zorans Ansatz, Raum im Text auf drei Ebenen anzusiedeln: einem topografischen Level, einem chronotopischenFootnote 7 und einem textuellen Level (Zoran, 1984, 315). Auf der textuellen Ebene wird narrativer Raum in einen Bedeutungszusammenhang mit dem Erzähltext eingebettet, während auf chronotopischer Ebene Raum zwar noch mit der Handlung, aber nicht mehr unbedingt mit dem Text als solchem verknüpft ist. Die topographische Ebene ist schließlich vollkommen unabhängig vom Text und gleicht einem räumlichen Modell, welches auch ohne den Text gedacht werden kann (Zoran, 1984, 315). Zoran versieht also das Phänomen des narrativen Raumes mit unterschiedlichen Abstraktionsgraden vom Text. Dieser vertikal ausgerichtete Ansatz ist nicht der einzige, den Zoran entwirft, um die Struktur narrativen Raumes klarer herauszuarbeiten. Analog zu den drei Leveln entwickelt er drei räumliche Einheiten, die für einen Text von Bedeutung sind. Er unterscheidet zwischen „total space“, „spatial complex“ und „spatial unit“ (Zoran, 1984, 322). Am Beispiel der spatial units macht Zoran deutlich, dass diese auf allen drei Leveln des narrativen Raumes eingesetzt werden können. Die Phänomene, die in dieser computergestützten Analyse Berücksichtigung finden, sind vor allem auf Ebene der spatial units anzusiedeln, zum Teil werden auch Raumkomplexe sichtbar gemacht. Die vorliegende Analyse stützt Zorans Idee der Abstraktionsgrade, denn sie bestätigt, dass sich spatial units auf der textuellen Ebene finden und dass die Einheit des spatial complex im Text angelegt ist, gleichzeitig aber darüber hinaus geht und damit auf die chronotopische Ebene einwirkt. Wie die Topographie eines Erzähltextes sich beim Lesen ausgestaltet, also welchen Gesamtkomplex sie am Ende des individuellen Leseprozesses ausmacht, darüber kann mit der hier gewählten Methode nichts herausgefunden werden.

Obwohl sie in vielen Punkten eher an die literaturwissenschaftliche Tradition anknüpft, die Raum auf der Bedeutungsebene von Texten untersucht, hat Mieke Bal (1985) auch einige strukturelle Differenzierungen zur Debatte des literarischen Raumes beigetragen. So findet sich in Ansätzen bei ihr, was Zoran in seinen Betrachtungen bewusst ausspart, eine Verknüpfung von Raum und narrativer Funktion (Zoran, 1984, 335). Sie unterscheidet zwischen Raum als Teil des Rahmens einer Erzählung, Raum als beschreibendem Element und Raum als emotionalem Bezugspunkt für Figuren (Bal and van Boheemen-Saaf, 1985, 136–137). Darüber hinaus benennt sie – ähnlich wie Genette (Genette und Knop, 1998, 21 ff) es für die Zeit und Chatman für story-space (s.o.) getan hat – fünf Parameter, die narrativen Raum bestimmen: Determination, Repetition, Akkumulation, Transformation und Relation von Räumen zueinander (Bal and van Boheemen-Saaf, 1985, 139). Bal fügt dieser Unterscheidung noch die Differenzierung zwischen „place“ und „space“ hinzu. Den Begriff place definiert sie als Überbegriff für topologische Positionen, an denen sich Charaktere befinden und Events stattfinden können (Bal and van Boheemen-Saaf, 1985, 133). Space entstehe, wenn solche Orte mit der sinnlichen Wahrnehmung (insbesondere über die drei Sinne des Sehens, Hörens und Fühlens) der Charaktere verknüpft würden (Bal and van Boheemen-Saaf, 1985, 133).

Auch in der rhetorisch interessierten Erzählforschung werden die Funktionalitäten narrativen Raums hervorgehoben. Setting wird als zentrale räumliche Kategorie ausgemacht, die z. B. geographische Begebenheiten und die darin befindlichen Objekte beinhalte, und damit so umfassend sei, dass es nahezu automatisch zum Hintergrund eines Erzähltextes werde (Phelan, 2012, 85). Phelan und Rabinowitz machen drei Hauptfunktionen des Settings aus: die synthetische oder formale, die mimetische und die thematische (Phelan, 2012, 85). Auf formaler Ebene gibt das Setting einem Erzähltext einen Rahmen und legt die Bedingungen des Erzählverlaufs fest (Phelan, 2012, 86). Die mimetische Funktion des Settings ist im Grunde eine beschreibende, die die Aufgabe hat, einer lesenden Person als Fenster zur realen Welt zu dienen (Phelan, 2012, 87). Die thematische Funktion des Settings umfasst schließlich alle Hinweise auf symbolische oder semantische Aufladung von Räumen. Die hier aufgezeigten analytischen Kategorien zielen allerdings weniger darauf ab, interne Strukturen von Erzählungen besser fassen zu können, wie es die Ansätze von Chatman, Zoran und Bal tun. Stattdessen können mit Hilfe dieser Funktionen des Settings die Wirkungszusammenhänge untersucht werden, seien diese textimmanent wie bei der synthetischen Funktion oder rezeptionsästhetisch wie bei der mimetischen und der thematischen Funktion. Darum werden diese Funktionen in der folgenden Analyse nur zum Teil sichtbar. Die synthetische oder formale Funktion wird zwar voll berücksichtigt, die mimetische und thematische Ebene aber nur in den Grenzen dessen betrachtet, was im Text explizit oder implizit angelegt ist. Die hier dokumentierte Studie zeigt allerdings, dass gerade die thematische Funktion von Raumdarstellungen sich durchaus auch textimmanent nieder schlägt und eine wichtige, wenn auch weniger häufige als die synthetische, Dimension von Raumdarstellungen im Text ausmacht.

Bei allen oben genannten Ansätzen geht es nicht primär darum, Raumreferenzen in Erzähltexten ausfindig zu machen, sondern bereits herausgearbeitete Fundstücke zu klassifizieren und zu kategorisieren. Einige der konzeptionellen Ansätze wie z. B. die Unterscheidung zwischen place und space nach Bal und zwischen konkreten, im Text befindlichen Raumeinheiten und abstrakteren Raummustern wie sie sich sowohl bei Zoran als auch bei Phelan und Rabinowitz finden, wurden in die theoriegeleitete Modellbildung literarischen Raumes einbezogen. Andere, eher konkrete Fundstücke in Erzähltexten klassifizierende Kategorien wie Chatmans fünf Raumparameter oder Bals Unterscheidung zwischen Determination, Akkumulation, Transformation und Relation werden zum Teil bei der Auswertung der Korpusanalysen wieder aufgegriffen. Bei der hier dokumentierten Analyse hat sich gezeigt, dass gerade die Betrachtungen der Strukturen, die durch narrative Raumdarstellungen entstehen, von der computergestützten Analyse profitieren kann.

2.4 Literarischer Raum als Raumkonstruktion zwischen Text und Leser*in

Der grundlegende Gedanke, dass literarischer Raum sich im Zusammenspiel von Text und Leser*in entwickelt, ist zentral für die rezeptionsästhetische literaturwissenschaftliche Forschung (so z. B. in Butor, 1968, passim), für die kognitivistisch interessierte Narratologie (vertreten u.a. von Herman, 2012, passim) und auch für die Possible-Worlds-Theorie (z. B. Pavel, 1986, passim, Ryan, 1980, passim, Ronen, 1994, passim, Doležel, 2009, passim). Grundlegend ist für diese Ansätze die Idee, dass Leser*innen sich auf eine mentale Reise zum Ort des Romans begeben (Butor, 1968, 79; Herman, 2012, 98). Auf mentalen Karten werden die im Erzähltext enthaltenen und sprachlich aufbereiteten Informationen festgehalten (Herman, 2012, 99). Ähnlich wie bei Bauer in seinem semiotischen Ansatz (vgl. Abschnitt 2.2.1) wird auch hier angenommen, dass mittels Sprache beim Lesen ein narrativer Raum erschaffen wird (Herman, 2012, 99–100). Im Zentrum der Possible-Worlds-Theorie steht aber auch die Frage nach dem ontologischen und psychologischen Status von Erzählungen und dem Unterschied von Fakt und Fiktion (Pavel, 1986, 75 ff). Da sowohl die Frage nach der (Re-)Konstruktion narrativen Raumes durch Lesende als auch die nach dem ontologischen Status narrativer Räume über eine textimmanente Betrachtung des Raumes in der Literatur hinaus geht, sind in diesen Forschungszweigen leider keine neuen Aspekte für die Modellierung eines operationalisierbaren Raummodells zu finden. Sie wurden darum nicht in diese Studie einbezogen.

2.5 literaturwissenschaftliche Aspekte des Raummodells

Aufgrund der vorausgehenden zusammenfassenden Betrachtungen der Forschung zum literarischen Raum konnten bereits zentrale Aspekte für vier der Kategorien des zu Beginn dieses Kapitels beschriebenen und im fuzzy-set-Modell narrativen Raumes integrierten Kategoriensystems ausgearbeitet werden. Konkrete Raumreferenzen wie sie z. B. Piatti und Dennerlein beschreiben und die von Zoran als spatial units benannt werden, sind zentraler Bestandteil der Kategorie „Orte“. Räumliche Relationen manifestieren sich zwar auch konkret im Text, wirken aber definitionsgemäß nicht allein, sondern nur im Zusammenhang mit anderen, nicht primär räumlichen Faktoren des Textes. Relationen können z. B. zwischen Figuren oder Objekten bestehen, aber sie bestehen nicht per se. Trotzdem handelt es sich auch hier um spatial units auf der Textebene. Auch hierfür hat Dennerlein bereits konkrete Referenzen vorgeschlagen. Raumthemen und Chronotopoi können wie bereits beschrieben als Wortfelder konkretisiert werden, die mit Raumausdrücken in Verbindung gebracht werden können, sodass die Forschung zu Topoi, wie sie in Abschnitt 2.2.2 zusammengefasst wurde, auf dieser Ebene eingearbeitet worden ist. Nach Zoran erreichen wir mit den Raumthemen die chronotopische Ebene und betrachten nicht mehr nur spatial units, sondern Raumkomplexe. Am wenigsten explizit sind Hinweise auf den Raum, wie z. B. ein Verweis auf die Gestalt einer Figur, der zwar impliziert, dass diese Raum einnimmt, die Raumdarstellung aber nicht in den Fokus rückt. Bei einem Ausdruck wie „sie war von zierlicher Gestalt“ gibt es z. B. einen vagen Hinweis auf den Raum (die Figur nimmt vergleichsweise wenig Raum ein), dieser ist aber kaum mehr als eine Assoziation von vielen. Ästhetische Aspekte, gesellschaftliche Normen und auch Implikationen von Kraft und evtl. sogar (mangelnder) Durchsetzungsfähigkeit schwingen hier mit. Es entsteht ein komplexer Assoziationszusammenhang, der auch Raum enthält, der aber relativ vage im Text verankert ist. Diese Ebene ist zwar nach Zoran immer noch chronotopisch, allerdings abstrakter und impliziter räumlich als Raumthemen es sind. Obwohl die Verbindung von Wortebene und räumlicher Dimension hier vage ist, kann, solange diese Verbindung besteht, auch die computergestützte Methodik fruchtbar eingesetzt werden. In den abstrakteren Raumkategorien der Raumthemen und -hinweise wurde auch die raumsemantische Traditionslinie von Bachelard über Lotman bis hin zu Ansätzen aus der feministischen Narratologie bei der Modellierung einbezogen. Konkret benannte Raumsymbole wie z. B. Fenster und Treppen (vgl. Abschnitt 2.2.1) werden hier zu Indikatoren der größeren Raumeinheit der Raumthemen.

Metaphern, die Raumausdrücke nutzen, um eine nicht-räumliche Bedeutung zu transportieren, wurden nicht berücksichtigt. Grund hierfür ist, dass Raummetaphern zwar Raumausdrücke enthalten, sie beschreiben aber nicht räumliche Aspekte, sondern implizieren nicht-räumliche Bedeutungen. Das heißt, dass später, bei der Implementierung des Modells, ein Arbeitsschritt zur Extraktion der metaphorisch verwendeten Raumausdrücke eingefügt werden muss. Der Metaphern-Begriff wird hier nicht als Oberbegriff für semantisch-kulturelle Aufladung verwendet, sondern als Bezeichnung für Phrasen, die Raumausdrücke enthalten aber keine Raumbeschreibungen sind, also für eine uneigentliche Wortverwendung. Wie bereits erwähnt, wurden semantisch-kulturelle Implikationen von Raumausdrücken dagegen sehr wohl ins fuzzy-set-Raummodell einbezogen, solange sie eine zumindest implizite Verknüpfung mit räumlichen Aspekten der storyworld haben.

Anschließend an die literaturwissenschaftlichen Betrachtungen wird dieser Studie ein relativ weiter Raumbegriff zu Grunde gelegt. Ausgehend vom phänomenologischen Raum werden Orte und Räume hier als wahrnehmbare Größen verstanden, die sowohl subjektiv erfahrbar als auch objektiv kartographierbar sein können. Betrachtet wird hier die Darstellung von Raum, d. h. Ausdrücke und Beschreibungen, die Orte und Räume implizit oder explizit aufrufen. Nachdem festgelegt wurde, dass ein phänomenologisches Raumverständnis für diese Arbeit grundlegend ist, und nachdem die literaturwissenschaftlichen Betrachtungen bereits gezeigt haben, wie die Darstellung von Raum umgesetzt sein kann, schließt sich die Frage an, welche Phänomene genau zu den räumlichen gezählt werden können. Diese Frage kann nicht auf Basis literaturwissenschaftlicher Forschung allein beantwortet werden, weshalb ich hier einen wissenschaftsgeschichtlichen Überblick zur Raumforschung außerhalb der Literaturwissenschaften anschließe.

3 phänomenologische Grundlagen der Raumdarstellung für das fuzzy-set-Modell

Um das Modell narrativen Raumes weiter zu konkretisieren, wurden ergänzend Ansätze aus anderen Disziplinen ausgewertet. Im nun folgenden Abschnitt liegt der Fokus auf Betrachtungen, die einen phänomenologischen Raumbegriff stützen. Denn wie oben bereits angedeutet, wird der konkrete, wahrnehmbare Raum hier als Grundlage für den erzählerisch dargestellten Raum verstanden. Es geht also um ein erfahrungsbasiertes mimetisches Raumkonzept, das im theoretischen Modell implementiert wird. Grundlage ist zwar die Raumerfahrung (sowohl auf Seite der Rezipierenden als auch auf Seite der Figuren in der fiktionalen Welt), diese wird aber im Erzähltext stets mittelbar dargestellt, sei es als Erfahrung der Figuren oder als bloße Vorstellung derselben – der Raum im Erzähltext ist nie physisch. Aus diesem Grund wird hier auch nicht zwischen tatsächlichen und mentalen bzw. inneren Räumen der Figuren unterschieden. Anders als Schmid (Schmid, 2008, 24), der für seinen Eventbegriff klar zwischen vorgestellten und innerhalb der storyworld tatsächlich stattfindenden Zustandsveränderungen unterscheidet und nur Letztere als events definiert, beziehe ich alle erwähnten Räume in meine Betrachtungen ein, seien sie nun vorgestellt oder tatsächlich Teil der storyworld, seien sie innerhalb oder außerhalb einer Figur verortet (mehr dazu in Kapitel 3). Am Ende dieser Betrachtungen wird die Trennschärfe dessen, was hier als räumliche Dimension von Erzählungen betrachtet wird, erhöht. Im Folgenden werden drei Traditionslinien der Raumbetrachtung zusammengefasst, die sich vor allem durch den Fokus auf unterschiedliche Aspekte des Raumes voneinander unterscheiden. Damit geht auch einher, dass Raum unterschiedlich abstrakt betrachtet wird. In Abschnitt 2.3.1 steht die Entwicklung eines Objekt-zentrierten und damit sehr konkreten Raumbegriffes im Zentrum. Darauf aufbauend wird in Abschnitt 2.3.2 ein relationales Raumverständnis beschrieben, das immer mindestens zwei konkrete Größen und eine abstrakte Verbindung dazwischen benötigt. Schließlich wende ich mich in Abschnitt 2.3.3 noch der Betrachtung sozialer und kultureller Räume zu, die sowohl konkrete Objekte als auch Relationen dazwischen und darüber hinaus noch abstrakte Wertmodelle einbeziehen.

Wissenschaftliche Traditionslinien der Betrachtungen zum Thema Raum sind zwar divers und haben viele unterschiedliche Ansatzpunkte. Die hier betrachteten Schlüsselpositionen lassen sich aber grob in drei Richtungen unterscheiden. Diese sind hauptsächlich inhaltlich begründet, zeigen aber auch eine zeitliche Entwicklung. Während frühe Ansätze häufig Objekte als räumliche Elemente in den Fokus stellten (absoluter Raumbegriff), wurde Raum später zunehmend relational, also entweder in einer Subjekt-Objekt-Relation oder als System aus Beziehungen zwischen Objekten (relationaler Raumbegriff), betrachtet. Mit dem spatial turn in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, der vor allem die Sozial- und Kulturwissenschaften betraf (Günzel, 2009a, 10–11 und Dennerlein, 2009, 6), gab es zunehmend Ansätze, die Objekte und deren Relationen zueinander in ihrer gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutung betrachteten (Günzel, 2009b). Unberücksichtigt bleiben hier Ansätze, die von der phänomenologischen Betrachtung komplett absehen und Raumbegriffe lediglich in ihrer metaphorischen Bedeutung nutzen und untersuchen oder die Fragestellungen nach dem ontologischen Status von Raum nachgehen, wie z. B. der Fall bei (Hegel, 1979 und Heidegger, 2006).

3.1 Objekt-zentrierter Raumbegriff

Erste Ansätze zu Objekt-zentrierten Raummodellen wurden bereits in der Antike entwickelt. Bei Aristoteles finden sich sowohl in der Physik als auch in der Metaphysik Auseinandersetzungen mit unterschiedlichen Ideen zu den Fragen, ob es Raum gibt und wenn ja, was Raum istFootnote 8. Er gelangt zu dem Schluss, dass es einen Raum geben muss, da etwas seine Lage, also seinen Ort, wechseln kann (Aristoteles, 1995, 82). Wenn dort, wo einmal Luft war, nun Wasser sein kann, dann muss der Ort etwas sein, das weder direkt zum einen noch zum anderen gehöre (Aristoteles, 1995, 82). Die sechs Richtungen (oben, unten, rechts, links, vorne, hinten) seien für den Raum nicht relativ wie für den Menschen, für den sie sich je nach Lage veränderten, sondern festgelegt (Aristoteles, 1995, 82). Die Richtungen des Raumes ergeben sich aus seinen physikalischen Gesetzmäßigkeiten, wie z. B., dass Leichtes nach oben strebt (Aristoteles, 1995, 83). Mit seinem Schluss, dass der Raum so ähnlich wie ein Gefäß sei (Aristoteles, 1995, 86), legt Aristoteles den Grundstein für die später bedeutsam werdende Idee des Container-Raumes. Während der Körper sich beim Verständnis vom Raum als ContainerFootnote 9 allerdings innerhalb dieses Raumes bewegt, ist die Gefäß-Idee des Aristoteles sehr eng an den Körper gebunden; Raum sei dessen direkte, unmittelbare, unbewegliche Grenze (Aristoteles, 1995, 93).

Obwohl die Idee des Raumes als unmittelbarer Grenze des Körpers aus heutiger Sicht überholt wirken mag, ist die Grundidee der engen Verknüpfung von Raum und Körper bzw. Objekt es nicht. Neben Beispielen wie Bachelard, Lotman und Tuan, die bereits in Abschnitt 2.2 genannt wurden, geht z. B. auch Flusser (2006) davon aus, dass die körperliche Erfahrung des Menschen zentral für sein Raumempfinden ist. Die Benennung eines jeden Gegenstandes und jeder Figur einer Erzählung kann als Hinweis auf eine räumliche Dimension gelesen werden. In Bezug auf die Erzähltextanalyse ist dies teilweise problematisch. Denn wenn jede Erwähnung einer Figur als Hinweis auf den Raum interpretiert wird, so ergibt sich eine starke Überlagerung mit dem Konzept der Figur. Ähnliches gilt für die Bewegung, die für das aristotelische Raumverständnis ebenfalls zentral ist. Wenn jede Beschreibung von Bewegung in einem Erzähltext als Hinweis auf den Raum angenommen wird, so fehlt die Trennschärfe zur Kategorie der Zeit. Aus diesem Grund werden zwar Figurennennungen und sprachliche Markierungen von Bewegung nicht zwingend als Hinweise auf den Raum betrachtet, wenn sie allerdings als räumliche Variablen gekennzeichnet werden (wie z. B. indem sie einen Wechsel von Positionen bezeichnen), so wird dies durchaus in dieser Studie berücksichtigt. Auch der Hinweis auf die potentielle Beweglichkeit aller Objekte und die damit verbundene räumliche Flexibilität wird konzeptionell in die Modellierung von Raum einbezogen. Neben der Beweglichkeit von Objekten und dem damit verbundenen potentiellen Positionswechsel sind die Richtungen rechts-links, oben-unten, vorne-hinten als subjektive und objektive Relationen von Raum von Bedeutung. Die von Aristoteles erwähnten (s.o.) absoluten Richtungen deute ich als Himmelsrichtungen und beziehe sie als Positionsbestimmungen (Kategorie: „Orte“) ins Raummodell ein. Positionen und Richtungen können durch bestimmte Worte und Phrasen ausgedrückt werden und sind somit operationalisierbar. Positionen und Lageveränderungen können auf Ebene der konkreten Raumreferenzen ausgedrückt werden, ebenso wie die objektiven Richtungen, wie z. B. oben und unten. Subjektive Richtungen können relational ausgedrückt werde, wie z. B. in den Phrasen „links von ihr“ oder „direkt vor ihnen“Footnote 10.

Während Aristoteles beim Objekt als kleinster Einheit seines Raumverständnisses ansetzt, rückt die euklidische Geometrie den Punkt als unzerteilbares, kleinstes räumliches Element ins Zentrum. Das auf dieser Idee aufbauende Raumverständnis wird bis heute als „euklidischer Raum“ bezeichnet, obwohl nicht ganz klar ist, ob Euklid nur zahlreiche Ansätze der Platoniker zusammenführte vgl. Reidemeister (1940, 6) und Becker und Patzig (1966, 18–20) und daraus ein umfassendes und bis heute zumindest für die Schulgeometrie grundlegendes vgl. Waerden (1956, 321) und Filler (1993, I) Werk der Geometrie machte oder ob er tatsächlich auch eigene Ansätze in seinen Elementen festhielt (Becker und Patzig, 1966, 18–20). In den Elementen Euklids finden sich zahlreiche aufeinander aufbauende Begriffsdefinitionen, Axiome und Postulate (Simons, 2015, 272), die für einen Objekt-zentrierten, absoluten Raumbegriff bedeutsam sind. Basis eines jeden Objekts ist der Punkt, aus vielen Punkten können Linien, aus vielen Linien Flächen (Euclides, 1971, 1, Buch I Definitionen 1–5) werden, die wiederum Körper begrenzen können, die ihrerseits durch die Ausdehnung in Länge, Breite und Tiefe bestimmt sind (Euclides, 1971, 315, Buch XI Definitionen 1 und 2). Für unterschiedliche Arten von Flächen und Körpern werden außerdem mathematische Gesetzmäßigkeiten festgehalten, wie z. B. dass die Winkelsumme eines Dreiecks immer 180\(^\circ \) beträgt (Euclides, 1971, 23, Buch I §32). Entscheidend für den euklidischen Raum ist, dass es sich um einen idealen Raum handelt (Reidemeister, 1940, 12–13). Es gilt das Gesetz der Widerspruchsfreiheit (Reidemeister, 1940, 12–13). Obwohl viele der euklidischen Axiome und Postulate mathematisch bewiesen werden können, greift im Zweifelsfalle die definitorische Setzung in einer Art Zirkelschluss: Da Parallelen als zwei Linien definiert sind, die sich nie treffen (Euclides, 1971, 2, Buch I Definition 23), können sich Parallelen nicht treffen. Die euklidische Geometrie ist also zutiefst theoretisch. Darum gilt sie heute auch als überholt bzw. als durch den Mathematiker Carl Friedrich Gauß überwunden und durch die Idee eines gekrümmten Raumes ersetzt (vgl. Filler, 1993, 163–164 und 213–216). Für diese Studie ist es vor allem die grundsätzliche Idee, dass Raum aus einzelnen Einheiten zusammengesetzt ist, die so zusammengefügt werden können, dass sich nach und nach mehrere Dimensionen ergeben, die fruchtbar gemacht werden kann. Als Basis einer literarischen Raumdarstellung können Orte und örtliche ObjekteFootnote 11 (wie z. B. das Haus) als kleinste Einheiten definiert werden. Aus mindestens zwei Orten und / oder Objekten ergibt sich eine Relation (analog zur Linie), aus mehreren Orten und / oder Objekten und / oder Hinweisen auf diese eine Art Topographie (analog zur Fläche). Eine weitere Dimension bildet die kulturelle Aufladung von Räumen. Damit ist die Basis für das mehrdimensionale Raummodell geschaffen, das zu Beginn dieses Kapitels vorgestellt wurde.

Eine wichtige Entdeckung innerhalb der Raumforschung war, dass das Universum nicht geo- sondern heliozentrisch angeordnet ist (Kopernikus, 2007, 16–21). Die Bedeutung der damit verbundenen Kopernikanischen Wende wurde als einschneidendes kulturelles Erlebnis innerhalb der Menschheitsgeschichte auch schon aus unterschiedlichen Perspektiven, wie z. B. der psychoanalytischen durch Freud oder der kulturtheoretischen durch Blumenberg analysiert (Schmidt, 2009, 297). Indem Kopernikus die Erde und damit auch die Menschheit aus dem Zentrum des Universums gerückt hat (Schmidt, 2009, 297), macht er sie zu einem beobachtbaren räumlichen Objekt unter anderen. Der Mensch in seiner Rolle als Beobachter rückt von einem zentralen an einen peripheren Ort des Universums. Durch das Infragestellen der Zentralität des Subjekts nimmt die Bedeutung von Subjekt-Objekt-Relationen zu. Gleiches gilt für die Beziehungen räumlicher Objekte zueinander, die im Fokus von Kopernikus‘ Abhandlung stehen. Damit weist Kopernikus’ Ansatz recht weit über seine Zeit hinaus und legt den Grundstein für Denkmodelle, die eigentlich erst ab dem 18. Jahrhundert ins Zentrum der Beschäftigung mit dem Raum rücken und die hier als relationale Raummodelle benannt werden. Die Kopernikanische Wende verweist aber noch auf einen weiteren Aspekt, der für die vorliegende Arbeit wichtig ist: Es ist möglich, Raum subjektiv wahrzunehmen und daraus ein Weltbild abzuleiten, das eine Kultur über Jahrhunderte hinweg prägt und trägt. So hat es das geozentrische Weltbild getan und auch die Vorstellung der Welt als Scheibe war menschheitsgeschichtlich konsistent und tragbar. Das heißt, dass ein Raumkonzept oder Raumverständnis (und damit auch ein narrativ entworfener Raum) nicht empirisch fundiert oder gar verifiziert sein muss, um als schlüssig und tragfähig angenommen zu werden. Die Kopernikanische Wende hat auch gezeigt, dass sowohl ein individuelles (durch Kopernikus selbst) als auch ein kollektives (kulturelles) Umdenken möglich ist. Diese Dualität in der Perspektive auf Raum ist immer mitzudenken und ist darum auch für ein erzähltheoretisch anwendbares Raumkonzept unverzichtbar. Die Kopernikanische Wende stützt also die These, dass narrativ entworfener Raum in keiner Weise einem geographischen Raum entsprechen oder auch nur bis ins letzte Detail konsistent sein muss, ohne dass dies ein Problem für das Verständnis der storyworld insgesamt darstellt.

Bei Aristoteles, in der euklidischen Geometrie und letztendlich auch bei Kopernikus ist die Definition räumlicher Elemente als abgeschlossener Einheiten zentral. Dagegen steht die Idee eines räumlichen Kontinuums, die von Descartes entwickelt wurde (Einstein, 2006, 95). Allerdings geht auch Descartes in seinem Raummodell, ähnlich wie Aristoteles, sehr stark von Körpern und damit von Objekten aus. Er definiert aber nicht die Grenze dieser Körper als Raum, sondern deren Ausdehnung, sodass sie zur reinen res extensa werden (Descartes, 2007, 93 und 95). Von dieser Idee des Raumes als Ausdehnung in Tiefe, Breite und Höhe, die in ihrem Kern die euklidische Definition von Körpern aufgreift, grenzt Descartes den Begriff des Ortes ab. Im Gegensatz zum Raumbegriff, der Größe und Gestalt einer Sache bezeichne, würden als Ort eher Positionen und konkrete Lagebestimmungen benannt (Descartes, 2007, 107)Footnote 12. Für Descartes gibt es keinen leeren Raum (Descartes, 2007, 131). Es ist aber möglich, Räume nach Qualitäten wie z. B. Festigkeit zu unterscheiden. Die Idee eines räumlichen Containers sei im Prinzip nichts anderes als die Vorstellung, dass eine räumliche Einheit von besonders standhaften Körpern, also von anders gearteten räumlichen Einheiten, umgeben sei (Descartes, 2007, 103). Da es für Descartes keinen leeren Raum gibt, bedeutet Bewegung für ihn, dass sich eine räumliche Einheit aus der unmittelbaren Nachbarschaft der einen Körper in die unmittelbare Nachbarschaft anderer Körper begibt (Descartes, 2007, 121). Dieses Prinzip ist nicht nur einleuchtender als die aristotelische Vorstellung, dass ein Körper in der Bewegung permanent seine Grenze ändert, sondern hilft auch dabei den Raum als Fluidum zu begreifen, das permanentem Wandel unterliegt. Gleichzeitig unterstützt die strikte Trennung der Begriffe Ort und Raum die Idee eines dreidimensionalen euklidischen Raummodells. Einerseits wird hier klar, dass weder einzelne Positionen noch zweidimensionale verbundene Positionen als Raum verstanden werden können, sondern nur etwas, das mindestens drei Dimensionen besitzt. Auf der anderen Seite werden Positionen hier analog zu den Punkten des euklidischen Raumes zu kleinsten Einheiten, die mit Hilfe von Relationen zweidimensional erweitert werden können. Erst die kulturelle Aufladung, die hier als Einbindung der grundlegenden Ortseinheiten (Positionen und Relationen) in die Thematik einer Erzählung gedeutet wird, vervollständigt den literarischen Raum bzw. macht ihn erst zum Raum. Drei Aspekte werden also von Descartes ins operationalisierbare Raummodell übernommen: Die Ununterscheidbarkeit zwischen Raum und nicht-Raum und die weniger binäre Differenzierung nach Raumqualitäten, die damit einhergeht, die Bewegung als Veränderung der Beziehungen eines Raum-Elements zu anderen Raum-Elementen und die strikte Trennung von Orts- und Raumbegriff, bei dem letzterer immer etwas mindestens Dreidimensionales bezeichnen muss.

Der Begriff der Gestalt, den Descartes als für räumliche Einheiten bezeichnend darstellt, beinhaltet darüber hinaus eine neue Ebene der Hinweise auf Raum als Eigenschaft von Objekten. Demnach könnten auch Adjektive wie etwa flach, spitz oder gekrümmt auf räumliche Aspekte, nämlich die Räumlichkeit von Objekten und auch von Subjekten hinweisen. Hier wird wieder die Problematik offenbar, dass das Raumkonzept sich mit Aspekten der Figurenbeschreibung überlappt. Wenn ein Hinweis auf Objekte und Subjekte, der auch implizit sein kann, ausreicht, um Raum zu beschreiben, so trägt dies nicht zur Trennschärfe eines literarischen Raumkonzepts bei. Dieses würde im Gegenteil beliebig werden. Darum musste hier beim Machine-Learning-Training, das auf die Modellierung der Raumkategorien folgte, ganz besonders darauf geachtet werden, wann in adjektivischen Beschreibungen tatsächlich Aspekte von Raum aufgerufen wurden und wann nicht. Bei Raumhinweisen, die sich auf Figuren bezogen, war ebenfalls besondere Sorgfalt nötig. Nur wo tatsächlich auf die Körperlichkeit und die räumliche Ausdehnung von Figuren referenziert wurde, wurden diese auch als Raumhinweise bewertet. Da, wie bereits erwähnt, bei Beschreibungen der Körper von Figuren Raum eher eine untergeordnete Rolle im Assoziationskomplex einnimmt, wurde diese Kategorie als weniger räumlich bewertet als die konkreteren.

3.2 Relationaler Raumbegriff und Anschauungsraum

Ab dem 18. Jahrhundert beginnt die Entwicklung weg vom objektzentrierten Raumbegriff hin zu einer eher an Relationen interessierten Betrachtungsweise. In seiner Monadologie noch vom Objekt ausgehend, entwickelt sich Leibniz zu einem der wichtigsten Vertreter des relationalen Raumes. In der Monadologie vertritt Leibniz ein Raumverständnis, welches dem von Descartes ähnelt. Leibniz geht ebenfalls vom ausgedehnten Objekt aus und betont die Nachbarschaft von Körpern zueinander (Leibniz und Schneider, 2002, 137). Später wird die Ausdehnung von Objekten für sein Raummodell zunehmend peripher und die Relationen rücken ins Zentrum. Dies wird besonders deutlich in seinem Briefwechsel mit Clarke, der in die Wissenschaftsgeschichte als eine der wichtigsten Auseinandersetzungen der Raumforschung eingegangen ist. Leibniz vertritt darin einen relativen Raumbegriff, während Clarke als Schüler und Anhänger Newtons für einen absoluten Raumbegriff argumentiert. In seinen insgesamt fünf Briefen führt Leibniz aus, dass der Raum relativ, ebenso wie die Zeit ein theoretisches Ordnungssystem (Leibniz, 1717d, Absatz 4) und unabhängig von Körpern, die zueinander in Relation stehen, nicht vorhanden sei (Leibniz, 1717d, Absatz 5). Für Clarke und andere Anhänger Newtons ist der Raum hingegen absolut, unveränderlich und unabhängig von menschlicher Erkenntnis und Objekten (Clarke, 1717b, Absatz 4).

Ganz im Sinne seiner Monadologie stellt Leibniz in seinen Briefen an Clarke ebenfalls fest, dass es nach seinem Raumverständnis kein Vakuum gebe (Leibniz, 1717c, Absatz 2 und 1717b, Post Scriptum). Anders als z. B. Descartes beschreibt Leibniz hier einen Unterschied zwischen Raum und körperlicher Ausdehnung, was er damit erklärt, dass ein Körper sehr wohl den Raum verändern könnte, nicht aber seine eigene Ausdehnung (Leibniz, 1717a, Absatz 37). Nach der Newton’schen Auffassung sind körperliche Ausdehnung und Raum strikt voneinander zu trennen, der ausgedehnte Körper existiere lediglich im Raum (Clarke, 1717a, Absatz 38). Raum ist für Newton und seine Anhänger eine nicht veränderbare Größe (Schmidt, 2009, 298). Auf diese Größe bezieht er die Beobachtungen seiner Experimente (Schmidt, 2009, 298). Rotiert man z. B. einen halb mit Wasser gefüllten Eimer schnell um eine Achse, so sorgen Trägheits- oder Zentrifugalkräfte nicht nur dafür, dass das Wasser im Eimer bleibt, sondern auch dafür, dass dessen Oberfläche sich wölbt (Schmidt, 2009, 298). Diese Kräfte werden von Newton durch die Bewegung des Eimers gegen den absoluten Raum begründet (Schmidt, 2009, 298). Er stellt damit fest, dass vom absoluten Raum Kräfte ausgehen (Schmidt, 2009, 299). Das Beispiel der Schlussfolgerung aus diesem Eimerexperiment zeigt, wie starr das Newton’sche Raumkonzept ist. Newtons Ideen vom absoluten Raum stießen aber nicht nur bei Leibniz auf Kritik. Auch Ernst Mach zweifelte diese an (Schmidt, 2009, 299). Trägheitskräfte könnten ebenso gut zwischen unterschiedlichen Materiemassen wirken wie zwischen Materie und absolutem Raum (Schmidt, 2009, 299). Für den Menschen sei es unentscheidbar, ob das eine oder das andere wahr sei (Schmidt, 2009, 299). Die Trägheit als Wechselwirkung von Massen wurde von Einstein als „Mach’sches Prinzip“ bezeichnet (Schmidt, 2009, 300), auf das er in der Entwicklung der Relativitätstheorie vage Bezug nahm (Schmidt, 2009, 300).

Leibniz kommt zu einem dynamischeren Raummodell als Newton, für das die Idee zentral ist, dass ein Subjekt Raum über die Relation zu anderen Objekten, d. h. Objekten an anderen Orten wahrnimmt (Leibniz, 1717a, Absatz 47). Verändern sich die Positionen, so verändern sich auch die Relationen und damit der Raum. Seine Definition von Ort ist also die von einem Subjekt oder Objekt eingenommene Position, die in Differenz und Relation zu anderen Positionen bzw. zu anderen Objekten, die diese einnehmen, bestimmt wird (Leibniz, 1717a, Absatz 47). Raum definiert er als mehrere Orte zusammengenommen (Leibniz, 1717a, Absatz 47), d. h. Raum ist für ihn die Summe aus Subjekt-/Objektpositionen und deren Verhältnissen zueinander. Hierin liegt ein großer Unterschied zu vorangegangenen Raumverständnissen, da vorher Subjekte und Objekte meist singulär betrachtet wurden. Raumwahrnehmung war für Aristoteles z. B. entweder Wahrnehmung des eigenen Körpers oder Beobachtung anderer Körper. Durch Leibniz’ Raumverständnis wird dieser Betrachtungsweise eine zweite Dimension hinzugefügt: Der eigene Körper wird räumlich in Differenz zu anderen wahrgenommen.

Die Auseinandersetzung zwischen den beiden Gelehrten ist in diesem Zusammenhang von Bedeutung, da sie verdeutlicht, dass die Betrachtung des Raumes auf sehr unterschiedlichen Ebenen stattfinden kann. Der absolute, Newton’sche Raum ist ein Makroraum, in dem potentiell mehrere Welten Platz finden könnten (Clarke, 1717a, Absatz 21–25). Es ist ein apriorischer Raum, der völlig unabhängig von sämtlichen Lebensformen existiert. Das Leibniz’sche Raumverständnis ist zwar abstrakt, orientiert sich aber an konkreten, phänomenologischen Größen, da es durch diese bestimmt wird. Darum wird hier die Leibniz’sche Idee des Ordnungssystems Raum zumindest in ihren Grundzügen dem Newton’schen Modell des absoluten, unveränderlichen Makroraumes vorgezogen. Als konkrete, mess- und beobachtbare Größen, mit Hilfe derer Raum beschrieben werden kann, werden Subjekt- und Objektpositionen, sowie ihre Relationen untereinanderFootnote 13 übernommen. Da hier eine ausgewogene Darstellung angestrebt wird, sei noch kurz angemerkt, dass auch das Newton’sche Raumverständnis dabei helfen kann, erzähltheoretische Raummodelle zu erstellen oder weiter zu verfeinern. Die weiter oben beschriebene Traditionslinie der Possible-Worlds-Theorie wird z. B. eher durch ein absolutes Raumverständnis gestützt.

Kant verwirft sowohl die Idee des absoluten als auch die des relativen Raumes, um sein Postulat des apriorischen Raumes, des Raumes als Quelle der Erkenntnis, zu entwickeln (Kant, 2006, 78). Der absolute Raum sei ein reines Gedankenkonstrukt und gehöre in die „Welt der Fabeln“ (Kant, 2006, 78). Die Vertreter des relativen Raumes würden abstreiten, dass es einen solchen unabhängig von Objekten gäbe, und damit die Geometrie als abstrakte Wissenschaft anzweifeln (Kant, 2006, 78). Kant selbst nimmt die Position ein, dass der Raum eine schematische Denkfigur sei (Kant, 2006, 76 und 78), die einerseits der Erfahrung vorausgehe (Kant, 2006, 79 und Kant, 1993, 98) und andererseits Erkenntnis durch diese Erfahrung ermögliche (Kant, 2006, 82). Er verbindet also die Idee des absoluten Raumes als Denkfigur, die der Erkenntnis vorausgeht, mit der Wahrnehmung von Objekten, ihrer Lage, ihrer Individualität und ihren Relationen zueinander. Auf diese Weise legt er den Grundstein für die Idee des Anschauungsraumes:

Der Raum ist nichts anders, als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d.i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist. (Kant, 1993, 101)

Statt Raum also entweder in positiver (relativer Raum) oder negativer Weise (absoluter Raum) an Objekte zu binden, stellt Kant ihn in engen Zusammenhang mit Subjekten. Dies zieht auch den Umkehrschluss nach sich, dass Raum ohne die menschliche Wahrnehmung und Erkenntnis gar nichts sei (Kant, 1993, 102). Raum und Erkenntnis bedingen sich für Kant gegenseitig (Kant, 1993, 104).

Durch die enge Verknüpfung von Raum und Erkenntnis und damit äußerem Anschauungsraum und innerem Denkraum kommt bei Kant auch die Frage auf, ob es möglich sei, nicht-räumlich zu denken. Kant bejaht dies durch seine Erläuterungen über die Zeit. Der Zeitbegriff wird von Kant analog zum Raumbegriff apriorisch, abstrakt, schematisch und subjektiv gedacht. Während der Raumbegriff das Nebeneinander beinhalte, beschreibe der Zeitbegriff das Nacheinander (Kant, 1993, 109). Der große erkenntnistheoretische Unterschied ist, dass Zeit „die formale Bedingung a priori aller Erscheinungen überhaupt“ (Kant, 1993, 109) sei. „Der Raum [...] ist als Bedingung a priori bloß auf äußere Erscheinungsformen eingeschränkt“ (Kant, 1993, 109). Unter der Annahme, dass eine Erzählung nicht zwingend äußere Anschauung beinhalten muss, sondern auch auf innere Vorgänge – und damit auf Denkprozesse, die sich nicht zwingend auf räumliche Phänomene richten – beschränkt sein kann, lässt sich also schlussfolgern, dass es theoretisch möglich sein müsste, dass in einer Erzählung keinerlei Raumdarstellung evoziert wird. Das Kant’sche Raum- und Zeitverständnis stützt darum den konzeptionellen Rahmen dieser Untersuchung. Darüber hinaus ziehe ich für die Erzähltextanalyse aus Kants Ansätzen den Schluss, dass Raumdarstellung sowohl äußere Erscheinungsformen beschreiben kann als auch innere Vorgänge, die Gedanken über räumliche Aspekte umfassen. Anders als Schmid (2008, 24), der für die Definition des Ereignisbegriffes fordert, diesen auf tatsächlich in der storyworld stattfindende Zustandsveränderungen zu beschränken, nehme ich sämtliche erzählerisch dargestellten Räume in den Blick, seien diese nun durch die Erzählinstanz vermittelt oder von einer Figur erzählt oder bloß vorgestelltFootnote 14. Es wird also im Folgenden nicht streng zwischen den Ebenen der mentalen Repräsentation in Erzähltexten und der Ereignisebene unterschieden. Zentral für die diese Studie ist lediglich die Frage, ob in der Darstellung Raumausdrücke und -hinweise enthalten sind.

Ein weiterer Ansatz, in dem Anschauung und somit die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt ins Zentrum gerückt wird, ist der von Husserl in seiner Vorlesung zum Thema Ding und Raum (Husserl, 1991) dargelegte. Darin entwirft Husserl das Konzept einer Dingeinheit, die sich aus dem Objekt und der Anschauung des Objekts und seiner räumlichen Einbettung in die Umgebung zusammensetzt (Husserl, 1991, 234). Ausgangspunkt ist für ihn die Wahrnehmungsinstanz, die er als „Ich-Ding“ (Husserl, 1991, 5) oder „Ichleib“ bezeichnet (Husserl, 1991, 162). Die Besonderheit dieses wahrnehmenden Körpers gegenüber anderen sei, dass das Ich Empfindungen habe, die es in seinem Inneren lokalisiere (Husserl, 1991, 162). Außerdem gebe es für jede Wahrnehmung eine Motivation, ein Interesse, eine Meinung (Husserl, 1991, 129–130). Abgesehen von diesen Subjektkomponenten betrachtet Husserl die Wahrnehmungsinstanz sehr objektiv und ist eher an physikalischen Gegebenheiten (wie z. B. Position, Relation zum Objekt, Sichtfeld) interessiert als an psychologischen Vorgängen (vgl. Husserl, 1991, 161). Für diese Studie ist außerdem noch sein stark an die Ideen des euklidischen Raumes erinnerndes Verständnis des zweidimensionalen Feldes interessant. In einem solchen seien die kleinsten, möglicherweise unteilbaren Einheiten Punkte, die Punkte setzen sich zusammen zu linearen Begrenzungen, innerhalb derer sich das Feld als Kontinuität ergibt (vgl. Husserl, 1991, 166). Diese Kontinuität ist anders herum auch wieder in kleinere Einheiten teilbar, wahrscheinlich bis zum Punkt als kleinstem Element, möglicherweise aber auch bis ins Unendliche (vgl. Husserl, 1991, 166). Zentrale Termini, die Husserl für seine Analyse nutzt sind: Punkt, Linie, Lage, Figur, Größe (Husserl, 1991, 166).

Die ausgeführten Ansätze zum Anschauungsraum fügen der vorliegenden Analyse den grundlegenden Aspekt hinzu, dass die Wahrnehmungsinstanz räumlicher Ausgangs- und Bezugspunkt ist. Ganz konkret bedeutet das, dass in Ausdrücken wie „und da fiel ihr Blick auf eine Kiste“ eine räumliche Achse aufgebaut wird, die zwischen einem Subjekt und einem Objekt verläuft. Darüber hinaus kann aus den Ausführungen Kants und Husserls geschlossen werden, dass der Körper der Wahrnehmungsinstanz ebenfalls ein wichtiger räumlicher Bezugspunkt ist. Kant nennt die Betrachtung der Hände als wichtiges Beispiel der Raumerfahrung und -erkenntnis (vgl. Kant, 2006, 74). Bei Husserl sind es vor allen Dingen Blick-Linien (vgl. Husserl, 1991, 42–59) und -Felder (vgl. Husserl, 1991, 82–84), Bewegungen zu Objekten hin oder von ihnen weg (wobei sowohl das Subjekt (hierfür ist der Begriff der Kinästhesie zentral (vgl. Husserl, 1991, 154–185)) als auch das Objekt (vgl. Husserl, 1991, 272–284) bewegt sein kann) und die Lokalisierung von Empfindungen im Körper (vgl. Husserl, 1991, 162), die den Raum konstituieren. Somit können Erwähnungen des gesamten Körpers oder von Körperteilen der Figuren in einem Erzähltext Hinweise auf den Raum enthalten. Selbstaussagen wie „er fühlte Trauer in seinem Herzen“ sind nach Husserl eine Lokalisierung und können ebenfalls als Hinweise auf den Raum gedeutet werden.

Nahezu zeitgleich mit Husserls Ausführungen, nämlich im Jahre 1905, publizierte Einstein seine Ausführungen zu einer speziellen Relativitätstheorie. Dass Einsteins Betrachtungen von der Erzähltheorie, insbesondere in Bachtins Chronotopos, herangezogen wurden, ist in Abschnitt 2.2.2 bereits deutlich geworden. Die Hauptidee, die dort von Einstein übernommen wurde, ist die einer vierdimensionalen Raumzeit. Diese wird aufbauend auf Descartes und Minkowski als raumzeitliches Kontinuum verstanden (Einstein, 2006, 97–98). Einstein war als Vertreter des relationalen Raumes der Meinung, dass es keinen leeren Raum gäbe (ebenso wie Leibniz, s.o.). Ein solcher sei lediglich eine Denkfigur, die es leichter mache, räumliche Phänomene zu begreifen, da ein relativer und somit zumindest potentiell grenzenloser Raum zu komplex sei (Einstein, 2006, 94). Er nutzt in diesem Zusammenhang den Begriff der Mannigfaltigkeit, um die Komplexität des tatsächlichen (in seinen Augen relativen) Raumes zu beschreiben (Einstein, 2006, 94). Neben relativem, raumzeitlichem Kontinuum und Mannigfaltigkeit kann noch ein weiterer Faktor aus Einsteins Theorie auf die Erzähltextanalyse übertragen werden: Das Äquivalenzprinzip. Demnach sind bestimmte Eigenschaften von Körpern unter bestimmten Bedingungen ununterscheidbar. Ob eine Masse schwer oder träge ist, kann auf lokaler Ebene nicht unterschieden werden. Ob eine Masse schwerelos ist oder sich im freien Fall befindet, kann ebenfalls nicht entschieden werden, wenn man nur ein ganz kleines raumzeitliches Gebiet betrachtet (zum Äquivalenzprinzip vgl. Schmidt, 2009, 302). In literarischen Texten werden meistens nur mehr oder weniger kleine Ausschnitte einer narrativen Welt oder gar eines narrativen Universums thematisiert (vgl. z. B. Lotman, 1973, 300–305; Bauer, 1997, 74–75). Raumdarstellungen in narrativen Texten sind immer lückenhaft (vgl. Stanzel, 2008, 157). Nach dem Äquivalenzprinzip kann also nicht abschließend darüber geurteilt werden, wie der gesamte Raum eines literarischen Narrativs beschaffen ist. Anders ausgedrückt: Rückschlüsse von Raumeinheiten und Raumkomplexen, die im Text angelegt sind, auf eine allumfassende Topologie einer storyworld, so wie sie in Abschnitt 2.2.3 in Bezug auf Zoran bereits als problematisch für diese textzentrierte Analyse beschrieben wurde, sind in der Tat nicht möglich. Hier wird die Entscheidung, diese Ebene aus der Betrachtung auszuschließen erneut – wenn auch aus ganz anderer Perspektive – bestätigt.

Dass es durchaus sinnvoll ist, Grundideen von Einsteins Äquivalenzprinzip hier in die Analyse literarischer Räume einzubeziehen, zeigen zwei kurze Beispiele, die Dennerlein in ihrer Raumnarratologie einbringt. Dabei geht es darum, dass Objekte in Erzähltexten Qualitäten annehmen können, die ansonsten eher Orten vorbehalten sind. Das betrifft vor allem die Positionierung von Figuren. Dennerlein nennt als Beispiele für Dinge, in denen sich Figuren aufhalten können die Streichholzschachtel und die Flasche (vgl. Dennerlein, 2009, 77). Außerdem können abstrakte Größen in narrativen Texten örtlich werden. Vor allem in filmischen Erzählungen wird z. B. Zeit häufig als betretbarer Ort dargestellt, wenn Figuren sich auf eine Zeitreise begebenFootnote 15. Nach dem Äquivalenzprinzip entsteht hier das Problem, dass auf der Satzebene nicht immer eindeutig entschieden werden kann, ob etwas ein Ort oder ein Objekt ist – der betrachtete Kontext ist dafür zu klein. In dem Satz „Der Geist ist in seiner Flasche“ könnte „Flasche“ sowohl ein Ort (geographisch fest positioniert) als auch ein Objekt (nicht an eine geographische Position gebunden) und damit lediglich ein Raumhinweis sein. Gibt es nicht genügend weitere Kontextinformationen, die die Kategorisierung ermöglichen, so wird es für einen Computer unentscheidbar, in welche Kategorie das Wort „Flasche“ hier fällt. Erst ein zweiter Satz wie „Er nahm die Flasche samt Geist und ging damit fort.“, eine Öffnung des betrachteten Kontextes, würde eine Entscheidung über die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Kategorie zu Gunsten des Objektcharakters, ermöglichen (Die Textbeispiele wurden von mir konstruiert, bei Dennerlein finden sich diesbezüglich keine konkreten Satzbeispiele). Dabei bleibt aber die inhärente Ambivalenz (tatsächlich hat die Flasche hier wohl sowohl Qualitäten eines Ortes als auch die eines Objektes, das neben Hinweisen auf den Raum noch einen ganzen Assoziationskomplex kommuniziert). Beim Beispiel der Zeitreisen eröffnet sich noch eine andere Problematik. Der Fokus auf ein Figuren-Ensemble macht es unmöglich zu entscheiden, ob Zeit in der gesamten storyworld (topologische Ebene nach Zoran) in mehr als einem Ausnahmefall zu einem Raum wird, der betreten werden kann, ob es sich also um eine allgemeine Gesetzmäßigkeit handelt oder einen Bruch mit den Gesetzmäßigkeiten der narrativen Welt. Da in dieser Studie keine Genre-Grenzen berücksichtigt werden, findet hier das Principle of Minimal Departure (Ryan, 2012b, Absatz 6) Anwendung. Dieses von Ryan eingeführte Prinzip besagt, dass die erzählte Welt so lange als der Welt der Lesenden gleich angenommen wird, bis eine Abweichung explizit dargestellt wird. Das heißt konkret, dass hier z. B. ein geographischer Ortsbegriff angenommen wird. Objekte werden nur dann zu Orten, wenn sie im Text als solche dargestellt werden. Da das eingesetzte Machine-Learning-Tool kontextsensitiv ist, können explizite Abweichungen von der Referenzwelt durchaus Berücksichtigung finden. Befinden sich diesbezügliche Informationen allerdings außerhalb des Kontext-Fensters, das in der Kombination betrachteter Wort- und Satzmerkmale angelegt ist, so ist es für die Software ununterscheidbar, ob etwas in eine Raumkategorie fällt oder in eine andere. Hier greift also das Äquivalenzprinzip.

3.3 Kultureller und sozialer Raum

Ausgangspunkt einiger zentraler Kulturtheorien zum Raum ist die Differenzierung zwischen Natur und Kultur und damit zwischen zwei Raumqualitäten. Der Naturraum ist zwar Ausgangspunkt und Basis solcher Kulturtheorien, er kann aber nicht in seiner Ursprünglichkeit betrachtet werden (vgl. dazu z. B. Lefebvre, 2006, 330). Der Mensch ist als soziales, denkendes und erlebendes Wesen nicht fähig, den Naturraum vor dem Eingreifen der Menschheit zu durchdenken (vgl. Lefebvre, 2006, 330).

Angesichts der Tatsache, dass bereits im 18. Jahrhundert aus gesellschaftstheoretischer Perspektive von Rousseau ein Akt der Herrschaft über den (Natur-)Raum beschrieben wurdeFootnote 16, um die Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft zu beschreiben, mag es verwundern, dass in den Kulturwissenschaften erst etwa ab dem Jahr 1967 ein spatial turn einsetzte (Döring, 2008, 9), der erst im Jahre 1989 auch als solcher benannt wurde (Döring, 2008, 7). Doch insgesamt lässt sich hier wohl ein ähnliches Bild zeichnen wie in der literaturwissenschaftlichen Forschung zum Thema Raum: Obwohl Raum schon lange als Bestandteil von Kultur betrachtet wurde, setzte eine intensive Betrachtung kultureller Räume erst in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ein. Häufig wird in der kulturwissenschaftlichen Forschung Kultur als additive Dimension betrachtet, die entweder Orte zu Räumen machen kann (so z. B. in Lefebvre, 2006; Deleuze, 2006; Certeau, 2006) oder bestehende Räume mit weiterer Bedeutung auflädt (z. B. in Cassirer, 2006; Bourdieu, 2006). Orte und Räume werden in den Kulturwissenschaften sowohl mit Blick auf die Konstitution des Raumes als solchem, also topologisch, als auch mit Fokus auf die semiotische Aufladung, also topographisch, betrachtet (vgl. Günzel, 2008). Nach dem topographischen Raumverständnis sind Orte nicht per se kulturwissenschaftlich interessant, sondern nur in ihrer kulturellen Prägung. Im Hintergrund steht ein Topographie-Begriff, der sich auf das buchstäbliche Einschreiben von Bedeutungen in den Raum bezieht und der sehr nah am Kultur-als-Text-Paradigma angesiedelt ist (vgl. Döring, 2008, 17). Steht der topologische Ansatz im Vordergrund, so sind mathematische Grundannahmen zum Raum meist wichtige Orientierungspunkte (Günzel, 2008, 224–225). Kulturwissenschaftliche Raumforschung wird dann besonders fruchtbar, wenn sowohl topologische als auch topographische Raumaspekte betrachtet werden und wenn diese Differenzierung klar berücksichtigt wird (Günzel, 2009a, 230). Dies ist zum Beispiel bei Deleuze und Guattari erkennbar, die zwischen glattem Raum, einer Entsprechung zum topologischen Raum, und gekerbtem, topographischen Raum, unterscheiden. Der glatte Raum ist hier stets ein unberührter Raum. Längen, Verbindungen und Flächen sind von besonderer Bedeutung. Betrachte man hingegen den gekerbten, vom Menschen mit Einschnitten versehenen Raum, so gehe man von einem Punkt zum nächsten (Deleuze, 2006, 434–436).

Bisher wurde in dieser Arbeit, ausgehend von Descartes, die grundlegende Unterscheidung zwischen Orten als topographischen Referenzpunkten und Raum als multidimensionalem Konzept, welches physikalische und semiotische Aspekte gleichzeitig enthalten kann, als definitorische Voraussetzung angenommen. Der Vollständigkeit halber muss aber noch erwähnt werden, dass es auch andere Begriffsdefinitionen des Begriffspaares Ort-Raum gibt. In den Kulturwissenschaften schlägt z. B. Assmann vor, Raum als ein Konzept der aktuellen und zukunftsgerichteten Gestaltung anzusehen. Orte seien ihrem Verständnis nach von der Vergangenheit geprägt (Assmann, 2015, 16). Dieses Verständnis wird manchmal nahezu als das Gegenteil der Definitionen verstanden, die dieser Arbeit zu Grunde liegen. So fassen z. B. Csáky und Leitgeb zusammen, dass ein „bedeutungsneutraler, physischer ‚Raum‘ zu einem kulturell definierten und beladenen ‚Ort“‘ werden kann (Csáky und Leitgeb, 2009, 7). Obwohl Assmann weniger eine solche starre Dichotomie beschreibt, sondern eher einen Unterschied der Perspektive auf denselben Gegenstand – nämlich in seiner Gemachtheit oder in seiner Prägbarkeit (Assmann, 2015, 22) – ist es an dieser Stelle wichtig festzuhalten, dass es Ansätze gibt, in denen die Ort-Raum-Differenzierung grundlegend anders definiert ist als hier. Diese Tatsache muss bei der nun folgenden Betrachtung kulturwissenschaftlicher Raummodelle berücksichtigt werden.

Kulturwissenschaftliche Ansätze zur Erforschung des Raumes sind divers und konzentrieren sich häufig auf die Bedeutungsebene des Raumes. Im Folgenden sollen darum zwei Ansätze herausgegriffen werden, die den Raum hauptsächlich in seiner Struktur und / oder elementaren Beschaffenheit betrachten. Die berücksichtigten Raumkonzepte sind der ästhetisch-kulturelle Raum und der soziale Raum. Als ergänzender Diskurs wird abschließend der Raumbegriff der Archäologie betrachtet, der eine neue Perspektive auf die Verbundenheit von Raum und Zeit ermöglicht.

Der ästhetisch-kulturelle Raum

Der Feststellung, dass es einen ästhetischen Raum oder vielmehr ein ästhetisches Raumverständnis gibt, liegt die Annahme zu Grunde, dass der Raum verschiedene Qualitäten annehmen kann. Bereits 1931 differenzierte Cassirer zwischen mythischem, ästhetischem und theoretischem Raum (Cassirer, 2006, passim). Ähnlich wie andere Denker vor ihm (namentlich Hegel und Heidegger, s. Abschnitt 2.3.1 stellt auch Cassirer die Frage nach dem ontologischen Status von Raum (Cassirer, 2006, 488). Er überwindet die Frage nach dem Sein des Raumes allerdings, indem er dem Raum statt des Seins, welches die Objekte kennzeichnet (Cassirer, 2006, 488), die Ordnung und damit einen grundsätzlichen Pluralismus zuweist (Cassirer, 2006, 492). Raum ist nach Cassirer keine feststehende Ordnung, sondern kann nach verschiedenen Prämissen, die alle der Sinnstiftung dienen, geformt werden. Dazu gehört der mythische Raum ebenso wie der theoretische und der ästhetische Raum (Cassirer, 2006, 494). „Die Sinnfunktion ist das primäre und bestimmende, die Raumstruktur das sekundäre und das abhängige Moment“, stellt Cassirer fest und zeigt damit auf, dass Raum keine feste Form hat, sondern je nach Qualität seiner Ordnung eine individuelle Prägung erhält (Cassirer, 2006, 494). Nach diesem Raumverständnis ist die Geometrie nur eine Ausprägung, die das Sinn- und Ordnungssystem annehmen kann. Ein anderes Raumverständnis kann jede Richtung, jede Lage, jeden Punkt und jede Verbindung mit einer vom Raumverständnis abhängigen Bedeutung belegen (Cassirer, 2006, 495). Hier sind wir also bereits sehr nah an dem semiotischen Raumverständnis von Bachelard und Lotman (vgl. Abschnitt 2.2.1). Der ästhetische Raum ist nach Cassirer (2006, 497) eine reflexive Ordnung. Denn in der Nachahmung in den Künsten setzt sich der Mensch in ein Verhältnis zur Welt (und damit ist ästhetisches Schaffen niemals bloße Nachahmung). Trotzdem ist der ästhetische Raum, anders als der theoretische, kein hauptsächlich vom Denken geprägter Raum. Es ist ein Raum der Emotion und der Phantasie (Cassirer, 2006, 498). Im Gegensatz zum mythischen Raum ist der ästhetische Raum ein vom Menschen beherrschter, gestaltbarer Raum (Cassirer, 2006, 499). Der ästhetische Raum entspricht damit aber nicht dem gekerbten Raum von Deleuze und Guattari (s.o.). Da der ästhetische Raum eine reflexive Ebene besitzt, ist es möglich, sowohl glatte Räume als auch gekerbte Räume und mehr noch glatte und gekerbte Raumerfahrungen im ästhetischen Raum auszudrücken (Deleuze, 2006, 442–443).

Ein weiteres ästhetisch-kulturelles Raumkonzept ist das des Bewegungsraums. Diesem Konzept liegt die Idee zu Grunde, dass Räume, im Gegensatz zu Orten durch eine Form der Bewegung erschaffen werden (Certeau, 2006, 346). In Alltagserzählungen wird Raum häufig als Wegstrecke und in Form von Anweisungen (wie bspw. „du wendest dich rechts und dann bist du im Garten“) konstruiert (Certeau, 2006, 347–348). Sehr viel seltener sind Darstellungen als eine Art Karte, in der Orte so beschrieben werden, als sehe man sie auf einem Plan (ebd.). Über den „Umweg“ über den Film als Medium audio-visueller Narration wird deutlich, dass Raum und Bewegung gemeinsam zur Konstruktion von Geschichten beitragen (Certeau, 2006, 346). In der konstruierten Szenerie eines Films werden vor stillstehender Kamera schon kleinste Bewegungen im Raum, wie z. B. das Krümmen eines Fingers (Rohmer, 2006, 515) zu Bedeutungsträgern. Der Blick auf diese minimalen Bewegungen zeigt, wie essentiell Raum für ein Narrativ ist, da Bewegung ohne Raum nicht möglich wäre und damit auch keine Handlung einsetzen könnte. Die Idee der minimalen Bewegungen ist sehr gut anschlussfähig an die oben beschriebenen Betrachtungen von Husserl zur Dingeinheit. Denn auch bei Husserl können es Minimalbewegungen (z. B. Augenbewegungen Husserl, 1991, 42–59) sein, die die Perspektive auf ein Objekt verändern oder sogar ein anderes / weiteres Objekt ins Blickfeld rücken. Die Ideen zum Bewegungsraum mit Husserls Idee der Dingeinheit verbindend, werden hier Bewegungen als Hinweise auf den Raum gedeutet, wenn sie zur Darstellung einer Relation zwischen zwei Dingen (Subjekten und / oder Objekten) beitragen.

Der soziale Raum

Dem sozialen Raum liegt ein relationales Raumverständnis zu Grunde. Der Raum wird durch soziales Handeln und Interaktion erzeugt (Döring, 2008, 25). Da diese Form der Raumerzeugung gesellschaftlich vonstatten geht, ist sie nicht unbedingt eine bewusste Entscheidung einzelner (Döring, 2008, 26). Simmel (2006) leitet sehr anschaulich her, inwiefern menschliches Leben und Räumlichkeit zusammenhängen. Anhand der Herrschaft über Territorien, die gleichzeitig eine Herrschaft über Menschen ist, macht er deutlich, dass es nahezu unentscheidbar ist, ob über den Raum Menschen oder über Menschen der Raum regiert wird (Simmel, 2006, 304). Anhand dieses einfachen, machtpolitischen Beispiels zeigt er, dass Mensch und Raum unmittelbar miteinander in Beziehung stehen. Der Mensch organisiert sein Sozialleben räumlich. Das geht von familiären Einheiten (das Haus) über soziale Gruppen (der Club, die Universität) bis hin zu Staaten oder staatenähnlichen Zusammenschlüssen (wie z. B. indigene Volksstämme) (Simmel, 2006, 307). Aber nicht nur besetzte Gebiete sind definiert, auch die neutralen Zonen dazwischen haben als solche eine soziale Bedeutung (Simmel, 2006, 310). Innerhalb der menschlichen Territorien gibt es ebenfalls eine stark raumbeherrschende Organisation (Simmel, 2006, 314–315); Räume der Ruhe und der Bewegung sind definiert, Räume des Lernens und der Freizeit ebenfalls und es gibt noch unzählige weitere Beispiele räumlich-sozialer Organisation. Mit seinen Ideen zum sozialen Raum legt Simmel einen Grundstein für spätere sozio-kulturelle Raummodelle. So ist hier z. B. bereits der Zusammenhang von Räumen, gesellschaftlichen Funktionen und Macht angelegt, der später für Foucaults diskursiv geprägtes Raummodell von Bedeutung ist. Und auch die Ansätze Bourdieus zum sozialen Raum lassen sich als Ergänzung dessen, was Simmel beschreibt, um weitere Ebenen auslegen.

Dass der Raum nicht leer ist, sondern immer mit unterschiedlichen Qualitäten belegt und dass Raum (heute) relational gedacht wird, sind die zentralen Ideen von Foucaults Raumverständnis (vgl. Foucault, 2006, passim). Dabei unterscheidet Foucault binär zwischen sozialem Raum und individuellem Raum (Foucault, 2006, 319) und in einem dreiteiligen Modell zwischen „normalem“ Raum (der bei ihm undefiniert bleibt), Utopie, die unverwirklicht bleibt und Heterotopie, die die verwirklichte Utopie ist. Nach Foulcaults Heterotopologie entwickelt jede Gesellschaft Räume für Phänomene, die als andersartig, als Abweichung von Normalität, empfunden werden (Foucault, 2006, 321–322). Die Art der Heterotopien ist abhängig von der Gesellschaft, die sie hervor bringt (Foucault, 2006, 322–327). Nach Foucault gibt es folgende Heterotopien: Jugend-, Alten- und Erholungsheime, Psychiatrische Anstalten, Gefängnisse, Kasernen, Friedhöfe, Initiationsräume und andere kultische Stätten, Theater, Gärten, Museen, Bibliotheken, Festwiesen, Feriendörfer und Hotels, Bordelle, Kolonien und Schiffe (Foucault, 2005, 11–22). Spiegel sind eine interessante Zwischenform von Utopie und Heterotopie, da der Ort, den sie zeigen zwar utopisch ist, gleichzeitig zeigen sie aber auch, was da ist, nämlich den davor stehenden Körper, den sie durch diese Manifestation von allem Utopischen befreien (Foucault, 2005, 35–36). Der Spiegel ist damit ein besonders interessantes Raumsymbol. Hinter diesem Ansatz steht ebenfalls die Idee der sozialen Organisation räumlicher Gegebenheiten. Diese Idee folgt dem Grundsatz, dass Kulturen sich mit Räumen verknüpfen, indem sie Räume schaffen, die bestimmte individuelle und kollektive Erfahrungen organisieren. Der Raum wird hier zum kulturellen Organisationsprinzip, das in unmittelbarer Abhängigkeit zum Diskurs steht. Denn bei jeder qualitativen Aufladung von Raum ist zunächst die Frage entscheidend, ob normatives Verhalten organisiert werden soll oder abweichendes (wobei die Abweichung bei Foucault unbewertet bleibt, ein Garten ist bei Foucault ebenso eine Heterotopie wie ein Gefängnis). Der alltägliche Raum und die Heterotopien funktionieren also analog zum Diskurs (wie Foucault ihn in Die Ordnung der Dinge und Archäologie des Wissens definiert) und Gegendiskurs (Foucault, 2008, 80); letztendlich geht es immer um die gesamtgesellschaftliche Suche nach einem Rahmen für menschliches Erleben und Verhalten.

Auch Bourdieus (Bourdieu, 2006) Aussagen zum Raum folgen dem Grundsatz, dass gesellschaftliche Organisation mit Lebensräumen verknüpft wird. Für ihn ist der soziale Raum ein komplexes, multidimensionales System, welches Orte mit Tätigkeiten, Tätigkeiten mit Berufsgruppen und Berufsgruppen und Tätigkeiten mit sozialem Status (genauer: kulturellem und ökonomischem Kapital Bourdieu, 2006, 358) verbindet. Zum Beispiel sind Tätigkeiten in der Natur wie Bergsteigen oder Wandern mit einem sozialen Milieu verknüpft, welches über ein hohes kulturelles Kapital und ein geringes ökonomisches Kapital verfügt (Bourdieu, 2006, 357). Bourdieus System erinnert durch die systematischen Zuschreibungen an Lotmans semiotischen Raum. Doch weist es sehr viel mehr Dimensionen auf und verbindet multiple räumliche Strukturen miteinander. Topologischer Raum und Raumzeit sind für Bourdieu durchaus von Bedeutung, denn er erarbeitet seine Parameter (kulturelles und ökonomisches Kapital, Berufsgruppen und Tätigkeiten) am Beispiel von Frankreich in den 1970er Jahren (Bourdieu, 2006, 354). Bei Bourdieu sind mehrere Raummodelle erkennbar. Der topologische oder ortsgebundene Raum wurde bereits erwähnt. Dazu kommt ein skalares und ein vektorielles Raumverständnis. Anhand zweier Vektoren misst er kulturelles und ökonomisches Kapital und verbindet die beiden zu einem Gesamtkapital, das positiv oder negativ gerichtet sein kann. Das skalare Raumverständnis zeigt sich z. B. wenn er Musikinstrumente anhand dieser Vektoren ausrichtet. Während er das Akkordeon z. B. beim niedrigen Gesamtkapital verortet (etwas überdurchschnittliches ökonomisches Kapital, geringes kulturelles Kapital), gesteht er dem Klavier ein sehr hohes Gesamtkapital zu (hohes kulturelles Kapital, mittleres ökonomisches Kapital) (Bourdieu, 2006, 357). Außerdem gibt es noch ein systemisches Raumverständnis. Akteure und ihre Dispositionen (ihr Habitus) gestalten ein relationales räumliches System, in dem vor allem die Differenzen zwischen den sozialen Positionen für die Verortung entscheidend sind (Bourdieu, 2006, 359).

In Wirklichkeit ist der zentrale Gedanke, daß in einem Raum existieren, ein Punkt, ein Individuum in einem Raum sein, heißt, sich unterscheiden; unterschiedlich sein (Bourdieu, 2006, 361).

Dieses System wirkt dann auch auf den topologischen Raum zurück (wie am Beispiel von Paris gezeigt).

Die hier angeführten soziologisch-kulturwissenschaftlichen Ansätze zur genaueren Ausdifferenzierung des Raums haben dem Raummodell, das hier entwickelt wurde, auf zwei Ebenen Aspekte hinzugefügt. Zum Einen muss auf Ebene der Raumthemen die kulturelle und soziale Aufladung von Räumen mit berücksichtigt werden. Das Raumthema Reise kann z. B. auf unterschiedliche Weise kulturell aufgeladen sein. Heterotopien werden als Raumthemen integriert, die kulturell von besonderer Bedeutung sind. Zum Anderen kann die Ebene der Hinweise auf den Raum nach den kulturwissenschaftlichen Betrachtungen genauer beschrieben werden. Bewegungen sind wichtige Hinweise auf Raum. Soziales Handeln, Macht und / oder Territorien verweisen auf räumliche Strukturen oder stehen mit solchen in enger Verbindung. Auch die gesellschaftliche Struktur spiegelt sich im Raum wider. Dabei ist die Verknüpfung tatsächlicher sozialer Strukturen mit der Literatur ebenfalls von Bedeutung. Die Pariser Gesellschaft, die sich auch in der Topographie der Stadt zeigt, wie sie von Bourdieu beschrieben wurde, kann zur Grundlage literarischer Werke werden. An dieser Stelle soll nun als letztes ein kurzer Exkurs gewagt werden, um das Raummodell noch ein Stück weiter theoriegeleitet zu begründen. Dieser Exkurs führt in die Archäologie, die Raum aufgrund ihres Forschungsgegenstandes ganz anders betrachten kann.

3.4 Exkurs: Raum in der Archäologie

Es ist weder möglich in dieser Arbeit, die komplette Literatur zum Thema Raum in der Archäologie zu beschreiben, noch Ziel, einen Beitrag zur Raumforschung aus dieser Perspektive zu leisten. Aber einige zentrale Ansätze und Techniken dieser Disziplin helfen, genauer zu verstehen, welche Qualität der Raum hat, da dieser nicht hauptsächlich oberirdisch und damit in der Luft als nahezu nicht-haptischem Element betrachtet wird. Stattdessen wird Raum sowohl oberirdisch als auch unterirdisch angeschaut und damit auch in dem festen Element der Erde gesehen. Mit Hilfe eines Gedankenexperiments, bei dem man Objekte archäologisch, also zunächst einmal in der Erde, denkt, lässt sich Descartes Ansatz des ausgefüllten Raumes viel besser nachvollziehen, denn in der Erde sind tatsächlich alle Zwischenräume gefüllt. Darüber hinaus stehen die einzelnen Erdschichten für Zeitschichten, d. h. nicht nur Raum, sondern auch Zeit werden in der Erde manifest. Bei der archäologischen Arbeit werden Erdschichten nach und nach abgetragen und die Objekte wieder in die Nachbarschaft der Luft überführt. Gleichzeitig wird anhand der Erdschichten abgeschätzt, seit wann die Objekte jeweils unter der Erde sind. Schließlich wird anhand ihrer Lage zu rekonstruieren versucht, welche überirdischen Positionen sie einmal eingenommen haben. (Lang, 2009, 30–31) In der archäologischen Forschung werden sowohl soziale als auch kulturelle Bedingtheit des Raumes mitgedacht. Am Beispiel des Landschaftsraums, der überirdisch betrachtet wie ein Naturraum wirken kann, zeigt sich besonders deutlich, dass die Trennung zwischen Natur und Kultur, die in den Kulturwissenschaften häufig versucht wurde, nicht haltbar ist. Denn unter einer Landschaft verbergen sich häufig ältere, kulturell aufgeladene Schichten, die lediglich oberflächlich überdeckt wurden. Natur und Kultur befinden sich in einem Wechselspiel und sind nicht voneinander trennbar (Lang, 2009, 32). Die enge Verknüpfung von räumlichem Zusammenhang (Fundort) und kultureller Funktion wird in der Archäologie besonders deutlich. Zwei vergleichbare Gegenstände können unterschiedliche Bedeutungen annehmen, wenn einer z. B. in einem Heiligtum gefunden wurde (religiöses Symbol), der andere aber in einer Villa (Symbol des Luxus) (Lang, 2009, 33).

Für diese Studie ist vor allem die enge Verbindung zwischen Kultur und Natur relevant. Bisher scheint es, als würde eine kulturelle Aufladung nicht unbedingt Positionen, also Orte und Relationen, betreffen. Durch Lotman wurde bereits klar, dass Relationen zwar eine binäre Aufladung haben können, die kulturell bedingt ist. Die archäologische Perspektive zeigt aber, dass das noch weitergedacht werden kann. Jeder Aspekt des Raumes kann bereits eine komplexe kulturelle Bedeutung transportieren. Mehr noch: Das Verhältnis einzelner Raumobjekte zueinander hat stets eine individuelle kultur-räumliche Bedeutung. Damit wird Raum zu einem Werkzeug der Interpretation. Dieser Aspekt wurde in das operationalisierbare Raummodell mit aufgenommen.