2.1 Einleitung

Unsere Wahrnehmung von Wildtieren und unser Umgang mit ihnen wird stark von persönlichen Emotionen, Werten und Erfahrungen beeinflusst (vgl. Kap. 11, Castillo-Huitron et al. 2020). Gerade bei Tierarten mit großem Konfliktpotenzial ist es daher wichtig, ihr Management evidenzbasiert zu gestalten, also basierend auf wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnissen (Kap. 1). Zu solch konfliktträchtigen und mit starken Emotionen verknüpften Tierarten zählen auch unsere heimischen Rothirsche (Cervus elaphus), die in der Jägersprache als Rotwild bezeichnet werden. Rothirsche sind, abgesehen von nur sehr lokal wieder vorkommenden Wisenten (Bos bonasus) und Elchen (Alces alces), die größten wildlebenden Pflanzenfresser in Deutschland. Rothirsche faszinieren mit ihrem imposanten Geweih und dem beeindruckenden, teils lautstarken Paarungsverhalten während der Brunft. Im Arten- und Naturschutz wird Rotwild oft als Leitart herangezogen, z. B. wenn es um die Identifizierung großer unzerschnittener Lebensräume oder die Ausweisung von Wanderkorridoren für Wildtiere geht (Herrmann et al. 2007). Zahlreiche wissenschaftliche Studien beschäftigen sich u. a. mit dem komplexen Sozialverhalten von Rothirschen (z. B. Clutton-Brock et al. 1982), und die Jagdliteratur enthält mindestens ebenso viele Texte zur Hege und Bejagung der Art (z. B. Deutz et al. 2015; Zeiler 2014). Gleichzeitig können Rothirsche aber auch eine Herausforderung für die Forstwirtschaft darstellen, da durch sie verursachte Schäden immense finanzielle Einbußen bedeuten und waldbauliche Ziele gefährden können (Bobrowski et al. 2020). Bedenkt man diese unterschiedlichen Blickwinkel auf den Rothirsch, so ist es wenig verwunderlich, dass die deutsche Gesellschaft eine vielschichtige Beziehung zum Rothirsch entwickelt hat und dass die Art im Laufe der Jahrzehnte eine wechselhafte Geschichte durchlebt hat (Stöcker 2014).

Ein besonders hartnäckiger, fast schon traditioneller Konflikt besteht seit Jahrzehnten zwischen Waldbesitzenden bzw. -bewirtschaftenden auf der einen und Jagdausübenden auf der anderen Seite (Ammer et al. 2010). Innerhalb dieses sogenannten „Wald-Wild-Konfliktes“ zahlen Jagdausübende teils viel Geld, um Rotwild bejagen zu können, sie sind daher eher an hohen Rotwilddichten oder zumindest ausreichenden Erlegungsmöglichkeiten interessiert, und manche von ihnen möchten vor allem Hirsche mit großen Geweihen (Trophäen) erlegen. Die Forstseite hat hingegen mit dem hohen Schadpotenzial von Rotwild zu kämpfen, das sich durch das Fressen von jungen Baumpflanzen (Verbiss) ergibt, durch das Abnagen der Baumrinde bei größeren bzw. älteren Bäumen (Schäle) oder durch das Abreiben der Basthaut vom neugebildeten Geweih an Bäumen und Sträuchern (Fege). Um solche Schäden zu reduzieren, werden oftmals geringere Rotwilddichten gefordert, die z. B. über verlängerte Jagdzeiten und höhere Abschusszahlen erreicht werden sollen. Vor diesem Hintergrund kommt der Jagd im Rotwildmanagement eine besondere Bedeutung zu.

In diesem Kapitel fasse ich zusammen, wie ein evidenzbasiertes Rotwildmanagement gestaltet sein sollte und welche Evidenzen es für verschiedene Aspekte des Rotwildmanagements gibt. Hierbei fokussiere ich mich vor allem auf Themen, die meinen eigenen Forschungsschwerpunkten entsprechen bzw. die mir für das praktische Management besonders relevant erscheinen. Ich skizziere dafür zunächst die grundsätzliche Ausrichtung eines evidenzbasierten Rotwildmanagements und beleuchte dann unseren aktuellen Wissensstand sowie typische Ansätze im praktischen Rotwildmanagement. Am Ende gebe ich grundsätzliche Empfehlungen für ein evidenzbasiertes Rotwildmanagement und identifiziere bestehende Wissenslücken, aus denen sich weiterer Forschungs- und Entwicklungsbedarf ergibt.

2.2 Grundsätzliche Ausrichtung eines evidenzbasierten Rotwildmanagements

Der Begriff Wildtiermanagement „… umfasst alle Tätigkeitsbereiche und Maßnahmen, die das Vorkommen, das Verhalten und die Populationsentwicklung von Wildtieren so steuern, dass die verschiedenen Interessen, Ansprüche und Rechte der Menschen erfüllt und die Bedürfnisse der Wildtiere berücksichtigt werden“ (Suchant 2015). Aus dieser Definition lassen sich indirekt mindestens drei Fakten ableiten, die für das Rotwildmanagement besonders relevant erscheinen. Erstens müssen beim Management auch menschliche Belange berücksichtigt werden, sodass es nicht ausreicht, lediglich Evidenzen zu nutzen, die sich allein auf die Rothirsche beziehen. Zweitens sollte es nicht allein darum gehen, Rotwildpopulationen numerisch zu steuern, also ihre Dichten auf ein bestimmtes Niveau zu bringen oder zu halten – auch die Verteilung und das Verhalten der Hirsche sind wichtige Aspekte im Management. Drittens sind die Begriffe Rotwildmanagement und Rotwildbejagung nicht synonym, da die Jagd lediglich eine der im Management angewandten Tätigkeiten darstellt.

Dementsprechend sind bestimmte Vorgaben für die Bejagung von Rotwild oder Rotwilddichten niemals die eigentlichen Ziele eines Managements, sondern sollen lediglich zum Erreichen dieser Ziele beitragen (s. Abb. 2.1, linke Hälfte).

Abb. 2.1
figure 1

Beispielhafte Darstellung von unterschiedlichen Managementvorgaben (links) und den verschiedenen Ebenen einer Erfolgskontrolle (rechts) im evidenzbasierten Rotwildmanagement. Oft gehen wir beim Management von Zusammenhängen aus, die direkt (durchgängige schwarze Pfeile) und indirekt (gestrichelter Pfeil) sein können

Fig. 2.1 Exemplary display of different management guidelines (left) and the different levels of a control of success (right) for evidence-based red deer management. In wildlife management, we often assume relationships that can be direct (solid black line) or indirect (dotted black line)

Tatsächlich gehen wir bei der Planung des Managements oft von direkten und indirekten Zusammenhängen aus, die aber aus wissenschaftlicher Sicht vielleicht gar nicht immer und überall zutreffen. So muss eine verstärkte Bejagung nicht zwangsläufig zu einer verringerten Wilddichte führen, und eine verringerte Dichte muss sich nicht unbedingt in reduzierten Schäden widerspiegeln. Die Zusammenhänge sind stattdessen sehr komplex, daher ist es auch nicht verwunderlich, wenn trotz erhöhter Rotwildstrecke keine Verbesserung der Schadsituation eintritt. Erst durch eine auf das Management abgestimmte Erfolgskontrolle kann somit die Wirksamkeit von Maßnahmen evaluiert werden.

2.2.1 Erfolgskontrolle und adaptives Rotwildmanagement

Eine solche Erfolgskontrolle ist auch wichtiger Bestandteil eines adaptiven Rotwildmanagements, das dynamisch an sich verändernde Ausgangsbedingungen angepasst werden kann. Innerhalb eines adaptiven Managements versuchen wir über die systematische Nutzung neu hinzukommender Informationen jene Managementmaßnahmen zu identifizieren, die besonders gut geeignet sind, um die vorab definierten Ziele des Managements zu erreichen. Die Erfolgskontrolle innerhalb eines adaptiven Managements sollte aus zwei Elementen bestehen: a) einer Umsetzungskontrolle, bei der überprüft wird, ob Managementmaßnahmen, z. B. jagdliche Vorgaben, wie vereinbart umgesetzt wurden, und b) einer Wirkungskontrolle, bei der überprüft wird, ob die Maßnahmen den gewünschten Effekt hatten (Abb. 2.1 rechte Seite). Grundlage für eine Erfolgskontrolle innerhalb eines adaptiven, evidenzbasierten Rotwildmanagements ist somit ein langfristig angelegtes Monitoring.

2.2.2 Monitoring im Rotwildmanagement

Ein evidenzbasiertes und adaptives Management orientiert sich entlang von mindestens drei Komponenten, die innerhalb eines langfristigen Monitorings erfasst werden sollten, nämlich der Populationsentwicklung, dem Wildzustand und dem Einfluss des Wildes auf die von ihm bewohnten Ökosysteme (Fiderer et al. 2021; Morellet et al. 2007).

Auch die verschiedenen Jagd- und Wildtiermanagementgesetze in Deutschland fordern letztlich in unterschiedlichem Wortlaut, dass die Bewirtschaftung von Wildtieren nachhaltig erfolgen soll, dass hierdurch gesunde Wildbestände geschaffen bzw. erhalten werden sollen und dass insbesondere Land- und Forstwirtschaft nicht durch Wildbestände beeinträchtigt werden dürfen. Wer diese Ziele in Bezug auf Rotwild erreichen möchte, muss beim Management also einerseits die Entwicklung von Rotwildpopulationen, andererseits aber auch die körperliche Verfassung der Tiere und die Einwirkung des Rotwildes – insbesondere auf Verjüngungsflächen im Wald – anhand von geeigneten Indikatoren erfassen und berücksichtigen.

Eine Beschreibung der verschiedenen Methoden zur Erfassung dieser drei Komponenten bzw. der jeweiligen Indikatoren würde den Umfang dieses Kapitels bei Weitem sprengen, dennoch möchte ich in den folgenden Abschnitten einige grundsätzliche Anmerkungen dazu machen, soweit sie für das Rotwildmanagement relevant sind.

2.2.2.1 Erfassung der Populationsentwicklung beim Rotwild

Die Größe von Wildtierpopulationen zu erfassen, ist notorisch schwierig, und es wurde eine fast unüberschaubare Vielzahl von Methoden zu diesem Zweck entwickelt. Eine perfekte Methode zur Erfassung von Wildbeständen gibt es bis heute nicht, auch wenn Fortschritte in Technik und Statistik in den letzten Jahren erhebliche Verbesserungen auf diesem Gebiet ermöglicht haben. So kann auch die Größe von Rotwildbeständen heute mit modernsten Verfahren, basierend auf Nachtsichtgeräten, Fernerkundung oder Genetik abgeschätzt werden (vgl. Corlatti et al. 2016; Ebert et al. 2021; Franke et al. 2012; Gräber et al. 2020). Wissenschaftlich gesehen sind solche Verfahren natürlich optimal für ein evidenzbasiertes Management geeignet, doch ist es finanziell, logistisch und auch rechtlich eine immense Herausforderung, sie flächendeckend und fortwährend anzuwenden.

Anstatt die absolute Anzahl an Individuen (Abundanz) abzuschätzen, wird im praktischen Management daher oftmals lediglich mit Indizes gearbeitet, die Veränderungen der Abundanz anzeigen sollen, also ob ein Bestand wächst, schrumpft oder stabil bleibt (Hofer 2016; Witmer 2005). Neben der Veränderung der Populationsgröße ist gerade für das Rotwildmanagement außerdem die Struktur einer Population von großem Interesse, also das Geschlechterverhältnis und die Altersverteilung (siehe Abschn. 2.3.3).

Beim Rotwild in Deutschland wird dafür vor allem die Jagdstrecke genutzt, und teils werden Rückrechnungsmethoden basierend auf der Jagdstrecke angewandt, um Abundanzen und Populationsstrukturen abzuleiten und die Abschussplanung durchzuführen (Hagen et al. 2018; Lang et al. 2016; Müller 2017). Die einfache Rückrechnung, auch als retrospektive Kohortenanalyse bezeichnet (Lang et al. 2016), kann dabei lediglich einen Mindestbestand errechnen, in dem alle erlegten Rothirsche anhand ihres Alters in ihr jeweiliges Geburtsjahr „zurückgelegt“ werden, sodass der Bestand rekonstruiert werden kann.

Streng genommen bildet die Jagdstrecke nur dann die genaue Entwicklung der tatsächlichen Population ab, wenn der prozentuale Anteil erlegter Tiere an der Gesamtpopulation stets gleich bleibt und keine selektive Auswahl der erlegten Individuen stattgefunden hat. Da es aber meist behördlich festgelegte Abschussvorgaben gibt (siehe Abschn. 2.3.3), manche Jagdausübende eine selektive Auswahl bestimmter Trophäenträger verfolgen und auch die Bejagbarkeit unterschiedlicher Geschlechter und Altersklassen variiert, stellt die Jagdstrecke keine echte Zufallsprobe aus dem Gesamtbestand dar (Martı́nez et al. 2005). Dennoch zeigen Studien immer wieder, dass die Jagdstrecke über lange Zeiträume und große Gebiete die tendenzielle Dynamik von Populationen gut reflektiert (Donini et al. 2021; Gärtner 2017; Hagen et al. 2018). Somit eignen sich Jagdstreckenanalysen vor allem zur Validierung zurückliegender Bestandeseinschätzungen, anhand derer das Management – insbesondere die Jagdplanung – rückschauend überprüft werden können (Bauling et al. 2013a, b).

2.2.2.2 Erfassung des Rotwildeinflusses auf (Wald-)Ökosysteme

Rothirsche erfüllen viele wichtige Funktionen in den von ihnen bewohnten Ökosystemen und ihr Verhalten kann sich positiv auf die biologische Vielfalt auswirken (Herbst et al. 2016; Riesch et al. 2019, 2020). Von besonders hohem Interesse sind im Management meist die Auswirkungen auf forstlich relevante Pflanzenarten auf Waldverjüngungsflächen, doch auch wirtschaftlich weniger bedeutende Zeigerarten (wie z. B. Heidel- oder Brombeere) werden herangezogen, um den ökologischen Einfluss von Rotwild und anderen Pflanzenfressern im Wald und anderen Ökosystemen zu erfassen. Hierfür wurden über die Jahre etliche Verfahren mit unterschiedlichen Vor- und Nachteilen entwickelt (z. B. Morellet et al. 2001; Trisl und Akça 1998). Im Sinne eines evidenzbasierten Managements sollten geeignete Verfahren den Rotwildeinfluss so erfassen, dass Rückschlüsse auf a) die Entwicklung des Rotwildbestandes und/oder b) den durch das Rotwild entstandenen Schaden getroffen werden können, damit sich das Management an diesen beiden Aspekten orientieren kann. Somit kommen in erster Linie Verfahren in Frage, die entweder die (relative) Verbissbelastung oder Schäl- bzw. Fegeschäden durch eine statistisch abgesicherte Herangehensweise erfassen (Bödeker et al. 2021; Frerker et al. 2013), oder die eine objektive und nachvollziehbare monetäre Bewertung von Schäden beinhalten (z. B. Suchant et al. 2012). Beide Ansätze ergänzen sich gut, denn eine Erfassung insbesondere der relativen Verbissbelastung verschiedener Pflanzen gibt Aufschluss darüber, wie sich der Wildeinfluss auf die Vegetation entwickelt, und sollte zumindest im groben Zusammenhang mit der Populationsdichte und -verteilung stehen. Die monetäre Bewertung von Schäden kann hingegen aufzeigen, ob der Wildeinfluss ökonomisch tragbar ist. Denn ein Schaden besteht eigentlich nur, wenn forstwirtschaftliche Zielsetzungen aufgrund des Wildeinflusses nicht erreicht werden. Forstliche Gutachten zur Einschätzung des Wildeinflusses sind aus wissenschaftlicher Sicht kritisch zu sehen, da sie immer eine subjektive Wahrnehmung beinhalten und somit nicht transparent und reproduzierbar sind. Ebenso wenig eignen sich Kontrollzaunverfahren, bei denen über den räumlichen Ausschluss von Wildtieren Weiserflächen entstehen, in denen die Waldentwicklung ohne den Einfluss der Pflanzenfresser beobachtet werden kann. Solche Verfahren eignen sich, um das Verjüngungspotenzial eines Waldbestandes zu demonstrieren, sie können jedoch keine Veränderungen im Wildbestand oder der Schadenssituation außerhalb des Zaunes aufzeigen.

2.2.2.3 Erfassung des Rotwildzustandes

Die (aufgebrochenen) Körpergewichte erlegter Rothirsche werden in der Regel protokolliert, die erlegten Tiere werden augenscheinlich auf Krankheiten und Parasiten untersucht, und auch das Vermessen der Hinterlauflängen ist mit speziellen Messschienen einfach umsetzbar (Garel et al. 2010). Zusammen geben diese Daten Aufschluss über die Verfassung der Individuen in Bezug auf ihren Ernährungs- und Gesundheitszustand zum Zeitpunkt der Erlegung (Kondition) sowie den körperlichen Zustand, den die Individuen aufgrund ihrer Gene und den Lebensbedingungen insbesondere während ihrer frühen Wachstumsphase entwickeln konnten (Konstitution). Hierdurch ist es langfristig möglich, Rückschlüsse zu den Lebensraumbedingungen der Individuen zu ziehen, insbesondere was die Populationsdichte in Bezug auf die Lebensraumkapazität angeht. Liegt die Dichte über der Lebensraumkapazität, so sollten die Tiere geringe Wildbretgewichte aufweisen und langfristig insgesamt körperlich schwächer entwickelt sein, als wenn die Populationsdichte unter der Kapazität liegt. Bei zu hohen Dichten sollte auch der Wildeinfluss auf den Lebensraum (z. B. Verbiss, s. o.) entsprechend hoch sein. Kondition ist direkt von äußeren Einflüssen abhängig und daher im Jahresablauf und über verschiedene Jahre Schwankungen unterworfen. Dies muss bei der Datenanalyse natürlich berücksichtigt werden, damit man z. B. nicht durchschnittliche Kälbergewichte aus zwei Jahren vergleicht, in denen in einem Jahr viele Kälber bereits im August und im anderen Jahr erst im Spätherbst erlegt wurden (Radler und Reulecke 1979; Vetter und Arnold 2018). Ebenso müssen langfristige Trends, z. B. in Bezug auf eine durch Klimawandel und Landnutzungsänderungen gestiegene Nahrungsverfügbarkeit und -qualität berücksichtigt werden, da auch diese sich auf Körpergewichte auswirken können.

Durch die gleichzeitige Betrachtung von Populationsentwicklung, Verbiss und körperlicher Verfassung der Tiere können aufschlussreiche Zeitreihen entstehen (s. Abb. 2.2).

Abb. 2.2
figure 2

Hypothetische Beispiele für Ergebnisse eines indikatorbasierten Monitorings innerhalb eines evidenzbasierten Rotwildmanagements. Dargestellt ist die Entwicklung der geschätzten Rotwildpopulation (rote Linie), der Körpergewichte erlegter Individuen (blaue Linie) und der Verbissschäden (graue Linie) ausgehend von der Ausgangssituation im ersten Jahr des Monitorings (Jahr 0). Weitere Erläuterungen im Text (Morellet et al. 2007)

Fig. 2.2 Hypothetical example of results of an indicator-based monitoring within an evidence-based red deer management. The lines present the development of the red deer population size (red), the body weights of harvested individuals (blue), and the browsing impact (grey) in comparison to the start of the monitoring (year 0). Further explanations in the main text

Im linken Szenario der Abbildung wächst der Rotwildbestand zwar deutlich, dennoch steigen weder Verbissschäden, noch sinken die Körpergewichte. Die Population ist also trotz des Wachstums noch unter der Lebensraumkapazität. Im mittleren Szenario wurde aufgrund von hohen Schäden der Abschuss von Rotwild erhöht und die Population dadurch zwar tatsächlich reduziert, der Verbiss bleibt jedoch auf einem ähnlichen Niveau wie im Ausgangsjahr. Das eigentliche Managementziel wurde also nicht erreicht. Im rechten Szenario steigen mit dem Bestand auch die Schäden, während die Wildbretgewichte sinken. Hier erscheint die Populationsdichte also zu hoch.

Letztlich wird es uns nur die Erfolgskontrolle innerhalb eines adaptiven Rotwildmanagements ermöglichen, Wirksamkeit und Wirtschaftlichkeit verschiedener Managementmaßnahmen unter unterschiedlichen Bedingungen zu evaluieren. Konsequent und systematisch durchgeführt kann ein Monitoring der drei Komponenten Populationsentwicklung, Wildzustand und Wildeinfluss somit auch dazu beitragen, eben jene Evidenzen zu schaffen, auf denen das Management aufgebaut werden sollte.

2.3 Übersicht und Diskussion zum derzeitigen Rotwildmanagement

2.3.1 Verbreitung und Fragmentierung von Rothirschvorkommen

In Europa kommt der Rothirsch nur noch in weniger als 10 % seines einstigen Verbreitungsgebietes vor (Kinser et al. 2010), und die Verkleinerung und Zerschneidung des verbleibenden Lebensraumes gilt als eine der größten Bedrohungen für den Erhalt der Bestände (Zachos und Hartl 2011). In Deutschland kommen die ca. 240.000 Rothirsche noch auf ca. 25 % der Landesfläche vor, wobei die Verbreitungsgebiete meist innerhalb großer Waldgebiete zu finden sind (Kinser et al. 2010). Dies hat vor allem historische Gründe, denn in den offenen Agrarlandschaften wurden Rothirsche insbesondere nach der Revolution 1848 praktisch ausgerottet und kamen kaum noch außerhalb von Waldrefugien vor. In einigen Bundesländern wurden zudem ab den 1950er-Jahren Gebiete ausgewiesen, außerhalb derer die Tierart nicht vorkommen darf und per gesetzlicher Vorgabe erlegt werden muss. Diese „Rotwildgebiete“, die je nach Bundesland auch als Rotwildbezirke oder Rotwildbewirtschaftungsgebiete bezeichnet werden, wurden u. a. aufgrund von forst-, jagd- und agrarpolitischen Interessen etabliert. Vor allem Teile Südwestdeutschlands wurden dadurch zu rotwildfreien Gebieten. Somit ergibt sich eine heterogene und teils fragmentierte Verbreitung von Rothirschen in Deutschland, die stark vom Menschen vorgegeben wird (s. Abb. 2.3).

Abb. 2.3
figure 3

Verbreitung von Rothirschen in Deutschland. Gelbe Flächen zeigen die unterschiedlichen Rotwildvorkommen. In den rot schraffierten Bundesländern darf Rotwild außerhalb der offiziellen Rotwildgebiete per Gesetz nicht vorkommen. (Quelle: Deutsche Wildtier Stiftung)

Fig. 2.3 Distribution of red deer in Germany. Yellow areas show the different red deer populations. In the red hatched states, legal regulations do not allow red deer to exist outside of official red deer areas. (Source: Deutsche Wildtier Stiftung)

2.3.1.1 Genetische Fragmentierungseffekte

Die Fragmentierung der Rotwildvorkommen durch rotwildfreie Gebiete und die in Deutschland erhebliche Zerschneidung der Landschaft durch Siedlungen, Straßen etc. hat auch genetische Konsequenzen. Studien belegen, dass das rezente Rotwild in Deutschland eine geringere genetische Diversität und höhere Inzuchtwerte aufweist als noch vor 200 oder auch 60 Jahren (Hoffmann et al. 2016; Willems et al. 2016). Eine hohe genetische Vielfalt ist wichtig, um die Anpassungsfähigkeit von Arten und Populationen zu gewährleisten, und auch eine hohe individuelle Fitness (Überleben, Fortpflanzung) ist oft positiv mit hoher genetischer Diversität korreliert (Frankham et al. 2017). Sehr kleine Populationen können genetische Vielfalt über die Zeit verlieren, insbesondere, wenn kein ausreichender Genfluss aus anderen Populationen erfolgt. Bei anhaltendem geringem Genfluss differenzieren sich Populationen genetisch immer mehr voneinander, während starker Genfluss dazu führt, dass sich auch räumlich getrennte Populationen genetisch sehr ähnlich sein können. In kleinen Populationen kann es auch zu Inzucht, also der Verpaarung eng verwandter Individuen kommen. Im schlimmsten Fall kommt es zu Inzuchtdepression, also einer Verminderung der Fitness von Individuen und der Lebensfähigkeit von Populationen. In diesem Zusammenhang ist auch die genetisch-effektive Populationsgröße (Ne) ein wichtiger Parameter, der – vereinfacht ausgedrückt – widerspiegelt, wie viele Individuen ihre Gene an die nächste Generation weitergeben. Selbst wenn die tatsächliche Population groß und ihre Fortpflanzungsrate hoch ist, kann die genetisch-effektive Populationsgröße klein sein, wenn sich alle an der Reproduktion beteiligten Individuen genetisch sehr ähnlich sind. Auch das Paarungssystem beeinflusst Ne, und gerade bei polygynen Arten wie dem Rotwild besteht die Gefahr, durch selektive Jagd die genetisch-effektive Populationsgröße weiter zu reduzieren, z. B., wenn durch die Jagd natürliche Geschlechterverhältnisse verschoben werden (siehe Abschn. 2.3.3.1).

Als grobe Faustregeln werden im Artenschutz oft genetisch-effektive Populationsgrößen > 50–100 gefordert, um Populationen kurzfristig vor Inzuchtdepression zu bewahren, ein Ne > 500–1000 wird verlangt, um langfristig den Verlust genetischer Vielfalt zu verhindern (Franklin 1980; Reed und Bryant 2000).

2.3.1.2 Genfluss, genetische Diversität und Inzucht

Schon Zachos et al. (2006) konnten in einer stark isolierten Rotwildpopulation in Schleswig-Holstein sehr niedrige genetische Diversität, hohe Inzuchtwerte und eine sehr kleine genetisch-effektive Populationsgröße von nur sieben Tieren nachweisen, bei einer Populationsgröße von ca. 60 Individuen. In dieser Population wurden mehrere Fälle von Brachygnathia inferior nachgewiesen, einer morphologischen Fehlbildung, bei der eine Verkürzung des Unterkiefers auftritt. Brachygnathia inferior gilt als Folge von Inzucht bei verschiedenen Säugetierarten und wurde bei Rotwild in Deutschland erstmals 1978 wissenschaftlich dokumentiert (Meyer 1979). Reiner und Willems (2021) stellten bei drei Rotwildkälbern mit verkürztem Unterkiefer einen überdurchschnittlich hohen Inzuchtgrad im Vergleich zu anderen Individuen aus hessischen Rotwildvorkommen fest. Dennoch ist es erstaunlich, dass die Zusammenhänge zwischen dem Auftreten von Unterkieferverkürzungen, Genetik und den Auswirkungen auf individuelle Fitness und Populationsdynamiken bisher nicht detaillierter untersucht wurden.

Auch auf größerer räumlicher Ebene zeigen sich deutliche Anzeichen für genetische Isolationseffekte bei deutschen Rothirschen. Edelhoff et al. (2020) konnten zeigen, dass sich die 12 offiziellen Rotwildvorkommen in Schleswig-Holstein in neun genetisch differenzierte Subpopulationen aufteilen, dass nur rund die Hälfte der Rotwildvorkommen eine genetisch-effektive Populationsdichte über 50 aufweist, und dass die genetische Diversität einzelner Vorkommen abhängig ist von der Dichte benachbarter Vorkommen. Ähnlich fielen die Ergebnisse in Untersuchungen in Hessen aus, einem Bundesland, in dem weiterhin Rotwildgebiete bestehen. Reiner et al. (2021) konnten hier ebenfalls eine starke genetische Differenzierung zwischen den offiziellen Rotwildvorkommen aufzeigen, von denen keines ein Ne größer als 279 aufwies, also deutlich unter dem langfristig nötigen Wert von 500–1000.

Für ganz Deutschland konnte auch Westekemper (2022) nachweisen, dass die meisten der insgesamt 34 beprobten Rotwildvorkommen genetisch voneinander isoliert sind, dass kaum rezenter Genfluss nachzuweisen ist, und dass hierfür insbesondere Straßen, Siedlungen und rotwildfreie Gebiete verantwortlich sind. Lediglich im Nordosten von Deutschland gibt es ausreichend Genfluss, um genetische Differenzierung zu vermeiden, die dort beprobten Rotwildvorkommen weisen generell auch die höchste genetische Diversität und die geringsten Inzuchtwerte auf.

2.3.1.3 Vernetzung von Rotwildvorkommen

Um einen weiteren Verlust genetischer Vielfalt und potenzielle Probleme durch Inzucht zu vermeiden, muss also der Genaustausch zwischen Rotwildvorkommen in den allermeisten Gebieten Deutschlands erhöht werden. Hierfür müssen einerseits Maßnahmen für die Defragmentierung der Landschaft umgesetzt werden, wie sie bereits im Bundesprogramm Wiedervernetzung auf den Weg gebracht wurden (BMU 2012). Andererseits ist auch die Aufrechterhaltung von Rotwildgebieten aus genetischer Sicht äußerst kritisch zu sehen. Aufgrund des hohen politischen Drucks erscheint es unwahrscheinlich, dass die in einigen Bundesländern immer noch existierenden rotwildfreien Gebiete in nächster Zeit abgeschafft werden, auch wenn dies aus genetischer Sicht wünschenswert wäre. Ein Kompromiss könnte sein, zwischen den Rotwildgebieten geeignete Wanderkorridore zu identifizieren, in denen mindestens männliche Hirsche grundsätzlich nicht erlegt werden dürfen und in denen die Barrierewirkung von Straßen und anderen Infrastrukturen minimiert werden. Die Schonung männlicher Hirsche ist auch bereits in den gesetzlichen Vorgaben einiger Länder implementiert bzw. wird von einigen Jagdausübenden auf freiwilliger Basis praktiziert.

Hohmann (2013) macht deutlich, dass das Auftreten einzelner männlicher Hirsche noch nicht auf die Etablierung einer neuen Population hinweist, dies geschieht oft erst viele Jahre später durch den Zuzug von weiblichen Tieren. Man kann einzelne männliche Hirsche also guten Gewissens ziehen lassen, ohne sich Sorgen um die Entstehung neuer, möglicherweise konfliktträchtiger Rotwildpopulation machen zu müssen. Übrigens ist das Abwanderungsverhalten bei Rotwild abhängig vom Zugang der Männchen zu Fortpflanzungspartnerinnen und somit von der Populationsdichte (Clutton-Brock et al. 2002). Daher kann es sowohl bei hohen Dichten zu erhöhten Abwanderungen kommen, wenn viele Männchen um die Weibchen konkurrieren, als auch bei niedrigen Dichten, wenn insgesamt nur wenige Weibchen für die Fortpflanzung zur Verfügung stehen (Loe et al. 2009). Auch das Geschlechterverhältnis bestimmt somit das Abwanderungsverhalten der Männchen, und ein Überhang von Weibchen sollte zu einer Abnahme von Abwanderungsraten führen. Abwandernde Männchen immigrieren meist in Gebiete mit geringer Rotwilddichte, auch wenn dafür weitere Wanderungen nötig sind (Loe et al. 2009). Somit kann also auch das lokale Management, über die Steuerung von Dichten, Altersstrukturen und Geschlechterverhältnissen, die Vernetzung von Rotwildpopulationen beeinflussen.

2.3.1.4 Wildökologische Raumplanung

Bedenkt man diese komplexen Zusammenhänge und die räumliche Isolation einiger deutscher Rotwildvorkommen, so erscheint es wünschenswert, eine wildökologische Raumplanung (WÖRP) als Grundlage des Rotwildmanagements heranzuziehen, ähnlich wie es in Teilen Österreichs und der Schweiz durchgeführt wird (Reimoser und Hackländer 2016). Ziel der WÖRP ist es, heimische Wildarten dauerhaft und in sozioökonomisch verträglicher Form in die Kulturlandschaft einzugliedern, wobei dies einerseits anhand einer großflächigen Rahmenplanung, andererseits anhand einer regionalen Detailplanung erfolgt.

Bei der großflächigen Rahmenplanung könnten geeignete Wanderkorridore zwischen Rotwildvorkommen identifiziert werden, in denen insbesondere männliches Rotwild nicht erlegt werden darf, um den genetischen Austausch nicht weiter zu gefährden. Auf Bundes- und Landesebene wurden bereits potenziell geeignete Korridore für Rotwild und andere große Säuger identifiziert, die sich hierfür eignen könnten (Herrmann et al. 2007). Allerdings muss auch sichergestellt werden, dass solche Korridore nicht durch Straßen oder andere anthropogene Barrieren versperrt sind, was eine entsprechende Infrastruktur mit Wildbrücken und anderen Querungshilfen notwendig macht. In jedem Fall scheint es aus wissenschaftlicher Sicht geboten, genetische Vielfalt und Vernetzung von Rotwildvorkommen in Deutschland über ein langfristig aufgebautes genetisches Monitoring zu überwachen, um so die notwendigen Evidenzen für ein großflächiges Management zu schaffen.

Als Beispiel für eine auf regionaler Ebene durchgeführte Raumplanung kann das Zonierungskonzept erwähnt werden, das Bestandteil der Rotwildkonzeption Südschwarzwald ist (Haydn et al. 2018). Bei diesem Zonierungskonzept wurden auf einer Fläche von 17.500 ha unter anderem Wildruhe-, Kern- und Übergangszonen definiert, die sich in Bezug auf Bejagung, Habitatpflege, waldbauliche Zielsetzung und Besucherlenkung unterscheiden. Hierdurch versucht man, Verteilung und Verhalten der Rothirsche in der anthropogen intensiv genutzten Landschaft so zu beeinflussen, dass Konflikte minimiert werden. Solch eine regionale Zonierung könnte auch in den anderen, rund 500 Hegegemeinschaften in Deutschland angegangen werden, in denen sich Jagdausübungsberechtigte zusammenschließen, um der großflächigen Raumnutzung des Rotwildes Rechnung zu tragen (Kinser et al. 2012).

2.3.2 Räumliche Lenkung von Rothirschen

Um die Möglichkeiten einer räumlichen Lenkung von Rotwild zu evaluieren, müssen wir uns überlegen, anhand welcher Faktoren sich Rothirsche in Raum und Zeit bewegen. Ernährungsökologisch betrachtet ist der Rothirsch vor allem ein großer Pflanzenfresser, genauer gesagt ein Wiederkäuer. Dies bedeutet, dass er viele Verhaltensweisen einer typischen Beute- bzw. Fluchttierart aufweist, um den Tod durch Prädatoren (Beutegreifer) zu vermeiden (Suter et al. 2005). Der Rothirsch gilt als Mischäser mit Hang zum Raufutterfresser, was bedeutet, dass er auf faserhaltige Nahrung wie Gräser angewiesen ist, die typischerweise vor allem im Offenland oder lichten Waldbeständen zu finden sind. Saisonal passen sich Rothirsche an variable Nahrungsverfügbarkeiten oft durch den Wechsel zwischen Sommer- und Wintereinständen an, vor allem aber zeigen sie eine stark saisonale Physiologie, die sich auch auf ihre Aktivität auswirkt (siehe Abschn. 2.3.2.5). Im Tagesverlauf ist das Verhalten von Rothirschen geprägt vom Feindvermeidungsverhalten und kann als ständiger Balanceakt zwischen Fressen und Nicht-gefressen-Werden verstanden werden. Einerseits muss jedes Individuum seinen Energie- und Nährstoffbedarf durch entsprechende Aufnahme von Vegetation decken, andererseits muss es dafür unter Umständen recht offene Flächen aufsuchen, auf denen ein besonders hohes Risiko besteht, von Prädatoren entdeckt, angegriffen und getötet zu werden.

2.3.2.1 Die Landschaft der Angst

Studien belegen, dass sich Rothirsche und andere Wildtiere stark an der sogenannten „Landschaft der Angst“ orientieren, mit der die räumliche Variabilität des von den Tieren wahrgenommenen Mortalitätsrisikos in einem Gebiet beschrieben wird (Gaynor et al. 2019; Laundré et al. 2010). Rothirsche meiden Flächen, auf denen das Mortalitätsrisiko hoch ist, und suchen vermehrt Flächen auf, bzw. verbringen dort mehr Zeit, wenn dort das Prädationsrisiko gering ist (vgl. Laguna et al. 2021).

Zwei Aspekte sind hierbei von entscheidender Bedeutung. Erstens ist es nicht unbedingt das tatsächliche Mortalitätsrisiko, an dem sich die Tiere orientieren, sondern vielmehr das von ihnen wahrgenommene Risiko. Zweitens tritt natürlich auch der Mensch als Prädator und somit Mortalitätsquelle auf, wenn er Rothirsche bejagt. Wie im nächsten Abschnitt erläutert, kann man sich das auch bei der Jagd zunutze machen, indem man Tiere durch variable Mortalitäten in Zeit und Raum steuert (Cromsigt et al. 2013).

2.3.2.2 Push & Pull durch Schwerpunktbejagung und Ruhezonen

Insgesamt sind die stärksten Verhaltensreaktionen auf die Landschaft der Angst zu erwarten, wenn das wahrgenommene Prädationsrisiko in Raum und Zeit variiert und dabei räumlich vorhersagbar, aber zeitlich nicht vorhersagbar ist (Cromsigt et al. 2013; Gaynor et al. 2020).

Dies kann man in der Praxis erreichen, indem man Rothirsche auf einigen, insbesondere den sensiblen Verjüngungsflächen im Wald intensiv und quasi permanent, also ohne festes Zeitschema, bejagt. Solch eine Schwerpunktbejagung generiert eine örtlich hohe Mortalität, sodass die Hirsche solche Flächen meiden sollten. Zeitgleich müssen Flächen geschaffen werden, die ein attraktives Nahrungsangebot bieten und in denen Jagdruhe herrscht. Man versucht also, die Rothirsche von einigen Flächen fernzuhalten (Push, Englisch für „drücken“) und in andere Flächen zu locken (Pull, Englisch für „ziehen“).

Dass dieses Push&Pull-Prinzip funktioniert, konnten Meißner et al. (2013) auf dem Truppenübungsplatz Grafenwöhr in Bayern belegen. Hier werden Rothirsche in den Waldeinständen scharf bejagt, auf den Offenlandflächen jedoch weitestgehend geschont. Als Ergebnis zeigt sich das Rotwild hier wieder tagaktiv und nutzt sehr intensiv die Offenlandflächen. Riesch et al. (2019) konnten zudem zeigen, dass die Rothirsche auf diesen Offenlandflächen einen Biomasseentzug erreichten, der einer typischen Beweidung mit Nutztieren gleicht. Darüber hinaus hatte die Fraßeinwirkung der Hirsche einen positiven Effekt auf die Pflanzendiversität im Offenland, insbesondere in Bezug auf naturschutzrelevante Pflanzen (Riesch et al. 2020). Rothirsche können also als Offenlandpfleger fungieren und stellen im Naturschutz eine Alternative zur Nutztierbeweidung dar.

Zwei Aspekte sind für diese interessanten Ergebnisse besonders wichtig. Erstens ist es nicht allein die Jagd, über die die Hirsche gesteuert werden, sondern auch das Management der Offenlandflächen. So wurden Offenlandflächen durch Mahd für die Rothirsche besonders attraktiv, weil das nachwachsende Gras qualitativ besonders hochwertig ist (Riesch et al. 2019; Raab et al. 2020). Zweitens spielen auch die Habitatstruktur und das Störungsregime eine entscheidende Rolle im Raum-Zeit-Verhalten der Hirsche. So konnten Richter et al. (2020) zeigen, dass Rothirsche sich in zwei Untersuchungsgebieten in Grafenwöhr sehr unterschiedlich verhielten. In dem einen Gebiet, das großflächige Wald- und Offenlandhabitate bietet und in dem kaum menschliche Aktivitäten stattfinden, nutzen die Hirsche das ganze Jahr über das Offenland, wobei die Nutzungsintensität vom Frühjahr zum Winter hin abnahm. Das Raum-Zeit-Verhalten zeigt hier also ein saisonales Muster. Im anderen Gebiet war die Nutzung des Offenlandes nicht saisonal, sondern tageszeitlich geprägt, da die Hirsche in allen Jahreszeiten vor allem nachts das Offenland nutzen und tagsüber eher in den Waldhabitaten blieben. In diesem Gebiet sind die Waldhabitate nur kleinflächig und zerstreut vorhanden, und insbesondere tagsüber wird das Gebiet recht intensiv durch Fahrzeugverkehr und militärische Aktivitäten beeinflusst. Dass die Rothirsche trotz der räumlichen Nähe der beiden Gebiete und trotz des einheitlichen Jagd- und Flächenmanagements solch deutliche Verhaltensunterschiede zeigten, belegt die hohe Anpassungsfähigkeit der Art.

Inzwischen haben Wölfe (Canis lupus) den Truppenübungsplatz und dessen Umgebung wiederbesiedelt. Es bleibt abzuwarten, wie sich dies auf das Raum-Zeit-Verhalten der Rothirsche auswirken wird und ob dies die Lenkung der Hirsche über Jagd und Flächenmanagement beeinflussen wird.

2.3.2.3 Anpassung und Selektion von Verhaltensweisen

Durch die Jagd können wir nicht nur eine Landschaft der Angst kreieren, um Rothirsche zu lenken, sondern wir führen damit sehr wahrscheinlich auch langfristige Verhaltensveränderungen herbei. Dies kann einerseits über Selektion geschehen, denn wenn wir durch die Jagd die Mortalität von Rothirschen mit bestimmten Verhaltensweisen stark erhöhen, und diese Verhaltensweisen vererbbar sind, dann sollten langfristig weniger Individuen diese Verhaltensweisen aufweisen. Andererseits können Verhaltensweisen auch während der Lebensspanne eines Individuums durch Lernen angepasst werden. Verhaltensweisen werden bei Tieren außerdem über soziale bzw. kulturelle Transmission an die nächste Generation weitergegeben (z. B. Jesmer et al. 2018). Bei Rothirschen führt z. B. die etwa einjährige Aufzuchtzeit zu einer engen Bindung zwischen Muttertieren und ihren Kälbern und stellt einen zentralen Aspekt für Sozialverhalten und Rudelstruktur dar (Clutton-Brock et al. 1982, 1984). Die enge Führung durch ihre Mütter beeinflusst nicht nur die spätere soziale Stellung der Kälber und Einjährigen, sondern ermöglicht es auch, mütterliche Erfahrungen weiterzugeben.

Neueste Studien belegen zudem, dass Tiere durchaus individuelle „Persönlichkeiten“ haben, die sich darin manifestieren, dass Individuen über mehrere Jahre immer wieder dieselben Verhaltensweisen zeigen, die sie von anderen Individuen unterscheiden (Wolf und Weissing 2012). Am besten untersucht sind dabei Verhaltensweisen, die sich entlang eines Kontinuums von „kühn“ oder „mutig“ (Englisch: bold) bis „scheu“ im Sinne von „vorsichtig“ (shy) einstufen lassen (Sih et al. 2004). Auch bei Rothirschen wurden solch unterschiedliche Persönlichkeiten bereits nachgewiesen.

Ciuti et al. (2012) konnten z. B. zeigen, dass männliche 2-jährige Hirsche in Kanada ein signifikant höheres Risiko hatten, erlegt zu werden, wenn sie zu den „kühnen“ Individuen gehörten und somit während der Jagdsaison weitere Distanzen zurücklegten und häufiger offene Habitate nutzten, als „scheue“ Individuen. Auch bei den Alttieren wurden tendenziell eher die mutigen Individuen erlegt, allerdings machte sich hierbei auch ein Lerneffekt deutlich bemerkbar: Je älter die überlebenden Tiere wurden, umso weniger und umso langsamer bewegten sie sich während der Jagdsaison. Alttiere, die älter als neun Jahre waren, konnten Mortalität durch Jagd sogar vollständig vermeiden.

Thurfjell et al. (2017) konnten diese Ergebnisse bestätigen und zudem zeigen, dass hierbei sowohl menschliche Selektion als auch Lernen involviert waren. Einerseits kommt es also durch menschliche Jagd zu einer (unbewusst) selektiven Erlegung von Individuen mit bestimmten Verhaltensweisen, andererseits lernen insbesondere Alttiere über die Jahre, wie sie Jagdmortalität vermeiden können.

Zu ähnlichen Erkenntnissen gelangten auch Lone et al. (2015), die bei einer Studie in Norwegen unterschiedliche Überlebenswahrscheinlichkeiten für männliche Hirsche während der Jagdsaison feststellen konnten. Individuen, die zu Beginn der Jagdsaison anfingen, verstärkt dichte Waldhabitate zu nutzen und offene Flächen zu meiden, hatten ein geringeres Erlegungsrisiko als Individuen, die nicht mit einer veränderten Habitatwahl auf den Beginn der Jagd reagierten. Auch bei dieser Studie war solch ein Unterschied bei weiblichen Hirschen nicht festzustellen, da die Weibchen bereits vor Beginn der Jagdsaison in erster Linie die dichten Waldbestände nutzten.

Die hohe Lernfähigkeit von Alttieren ist jagdlich gesehen sicherlich eine Herausforderung, da erfahrene Tiere nur schwer zu erlegen sein werden. Wenn wir aber bedenken, dass „Strecke machen“ meist nur ein Zwischenziel im Management ist, dann ergibt sich hieraus auch eine große Chance. Denn eine Jagd nach dem Push&Pull-Prinzip wird Rothirsche nicht nur akut lenken, sondern hat auch das Potenzial, chronische Veränderungen herbeizuführen, bei denen es durch Selektion, Lernen und Prägung mit der Zeit immer mehr Individuen gibt, die offene Habitate bevorzugen und diese auch tagsüber nutzen.

2.3.2.4 Anthropogene Störungen

Aufgrund seines ausgeprägten Feindvermeidungsverhaltens reagiert Rotwild sehr sensibel auf Störungen. Westekemper et al. (2018) konnten durch gezielte Störversuche zeigen, dass Rotwild im Nationalpark Kellerwald-Edersee in Hessen deutlich auf Menschen reagiert, die offizielle Wanderwege verlassen und in die Waldbestände hineingehen. Bei solchen Störungen flüchteten die Tiere jedes Mal, sie begannen ihre Flucht bereits ab einem Abstand von 239 Metern zum Menschen, und sie legten dabei Fluchtstrecken bis zu einer Länge von 1,9 Kilometer zurück. Das Störpotenzial menschlicher Wanderer machte sich auch im Raum-Zeit-Verhalten der Rothirsche bemerkbar. So hielten sich die Rothirsche tagsüber signifikant weiter von Wanderwegen fern, als dies bei wegeunabhängiger Habitatwahl zu erwarten gewesen wäre. Im Gegensatz dazu schienen die Wanderwege die Habitatwahl nachts nicht zu beeinflussen. Dieser Unterschied zwischen Tag und Nacht war unabhängig von den Wegedichten in den Streifgebieten der Tiere, was deutlich darauf hindeutet, dass Rotwild bereits auf wenige Wege reagiert und diese zu Zeiten der stärksten menschlichen Nutzung meidet.

Zu sehr ähnlichen Ergebnissen kamen auch Coppes et al. (2017), die die Habitatwahl von Rothirschen im Südschwarzwald untersuchten. Auch hier mieden die Hirsche tagsüber Wege, die innerhalb ihrer Streifgebiete für Wanderer, Fahrradfahrer und Crosscountry-Skifahrer zur Verfügung standen. Auch Äsungsflächen in der Nähe solcher Wege wurden tagsüber gemieden und dafür nachts stark frequentiert. Besonders interessant ist diese Studie, weil sie auch zeigt, dass Rotwild wie erhofft auf das dortige Zonierungskonzept reagiert (siehe Abschn. 2.3.1.4), und zwar nicht nur innerhalb ihrer Streifgebiete, sondern auch bei der Streifgebietswahl an sich. So lagen die Streifgebiete der Rothirsche präferiert in den Kern- und Ruhezonen, während Übergangszonen gemieden wurden. Selbst wenn Übergangszonen in den Streifgebieten enthalten waren, wurden die Kern- und Ruhezonen signifikant präferiert. Ein weiterer wissenschaftlicher Beleg dafür, dass Rothirsche sich über ein großräumiges und räumlich-explizites Flächenmanagement lenken lassen.

2.3.2.5 Winteranpassungen

Besonders gravierend dürften sich Störungen auf Rotwild in der Winterzeit auswirken. Rothirsche passen sich dieser nahrungsarmen Zeit an, indem sie ihren Stoffwechsel massiv absenken, sodass nur wenig Nahrung gefressen werden muss (Arnold 2003). Dies geschieht einerseits über eine Verringerung der Körpertemperatur bzw. der Blutzirkulation in den äußeren Extremitäten, andererseits durch eine wesentlich effizientere Aufnahme von energiereichen Nahrungsbestandteilen. Tatsächlich schrumpfen die Verdauungsorgane von Rothirschen im Winter, sodass weitere Energie eingespart werden kann (Arnold et al. 2015). Diese physiologischen Veränderungen werden durch die Tageszeitlänge im Jahresverlauf gesteuert, sie sind also weitestgehend unabhängig von der tatsächlichen Temperatur oder Schneebedingungen. Wenn Rothirsche in dieser Zeit sich aber aufgrund von Störungen vermehrt bewegen oder sogar flüchten müssen, muss der Stoffwechsel zunächst wieder hochgefahren werden, was mit einem stark gesteigerten Energiebedarf einhergeht. Störungen insbesondere im Winter können also den Energiebedarf von Rotwild erhöhen, was zu erhöhter Nahrungsaufnahme und potenziell höheren Schäden führen kann, z. B. wenn das Rotwild seinen gestiegenen Energiebedarf nur durch das Schälen von Bäumen decken kann.

2.3.2.6 Effiziente Jagden auf Rotwild

Während der Einzelansitz gut für eine lokale Schwerpunktbejagung geeignet ist, werden zur Erfüllung von Abschussvorgaben meist auch Bewegungsjagden durchgeführt, z. B. in Form von Gemeinschaftsansitzen, Drück- oder Stöberjagden (Wölfl 2003). Solche Bewegungsjagden sind besonders effizient, da der Jagderfolg meist höher ist als auf der Einzeljagd, sodass in gleicher Zeit mehr Tiere erlegt werden können (Wölfl 2003).

Wie reagiert das Rotwild auf solche Jagden? Grundsätzlich scheinen Alttiere mit zwei unterschiedlichen Strategien auf Bewegungsjagden zu reagieren: Während manche Individuen auf Bewegungsjagden in Frankreich mit Flucht aus dem Gebiet reagierten, verringerten andere ihre Bewegungen während der Jagden auf ein Minimum (Chassagneux et al. 2019, 2020). Neben dem unmittelbaren Mortalitätsrisiko (d. h. der Nähe zu Jägern bzw. ihren Hunden) und der Habitatstruktur scheint es auch hier wieder individuelle Unterschiede zu geben, die auf Erfahrung oder Persönlichkeiten zurückgehen.

Sunde et al. (2009) konnten deutliche Reaktionen von Rotwild auf Bewegungsjagden in Dänemark aufzeigen. Das Rotwild mied die bejagten Gebiete im Mittel für sechs Tage, bewegte sich in den zwei Tagen nach der Jagd insgesamt – und vor allem tagsüber – weniger und hielt sich vermehrt in dichten Waldeinständen auf. Die Verteilung der Jagdausübenden, die Dauer der Bewegungsjagd oder der Abstand zwischen den Jagden spielte dabei keine Rolle. Ebenfalls in Dänemark konnten Jarnemo und Wikenros (2013) allerdings auch zeigen, dass nur rund ein Drittel der besenderten Tiere ihre Streifgebiete während der Jagden verließen und in der Regel nach weniger als 24 Stunden wieder in ihr Streifgebiet zurückkehrten. Auch wenn die Fluchtdistanz teils lang war (bis zu 15 km) und die Streifgebiete für bis zu 88 Stunden gemieden wurden, kam es nie zu einer vollständigen Vertreibung durch die Bewegungsjagden. Rotwild reagiert also eher kurzfristig und meist relativ kleinräumig auf Bewegungsjagden, ein Vertreibungseffekt ist hierbei aber nicht zu erwarten.

Wichtig ist allerdings, dass intensive Bewegungsjagden als Intervallbejagung stattfinden sollten, also zwischen den Jagdterminen eine Zeit der Jagdruhe herrscht, damit die nötige zeitliche Heterogenität der Jagd erhalten und die Jagd effizient bleibt.

2.3.2.7 Jagdzeiten auf Rothirsche

Gemäß Verordnung über die Jagdzeiten darf Rotwild in Deutschland grundsätzlich bis zu neun Monate lang bejagt werden, wobei es in den Bundesländern sowohl Verkürzungen als auch Verlängerungen dieser Jagdzeiten gibt. Hinzu kommt, dass andere Schalenwildarten teils noch länger bejagt werden dürfen, insbesondere das Schwarzwild (Sus scrofa), das mit Ausnahme führender Muttertiere ganzjährig erlegt werden darf. Auch die Jagd auf andere Wildarten dürfte von Rothirschen mindestens als Störung, vermutlich sogar als Prädationsrisiko wahrgenommen werden. Bereits Müller et al. (2012) wiesen darauf hin, dass die Jagd- bzw. Erlegungszeiten in Deutschland sowohl aus wildbiologischer Sicht als auch Sicht des zu erwartenden Jagderfolges angepasst, synchronisiert und verkürzt werden sollten. Sie plädieren für eine grundsätzliche Jagdruhe in den Monaten Februar/März sowie Juni/Juli und schlagen für Rotwild drei Erlegungszeiten vor: eine Haupterlegungszeit vom 1. August bis 31. Dezember, eine erste Nebenerlegungszeit vom 1. April bis 31. Mai und eine zweite Nebenerlegungszeit im Januar. In der Haupt- und der zweiten Nebenerlegungszeit können alle Geschlechter und Altersklassen bejagt werden, in der ersten Nebenerlegungszeit werden Alttiere und bereits gesetzte Kälber geschont. Diese erste Nebenerlegungszeit im April und Mai fällt für das Rotwild in eine Zeit, in der sich ihr Stoffwechsel nach der Winterzeit erneut umgestellt hat, und gerade trächtige Weibchen haben in dieser Zeit einen erhöhten Bedarf an qualitativ hochwertiger Nahrung. Wenn eine Bejagung in dieser Zeit das Rotwild von Frei- und lichten Waldflächen fernhält, könnte dies zu einer erhöhten Nahrungsaufnahme in dichten Waldbeständen und somit höheren Schäden führen. Diese Argumentation wird teils gegen eine Bejagung im Frühjahr angeführt, solide Studien hierzu sind mir jedoch nicht bekannt. Dennoch erscheint die Argumentation vor dem Hintergrund von Rotwildbiologie und -verhalten stimmig. Ein Kompromiss wäre es, die Frühjahrsjagd auf Rotwild nicht schon Anfang April, sondern erst im Mai zu erlauben und auch hier wieder auf effiziente und relativ störungsarme Jagd (insbesondere Gemeinschaftsansitze) zu setzten. Müller et al. (2012) betonen, dass die zweite Nebenerlegungszeit im Januar nur in Anspruch genommen werden sollte, wenn Abschussvorgaben vorher nicht erfüllt werden konnten. Wie bereits mehrfach erwähnt, ist „Strecke machen“ aber kein Managementziel, sondern lediglich Mittel zum Zweck. Insofern sollte eine Rotwildbejagung im Januar höchstens dann erfolgen, wenn auch kritisch evaluiert wird, warum Abschussvorgaben vorher nicht erreicht wurden, ob vielleicht der Wildbestand kleiner ist als angenommen, und ob die geforderte Höhe der Strecke überhaupt nötig ist, um eigentliche Managementziele, wie die Regulierung des Bestandes oder die Verminderung von Schäden, zu erreichen. Auch hier spielt eine objektive Erfolgskontrolle eine wesentliche Rolle, um evidenzbasierte Entscheidungen zu treffen.

Selbst eine Jagdzeit von sechs Monaten (Mai, August bis Dezember) ist im internationalen Vergleich noch sehr lang. Umso wichtiger ist es, nur an wenigen ausgewählten Punkten während der gesamten Zeit zu jagen (Schwerpunktbejagung), flächendeckend hingehen in wenigen Zeitfenstern und möglichst effizient zu jagen (Intervallbejagung mittels Bewegungsjagden). Einige für das Rotwild attraktive Flächen sollten dabei nur sehr selten bejagt oder möglichst ganzjährig aus der Bejagung genommen werden, um die in 2.3.2 erläuterte Lenkung zu erreichen.

Insgesamt wird deutlich, dass Rothirsche sich in Zeit und Raum lenken lassen. Hierbei spielt nicht nur die Bejagung eine wichtige Rolle, sondern auch andere Störungen sowie das Nahrungsangebot und die Habitatstruktur. Somit wird erneut deutlich, dass sich Rotwildmanagement nicht nur auf die Jagd als alleiniges Steuerungsinstrument stützen kann, sondern dass ein ganzheitliches und großräumiges Konzept verfolgt werden sollte.

2.3.3 Populationsdynamiken, Abschussplanung und Jagdzeiten

Wie in vielen europäischen Ländern steigt auch in Deutschland die Anzahl der erlegten und verunfallten Rothirsche seit dem Zweiten Weltkrieg immer weiter an (Milner et al. 2006; Reimoser und Reimoser 2016), im Jagdjahr 2019/20 kamen in Deutschland 76.897 Hirsche zur Strecke (DJV 2021). Seit 1934 darf Rotwild in Deutschland nur noch anhand eines behördlichen Abschussplans bejagt werden. Jagdliche Soll-Vorgaben bestehen in der Regel aus der Streckenhöhe (wie viele Tiere dürfen bzw. sollen im Jagdjahr erlegt werden?) und einer Streckenzusammensetzung (wie soll sich die Gesamtstrecke auf die unterschiedlichen Geschlechter und Altersklassen verteilen?). Ursprünglich versuchte man durch solche Vorgaben eine Übernutzung der Bestände zu verhindern, wobei Bützler (2001) darauf hinweist, dass einige der typischen Vorgaben sicherlich auch dazu gedacht waren, möglichst viele starke Trophäenhirsche im Bestand zu haben. Inzwischen sollen Rotwildbestände auch immer öfter reduziert werden, hierfür fehlen allerdings in den Hegerichtlinien der Länder gezielte Abschussvorgaben (Kinser et al. 2020). Somit ist eine kritische Beleuchtung typischer Abschussvorgaben hochaktuell.

2.3.3.1 Geschlechterverhältnisse in Rotwildpopulationen

Mit der Abschussplanung werden häufig bestimmte Altersklassenverteilungen und Geschlechterverhältnisse in der Population angestrebt, die als „ideal“ oder „normal“ angenommen werden. Zum Beispiel wirf oft von einem Geschlechterverhältnis von 1:1 ausgegangen, das erhalten werden und sich somit in der Strecke widerspiegeln soll. Zunächst muss man aber zwischen dem Geschlechterverhältnis bei Geburt und dem Geschlechterverhältnis der geschlechtsreifen Individuen unterschieden (Meyer 2004). Das Geschlechterverhältnis bei Geburt sollte grundsätzlich ausgeglichen sein (Suter 2017), allerdings kann es bei hohen Dichten zu einer Verschiebung in Richtung der Wildkälber (weibliche Hirschkälber) kommen. Dieser Zusammenhang wurde schon von Clutton-Brock et al. (1984) gezeigt, und auch Vetter und Arnold (2018) fanden in Niederösterreich eine negative Korrelation zwischen dem Anteil männlicher Kälber in der Strecke und der Populationsdichte. Im Gegensatz dazu stieg der Anteil männlicher Kälber mit dem Anteil der Alttiere in der Population an, und auch der Anteil alter männlicher Hirsche (über 10 Jahre) scheint positiv mit dem männlichen Kälberanteil zu korrelieren.

Darüber hinaus kommt es beim Geschlechterverhältnis zu weiteren, altersabhängigen Verschiebungen, da Männchen bei Rothirschen – wie bei den meisten anderen Säugetieren auch – eine mit dem Alter stärker zunehmende Mortalität und eine insgesamt geringere Lebenswahrscheinlichkeit aufweisen als Weibchen (Bonenfant et al. 2002; Clutton-Brock et al. 1985; Mysterud et al. 2001). Mit zunehmendem Alter kann man daher bei adulten Rothirschen ein immer stärker in Richtung der Alttiere verschobenes Geschlechterverhältnis erwarten.

Biologisch gesehen ist also weder in einer Rotwildpopulation noch bei der Rotwildstrecke ein Geschlechterverhältnis von 1:1 unbedingt zu erwarten oder erstrebenswert, ebenso wenig wie eine symmetrische Alterspyramide. Stattdessen kann man das Geschlechterverhältnis eher als Indikator im Management heranziehen. Ein stark zugunsten der Weibchen verschobenes Geschlechterverhältnis in der Kälberstrecke deutet auf eine hohe Populationsdichte hin, insbesondere da das Geschlechterverhältnis bei Rotwildkälbern vermutlich eine Zufallsstichprobe darstellt. Denn auch wenn das Geschlecht bei lebenden Rotwildkälbern von erfahrenen Jagdausübenden unter Umständen erkannt werden kann (Deutz und Schawalder 2018), so gibt es für diese Altersklasse meist keine geschlechtsspezifischen Abschussvorgaben, die zu einer Verfälschung der Streckendaten führen könnten. Auch das Geschlechterverhältnis adulter Individuen ist im Management interessant. Ein stark zugunsten der Männchen verschobenes Geschlechterverhältnis in der adulten Strecke dürfte kaum dem tatsächlichen Geschlechterverhältnis entsprechen, da dieses – wie oben beschrieben – eher in Richtung der Weibchen verschoben sein sollte. Dies wäre also ein Warnsignal für eine stark auf Männchen ausgerichtete Jagd, die insbesondere bei einer gewünschten Reduzierung von Beständen hinterfragt werden sollte, da hierfür vermehrt weibliche Tiere erlegt werden müssen (siehe Abschn. 2.3.3.4).

2.3.3.2 Altersstrukturen und Abschussplanung

In den Abschussvorgaben der einzelnen Bundesländer und Hegegemeinschaften werden neben einem ausgewogenen Geschlechterverhältnis oft auch konkrete Altersklassenverteilungen vorgegeben. Für die Abschussplanung werden außerdem Reproduktionsraten festgelegt, um den zu erwartenden Zuwachs der Population abschätzen zu können. Für manche Berechnungsverfahren muss zudem auch der Schmaltieranteil, also der Anteil an 1-jährigen weiblichen Tieren am weiblichen Gesamtbestand, dem sogenannten Kahlwildbestand, angegeben werden. Diese Parameter sind jedoch meist unbekannt und werden nicht empirisch für die einzelnen Bestände erhoben, sondern durch die Hegerichtlinien festgesetzt. Die Unterschiede zwischen den jeweiligen Vorgaben sind dabei beträchtlich (Kinser et al. 2020).

Durch die Analyse von Langzeitdaten aus Gebieten mit sehr unterschiedlicher Jagdausübung und -zielsetzung konnte Gärtner (2017) zeigen, dass sich – scheinbar weitestgehend unabhängig von Abschussvorgaben – die Strecke in allen Gebieten langfristig wie folgt gliederte: ca. 38 % Kälber, 15 % Schmaltiere, 20 % Alttiere, etwas mehr als 20 % jüngere Hirsche (1–3-jährig) und 6 % ältere Hirsche (>3 Jahre). Auch hier zeigt sich bei den mindestens 1-jährigen Tieren ein zugunsten der Weibchen verschobenes Geschlechterverhältnis (35 % weiblich, 26 % männlich), und ältere Hirsche sind nur zu einem geringen Anteil vertreten. Natürlich darf man auch hier nicht vergessen, dass dies die Strecke darstellt, nicht aber auch zwangsläufig die tatsächliche Struktur der Population. Dennoch erscheint es insgesamt fragwürdig, wie sinnvoll bzw. zielführend allzu konkrete Abschussvorgaben für das Rotwildmanagement sind. Sie basieren zumindest teilweise auf Annahmen und Zielen, die nicht biologisch begründet sind, ihre Herleitung benötigt Angaben zu Parametern, die für die meisten Bestände nicht bekannt sind, und ob sie die Bestände wirklich so wie erhofft steuern, ist wissenschaftlich nicht erwiesen. Um eine evidenzbasierte Abschussplanung zu ermöglichen, wäre es daher wichtig, die Reaktion von Rotwildpopulationen auf bestimmte Streckenhöhen und -zusammensetzungen über ein entsprechendes Monitoring zu verfolgen.

2.3.3.3 Statistische Bestandesrückrechnung

Wie in 2.2.2.1 bereits erwähnt, eignet sich die Analyse von Jagdstrecken durchaus dazu, die Entwicklung einer Population über lange Zeitreihen zu rekonstruieren. Besonders interessant sind für die Rekonstruktion von Beständen statistische Verfahren, die nicht über einfache Rückrechnung der Mindestbestände, sondern unter Zuhilfenahme weiterer Daten bzw. Annahmen versuchen, die tatsächliche Bestandesgröße zu rekonstruieren. Hierzu zählt z. B. die Alter-bei-Abschuss (age-at-harvest) Methode, die Bauling et al. (2013a, b) auf den Rotwildbestand im Solling anwandten. Sie konnten dabei zeigen, dass der Rotwildbestand über viele Jahre viel zu niedrig eingeschätzt wurde und dass es aufgrund gesteigerter Abschusszahlen zunächst zu der erhofften Reduktion der Population kam. Dann jedoch stabilisierte die Population sich wieder, obwohl die Strecke weiterhin hoch blieb. Grund hierfür war die bei geringer werdender Dichte gesteigerte Reproduktionsrate, die über einen Anstieg des Kalb-Alttier-Verhältnisses nachgewiesen werden konnte. Durch die Dichtereduktion bekamen also mehr Alttiere ein Kalb, als dies bei hoher Dichte der Fall war. Die Jagd war somit immer weniger additiv, sondern eher kompensatorisch zur natürlichen Mortalität.

Es muss an dieser Stelle erwähnt werden, dass für die Anwendung der Alter-bei-Abschuss Methode die natürliche (also jagdunabhängige) Mortalität für Tiere unterschiedlichen Alterns angegeben werden muss. Diese Mortalitäten sind aber für den Solling und die meisten anderen Rotwildvorkommen in Deutschland weitestgehend unbekannt. Bauling et al. (2013a, b) lösten dieses Problem, indem sie alle Berechnungen zweimal durchführten, einmal mit den geringsten in Europa dokumentierten Mortalitäten, ein weiteres Mal mit den höchsten in Europa dokumentierten Mortalitäten. Somit wurde bei der Studie auch die Ungenauigkeit der Annahmen berücksichtigt. Insgesamt haben Rückrechnungsmethoden basierend auf der Jagdstrecke also durchaus Potenzial, zu einem evidenzbasierten Rotwildmanagement beizutragen, insbesondere, wenn statistische Verfahren angewandt werden. Eine genaue Schätzung derzeitiger Populationsgrößen und eine Vorhersage der zukünftigen Populationsentwicklung sind ohne zusätzliche Methoden bzw. Daten jedoch mit großen Unsicherheiten behaftet.

2.3.3.4 Erhöhung des weiblichen Streckenanteils

Soll ein Rotwildbestand reduziert werden, muss vor allem der Abschuss der Zuwachsträger, insbesondere der Alttiere, erhöht werden, da ihre Anzahl bzw. ihr Anteil an der Gesamtpopulation maßgeblich das Populationswachstum steuern (Milner et al. 2010). Um hierbei den gesetzlichen Anforderungen an den Schutz von Muttertieren gerecht zu werden, geht ein erhöhter Abschuss von Alttieren in der Regel mit einem ebenfalls erhöhten Kälberabschuss einher, da vor dem Erlegen führender Alttiere zunächst das Kalb erlegt werden muss. Simon et al. (2021) konnten allerdings nachweisen, dass von 55 auf Bewegungsjagden erlegten, einzeln aufgetretenen Alttieren 20 (36 %) laktierten, ohne dass das von ihnen gesäugte Kalb am Jagdtag erlegt wurde. Somit ist das Risiko, auf Drück- oder Stöberjagden bei Erlegung vermeintlich einzelner Alttiere gegen den gesetzlichen Muttertierschutz zu verstoßen, als hoch einzustufen. Eine Alternative stellen laut Kinser et al. (2020) Jagden im Spätsommer dar. Bei diesen Jagden sollten möglichst viele sogenannte Kalb-Alttier-Doubletten angestrebt werden, bei denen zunächst das Kalb und unmittelbar danach oder sogar zeitgleich das Alttier erlegt wird. Kinser et al. (2020) zeigen anhand verschiedener Beispiele, dass bei solchen Jagden ein Alttier-Kalb-Verhältnis von ca. 1:1,6 erreicht werden kann und dass sie zu einem erhöhten Anteil weiblichen Wildes an der Strecke führen. In zwei der aufgeführten Untersuchungen kam es hierdurch zudem zu einer nachweislichen Bestandesreduktion.

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass eine Abschussplanung, die sich auf eine genaue Kenntnis der lokalen Populationsdynamiken stützt, in der Praxis kaum realistisch sein dürfte. Dennoch können über die Jagdstrecke einige wichtige Indikatoren berechnet werden, die nicht nur für die Beschreibung der Bestandesentwicklung von Interesse sind, sondern rückblickend auch Aufschluss über den Einfluss der Jagd für die numerische Regulation der Bestände geben können. Hierfür reicht es jedoch nicht aus, einfach nur zu protokollieren, wie viele Tiere erlegt wurden. Stattdessen muss erfasst werden, wann und wie welche Rothirsche (Alter, Geschlecht) erlegt wurden (Tab. 2.1)

Tab. 2.1 Übersicht über wünschenswerte Angaben zu erlegten Rotwild-Individuen aus Sicht der Wissenschaft

2.4 Fazit für ein evidenzbasiertes Rotwildmanagement

Insgesamt lässt sich festhalten, dass Verbreitung und Verhalten von Rothirschen in Deutschland stark vom Menschen beeinflusst werden, und zwar sowohl direkt als auch indirekt.

Inwieweit das Rotwildmanagement in der Praxis evidenzbasiert ist, lässt sich im Detail nicht beurteilen, dafür ist es deutschlandweit einfach zu heterogen, und vor allem werden lokale Managementvorgaben und -ergebnisse kaum protokolliert oder gar veröffentlicht. Insgesamt aber scheint sich das tatsächliche Rotwildmanagement nicht immer an den zahlreichen wissenschaftlich gewonnenen Erkenntnissen zu Rothirschen zu orientieren. So sind die genetischen Fragmentierungseffekte auf einige deutsche Rotwildvorkommen wohlbekannt, im Management der Art werden sie jedoch kaum berücksichtigt. Ebenso wird die nachgewiesene Lenkbarkeit von Rothirschen durch Jagd und Flächenmanagement noch nicht überall genutzt. Auch die Abschussplanung basiert teils auf biologisch wenig plausiblen Annahmen und nicht zielführenden Vorgaben. Darüber hinaus bestehen an einigen wichtigen Stellen weiterhin Wissenslücken, die über eine Erfolgskontrolle zumindest teilweise geschlossen werden könnten.

Zusammenfassend können für ein evidenzbasiertes Management dieser Wildart derzeit folgende Empfehlungen gegeben werden.

2.4.1 Grundsätzliche Ausrichtung des Rotwildmanagements

  1. 1.

    Das Management sollte nicht allein auf die Steuerung der Populationsgröße bzw. -dichte abzielen, sondern mindestens die drei Aspekte Populationsentwicklung, Wildzustand und Wildeinfluss berücksichtigen.

  2. 2.

    Auf größerer räumlicher Skala sollte der genetische Austausch zwischen den geografisch isolierten Rotwildvorkommen verbessert werden. Wenn aus landespolitischen Gründen an Rotwildgebieten festgehalten werden soll, so sollte es unbedingt (zumindest männlichen) Hirschen ermöglicht werden, sich frei zwischen diesen Gebieten zu bewegen. Hierfür müssen aber flächendeckend und vor allem entlang geeigneter Wanderkorridore Wiedervernetzungsmaßnahmen intensiviert werden, z. B. durch Wildbrücken und andere Querungshilfen.

  3. 3.

    Neben der numerischen Steuerung der Populationsgröße sollte der Fokus beim Management vor allem auf einer Beeinflussung der räumlichen Verteilung und des Verhaltens der Rothirsche liegen.

  4. 4.

    Aufgrund der hohen Sensibilität von Rothirschen muss die Jagd dabei so effizient und störungsarm wie möglich gestaltet werden, und auch andere Störfaktoren müssen im Management berücksichtigt werden.

2.4.2 Planung des Rotwildmanagements

  1. 5.

    Die Raumansprüche der Art sowie die Fragmentierung der Rotwildvorkommen in Deutschland machen ein großflächiges Management notwendig. Hierbei geht es einerseits um eine koordinierte und einheitliche Planung innerhalb zusammenhängender Rotwildverbreitungsgebiete (z. B. über Hegegemeinschaften), andererseits auch um Bejagung und Landschaftsgestaltung bzw. Raumplanung zwischen den Rotwildvorkommen.

  2. 6.

    Das Bejagungskonzept sollte räumlich-explizit geplant werden und für das Rotwild eine heterogene Landschaft der Angst kreieren, bei der das wahrgenommene Prädationsrisiko räumlich vorhersagbar, jedoch zeitlich möglichst variabel ist.

  3. 7.

    Die räumlich-explizite Jagdplanung muss andere Landnutzungsansprüche berücksichtigen, damit z. B. jagdliche Ruhezonen auf Flächen entstehen, auf denen das Rotwild nicht durch Erholungsuchende gestört wird, und auf denen es forstwirtschaftlich toleriert werden kann oder sogar positive Effekte hat (Offenlandflächen).

2.4.3 Durchführung des Rotwildmanagements

  1. 8.

    Um Rotwildpopulationen stabil zu halten bzw. bei Bedarf zu reduzieren, sollte der Fokus der Jagd auf der Erlegung von weiblichen Hirschen liegen, da vor allem die Entnahme dieser Zuwachsträger die Dynamik von Populationen steuert.

  2. 9.

    Um die Größe von Rotwildbeständen möglichst effizient und somit störungsarm steuern zu können, sollten großflächige Bewegungsjagden als Intervallbejagung durchgeführt werden. Ziel sollte es sein, mit möglichst geringem Jagddruck möglichst viele Zuwachsträger zu erlegen.

  3. 10.

    Um eine heterogene Landschaft der Angst für Rothirsche zu kreieren, eignet sich vor allem eine Kombination aus lokaler Schwerpunktbejagung, mit der das Rotwild von bestimmten Flächen – insbesondere sensiblen Waldverjüngungsflächen – ferngehalten werden soll (‚Push‘), und der Jagdruhe auf anderen Flächen, auf denen das Rotwild toleriert werden kann bzw. gewünscht ist. Diese Flächen müssen für das Rotwild in Bezug auf Störungsfreiheit und Nahrungsangebot attraktiv gestaltet werden (‚Pull‘).

  4. 11.

    Jagd ist somit bei der räumlichen Steuerung von Rothirschen nur eines der zur Verfügung stehenden Instrumente. Ebenso wichtig ist das Flächenmanagement, zu dem u. a. waldbauliche Maßnahmen (z. B. Auflichtung von Waldbeständen), Offenlandpflege (z. B. Mahd) und Besucherlenkung (z. B. Betretungsverbot von Wintereinständen) gehören.

  5. 12.

    Bei Bewegungsjagden insbesondere im Oktober und November sollten einzeln auftretende Alttiere nicht freigegeben bzw. erlegt werden, da hier das Risiko von nicht tierschutzkonformen Erlegungen führender Muttertiere erhöht ist.

  6. 13.

    Zur Erhöhung des weiblichen Streckenanteils sowie zur Reduktion von Rotwildbeständen können im Spätsommer Jagden speziell auf weibliche Tiere durchgeführt werden, wobei der Fokus auf effizienten Kalb-Alttier-Doubletten liegen sollte.

2.4.4 Kontrolle des Managements

  1. 14.

    Da sich Rothirschverhalten und Lebensraumbedingungen rasch ändern können, darf ein Management niemals statisch sein, sondern muss adaptiv gestaltet werden. Kern eines adaptiven Rotwildmanagements ist eine Erfolgskontrolle, die aus einer Durchführungs- und einer Wirkungskontrolle bestehen sollte.

  2. 15.

    Grundlage der Erfolgskontrolle muss ein langfristig angelegtes, indikatorbasiertes Monitoring sein. Die Indikatoren sollten sich dabei einerseits auf die drei Säulen des Wildtiermanagements beziehen (Populationsentwicklung, Wildzustand, Wildeinfluss), andererseits auch Effektivität und Effizienz der Jagdausübung überwachen. Oft müssen weitere Komponenten (z. B. Besucherlenkung oder Verkehrsunfälle) berücksichtigt und im Monitoring überwacht werden.

  3. 16.

    Die Kontrolle – und letztlich auch Planung – des Rotwildabschusses über die Jagdstrecke sollte neben der Bestandesrückrechnung auch weitere Indikatoren berücksichtigen, z. B. den Anteil an Alttieren an der Gesamtstrecke, das Kalb-Alttier-Verhältnis, und das Geschlechterverhältnis insbesondere bei den Kälbern. Hierbei sollte auch evaluiert werden, welche Erlegungsarten und -zeiten lokal bzw. regional am effektivsten und effizientesten sind, und ob sie entsprechend genutzt werden.

2.4.5 Weitere Schritte für ein evidenzbasiertes Rotwildmanagement

Die oben gemachten Vorschläge umzusetzen wird in der Praxis sicherlich mit Herausforderungen einhergehen, dennoch sind sie grundsätzlich bereits jetzt durchführbar und werden mancherorts – zumindest in Teilen – auch schon durchgeführt. Anders sieht es mit weiteren Empfehlungen aus, die aus wissenschaftlicher Sicht zwar sinnvoll erscheinen, jedoch ohne eine entsprechende Dateninfrastruktur und zusätzlichen logistischen und finanziellen Einsatz nicht realisierbar sind. Somit besteht aus Sicht der Wissenschaft folgende Wunschliste, um ein noch stärker evidenzbasiertes Rotwildmanagement zu ermöglichen:

  1. 1.

    Die Abundanzen der Rotwildvorkommen sollten – so oft und regelmäßig wie möglich – mittels validierter, statistisch-quantitativer Methoden empirisch geschätzt werden, z. B. über Kamerafallendaten, Genetik oder Fernerkundung. Die Vorgehensweise bei Datenaufnahme und -analyse sollten dabei reproduzierbar beschrieben werden, und es sollten Angaben zur statistischen Präzision der Schätzungen gemacht werden (z. B. über Konfidenzintervalle).

  2. 2.

    Es sollte ein nationales genetisches Monitoring der Rotwildvorkommen durchgeführt werden, damit die Entwicklung von genetischer Vielfalt und Genfluss verfolgt werden kann. Solch ein Monitoring könnte anhand der Strecke regelmäßig, z. B. alle fünf bis zehn Jahre, durchgeführt werden und sollte auf mindestens 30 Individuen je Vorkommen basieren (Reiner et al. 2019). Bei sehr kleinen und räumlich stark isolierten Vorkommen ist solch ein Monitoring besonders wichtig und sollte dementsprechend in kürzeren Intervallen (z. B. jährlich) und über Beprobung möglichst aller erlegten Individuen stattfinden.

  3. 3.

    Jagdstreckendaten sollten vollständig unter den in Tab. 2.1 aufgelisteten Angaben räumlich-explizit erfasst werden, damit die Zusammenhänge zwischen Jagd(strecke) und Populationsentwicklung (Punkt 1) analysiert und Rückrechnungsmethoden validiert und verbessert werden können.

  4. 4.

    Auf Populationsebene sollte versucht werden, über die Abundanzschätzung, Genetik und Jagdstrecke wichtige Parameter in der Populationsdynamik empirisch zu ermitteln (Reproduktionsraten, alters- und geschlechtsabhängige Mortalitätsraten).

  5. 5.

    Es sollte eine nationale Rotwilddatenbank aufgebaut werden, in der die oben beschriebenen Daten gesammelt und der Wissenschaft zur Verfügung gestellt werden, damit durch weiterführende Auswertung der Daten zusätzliche Evidenzen für das Rotwildmanagement geschaffen werden können. In einer solchen Datenbank könnten zudem auch zusätzliche Daten und Informationen hinterlegt werden, die für die Interpretation der Daten wichtig sind, wie Hinweise auf das Störungsregime durch Tourismus, zu Änderungen in der Jagdausübung, zur Lebensraumkapazität oder zur Geschichte des Rotwildbestandes.

Zudem besteht weiterer Forschungsbedarf, z. B. über die Auswirkungen von zurückkehrenden Wölfen auf die Populationsentwicklung und das Verhalten von Rothirschen, oder zu den demografischen Auswirkungen von genetischer Inzucht in isolierten Rotwildvorkommen.

2.4.6 Zukünftige Herausforderungen und Chancen im Rotwildmanagement

In den letzten Jahren sind durch Trockenstress, Sturm- und Käferschäden große Freiflächen in deutschen Wäldern entstanden (BMLE 2021). Die Habitatverfügbarkeit für Rothirsche und andere Herbivoren wird hierdurch zunächst erhöht (Oeser et al. 2021), eine Bejagung oftmals erschwert, und eine Wiederbewaldung der Flächen durch Aufforstung oder natürliche Regeneration wird ohne ein effizientes Wildtiermanagement kaum möglich sein (BMLE 2011). Das Management von Rothirschen wird somit in den nächsten Jahren und Jahrzehnten weiter an Bedeutung und an Brisanz gewinnen. Wie in diesem Kapitel beschrieben sind diese neu entstandenen Freiflächen jedoch nicht nur Herausforderung, sondern können auch eine große Chance im Rothirschmanagement darstellen. Um diese Chance zu nutzen, muss es gelingen, Rothirsche gezielt auf solche Flächen zu lenken, auf denen sie aus forstwirtschaftlicher Sicht geduldet werden können, Flächen also, die auch mittel- oder langfristig relativ offen bleiben können. Hier muss man ihnen ausreichend Ruhe und Sicherheit bieten, wobei neben der Jagdausübung auch die Vermeidung von Störungen durch Erholungssuchende, Forstwirtschaft und andere Landnutzungsformen bedacht werden müssen. Gleichzeitig müssen Rothirsche durch lokal intensive Bejagung von solchen Flächen ferngehalten werden, auf denen die Wiederbewaldung möglichst rasch erfolgen soll.

2.4.7 Das Rotwildmanagement der Zukunft

Egal welche Ziele es verfolgt und welche Maßnahmen zum Erreichen dieser Ziele eingesetzt werden – das Rotwildmanagement der Zukunft sollte noch stärker als bisher von einer Erfolgskontrolle und einem darauf abzielenden Monitoring begleitet werden. Was für ein Datenschatz würde der Wissenschaft und dem Wildtiermanagement zur Verfügung stehen, wenn die Daten zu den erlegten Rothirschen und ihrer Bejagung zumindest stichprobenartig kontinuierlich erfasst und zugänglich gemacht würden? Hieran sollten eigentlich alle staatlichen und auch viele private Forstbetriebe ein berechtigtes Interesse haben, zumal sich die Jagdausübenden hierbei als Bürgerforschende (citizen scientists) erweisen und einen wichtigen Beitrag hin zu einem wirklich evidenzbasierten Rotwildmanagement leisten könnten. Man darf gespannt sein, ob wissenschaftliche Fakten und Methoden im Rotwildmanagement in der Zukunft weiterhin und zunehmend berücksichtigt werden oder ob die Art – wie schon in der Vergangenheit – zum Spielball politischer, ökonomischer und ideologischer Interessen wird.