FormalPara Zusammenfassung

Die Frontotemporale Demenz ist eine von sehr unterschiedlichen früh beginnenden und seltenen Demenzformen, die die betroffenen Menschen und ihre Familien oft unerwartet und radikal vor große, das Leben verändernde Herausforderungen stellt. Trotz zunehmender Forschungsaktivitäten und Aufmerksamkeit in der Fachöffentlichkeit für die Lebenssituation von Menschen mit Demenz jenseits der Alzheimer-Symptomatik gibt es eine Reihe von Versorgungslücken, die es zu schließen gilt. Eine davon ist die Unterstützung und Beratung von Angehörigen in der Bewältigung des gemeinsamen Alltags. Am Beispiel der Machbarkeitsstudie AMEO-FTD wird vorgestellt, welche Potenziale Videofeedback für Menschen mit der verhaltensbetonten Variante der Frontotemporalen Demenz und ihre Bezugspersonen für den Aufbau einer gelingenden Interaktions- und Beziehungsgestaltung haben kann. Anschließend werden literaturbasiert weitere Empfehlungen für Forschung und Praxis gegeben.

Frontotemporal dementia is one of the very different young-onset and rare forms of dementia that often poses unexpected and radical life-changing challenges to those affected and their families. Although there has been an increase in research activities and public awareness of the living situation of people with dementia beyond the symptomatology of Alzheimer’s disease, there are still a number of gaps in care that need to be addressed. One of them is the support and counselling of relatives in coping with everyday life. Using the AMEO-FTD feasibility study as an example, the article presents the potential of video feedback for people with behavioral variant frontotemporal dementia and their caregivers for the development of succeeding interactions and relationship building. This is followed by further literature-based recommendations for research and practice.

1 Hintergrund und Problemdarstellung

1.1 Demenz im jüngeren Lebensalter

Eine Demenz ist landläufig assoziiert mit fortgeschrittenem Alter und klassischerweise mit der Alzheimer-Demenz. In etwas weniger als 2–4 % aller Fälle wird eine Diagnose allerdings vor dem 65. Lebensjahr gestellt und als früh beginnende Demenz oder Demenz im jüngeren Lebensalter bezeichnet (Bickel 2020). Im Englischen hat sich der Begriff „young onset dementia“ durchgesetzt. Davon abzugrenzen sind Menschen, die sich unabhängig vom Alter in der frühen Phase einer Demenz befinden (early stage). Die globale Prävalenz liegt bei 119 pro 100.000 Einwohner im Alter zwischen 30 und 64 Jahren und entspricht einer absoluten Anzahl von 3,9 Mio. Menschen weltweit und 0,5 Mio. in Europa. Männer und Frauen sind gleich häufig betroffen (Hendriks et al. 2021). In Deutschland wird die mögliche Gesamtzahl auf mehr als 25.000 Menschen mit einer Demenzerkrankung im jüngeren Lebensalter geschätzt (Bickel 2020). Dabei ist die Variation der klinischen Symptomatik groß und umfasst eine Reihe unterschiedlicher sehr seltener Demenzerkrankungen. Um als eine Demenz im jüngeren Lebensalter zu gelten, muss ein durch eine Neurodegeneration verursachtes dementielles Syndrom mit Auswirkungen auf die Kognition und die Alltagsbewältigung vorliegen und vor dem 65. Lebensjahr auftreten. Darin eingeschlossen sind früh beginnende Varianten klassischer Demenzformen wie z. B. die Alzheimer-, Vaskuläre, Frontotemporale oder Lewy-Body-Demenz, auch die Huntington-Erkrankung oder die Creutzfeld-Jakob-Krankheit sowie spät beginnende Formen neurodegenerativer Erkrankungen der Kindheit, hier bis zum 35. Lebensjahr (Kuruppu und Matthews 2013; Rossor et al. 2010).

Neben der Diversität und Seltenheit der Diagnosen gelten das junge Alter und eine rasante Krankheitsprogression als die klinischen Besonderheiten (Spreadbury und Kipps 2016). Die jüngeren Menschen befinden sich in der Regel in einem besseren körperlichen Allgemeinzustand mit weniger altersbedingten Co-Morbiditäten, dafür treten neuropsychiatrische Diagnosen häufiger in Erscheinung (Baptista et al. 2016). Besondere Aufmerksamkeit verdienen jedoch die psychosozialen und sozioökonomischen Aspekte, die auch den markanten Unterschied zu einer spät und in höherem Lebensalter auftretenden Demenz ausmachen. Diese werden im Folgenden am Beispiel der verhaltensbetonten Variante der Frontotemporalen Demenz (behavioral variant frontotemporal dementia, bvFTD) näher beschrieben.

1.2 Frontotemporale Lobärdegenerationen

Eine bedeutende Form früh beginnender Demenzen bilden die Frontotemporalen Lobärdegenerationen (FTLD). Dieser Sammelbegriff bezeichnet eine Gruppe sehr heterogener neurodegenerativer Veränderungen im Bereich des Stirn- und Schläfenlappens. Diese wirken sich auf das Sprachvermögen, die Emotionen und das Sozialverhalten aus und sind auf spezielle Proteinablagerungen zurückzuführen. Die ersten Symptome beginnen oft lange vor der Diagnosestellung, mitunter ab dem 3. Lebensjahrzehnt mit einer besonderen Häufung im 58. Lebensjahr (Johnson et al. 2005). Anhand des klinischen Erscheinungsbildes werden drei Subformen unterschieden. Die verhaltensbetonte Variante (bvFTD) bildet die häufigste Form und steht im Zentrum dieser Ausführungen. Davon abzugrenzen sind die sprachbetonten Ausprägungsformen: die semantische Demenz (SD) und die primäre progressive Aphasie (PPA). Weitaus seltener finden sich Kombinationen mit einer Motorneuron- (Amyotrophe Lateralsklerose) oder Parkinsonerkrankung (Riedl et al. 2014). Das klinische Bild ist besonders zu Beginn wenig eindeutig und erschwert nach wie vor eine klare Diagnosestellung (Riedl et al. 2014). In der Regel nehmen die einzelnen Varianten einen rasanten Verlauf mit einer Lebenserwartung nach der Diagnosestellung zwischen 1,3 und 6,5 Jahren (Brodaty et al. 2012). Angaben zur Prävalenz im internationalen Vergleich variieren zwischen 2 und 31/100.000 Personen in der Altersgruppe der 45- bis 64-Jährigen (Onyike und Diehl-Schmid 2013). Die aktuellsten Angaben liegen weltweit bei 2,3 und auf Europa bezogen bei 2,9 pro 100.000 Einwohner in der Altersgruppe der 30- bis 64-Jährigen (Hendriks et al. 2021). In Deutschland wird die Zahl auf ca. 33.000 geschätzt (Diehl-Schmid und Schönhof 2010).

1.3 Die verhaltensbetonte Variante der Frontotemporalen Demenz

Die verhaltensbetonte Variante (bvFTD) gilt als die häufigste Unterform der FTLD sowie die zweithäufigste innerhalb der früh beginnenden Demenzen (Hogan et al. 2016). Sie wurde erstmals 1892 von Arnold Pick beschrieben und zunächst als Pick’sche Krankheit nach ihm benannt (Brun und Gustafson 2011). Menschen mit dieser vor allem das Frontalhirn betreffenden Unterform zeigen zunächst Veränderungen in ihrer Persönlichkeit, verlieren das Gefühl, was richtig und sozial angemessen ist, sowie die Fähigkeit, sich selbst zu reflektieren oder die Gefühle anderer zu verstehen. Im Laufe der Erkrankung fällt es ihnen zunehmend schwer zu planen, Entscheidungen zu treffen oder Handlungen zu initiieren und zu Ende zu führen. Auch zeigen sich Schwierigkeiten, drohende Risiken und Gefahren einzuschätzen. Zudem lässt das Interesse an der sozialen Umgebung nach und viele ziehen sich im Verlauf der Erkrankung zurück; auch die Fähigkeit sich sprachlich mitzuteilen nimmt ab. Die Ausprägung variiert sehr individuell im Zeitverlauf. Ein Meilenstein zur Erkennung und Diagnosestellung bilden hier die aktuell geltenden Diagnosekriterien, in denen je nach Symptomatik in eine mögliche, eine wahrscheinliche und eine definitive bvFTD differenziert wird (Rascovsky et al. 2011; Witt et al. 2013).

1.4 Die Lebenssituation von Menschen mit FTD und ihren Familien

Menschen mit FTD und ihre Familien sind besonderen Herausforderungen ausgesetzt. Der frühe Zeitpunkt des Krankheitsausbruchs und das junge Alter der Erkrankten lösen große Irritationen bei den Familien aus, können starke finanzielle Einbußen infolge von Erwerbsunfähigkeit für betroffene Familien bedeuten (Galvin et al. 2017) und verlangen oftmals eine Neuorientierung der gesamten Lebensplanung (Tookey et al. 2021). Nicht selten kommt es aufgrund der krankheitsbedingten Veränderungen zu innerfamiliären Konflikten und einer hohen emotionalen Belastung für das betreuende Umfeld, insbesondere der nahen Angehörigen, die deutlich ausgeprägter ist als bei einer Alzheimer-Demenz. Auch fühlen sich viele Angehörige mit der Situation und deren Bewältigung alleingelassen und sozial isoliert und erleben Gefühle der Frustration und Hoffnungslosigkeit. Hohe Depressionsraten (Diehl-Schmid et al. 2013) sowie eine Verringerung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (Riedijk et al. 2006) vervollständigen das Bild. Der Grad der verhaltensbezogenen Symptome und Belastungen sind bei Menschen mit FTD, die zu Hause wohnen, besonders ausgeprägt (O’Connor et al. 2013). In Deutschland werden etwa 57 % der Menschen mit FTD von Angehörigen betreut (Diehl-Schmid et al. 2012).

Die schwierige Diagnosestellung und ein Mangel an zugänglichen Informationen über die Erkrankung lassen die Familien häufig lange Zeit in Ungewissheit. Zudem gibt es Hinweise, dass bestehende Versorgungsangebote für diese besondere Problemlage zu unspezifisch und nur eingeschränkt geeignet sind oder die Bedürfnislagen nicht adressieren (Shnall et al. 2013; Grinberg et al. 2007; Koehn et al. 2011). Des Weiteren sind Menschen in ländlichen Gebieten aufgrund der Seltenheit der Erkrankung benachteiligt, da sie schlechter Zugang zu Unterstützungsangeboten erhalten.

Einer internationalen Initiative folgend gibt es eine ansteigende Zahl an Familien, in denen minderjährige Kinder und Jugendliche im Haushalt wohnen und mit der Situation umgehen müssen (Denny et al. 2012). Für Deutschland sind nur wenige Daten vorhanden. In einer Studie von Diehl-Schmid et al. (2013) waren bei 124 eingeschlossenen Familien in einem Fünftel der Fälle die Kinder unter 18 Jahre alt und sind zusätzlich zum Verlust eines kompetenten Elternteils dem Risiko ausgesetzt, zu pflegenden Kindern zu werden (große Schlarmann et al. 2011; Metzing und Schnepp 2007). Die gesunden Elternteile tragen hier doppelte Verantwortung in der Sorge um die Betreuung der Partner und der heranwachsenden Kinder.

Obwohl Partizipation und Teilhabe auch im Bereich der Forschung mit Menschen mit Demenz viel diskutiert und eingefordert wird, gibt es bislang nur wenige Untersuchungen, die sich mit der Perspektive von Menschen mit bvFTD selbst beschäftigen (Dinand et al. 2016). In einer qualitativen Studie zur subjektiven Wahrnehmung des Krankheitserlebens von Menschen mit bvFTD wird berichtet, dass die Interviewten den Prozess der Veränderungen und der Diagnosestellung schildern, sich aber gleichzeitig davon distanzierten und Schwierigkeiten hatten, die Veränderungen in Verbindung mit ihrer eigenen Person zu bringen und zu reflektieren. Vielmehr wunderten sie sich darüber, dass sich die Familie, die Freunde oder die Umgebung ihnen gegenüber anders als vorher verhielten (Griffin et al. 2015).

1.5 Unterstützungsangebote für Menschen mit FTD und ihre Familien

Nach wie vor gibt es keine Möglichkeiten einer Demenz kurativ zu begegnen; das betrifft auch die früh beginnenden Formen sowie die bvFTD (Ahmed et al. 2021). Der viel beschriebene Mangel an spezifischen evidenzbasierten Interventionen betrifft sowohl die pharmakologischen als auch die psychosozialen Interventionen (Massimo und Grossman 2008; O’Connor et al. 2013; Riedl et al. 2014) Obwohl den psychosozialen Interventionen und zunehmend auch der partizipativ angelegten Forschung eine große Bedeutung zugesprochen wird, basiert die Studienlage insbesondere durch die Seltenheit der Erkrankung vorwiegend auf Studien mit kleinen Fallzahlen oder Einzelfallstudien (O’Connor et al. 2013; Piguet et al. 2011) und lassen klassische Interpretationen und Schlussfolgerungen nicht zu. Übersichtsarbeiten weisen jedoch darauf hin, dass eine medikamentöse Behandlung gerade bei Menschen mit bvFTD die verhaltensbezogenen Symptome verstärken kann und nur begleitend zu pflege- und betreuungsorientierten Maßnahmen eingesetzt werden soll (Huey et al. 2006; Portugal et al. 2011).

In der Pflege und Betreuung lassen sich konzeptionelle und individuelle sowie direkte und indirekte Interventionen unterscheiden. Zu den direkten Interventionen für Menschen mit bvFTD zählen einige therapeutische Maßnahmen, etwa Logopädie, Ergo-, Physio- oder Musiktherapie. Konzeptionelle Ansätze basieren auf Entscheidungsfindungsmodellen, die Pflegenden und Betreuenden mitunter auch digitalFootnote 1 helfen sollen, eine geeignete oder passgenaue Intervention auszuwählen. Sie wurden primär für Menschen mit Demenz allgemein entwickelt und sind auf die Betreuung von Menschen mit bvFTD übertragen worden. Zumeist werden sie in der stationären Langzeitpflege eingesetzt. Zu nennen sind das Antecedent-Behavior-Consequences-(ABC-)Modell (Merrilees 2007), das Need-Driven-Behavior-Modell (NDB) (Koehn et al. 2011), das Tailored-Activity-Programm (TAP) (O’Connor et al. 2013) sowie das DICE-Modell (Describe, Investigate, Create, Evaluate) (Barton et al. 2016). Für kurzfristige Aufenthalte in der Akutpflege eignen sich zudem definierte Behandlungspfade (Chemali et al. 2010) und der Einsatz von Case-Management-Instrumenten (Wylie et al. 2013). Grinberg et al. (2007) fordern für die Tagespflege eine Eins-zu-Eins-Betreuung und betonen, dass es zudem förderlich ist, fähigkeitsorientiert und im multidisziplinären Team zu arbeiten.

Setting-übergreifend werden verstehende, strukturierende, aber auch restriktive Maßnahmen der Kommunikation oder Umgebungsveränderung vorgeschlagen (Kortte und Rogalski 2013; Mendez 2009; Witt et al. 2013; Wylie et al. 2013). Edberg und Edfors (2008) identifizierten sechs Strategien, die das Pflegepersonal über viele Jahre durch Versuch und Irrtum entwickelt hat, um auf die Herausforderungen reagieren zu können; diese sind: klar und konsistent sein, flexibel auf die wechselnden Bedarfe reagieren, die Körpersprache lesen und Signale deuten lernen, ruhig bleiben und eine gute, vertraute Atmosphäre schaffen, Lachen und Humor und ein normales Leben kreieren. Dafür sei die in der Demenzpflege übliche emotional orientierte Fürsorge bei Menschen mit bvFTD durch eine stärker führende und Grenzen setzende Fürsorge zu ersetzen, die dennoch versucht, Integrität zu wahren und schwierige Situationen in eine positive Erfahrung umzuwandeln. Insgesamt ist das Ziel, die verlorengehenden Funktionen des Frontalhirns zu ersetzen (Edberg und Edfors 2008). Bakke (2014) nennt dies den „missing link“ zu ergänzen, damit Handlungen so lange wie möglich kompetent ausgeführt werden können. Für diese Arbeit benötigen die Pflegekräfte eine professionelle Supervision (Edberg und Edfors 2008).

Unterstützungsangebote für den häuslichen Bereich sind rar. Trotz zunehmender Öffentlichkeitsarbeit, etwa durch die Deutsche Alzheimer GesellschaftFootnote 2, existieren in Deutschland Selbsthilfegruppen für Angehörige von Menschen mit bvFTD vorwiegend in größeren Städten, meist in Verbindung mit einer auf FTD spezialisierten Gedächtnisambulanz, und sind häufig mit langen Anfahrtswegen verbunden. Online-Foren und die pandemiebedingte Zunahme der Verlagerung von Austauschangeboten in den digitalen Raum sind hier positiv zu bewerten und bieten den Vorteil, dass sie auch für Angehörige aus ländlichen Gebieten zugänglich sind. Wichtig für die Angehörigen ist die Inanspruchnahme psychotherapeutischer und entlastender Maßnahmen (z. B. Tagespflege). Ebenfalls hilfreich für das Zusammenleben und die Alltagbewältigung sind Informations-, Schulungs- oder Unterstützungsprogramme sowie das Erlernen von Strategien im Umgang mit Menschen mit bvFTD (Chemali et al. 2010; Kortte und Rogalski 2013; Mendez 2009; Moon und Adams 2013; Nunnemann et al. 2012; Tookey et al. 2021; Wylie et al. 2013).

An die letzte Forderung knüpft das im Folgenden vorgestellte Forschungsprojekt an, das von den Verfassenden in der AG Versorgungsinterventionen am Deutschen Zentrum für Neurodegenerative Erkrankungen (DZNE), Standort Witten, durchgeführt wurde. Detaillierte Ergebnisse der Studie wurden bereits an anderer Stelle veröffentlicht (Berwig et al. 2020).

2 Das Forschungsprojekt AMEO-FTD

2.1 Anlass und Ausgangspunkt

Das DZNE Witten verfolgt mit seiner Forschungsstrategie das Ziel, direkte, Person-zentrierte Interventionen zu entwickeln, um die Lebensqualität von Menschen mit Demenz und ihrer Angehörigen zu verbessern und Autonomie und soziale Teilhabe so lange wie möglich zu erhalten oder zu fördern. Im Zentrum der Studie „Anwendung der Marte-Meo®-Methode bei Menschen mit der verhaltensbetonten Variante der Frontotemporalen Demenz und ihren Bezugspersonen (AMEO-FTD)“ (Berwig et al. 2020) stehen zu Hause lebende Menschen mit bvFTD und ihre Bezugspersonen. Fokussiert wird auf die sehr früh beeinträchtigten sozial-kognitiven Fähigkeiten von Menschen mit bvFTD und die sich daraus ergebenden Schwierigkeiten, eine gegenseitige Verständigung und gelingende Beziehungsgestaltung innerhalb familiärer Dyaden aufrechtzuerhalten (Torralva et al. 2015). Zu einem Versorgungsproblem wird dies, wenn eine Betreuung zu Hause nicht mehr gewährleistet werden kann und institutionelle Hilfe, Pflege und Betreuung in Anspruch genommen werden muss. Videofeedback soll hier helfen, nicht genutzte Interaktionsmöglichkeiten zu erschließen und dadurch die Beziehung sowie die häusliche Situation zu stabilisieren. Zudem setzt das Projekt auf der Forschungsebene am Mangel der Evidenz existierender Interventionen für diese Personengruppe an. Hierbei wurde eine aus der Eltern-Kind-Beratung stammende und in der Pflege verbreitete, aber bisher wenig geprüfte Videofeedback-Methode nach Marte Meo® (Becker und Hawellek 2018) zum ersten Mal bei Menschen mit bvFTD angewendet. Ziel des Projekts war es, die Nützlichkeit und Praktikabilität der videobasierten Beratungsmethode nach Marte Meo® bei Menschen mit bvFTD und ihren Hauptbezugspersonen zu evaluieren, potenzielle Effekte zu explorieren und die Machbarkeit einer zukünftig groß angelegten Studie zu beurteilen.

2.2 Methode/Design

Die Studie orientierte sich am Rahmenwerk des Medical Research Councils zur Entwicklung und Evaluation komplexer Interventionen (MRC-Framework) und wurde als Machbarkeitsstudie inklusive einer Pilot-Effekt-Studie und einer Pilot-Prozessevaluation durchgeführt (Craig et al. 2008).

Für die Pilot-Effekt-Studie wurde ein quasi-experimentelles Prä-Posttest-Design mit einem Mixed-Method-Ansatz und einer eingebetteten qualitativen Veränderungsanalyse angewendet. Dazu wurden wissenschaftliche Daten sowie Prozess-, Management- und Ressourcendaten gesammelt und ausgewertet. An drei Untersuchungszeitpunkten (t0, t1 – nach zwei Wochen – und t2 – nach sechs Wochen) wurde eine dyadische Interaktionssequenz aus dem täglichen Leben (Mahlzeiteneinnahme) auf Video aufgezeichnet (Videographie) (Tuma et al. 2013). Die doppelte Prätest-Messung (t0, t1) diente als Kontrolle. In diesem zweiwöchigen Zeitraum erfolgte keine Intervention. Während des fünfwöchigen Interventionszeitraums zwischen t1 und t2 erhielten die Hauptbezugspersonen fünf Beratungssitzungen inklusive Videofeedback (s. Fig. 10.1). Die Prozessevaluation konzentrierte sich auf den wahrgenommenen Nutzen und die Wahrnehmung des Interventionsprozesses, die mithilfe von Interviews und Fragebögen erhoben wurden.

Abb. 10.1
figure 1

Zeitlicher Ablauf der Datenerhebung der AMEO-FTD-Studie

2.3 Intervention

Für das Videofeedback wurden nach vorheriger gemeinsamer Zielabsprache mit den Teilnehmenden separate Beratungsvideos von alltäglichen Interaktionen durch eine speziell ausgebildete Marte-Meo®-Therapeutin aufgezeichnet. Diese wurden anschließend durch die Therapeutin analysiert und genutzt, um den Hauptbezugspersonen gelingende dyadische Interaktionen im Sinne der Marte-Meo®-Methode bzw. die sogenannten Marte-Meo®-Elemente zu demonstrieren (Videofeedback). Videofeedback bietet die Möglichkeit, auch sehr kurze Interaktionselemente langsam abzuspielen und damit sichtbar machen zu können. Auf diese Weise kann erläutert werden, wie sich das eigene Interaktionsverhalten auf die Person mit bvFTD auswirkt und das Bewusstsein der Hauptbezugsperson für bereits intuitiv gelingende Interaktionen gestärkt werden.

2.4 Stichprobe

Die Teilnehmergewinnung der Dyaden erfolgte vorwiegend über Informationen und Ankündigungen in sozialen Unterstützungsgruppen für Angehörige von Menschen mit FTLD. Voraussetzung für die Teilnahme an dem Projekt waren die Vorlage einer fachärztlich diagnostizierten bvFTD und das Vorhandensein einer Hauptbezugsperson des Menschen mit bvFTD. Ausschlusskriterien waren unzureichende Deutschkenntnisse, das Vorliegen einer anderen Form der FTLD, eine parallele Teilnahme des Angehörigen an einer weiteren Interventionsstudie sowie das Vorhandensein einer schweren psychischen Erkrankung der Hauptbezugsperson. Die Studie wurde vor Beginn der Datenerhebung durch die Ethikkommission der Deutschen Gesellschaft für Pflegewissenschaft (DGP, Nr. 16.012) genehmigt.

2.5 Datenerfassung und -beurteilung

Die Evaluation der Machbarkeitsstudie erfolgte mit quantitativen und qualitativen Methoden auf zwei Ebenen. Um einen möglichen Interventionseffekt pilothaft abbilden zu können, wurden theoretisch fundiert Zielkriterien (Outcomes) für verschiedene Bereiche und geeignete Messinstrumente bestimmt. Als Outcomes für die Personen mit bvFTD wurden die Veränderung der Beziehungsfähigkeit (Marte-Meo®-Instrument, MMI) (Kristensen 2011), ein positiver und negativer Affekt als Indikatoren der gesundheitsbezogenen Lebensqualität (QUALIDEM) (Dichter et al. 2016) und die Häufigkeit von herausfordernden Verhaltensweisen (NPI-NH) (Cummings et al. 1994) erfasst. Bezogen auf die Hauptbezugspersonen wurden die Feinfühligkeit (FFI) (Luderer 2014), das Stresserleben durch herausfordernde Verhaltensweisen (NPI-Distress) (Cummings et al. 1994), die Handhabbarkeit von herausfordernden Verhaltensweisen (NPI-Handhabbarkeit) (Reuther et al. 2016) und die Zielerreichung (GAS) (Schaefer 2015) eingeschätzt. Die Outcomes für die Dyaden umfassten die Auswirkungen auf die Qualität der Beziehung (Quality of Patient-Carer-Relationship, QCPR) sowie qualitative Aspekte und Veränderungen in der dyadischen Interaktion mithilfe der Videointeraktionsanalyse (Tuma et al. 2013).

Um den Interventionsprozess der Machbarkeitsstudie zu evaluieren, wurde nach jeder Beratungseinheit ein Fragebogen von der Hauptbezugsperson ausgefüllt und mit dieser nach dem Ende der Intervention (Messzeitpunkt t2) ein standardisiertes Interview durchgeführt. Beide Datenerhebungsinstrumente erfassten den persönlichen Nutzen und die Zufriedenheit mit der Intervention. Zusätzlich wurde nach dem Ende der Intervention mit der Marte-Meo®-Therapeutin ein qualitatives leitfadenorientiertes Telefoninterview pro Dyade durchgeführt, um den Beratungsprozess und die Auswirkungen desselben zu analysieren. Zur Beurteilung des Studienverlaufs wurden während der Durchführung der Studie Feldnotizen, Dokumentationen, Erinnerungsprotokolle und Beobachtungsprotokolle durch das Studienpersonal angefertigt. Diese dienten gleichzeitig als Kontextinformationen bei der qualitativen Analyse.

2.6 Datenanalyse

Zur Erfassung der Wirkung der Intervention wurden die Veränderungen in den Outcomes zwischen dem Interventions- und dem Kontrollzeitraum bzw. Veränderungen zwischen t1 und t2 und Veränderungen zwischen t0 und t1 miteinander verglichen und auf klinische Signifikanz geprüft. Die standardisierten Interviews und Fragebögen zur Erfassung des Nutzens und der Angemessenheit der Intervention wurden deskriptiv analysiert. Die Rekrutierungsrate wurde berechnet und die Dokumentationen der Forschenden sowie die qualitativen Interviews wurden inhaltsanalytisch (Kuckartz 2012) ausgewertet. Die Studienvideos wurden in Bezug auf Interaktionsmuster mithilfe der Videointeraktionsanalyse (VIA) (Tuma et al. 2013) qualitativ ausgewertet und in Datensitzungen diskutiert.

2.7 Ergebnisse

Es konnten fünf Dyaden in die Studie aufgenommen werden. Deskriptiv lassen sich Veränderungen in den meisten Outcomes zugunsten des Interventionszeitraums beschreiben, wobei diese bezüglich der dyadischen Beziehungsqualität und des positiven Affekts als klinisch sehr bedeutsam eingestuft wurden. In der eingebetteten qualitativen Analyse der Videodaten (Videointeraktionsanalyse) konnten Handlungen mit Selbstbezug, mit einseitig fokussierter Aufmerksamkeit inklusive gemeinsamer Momente sowie geteilter Aufmerksamkeit identifiziert werden. Die Bezugspersonen zeigten ermöglichende, gewohnheitsmäßige und restriktive Strategien und übernahmen die Führung für gegenseitige und gemeinsame Handlungen, während die Personen mit bvFTD vorwiegend körpersprachlich interagierten. Veränderungen zeigten sich bei den Bezugspersonen, die befähigende Elemente wie „Benennen“, „Zeit und Raum geben“ oder „die Person mit bvFTD zur Teilnahme ermutigen“ in die gemeinsame Mahlzeit integrierten. Menschen mit bvFTD profitierten indirekt, da ihre körpersprachlichen Initiativen oder der Blickkontakt von der Hauptbezugsperson erkannt wurden. Dyaden, die auf einer stark asymmetrisch ausgerichteten Interaktionsebene begannen, verbesserten sich am meisten.

Die Prozessevaluation gibt Hinweise, dass Videofeedback als Beratungsmethode für die Zielgruppe angemessen und nützlich zu sein scheint. Dabei hängt offenbar der Nutzen der Beratung davon ab, ob die Hauptbezugsperson die Demenzerkrankung ihres Angehörigen akzeptiert hat. Ein interessantes Ergebnis war, dass Menschen mit bvFTD in das Feedback involviert werden wollten und konnten.

2.8 Schlussfolgerungen

Trotz der kleinen Fallzahl liefert die Studie bei der untersuchten Zielgruppe klare Hinweise für die Machbarkeit und Nützlichkeit der Intervention, weshalb diese in einer groß angelegten zukünftigen Studie evaluiert werden sollte. Hinsichtlich der sehr limitierten Behandlungsoptionen bei bvFTD (Ahmed et al. 2021) stellen Maßnahmen zur Unterstützung der Hauptbezugspersonen derzeit die wichtigste Komponente des klinischen Behandlungsmanagements der Erkrankung dar (Moon und Adams 2013). Videofeedback – verstanden als dyadisches Kommunikationstraining – hat das Potenzial, eine zentrale Rolle in der Unterstützung der Beziehungsgestaltung von Menschen mit bvFTD und ihren Hauptbezugspersonen einzunehmen.

3 Resümee und Schlussfolgerungen

Sowohl die Empfehlungen aus der Literatur als auch die eigenen Forschungsergebnisse geben Anlass zu weiteren Überlegungen für zukünftige Aktivitäten in Forschung und Praxis.

3.1 Implikationen für die Forschung

Um spezifische Interventionen entwickeln und eine flächendeckende Versorgung gewährleisten zu können, sind dringend gesicherte epidemiologische Daten zur Situation von Menschen mit bvFTD sowie anderen selteneren Demenzformen im jüngeren Lebensalter (Bakker 2013) auch im nationalen Kontext notwendig. Gefordert wird der Ausbau einer standardisierten Berichterstattung (Spreadbury und Kipps 2016) und die Durchführung von Langzeitstudien (Richardson et al. 2016). Thematisch fehlen subtypenspezifische Informationen zur Situation und Perspektive von Menschen mit einer FTLD selbst und zur Entwicklung dafür geeigneter und valider Methoden, zur Situation von Paaren, männlichen pflegenden Angehörigen, Kindern und Geschwisterkindern oder Eltern, die ihre erwachsenen Kinder betreuen (Spreadbury und Kipps 2016; Tookey et al. 2021). Interventionsstudien sollten multizentrisch und methodenplural – ggf. auch länderübergreifend – angelegt sein, um die geringen Fallzahlen auszugleichen und die Stärken einzelner Verfahren im Methoden-Mix ausschöpfen zu können (Berwig et al. 2020). Auch sind Interventionen im Sinne der Nachhaltigkeit stärker partizipativ mit Betroffenen, Serviceanbietern und Leistungsträgern sowie theoriebasiert zu entwickeln (Richardson et al. 2016).

3.2 Implikationen für die Praxis

Anhand der Literatur kann zusammenfassend gesagt werden, dass die Qualifizierung des medizinischen Personals eine erste und wichtige Aufgabe ist, die helfen kann, eine frühe und differenzierte Diagnosestellung zu sichern, damit der Unsicherheit der Anfangsphase vorgebeugt und eine anschließende adäquate Versorgung im Krankheitsverlauf gewährleistet werden kann. Für die Verbesserung der Pflege und Betreuung von Menschen mit FTD empfehlen Merrilees und Ketelle (2010) zudem die Ausbildung spezialisierter Betreuungskräfte im Sinne eines Advanced-Nursing-Programms, die Angehörige beratend und edukativ im Umgang mit den Auswirkungen der Krankheit begleiten und entlastende Maßnahmen organisieren können. Hier sind besonders Trainingsangebote zur Beziehungsgestaltung und Feinfühligkeit in der Interaktion im Kontext Person-zentrierter Pflege von Bedeutung (Berwig et al. 2020). Zudem müssen Einrichtungen ermutigt werden die Betreuung zu übernehmen und können dabei von der Erfahrung bereits spezialisierter Einrichtungen (Förtsch und Arand 2016) profitieren. Yeaworth und Burke (2000) betonen zudem, dass auch andere Professionen wie z. B. Rechtsanwälte, Richter oder die Öffentlichkeit bei Rechtsverletzungen (Diebstahl, Sachbeschädigung) mit der Krankheit in Berührung kommen und daher mehr Sensibilität und Aufklärung über die Spezifik der Krankheit über die Grenzen des Gesundheitssektors hinweg zur Früherkennung und zum Umgang mit der Erkrankung nötig sind. Regelmäßig stattfindende nationale und internationale Awareness-KampagnenFootnote 3 tragen enorm zum öffentlichen Diskurs bei und sind unbedingt zu unterstützen. Des Weiteren sollte vermehrt darauf geschaut werden, was Menschen mit FTD wirklich brauchen. Digitale Angebote können bei seltenen Demenzerkrankungen die Entfernungen überbrücken und sozialer Isolierung entgegenwirken – das gilt für Angehörige, aber auch für Menschen mit bvFTD, die gerade zu Beginn über entsprechende Fähigkeiten verfügen. Zu erwähnen sind auch Programme, die verstärkt auf begleitete Aktivitäten inklusiv einer begleiteten Erwerbstätigkeit setzen (Richardson et al. 2016) – ein Konzept, das besonders für Menschen mit Demenz im jüngeren Lebensalter zukunftsweisenden Charakter besitzt.