FormalPara Zusammenfassung

Der Beitrag diskutiert ausgehend vom Hospiz- und Palliativgesetz (2015) Fragen der Gerechtigkeit in der Gesundheits- und insbesondere in der Palliativversorgung. Die Logik einer gerechten Verteilung nach Bedarf in solidarischen Gemeinschaften wird zunächst gerechtigkeitstheoretisch rekonstruiert. Die Frage der nachvollziehbaren Feststellung des Versorgungsbedarfs erweist sich so als zentrale Gerechtigkeitsfrage. Um aber palliative Versorgungsbedarfe festzustellen, braucht es Vorstellungen eines Normalverlaufs des Sterbens. Auf dieser Grundlage sich etablierende Vorstellungen des „guten Sterbens“ stehen dann in der Gefahr, die Selbstbestimmung von Patientinnen und Patienten zu gefährden. Als besonders schwierig erweist sich die Festlegung eines nachvollziehbaren Versorgungsbedarfs in stark von individuellen Vorstellungen geprägten Lebensbereichen, z. B. wenn es um psycho-soziale und spirituelle Versorgungsbedarfe geht. Das darf aber nicht dazu führen, dass in diesen Bereichen keine Angebote der palliativen Versorgung vorgehalten werden, wie es derzeit im Bereich der allgemeinen Palliativversorgung weitgehend der Fall ist.

The paper discusses questions of justice in health care and especially in palliative care in the light of the German law on hospice and palliative care (2015). It theoretically reconstructs the logic of just distribution according to needs in solidaristic communities. It turns out that the crucial question of justice in healthcare is how to comprehensively identify the needs of patients. To identify palliative needs, a normative standard of the process of dying has to be defined. Such conceptions of “good dying”, though, can lead to undermining the autonomy of patients. It is particularly difficult to comprehensively identify patients’ needs with regard to areas of life that are highly individualised, e.g. when it comes to psycho-social and spiritual needs. Yet this should not result in not providing palliative care for patients with these needs as is currently the case in the context of general palliative care.

1 Einleitung

Im Jahr 2015 verabschiedete der Deutsche Bundestag mit dem „Gesetz zur Verbesserung der Hospiz- und Palliativversorgung in Deutschland“, kurz „Hospiz- und Palliativgesetz“ (HPG), eine weitreichende Reform, die unter anderem darauf zielt, die palliative Versorgung von Menschen in der stationären Langzeitpflege zu verbessern. Kritik an diesem Gesetz gab es in erster Linie mit Blick darauf, dass hier nicht genug Ressourcen zur Verfügung gestellt werden: Zwar eröffne das Gesetz eine Reihe von Möglichkeiten für eine breiter aufgestellte palliative Versorgung, aber es schaffe keine Möglichkeiten, um z. B. zusätzliches Personal und insbesondere interdisziplinäre Behandlungsteams im Bereich der allgemeinen Palliativversorgung zu finanzieren (z. B. Rieser 2015; Blank et al. 2018). Dass der Bereich der palliativen Versorgung eine stärkere finanzielle Unterstützung braucht, scheint dabei weitreichender Konsens zu sein.

Während bisher insbesondere der Bereich der spezialisierten Palliativversorgung ausgebaut wurde, die vor allem den Patientinnen und Patienten zugutekommt, die unter einer besonders schweren Symptomatik leiden, zielte das HPG wesentlich auf eine Verbesserung der allgemeinen Palliativversorgung, die allen sterbenden Patientinnen und Patienten zugutekommen soll. Damit stellt sich aber eine doppelte Verteilungsfrage, nämlich erstens mit Blick auf die Verteilung der Ressourcen zwischen kurativer und palliativer Versorgung und zweitens mit Blick auf die Verteilung der Ressourcen zwischen allgemeiner und spezialisierter palliativer Versorgung. In normativer Perspektive sind Verteilungsfragen immer auch Gerechtigkeitsfragen: Was sind also ethisch begründbare Kriterien der Verteilung von Ressourcen im Gesundheitswesen und in der Palliativversorgung im Besonderen?

2 Gerechtigkeit in solidarischen Gemeinschaften

Die politische Förderung palliativmedizinischer Versorgung folgt der offensichtlich weitgehend anerkannten moralischen Intuition, dass die Gesellschaft gegenüber sterbenden Menschen in einer besonderen moralischen Beistandsverpflichtung steht. Grundlegend dafür ist die moralische Überzeugung, dass diejenigen Menschen, die einen besonders hohen Bedarf an gesundheitlicher Versorgung haben, auch besonders viel Unterstützung erhalten sollen. Nach dem Sozialphilosophen David Miller ist diese Verteilung nach Bedarf charakteristisch für die gerechte Verteilung von Ressourcen in solidarischen Gemeinschaften (Miller 2008, S. 67 f., 254–282). Miller geht davon aus, dass es nicht ein für alle Kontexte gültiges Gerechtigkeitsprinzip gibt, sondern dass Gerechtigkeitsprinzipien von der Art der Beziehung innerhalb der Gruppe abhängig sind, auf die das Gerechtigkeitsprinzip angewendet werden soll (Miller 2008, S. 66 f.). So gilt mit Blick auf Grund- und Bürgerrechte eine egalitäre Verteilung (alle haben die gleichen Rechte) als gerecht (Miller 2008, S. 71 f.), während im Kontext der Erwerbswirtschaft die Verteilung nach Verdienst (wer mehr arbeitet, verdient auch mehr) als Gerechtigkeitsprinzip anerkannt wird (Miller 2008, S. 68–71). Das Gerechtigkeitsprinzip der Verteilung nach Bedarf gilt in Beziehungssystemen, die Miller als solidarische Gemeinschaften bezeichnet und die dadurch charakterisiert sind, dass sie von einem gemeinsamen Ethos bestimmt werden. Dazu zählen z. B. Familien, religiöse Gruppierungen, Gewerkschaften, aber auch die Zugehörigkeit zu einem Land kann eine solche Bezugsgruppe konstituieren (Miller 2008, S. 68). Dass das deutsche Gesundheitswesen in diesem Sinne als Ausdruck einer solidarischen Gemeinschaft zu verstehen ist, muss hier nicht weiter begründet werden, denn es zeigt sich unmittelbar in den gesetzlichen Grundlagen des Krankenversicherungssystems, wenn in § 1 SGB V von der „Krankenversicherung als Solidargemeinschaft“ die Rede ist.

Die Begriffe Solidarität und Gemeinschaft verweisen dabei schon von ihrer Begriffsgeschichte her aufeinander. Der lateinische Begriff „solidus“ bezeichnet u. a. das Ganze, verweist also auf die Idee der Zugehörigkeit zum Ganzen einer Gruppe oder der Gesellschaft (Wildt 2017). Solidarität verweist darum, wie Rahel Jaeggi im Anschluss an Emile Durkheim formuliert, auf das soziale Band, das eine Gesellschaft zusammenhält (Jaeggi 2001, S. 88) und das sich im moralischen Streben nach der Realisierung gemeinsamer Güter vollzieht, die die sozialen Beziehungen der Einzelnen mitbestimmen (Jaeggi 2001, S. 290 f.). Es geht bei Solidarität also nicht darum, dass Menschen wechselseitig in instrumenteller Weise aufeinander angewiesen sind, weil bestimmte individuelle Ziele nur mit Hilfe anderer realisiert werden können. Es geht vielmehr um gemeinsam erstrebte Güter, mit Blick auf deren Realisierung man solidarisch handelt bzw. auch solidarisches Handeln einfordert.

In demokratischen Gesellschaften ist eine wesentliche Voraussetzung der verantwortlichen Rede von Solidarität, dass über das, was als das Gute solidarisch erstrebt wird, nur in Prozessen entschieden werden darf, in denen Bürgerinnen und Bürger als freie Individuen mitbestimmen können. Gleichwohl kann Solidarität unter dieser Voraussetzung eines freien demokratischen Verfahrens auch bedeuten, von Bürgerinnen und Bürgern zu verlangen, dass sie einzelne Freiheiten zugunsten anderer einschränken, indem sie auf solidarisches Handeln – auch rechtlich – verpflichtet werden, wie es z. B. in der Finanzierung eines solidarischen Gesundheitswesens geschieht. Das Ziel bleibt dabei aber immer, dass für alle die gleichen Freiheitsrechte gelten müssen (Rawls 1971).

Im Wissen darum, dass Freiheit nicht von Natur aus gegeben, sondern das Resultat eines gemeinsamen Handelns von Individuen ist, zielt solidarisches Handeln darauf, dass Bürgerinnen und Bürger sich gegenseitig schützen und unterstützen, wenn ihre Fähigkeit zur freien Gestaltung des Lebens in der Gesellschaft gefährdet ist. In diesem Sinne kann man eine Solidargemeinschaft mit Wildt definieren als eine „Gemeinschaft, in der Lasten und Schäden eines jeden in gleichem Maße, aber von jedem gemäß seiner unterschiedlichen Leistungsfähigkeit getragen werden“ (Wildt 2017). Das Ziel des gemeinsamen Tragens dieser Lasten ist in einer liberalen demokratischen Gesellschaft eine möglichst egalitäre Verteilung von Freiheit als dem gemeinsamen, solidarisch erstrebten Gut. Eine Gefährdung dieses Gutes kann auf vielfältige Art und Weise zustande kommen. Insbesondere aber kann die Fähigkeit einer Person zur freien Lebensführung durch Krankheit oder Pflegebedürftigkeit gefährdet sein. Hier greift dann das System der solidarischen Krankenversicherung.

In dieser Definition von Solidarität ist dabei immer schon eine Verteilungslogik und damit eine Vorstellung von Gerechtigkeit mitgesetzt, nämlich eben die von Miller (2008) beschriebene Verteilung nach Bedarf. Sie ist charakteristisch für die Ressourcenverteilung im deutschen Gesundheitswesen.

3 Gerechte Ressourcenverteilung im solidarischen Gesundheitswesen in Deutschland

In der gesetzlichen solidarischen Krankenversicherung gibt es dementsprechend eine doppelte solidarische Umverteilung von Ressourcen:

  1. (1)

    von den Wohlhabenderen zu den weniger Wohlhabenden durch die Kopplung der Höhe der Krankenversicherungsbeiträge an die Höhe des Einkommens,

  2. (2)

    von Personen mit geringer zu Personen mit hoher Krankheitslast.

Beide Umverteilungsmechanismen gelten nicht uneingeschränkt, sondern unterliegen politisch gesetzten Grenzen, wie z. B. der Bemessungsgrenze für Krankenversicherungsbeiträge oder der Möglichkeit des Wechsels in eine private Versicherung für lediglich einen kleinen Personenkreis. Diese Grenzen sind unter dem Gesichtspunkt der Gerechtigkeit kritisch zu diskutieren. Gleichwohl scheint das Grundprinzip einer solidarischen Verteilung nach Bedarf grundsätzlich in Kraft und zeigt, dass das Prinzip der Solidarität ein spezifisches Verständnis von Verteilungsgerechtigkeit hervorbringt, nach dem diejenigen, die am meisten Hilfe brauchen, auch die meiste Hilfe bekommen. Werden im Gesundheitswesen aber die Ressourcen nach Bedarf verteilt, so stellt sich notwendigerweise die Frage danach, wer in welchem Maße der Hilfe bedarf bzw. wer diejenigen Personen sind, die einen besonders hohen Bedarf an medizinischer und pflegerischer Versorgung haben.

Den Bedarf einer Person an medizinischer oder pflegerischer Versorgung ausschließlich am subjektiven Bedürfnis einer Person festzumachen, liefe darauf hinaus, die Gerechtigkeitsfrage faktisch zugunsten eines Systems der Befriedigung individueller Bedürfnisse aufzugeben, das weniger mit Solidarität und mehr mit Dienstleistung zu tun hätte. Es braucht vielmehr einen für alle nachvollziehbaren und in diesem Sinne objektiven Maßstab, an dem sich bemessen lässt, inwieweit die Möglichkeiten einer Person, ihr Leben frei zu führen, durch Krankheit oder Pflegebedürftigkeit eingeschränkt sind und welcher Bedarf an Unterstützung durch die Solidargemeinschaft daraus entsteht.

Diese Nachvollziehbarkeit wird durch den Rückgriff auf wissenschaftlich erhobene Daten der medizinischen Forschung und der Pflegeforschung hergestellt. Die Einschätzung des individuellen Hilfebedarfs obliegt dann am Ende denjenigen, die professionell dazu ausgebildet wurden, wissenschaftlich zu beurteilen, was es braucht, um eine spezifische Krankheit medizinisch und pflegerisch angemessen zu behandeln: Es sind Ärztinnen und Ärzte, die diese Beurteilung mit Blick auf medizinische Therapien und auf der Grundlage fachwissenschaftlicher Expertise vornehmen. Darum kommt der medizinischen Indikation (Dörries und Lipp 2015; Dörries 2019) eine Schlüsselfunktion für die gerechte Verteilung von Ressourcen in der ärztlichen Versorgung zu. Denn mit der Feststellung, dass eine Behandlung medizinisch indiziert ist, wird zugleich festgestellt, dass ein medizinischer Versorgungsbedarf besteht, der es rechtfertigt, die vorhandenen und notwendigen Ressourcen (Personal, medizinische Mittel und Medizintechnik, Infrastruktur etc.) für die betroffene Person zur Verfügung zu stellen. Eine medizinische Indikation setzt die Klärung des erstrebten Ziels der medizinischen Behandlung voraus. Erst vom Ziel her lässt sich klar formulieren, welche medizinischen Mittel angemessen eingesetzt werden können, um dieses Ziel zu erreichen (Raspe 2015, S. 190). Grob umrissen gibt es dabei, wie Andrea Dörries (2019, S. 585 f.) festhält, zwei mögliche Ziele des medizinischen Handelns: Heilung und Leidenslinderung. Diese beiden Ziele verweisen auf die beiden moralischen Güter, die im Gesundheitswesen realisiert werden sollen und für deren Realisierung alle im Rahmen der gesetzlichen Krankenversicherung Versicherten solidarisch die Ressourcen zur Verfügung stellen.

Im Grundsatz gilt Analoges für die Pflege: Auch hier braucht es eine nachvollziehbare Feststellung des Pflegebedarfs einer Person, die ein pflegewissenschaftlich fundiertes Urteil voraussetzt. Dass dieses im deutschen Gesundheitswesen nicht durch die Pflege selbst vorgenommen wird, dürfte an der fehlenden Etablierung der Pflege als eigenständiger Profession liegen. Infolgedessen wird die Einstufung des Pflegebedarfs durch vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK) beauftragte Pflegegutachterinnen und -gutachter vorgenommen, die wiederum auf pflegewissenschaftlicher Grundlage die Situation einer pflegebedürftigen Person fachlich beurteilen. Dem Urteil über die Pflegebedürftigkeit kommt für die gerechte Verteilung von Ressourcen in der Pflege eine der ärztlichen Indikation analoge Funktion zu. Die moralischen Güter, die durch das pflegerische Handeln realisiert werden sollen, lassen sich dabei am Pflegebedürftigkeitsbegriff ablesen, wie er 2013 formuliert wurde und seit 2017 durch das dritte Pflegestärkungsgesetz zur Anwendung kommt (Bundesministerium für Gesundheit 2013, S. 11): Pflege zielt im Grundsatz darauf, betroffenen Personen eine möglichst selbstbestimmte Teilhabe am Leben zu ermöglichen (Coors 2021, S. 7).

4 Palliativversorgung: Wie viel Ressourcen für das gute Sterben?

Geht man von diesen Beobachtungen aus, dann erschließt sich recht unmittelbar, warum ein Großteil der finanziellen Ressourcen im deutschen Gesundheitswesen in die medizinische und pflegerische Versorgung besonders schwer erkrankter Patientinnen und Patienten fließt. Zugleich wird deutlich, dass eine wesentliche Frage darin besteht, wie die Ressourcen auf die unterschiedlichen genannten Ziele medizinischen und pflegerischen Handelns verteilt werden: Wieviel Ressourcen werden eingesetzt, um die Gesundheit von Menschen wiederherzustellen, wieviel, um Leiden zu lindern und wieviel, um eine selbstbestimmte Teilhabe am gemeinsamen Leben zu ermöglichen? Diese Ziele lassen sich dabei nicht sauber auf unterschiedliche Versorgungsbereiche im Gesundheitswesen aufteilen. Vielmehr tragen in unterschiedlicher Weise alle Versorgungsbereiche zur Realisierung dieser Ziele bei. Aber es stehen doch in bestimmten Bereichen jeweils unterschiedliche Ziele im Vordergrund. In der Palliativversorgung steht offensichtlich die Linderung von Leiden am Lebensende im Vordergrund und nicht mehr das kurative Ziel. Die Realisierung des Ziels einer selbstbestimmten Teilhabe am Leben nimmt hier die Form der Ermöglichung einer Förderung der selbstbestimmten Gestaltung des Lebensendes an, das für das Selbstverständnis palliativer Medizin und Pflege konstitutiv ist (z. B. Radbruch et al. 2009, S. 283 f.; DHPV 2007, 2. Leitsatz). Die Palliativversorgung im Gegenüber zur kurativen Medizin grundsätzlich zu stärken bedeutet also, das moralische Ziel der Leidenslinderung als eigenständiges moralisches Ziel gegenüber den Zielen der kurativen Medizin hervorzuheben. In der Verteilung von Ressourcen zwischen kurativer und palliativer Medizin geht es letztlich um die Frage, inwieweit Medizin und Pflege es als ihre Aufgabe ansehen, Leiden zu lindern und eine Teilhabe am Leben auch dann noch zu ermöglichen, wenn eine Heilung nicht mehr zu erwarten ist. Die Stärkung der Palliativmedizin ist darum im Wesentlichen auch Ausdruck eines sich verändernden Verständnisses der Ziele der Medizin.

Die Indikation einer palliativen Behandlung setzt wie auch andere medizinische Indikationen eine Vorstellung von dem Ziel voraus, das durch die medizinische Behandlung erreicht werden soll. Dafür muss eine Art Normalzustand im Verhältnis zu den Abweichungen als Hinweis auf ein Bedürfnis an Unterstützung definiert werden. Diese Vorstellung eines Normalzustandes hat immer auch eine normative Komponente. Die kurative Medizin orientiert sich hier m. E. in der Regel faktisch an der Vorstellung einer integrativen funktionalen Ganzheit des Körpers, die wiederherzustellen zumindest als eine Art regulatives Ideal fungiert. Nun ist die palliative Situation aber dadurch gekennzeichnet, dass dieser Zustand gerade nicht mehr hergestellt werden kann, sondern der Prozess des Sterbens lässt sich unter anderem als ein Prozess der kontinuierlichen Desintegration des Körpers verstehen. Insofern es darum geht, diesen Prozess des Sterbens zu begleiten und in diesem Prozess Leiden zu lindern, braucht es darum eine Normalvorstellung des Sterbeprozesses, anhand derer sich der Bedarf an palliativer Versorgung feststellen lässt. Weil Sterbeverläufe aber hochindividuell sind und es gerade darum geht, ein selbstbestimmtes und damit auch individuelles Sterben zu ermöglichen, gerät die Palliativversorgung hier in eine charakteristische Spannung zwischen einer häufig eher impliziten Setzung bezüglich dessen, was als das normale oder gute Sterben gilt, an dem sich der Bedarf grundsätzlich bemisst, und der Orientierung an der individuellen Entscheidung Einzelner bezüglich dessen, wie sie sich ihren Sterbeverlauf vorstellen (Proulx und Jacelon 2004). Die Formulierung von guten Sterbeverläufen ist einerseits notwendig, weil sich erst auf dieser Grundlage definieren lässt, welches die Ressourcen sind, die den Patientinnen und Patienten zumindest angeboten werden müssen. Insofern aber andererseits das selbstbestimmte Entscheiden über den Sterbeverlauf wesentlicher Bestandteil der Definition des guten Sterbens in der Palliativversorgung ist, können die Unterstützungsressourcen immer nur ein Angebot darstellen, das von den Patientinnen und Patienten auch abgelehnt werden kann. Dennoch bringt die Definition von normalen Sterbeverläufen, die faktisch als normatives Ideal der medizinischen und pflegerischen Versorgung fungieren, die Gefahr mit sich, dass diese Vorstellungen des guten Sterbens sich verselbständigen und zu Erwartungshaltungen werden, an denen Sterbeverläufe zumindest implizit moralisch bemessen werden und die so dazu führen, dass die Selbstbestimmung der Patientinnen und Patienten unterlaufen wird (vgl. dazu z. B. Dreßke 2005; Streeck 2016, 2020; Coors 2018).

Dieses Problem wird in der Palliativversorgung nun noch dadurch verschärft, dass hier – aus guten Gründen – davon ausgegangen wird, dass Leiden ein komplexes Phänomen ist, das nicht allein physisch zu behandeln ist, sondern einen komplexen integrierten Behandlungsansatz verlangt, in dem auch die psychischen, sozialen und spirituellen Bedürfnisse der Patientinnen und Patienten berücksichtigt werden. Dafür steht Cicely Saunders’ Konzept des Total Pain (Saunders 1964). So wichtig und richtig diese Einsicht in die Komplexität des Leidens und des Schmerzerlebens ist, so schwierig macht sie es allerdings, objektive Kriterien für die Feststellung von Behandlungsbedarfen zu formulieren (Bozzaro 2015).

Das wird besonders deutlich mit Blick auf die spirituelle und die soziale Dimension des Leidens, denn was hier jeweils als der Normalzustand gelten kann, von dem ausgehend der Bedarf an spiritueller oder sozialer Unterstützung festgestellt wird, bleibt notwendigerweise in hohem Maße abhängig vom subjektiven Erleben der betroffenen Personen. Das aber führt dazu, dass die Verteilung von Ressourcen in der Palliativversorgung einseitig zu Gunsten der „klassischen“ Versorgungsbereiche der Medizin und der Pflege ausfällt, während für die psychosozialen und spirituellen Unterstützungsangebote zwar in der spezialisierten Palliativversorgung anders als in anderen Bereichen der Medizin auch Ressourcen zur Verfügung stehen, aber doch deutlich weniger. In der allgemeinen Palliativversorgung, wie sie durch das HPG gefördert wird, liegt der Fokus dann fast ausschließlich auf den medizinischen und pflegerischen Versorgungsangeboten. Darüber hinausgehende Unterstützungsangebote tauchen nur in Form von Beratungsleistungen auf.

5 Fazit

Dass sich die gerechte Verteilung der Ressourcen in einer solidarischen Gemeinschaft am Bedarf orientiert, lässt es ethisch also als plausibel erscheinen, dass die Förderung der Palliativversorgung sich zunächst und in besonderer Weise auf diejenigen Personen konzentriert, die einen besonders hohen Versorgungsbedarf haben, indem die spezialisierte Palliativversorgung ausgebaut wurde. Es ist dann aber auch konsequent, diese Versorgung in einem zweiten Schritt auszuweiten auf all diejenigen, die einen geringeren Bedarf an Unterstützung und Versorgung haben.

Zugleich muss man aber feststellen, dass die Zielvorstellung der Versorgung, die für die Bemessung des Behandlungsbedarfs notwendig ist, in der Palliativversorgung noch offensichtlicher als in anderen Bereichen des Gesundheitswesens von normativen Wertungen abhängig ist, die einer ethischen Diskussion bedürfen. Notwendig ist die Formulierung dieser Zielvorstellungen eines guten Sterbens, um ein am Bedarf orientiertes Verständnis von Gerechtigkeit für das Setting der palliativen Versorgung zu konkretisieren und zu operationalisieren. Diese Operationalisierung der Gerechtigkeit gerät aber an ihre Grenzen, wenn sich die Unterstützungsleistung auf Lebensbereiche richtet, die in hohem Maße individuell geprägt sind und wenig objektive Anhaltspunkte für die Feststellung eines Unterstützungsbedarfs jenseits des subjektiven Bedürfnisses der betroffenen Personen bieten, wie es z. B. mit Blick auf spirituelle oder soziale Bedürfnisse der Fall ist. Jeder Versuch, für diese Bereiche objektive Bedarfe zu formulieren, führt notwendig unmittelbar zu normativ kontroversen Diskussionen. Gleichzeitig ist die Berücksichtigung gerade auch dieser hochgradig individuellen Bedürfnisse konstitutiv für das Selbstverständnis der Palliativversorgung.

Diese Problematik darf darum auf der anderen Seite nicht dazu führen, dass diese Dimensionen der palliativen Versorgung ausfallen, wie es im Bereich der allgemeinen Palliativversorgung derzeit noch überwiegend der Fall ist, weil hier keine interdisziplinären Behandlungsteams vorgesehen sind. Gerade in diesen Bereichen wäre es wichtig, für eine solide Grundversorgung zu sorgen, die sich nicht an einem schwer festzustellenden Bedarf orientiert. Eine Alternative könnte darin bestehen, die Bedarfsparameter hier erst im Laufe der Zeit auf der Grundlage empirischer Daten zu entwickeln, indem zunächst ein Versorgungsangebot geschaffen und seine Inanspruchnahme dann empirisch validiert wird. Dafür aber bedarf es zunächst einmal refinanzierter personeller Ressourcen, die entsprechende Angebote z. B. sozial-psychologischer und spiritueller Begleitung vorhalten, wie es sie im Bereich der spezialisierten Palliativversorgung bereits gibt. Erst dann lässt sich empirisch überprüfen, in welchem Ausmaß diese Angebote im Rahmen der Palliativversorgung auch auf einen Bedarf treffen.