bitte ihren pass! Diese Aufforderung war in der Zwischen- und Nachkriegszeit Europas allgegenwärtig, wenn man vor dem Inkrafttreten des Schengener Abkommens die engen Grenzen des österreichischen Staates verlassen wollte. Es ist kein Zufall, dass die avantgardistische Künstlergruppe der Wiener Gruppe diese Aufforderung im Jahr 1957 in eine Textmontage aus Gesprächsfragmenten mit dem Titel Schwurfinger: ein lustiges Stück integriert hat (Achleitner, Rühm 1985, 214; vgl. hierzu Szymanska 2009, 97 f.). In Anrufen an zufällig ausgewählte Telefonnummern äußerten sie den Wunsch, Einsicht zu nehmen in deren Pässe. Damit hat die Avantgarde-Künstlergruppe die selbstverständliche Asymmetrie ironisch unterlaufen, die nur Amtspersonen das Recht gibt, die Erfüllung der Ausweispflicht zu fordern. Da es sich um eine Aufforderung zur Präsentation des Passes in einer telefonischen Interaktion handelte, hatte die Wiener Gruppe die Kontrollsituation ins Absurde verzerrt, weil eine solche Amtshandlung die Vorlage konkreter, materieller Objekte erforderte.

Das ›lustige Stück‹ spricht in ironischer Verkehrung jene Konstellation an, die für mein Argument von zentraler Bedeutung ist. Die hierarchische Beziehung zwischen dem Amtswalter eines Staates und der eigenen Bevölkerung bzw. den Reisenden aus anderen Staaten ist für uns selbstverständlich. Sie ist das zentrale Merkmal eines Kontrollregimes, das die Beschränkungen der Freizügigkeit aus der Zeit des Ersten Weltkriegs in die Nachkriegszeit übernahm. Dieses Regime stand Anfang der 1920er Jahre noch zur Diskussion, weil einflussreiche Akteure auf die Rückkehr zur Freizügigkeit der Vorkriegszeit drängten. Ein solcher Wunsch erwies sich als nicht verwirklichbar. Als Alternative begann der Völkerbund mit der Arbeit an einem internationalen Abkommen, das den Spielraum der einzelstaatlichen Organe bei der Ausstellung und Kontrolle von Reiselegitimationen deutlich reduzierte.

Das rückte den Pass in den Mittelpunkt der internationalen Beratungen. Die Experten, die 1920, 1922 und 1926 zu Konferenzen in Paris, Graz und Genf einberufen wurden, setzten sich mit den jeweiligen Verfahren ebenso auseinander wie mit der Gestaltung und der materiellen Form der Pässe. Die Diskussionen und ihre Resultate machten eine neue Form der Asymmetrie sichtbar – nicht mehr länger die ungleiche Verteilung der Deutungshoheit zwischen Amt und Bürgerinnen, sondern die Unterschiede zwischen den Vertretern von mächtigen und minder mächtigen Staaten.

Der Reisepass, der während dieser Konferenzen in der bis heute gültigen Form entworfen wurde, war in manchen Teilen der Welt für kurze Zeit ein fast schon anachronistisches Objekt – ein Zeuge und Zeugnis einer scheinbar vergehenden Zeit, die noch von der politisch fragmentierten Welt von Einzelstaaten bestimmt war. Der fortschreitende Integrationsprozess innerhalb von Europa mit dem Schengener Abkommen als erstem Höhepunkt veränderte nachhaltig die Freizügigkeit innerhalb der Mitgliedstaaten und reduzierte den Zugang zu Europa für die Angehörigen von Drittstaaten. Die systematische Aushöhlung der Freizügigkeit selbst für die Angehörigen von EU-Staaten im Zeichen eines verstärkten, von Populisten eingeforderten Kontrollanspruchs holte den Pass jedoch wieder hervor aus der Requisitenkammer alter, überkommener Kontroll- und Steuerungsinstrumente.

Die zunehmende Abschottung und Fragmentierung von Staaten, der geforderte Rückbau supranationaler Steuerung zugunsten eines erhöhten Einflusses einzelner Staaten – diese Erfahrung weckt das Interesse an historischen Vorläufern eines solche »regime change« im Hinblick auf die Zirkulation von Gütern, Menschen und Finanzen auf globaler Ebene (Link 2018, 356). Der Erste Weltkrieg hatte eine erste Phase der globalen Integration und internationalen Zusammenarbeit beendet bzw. auf die Kooperation zwischen den Bündnispartnern und Neutralen beschränkt. Das ist keine Überraschung. Globale Kooperation und globale Waren- und Finanzmärkte sind mit einem Totalen Krieg nur schwer vereinbar. Doch auch die Jahre nach dem Ende des Krieges waren charakterisiert durch die Weigerung von Großmächten wie Kleinstaaten, zu weitgehend offenen Warenmärkten und fast unbeschränkter Personenfreizügigkeit zurückzukehren, die so kennzeichnend für die Vorkriegszeit in Europa waren.Footnote 1 Es ist nun eine Ironie der Geschichte, dass die Gründung des Völkerbundes unter diesen Bedingungen erfolgte. Die internationale Zusammenarbeit erhielt dadurch zwar einen neuen institutionellen Rahmen, letztlich mussten diese neuen Möglichkeiten jedoch dazu verwendet werden, die Anpassung an die veränderten Bedingungen zu verwalten und deren negative Auswirkungen auf die europäische Wirtschaft abzuschwächen (vgl. Link 2018, 356–362).

Vom Nutzen und Nachteil des Reisepasses

Die persönliche Freizügigkeit, der Fokus dieses Beitrags, war mit dem Kriegsbeginn 1914 einer umfassenden Kontrolle der Mobilität von Einheimischen wie Fremden gewichen, die nach dem Ende des Krieges weitergeführt wurde.Footnote 2 Jeder Staat hatte eigene Instrumente entwickelt, um seinen Kontrollanspruch durchzusetzen. Nach dem Ende des Krieges gab es gemeinsame Anstrengungen, diesen Wildwuchs an Gesetzen und Verordnungen zu beseitigen. Der Völkerbund als neue Plattform für internationale Zusammenarbeit wurde von den Regierungen und den Lobbyisten dazu genutzt, die Personenfreizügigkeit in einer international koordinierten Form neu zu gestalten (vgl. Martin 2014, 46–48). Dabei gab es zwei konträre Positionen. Das Sekretariat des Völkerbundes und die einflussreiche Suborganisation für Kommunikation und Transit traten gemeinsam mit der Tourismus- und Transportindustrie für eine möglichst baldige Rückkehr zur Vorkriegssituation ein. Einzelne Regierungen unterstützten nachdrücklich diese Anstrengungen. Darunter befand sich auch Österreich als ein Land, dessen wirtschaftliche, politische, kulturelle und soziale Verflechtungen durch hunderte Kilometer von neuen Grenzziehungen unterbrochen waren und das große Hoffnungen auf die Tourismusindustrie setzte, um seine desperate Zahlungsbilanz langfristig ausgleichen zu können. Die meisten Regierungen fanden diese Zielsetzung jedoch nur politisch opportun, aber praktisch nicht wünschenswert. Selbst die als liberal verstandenen Großmächte wie Großbritannien wollten nicht auf die neu gewonnenen Möglichkeiten der Kontrolle von Mobilität verzichten (vgl. Becker 2020, 196 f.).

Diese konträren Positionen trafen in den vom Völkerbund organisierten Konferenzen in den Jahren 1920 und 1926 aufeinander. Konkrete Ängste vor den (neuen) Nachbarn als treibenden Kräften einer ablehnenden Haltung gegenüber erhöhter Freizügigkeit bestimmten die Dynamik in der von der österreichischen Regierung einberufene Regionalkonferenz im Jahr 1922. Dort hätte im Territorium der ehemaligen Nachfolgestaaten, erweitert um Serbien und Rumänien, ein von weitgehender Liberalisierung des Reiseverkehrs geprägter Raum entstehen können. Wegfall der Passkontrollen an den Grenzen und Abkehr vom Visumzwang waren die Forderungen, die von der österreichischen Regierung vorgelegt wurden (vgl. Becker 2020, 204 f.). Die jugoslawische und rumänische Regierung hatten allerdings kein Interesse daran, den deutschen bzw. ungarischen Revisionisten einen leichten Zugang zu ihrem Staatsgebiet zu verschaffen.

Dieser Konflikt zwischen liberaler Freizügigkeit und Kontrolle der Mobilität wurde in den 1920er Jahren auch in den Medien ausgetragen.

In Abb. 1 sehen wir eine Statistik für die Häufigkeit des Begriffs Reisepass in jenen österreichischen Medien, die für eine Volltextsuche innerhalb des ANNO-Portals der österreichischen Nationalbibliothek aufbereitet wurden.Footnote 3 Deutlich zeigt sich das steigende Medieninteresse nach dem Kriegsende bis zum Ende der Ersten Republik. Die Medien verfolgten die österreichischen Anstrengungen, den Reiseverkehr neu zu ordnen, und kommentierten positiv die Vorstöße des Völkerbundes. Das Neue Wiener Tagblatt drückte am 29. Oktober 1920 in der Berichterstattung über die Pariser Passkonferenz seine Hoffnung darüber aus, dass die Initiativen des Völkerbundes die »drakonische, ja oft sogar barbarische« Handhabung der Passkontrolle durch die Nachfolgestaaten zu einem Ende bringen würden. Große Hoffnung setzte diese Zeitung auf die Schaffung eines Einheitspasses, der den »kleinlichen Schikanen und grossen Kosten« des Reisens ein Ende bereiten sollte (Der Einheitspaß 1920, 4).

Abb. 1
figure 1

›Reisepass‹ in österreichischen Zeitungen und Zeitschriften

Zwei Punkte möchte ich hier hervorheben. Erstens waren die österreichischen Medien stark an den Reisebedingungen mit den Nachfolgestaaten interessiert. Deshalb fand die Regionalkonferenz in Graz große mediale Resonanz, obwohl sie interessanterweise keinen Niederschlag in der amtlichen Registratur gefunden hatte. Zweitens war für die Journalisten das Passwesen nicht nur eine abstrakte politische Größe, sondern aufs engste mit konkreten Erfahrungen an den Grenzen und mit der Materialität von Pässen verbunden. Deshalb fand der Einheitspass in diesem Zeitungsartikel lobende Erwähnung. Der Einheitspass, wie er in der Völkerbundtagung des Jahres 1920 entworfen und von der Presse kommentiert worden war, war ein hybrides Objekt, das aus einem einheitlichen Formular ebenso bestand wie aus einem Netzwerk an Verfahren, Normen und kulturspezifischen Vorstellungen von Subjektivität und Identität.Footnote 4 Dieses komplexe Ensemble stand während der Passkonferenzen des Völkerbundes zur Diskussion. Das macht den Pass und die Debatten über seine Gestaltung nicht nur für die Migrationsgeschichte, sondern auch für die Geschichte der Formulare interessant.

Der Pass – und in ganz besonderem Maße der Einheitspass – ist allerdings ein ganz besonderes Formular. Wie alle anderen Formulare ist er eine medientechnische Antwort auf ein Verwaltungs- und Kommunikationsproblem. Im Fall des Passes sind es zwei aufeinander bezogene Verwaltungsverfahren, die von diesem Formular bedient werden müssen. Das erste Verfahren betrifft die Ausstellung von Pässen. Diesem Verwaltungsakt vorgeschaltet ist die Festlegung der Zugänglichkeit zu Reisedokumenten, wobei aus der Sicht eines liberalen Internationalismus keine Personengruppe, definiert durch soziale, ethnische oder politische Merkmale bzw. durch ihr Geschlecht, deutlich benachteiligt oder vollständig ausgeschlossen werden durfte.Footnote 5 Das griff in die Souveränitätsansprüche der einzelnen Staaten ein. Der italienische Delegierte bei der Passkonferenz des Jahres 1926 betonte die untrennbare Verbindung zwischen der Souveränität eines Staates und der Ausstellung von Pässen: »The issuing of a passport was part of the sovereign power which a country possessed over its subjects.« In einem Nachsatz fügte er hinzu, dass diese Machtstellung einen Staat auch zur Annullierung einzelner Pässe berechtigen würde (vgl. Passport Conference 1926, 20). Die zur Antragstellung berechtigten Personen mussten schließlich durch standardisierte Authentifizierungsvorgänge amtlich in Ihrer Identität bestätigt werden.

Das zweite Verfahren betraf die Kontrolle der Pässe an den Grenzen bzw. später im fahrenden Zug.Footnote 6 Der Pass kommunizierte an den kompetenten Nutzer die während seiner Erstellung erfolgten Authentifizierungsvorgänge und letztlich auch das erfolgreich bewältigte social sorting während der Antragstellung. Mit der Ausstellung eines Passes garantierte die ausstellende Behörde nicht nur die Identität, sondern auch die Legitimität des Reisenden. Er war somit als hinreichend vertrauenswürdig anerkannt, um von der Behörde seines Staates einen Pass zu erhalten.Footnote 7 Gleichzeitig stellte das Passformular standardisierte Angaben zur Person des Inhabers bereit, mit denen die Kontrollorgane die Identität des Reisenden mit der im Pass bezeichneten Person ermitteln konnten. Eine solche Kommunikation über Sprachgrenzen und verwaltungskulturelle Barrieren hinweg konnte der Pass nur bewältigen, wenn die Kategorien und ihre Ausprägungen in hoch standardisierter Form kommuniziert wurden.

Das Besondere am Einheitspass des Völkerbundes ist die beabsichtigte Vereinheitlichung von Verwaltungsabläufen in einem Geltungsbereich, der zahlreiche Staaten umfasst, in denen die Rechtsgrundlagen und Verwaltungsabläufe im Hinblick auf die Ausstellung von Reiselegitimationen deutlich voneinander abweichen konnten. Mit der Propagierung des Einheitspasses setzte der Völkerbund somit eine Intervention, die den Kernbereich staatlichen Handelns betraf.Footnote 8 Im Rückblick untergrub diese Intervention keinesfalls die staatliche Autorität, sondern stärkte diese sogar. Einzelne Staaten konnten ihr Vorgehen gegenüber der eigenen Bevölkerung wie auch gegenüber anderen Staaten mit der Umsetzung internationaler Standards rechtfertigen.Footnote 9

Der internationale Geltungsbereich unterscheidet Passformulare vom weitaus größten Teil aller anderen Formulare, die, wie ich argumentieren möchte, auf lokaler Ebene entstanden sind und auf die Anforderungen der jeweiligen Gebietskörperschaft reagieren. Die meisten Vordrucke sollten Verwaltungsaufgaben mittels Rationalisierung effizient bewältigen und strukturierten den Informationsaustausch in einer Weise, dass er »beiden Kommunikationspartnern […] zweckrationales und an reziproken Interaktionsnormen orientiertes Handeln ermöglicht,« wie Hans Brinckmann, Klaus Grimmer, Anne Höhmann, Stefan Kuhlmann und Wolfgang Schäfer in ihrem Handbuch zum Einsatz von Formularen im Verwaltungsverfahren argumentieren.

Wie lassen sich diese Überlegungen für die Auseinandersetzung mit dem Einheitspass fruchtbar machen? Blickt man auf den von den Autoren und der Autorin des Handbuches skizzierten Handlungsrahmen, werden die Unterschiede deutlich und dadurch die besonderen Herausforderungen sichtbar, die das Passformular im internationalen Reiseverkehr bewältigen musste. Die verständigungsorientierte Interaktion zwischen Bürgerin und Amtsperson innerhalb eines einseitig von der Behörde festgelegten Rahmens (vgl. Brinckmann u. a. 1986, 131–133) unterscheidet sich eben deutlich von der zweckrationalen Interaktion zwischen sprachlich und verwaltungskulturell unterschiedlich geprägten Akteuren, wie sie durch das Passformular ermöglicht werden sollte.

Der Pass als boundary object nationaler und internationaler Normierung und Praxis

Der Pass konnte diese Kommunikationsfunktion nur als Einheitspass erfüllen. Das hohe Maß an Standardisierung, das damit verbunden war, bezog sich allerdings nicht auf die Strukturierung eines Verwaltungsablaufs, das Formular wirkte somit nicht als »Fließband« einer Behörde (vgl. hierzu Ausschuss für wirtschaftliche Verwaltung 1971, 7; Becker 2009) Vereinheitlichung war vielmehr dazu erforderlich, um Kommunikation über Sprach- und Kulturgrenzen hinweg sicherzustellen. Die Einführung des Einheitspasses war trotz seines ambitionierten Charakters – ambitioniert sowohl in politischer als auch formulartechnischer Hinsicht – nicht die hauptsächliche Zielsetzung des Völkerbundes, der sich letztlich um dessen Einführung bemühte (vgl. Becker 2020, 197–200). Wenn man schon Pässe – d. h. Passkontrollen an den Grenzen – nicht abschaffen konnte, sollte der Zugang zu Reiselegitimationen erleichtert und der Verwaltungsvorgang der Passkontrolle an den Grenzen möglichst beschleunigt werden. Beides sollte der Einheitspass leisten.

Der Einheitspass war das sicht- und greifbare Korrelat von Aushandlungsprozessen auf staatlicher und internationaler Ebene. Damals – und leider auch heute wieder – waren es die »gewichtigen Interessen der nationalen Sicherheit, der oeffentlichen Gesundheit, des heimischen Arbeitsmarktes«, die individuelle Mobilität als »rein persoenliche Lebensaeusserung« massiv beschränkt hatten. Das Abkommen von 1926 verpflichtete die Regierungen auf eine weitgehende Reduktion der Reisebeschränkungen, ermöglichte ihnen aber gleichzeitig, immer davon abzuweichen, »when there is reason to suspect danger to national security or the public health, and, as regards the entrance visa, on account of international economic difficulties« (Passport Conference 1926, 74).

Die Gestaltung des Formulars war nur eine unter vielen Normierungen, die auf diesem Weg entstanden. Um das politische Potenzial der mit dem Einheitspass verbundenen Prozesse zuordnen zu können, werde ich kurz auf zwei Aspekte jenseits der Gestaltungsfragen eingehen. Der erste Aspekt betrifft die Zugänglichkeit des Reisepasses. Der Völkerbund, die öffentliche Meinung und einflussreiche Vertreter von Wirtschaftsinteressen waren ja an einer weitgehenden Abschaffung der Reisepässe und damit auch des Visasystems interessiert, um die individuelle Mobilität auf dem Niveau der Vorkriegszeit wiederherzustellen. Als Kompromisslösung sollte der Einheitspass die Kontrolle an den Grenzen erleichtern, aber gleichzeitig vom Abbau gesetzlicher und administrativer Hürden begleitet sein, die den Zugang zum Pass für die Bürger aller Mitgliedstaaten noch erschwert oder gar verhindert hatten.Footnote 10 Die Einführung des so genannten Nansen-Passes für Staatenlose muss im Zusammenhang mit diesen Überlegungen gesehen werden (vgl. Martin 2014, 27).

Die Empfehlungen der Konferenz legten kein konkretes Verfahren zur Bereitstellung von Reiselegitimationen fest, forderten die Staaten allerdings dazu auf, die Zugänglichkeit möglichst niederschwellig zu organisieren. In der Diskussion kamen best practices zur Sprache, wie etwa die Nutzung der Infrastruktur der staatlichen Postverwaltung in den Ländern des British Commonwealth, um den Bürgern und Bürgerinnen Antragsformulare für Reisepässe bereit zu stellen. In Kanada erfolgte auch die Authentifizierung des Antragstellers auf diesem Weg – durch die Übermittlung einer Bestätigung von zwei Zeugen, Geistlichen, Abgeordneten des Parlaments oder Friedensrichtern, gemeinsam mit dem ausgefüllten Passformular und zwei unterschriebenen Fotografien (vgl. Passport Conference 1926, 28).Footnote 11 Ausgehend von dieser erfolgreichen Strategie, den Zugang zu Passformularen durch die Post zu vereinfachen, stellte Robert Haas, Direktor der Organisation für Kommunikation und Transit, in einem vorbereitenden Treffen, das im Oktober 1925 in Paris stattfand, einen provokanten Vorschlag zur Diskussion. Wenn die Ausstellung eines Reisepasses hauptsächlich die Feststellung der Identität des Antragstellers erforderte, dann könnten die Postämter diese Dokumente auch ausstellen: »postal employees were accustomed to verify the identity of persons applying for registered parcels[.]« Mit diesem Gedankenexperiment provozierte er eine kurze Auseinandersetzung über den Charakter des Passes, der eben nicht nur die Identität des Reisenden, sondern auch die Legitimität seiner Reisen bestätigte (League of Nations 1925, 5 f.).

Der ausgestellte Reisepass war nicht das einzige Instrument, mit dem Staaten Mobilität kontrollieren konnten. Ebenso wichtig waren die Visa, mit denen ausländische Staaten die Ein- bzw. Durchreise für die Inhaber von Pässen fremder Staaten ermöglichten. Sie reagierten damit auf ein Dilemma, mit dem sich die Regierungen seit der Zeit nach dem Ende des Ersten Weltkrieges konfrontiert sahen und das Eric Neumayer sehr gut auf den Punkt gebracht hat: »Every state faces the dilemma between facilitating the cross-border flow of people for its own economic and political benefit on the one hand and monitoring, controlling, and limiting that some for its perceived security interest on the other hand« (Neumayer 2006, 74).

Da Visa den Zugang zum staatlichen Territorium regelten, waren alle internationalen Abkommen aufs engste mit einzelstaatlicher Gesetzgebung verquickt.Footnote 12 Das Abkommen von 1926 legte fest, dass die soziale und wirtschaftliche Lage einer Person oder Familie keine Barriere darstellen dürfte für die Erlangung eines Visums für eine Reise. Bedürftige Antragsteller sollten ihre Visa kostenlos erhalten, was letztlich einen Eingriff in die staatlichen Finanzen bedeutete (vgl. Passport Conference 1926, 73). Mit diesen Empfehlungen setzte die Konferenz die Reduktion der fiskalischen Nutzung von Reiselegitimationen fort, die auch bei der Ausstellung von Pässen zum Tragen kam. Die Staaten wurden dazu verpflichtet, den Passwerbern nur die Gestehungskosten für die Erstellung eines Passes zu berechnen und diesen Verwaltungsvorgang nicht zur Generierung zusätzlicher Einnahmen zu nutzen.

Einen anders gelagerten Eingriff in einzelstaatliche Verfahren bedeutete die Festlegung der Geltungsdauer eines Visums ebenso wie die damit verbundenen Rechte eines Reisenden. Durfte eine Person sich während der gesamten Geltungsdauer im Zielland aufhalten und dort ihren Geschäften nachgehen? Dieses Problem wird erst später durch Einführung von Visa mit unterschiedlichen Berechtigungsniveaus gelöst werden. Die vom Völkerbund organisierten Konferenzen unterschieden noch unmissverständlich zwischen Pässen und Visa für Reisende und solchen für Immigranten.Footnote 13

In der Diskussion über die Gültigkeitsdauer von Visa stießen praktische Erfahrung und theoretische Prämissen aufeinander. Der italienische Delegierte nahm einen philosophisch begründeten Standpunkt ein und betrachtete ein Visum mit dem Ablauf eines Passes automatisch als erloschen: »it was impossible«, wie er argumentierte, »to conceive of visa remaining valid longer than the passport – that the accessory was tied to the principle and died with it.« Die Delegierten aus Deutschland und Großbritannien – somit aus Ländern mit eigener philosophisch-analytischer Tradition – hatten dagegen Verfahren entwickelt, um einem solchen vom vorzeitigen ›Tod‹ bedrohten Visum ein Weiterleben in einem neu ausgestellten Passformular zu sichern. Sie konnten sich mit ihrem pragmatischen Zugang allerdings nicht durchsetzen (Passport Conference 1926, 159 f., 165).

Das einheitliche Passformular griff ebenso in die einzelstaatliche Gesetzgebung ein. Die Resolution der Konferenz von 1926 forderte die Signatarstaaten dazu auf, möglichst bald den vereinbarten Standard aufzugreifen. Damit wollte man die Nachteile reduzieren, die mit den Pässen als Steuerungsinstrument von Mobilität verbunden waren. Die amerikanischen Zeitungen berichteten in sarkastischer Form über die neuen Herausforderungen für Reisende in Europa: »[E]very frontier that one used to slip over without knowing […] now bristles with high military formalities. Everywhere in your path are sheds and offices crammed with bureaucrats who scribble on your passport for a consideration« (Robertson 2015, 219). Um die Kontrolle von Reisenden an den Grenzen zu beschleunigen und die gesetzliche Regelung der Grenzkontrolle zu vereinfachen, war die Verwendung von einheitlichen Passformularen wichtig, aber nicht ausreichend.

Der allgemeine Gebrauch von Pässen als Reisedokumente und die ebenso allgemein gewordene Kontrolle dieser Dokumente an den Grenzen machte eine internationale Verständigung über die Art der Dokumente und die Modalitäten ihrer Kontrolle notwendig. Zwischen den einzelnen Staaten bestanden vor 1926 erhebliche Unterschiede im Hinblick auf die konkrete Gestaltung und Nutzung von Pässen. Auf eines dieser Probleme hat die deutsche Delegation aufmerksam gemacht. Wie sollte man bei der Grenzkontrolle mit einem Familienpass umgehen, in dem mehr als eine Person mit Fotografien und Unterschriften dokumentiert war, der aber nur von einem Einzelreisenden verwendet wurde? Da eine Reihe von Staaten eine solche Praxis ablehnte, legte die deutsche Regierung diese Frage der Konferenz zur Regelung vor.Footnote 14

Die allgemeinere Frage, die hier im Raum stand, wurde vom deutschen Vertreter beim Völkerbund bereits vor Beginn der Konferenz in einem Schreiben an den Generalsekretär formuliert: Wie mussten Ausweisdokumente beschaffen sein, damit sie von den Organen der Grenzbehörden als gültige Legitimationspapiere anerkannt werden konnten? Die deutschen Behörden durften an den Grenzen nur jene Dokumente akzeptieren, die entweder dem internationalen Formular entsprachen oder wenigstens eine Personenbeschreibung, eine Fotografie und eine Unterschrift enthielten – und somit die zentralen Elemente des internationalen Standards aufgegriffen hatten. Eine verbindliche Standardisierung des Passformulars sollte verhindern, dass es an den Grenzen des deutschen Reiches – einem wichtigen Transitland für viele Reisende – noch häufiger zur unpleasantness der Zurückweisung kommen würde (vgl. Passport Conference 1926, 76).

Der Einheitspass als Formular garantierte eine zügige und erfolgreiche Abwicklung der Grenzkontrollen. Seine Zweisprachigkeit unterstützte diese Zielvorstellung. Zusätzlich zur Landessprache war Französisch als internationale Sprache vorgesehen (s. Abb. 2). Die Behörden mussten somit an den Grenzen ihre Organe in der Handhabung nur einer Fremdsprache – dem Französischen – schulen.

Abb. 2
figure 2

Passformular vom 15. Dezember 1921, 1–2 (Verordnung des Bundesministeriums für Inneres und Unterricht im Einvernehmen mit den beteiligten Bundesministerien vom 15. Dezember 1921 über das Paßwesen (Paßverordnung), BGBl 702/1921, 2138–2141, Quelle: Alex/Österreichische Nationalbibliothek)

Selbst diese Sprachkompetenz bezog sich auf ein stark reduziertes Vokabular. Die standardisierte Anordnung der Informationen erforderte keine Orientierung im Text. Mehrsprachige Länder konnten ihre Reisepässe auch in mehr als zwei Sprachen ausstellen. So verwendete die schwedische Regierung vier und die belgische drei Sprachen. Eine Abweichung von dieser Vorgabe findet sich jedoch in Deutschland. Bedenkt man die starken antifranzösischen Ressentiments innerhalb der deutschen Bürokratie und Gesellschaft, ist es kein Wunder, dass die deutsche Regierung auf die Verwendung des Französischen verzichten zu können glaubte (vgl. Passport Conference 1926, 110).

»Everywhere in your path are sheds and offices crammed with bureaucrats« – diese Beobachtung von amerikanischen Reisenden betraf nicht den Reisepass, sondern die Verfahren, die einzelne Staaten an ihren Grenzen zur Kontrolle der Ausweisdokumente eingerichtet hatten. Die umständlichen bürokratischen Routinen verzögerten Reisen und unterwarfen Reisende einer strikten Disziplin. Die Resolution der Konferenz forderte die Staaten zu einer deutlichen Vereinfachung von Grenzkontrollen auf, was nachhaltige Eingriffe in einzelstaatliche Normierungen zur Folge hatte. Die Zusammenlegung von Pass- und Zollkontrolle, die Kontrolle im fahrenden Zug und die örtliche Konzentration der Kontrollen der beiden betroffenen Staaten erforderten rechtliche Anpassungen und bilaterale Abkommen, weil ja der Einsatz im fahrenden Zug bedeutete, dass die Organe eines Staates ihren Dienst auf dem Territorium eines anderen Staates versehen mussten, sowie neue architektonische Lösungen, wenn man nicht mit den Baracken weiter Vorlieb nehmen wollte (vgl. Passport Conference 1926, 165 f.).

Die Beziehung zwischen internationalen Abkommen und einzelstaatlicher Normierung darf nicht als Einbahnstraße missverstanden werden. Staaten wie Österreich waren stark an einer Reduktion der Reisebeschränkungen interessiert, politische Diskussionen im Parlament forderten ebenso wie Interventionen von Seiten der Lobbyisten die Regierung dazu auf, den Abbau der Reisebeschränkungen voranzutreiben (Becker 2020, 201–203). Die österreichische Regierung reagierte auf diese Anregungen und berief im Jahr 1922 eine Regionalkonferenz nach Graz ein, die wichtige Vorarbeit für die Genfer Konferenz des Jahres 1926 leistete.Footnote 15

Das Ringen um Standardisierung

Alle Staaten, die dem Abkommen beitreten wollten, verpflichteten sich dazu, das Grundmuster eines in der Konferenz erarbeiteten Vordrucks zu verwenden. Dieses Grundmuster legte das Aussehen, aber auch die materiellen Grundlagen für das Ausweisdokument fest: das Format, die Anzahl der Blätter, die Verbindung zwischen den Blättern, Strategien zum Verhindern von Fälschungen wie die Verwendung von perforiertem Papier. Die österreichische Delegation schlug die Verwendung von Papier vor, das auch beim Druck von Banknoten Verwendung fand. Die Konferenz folgte diesen Überlegungen und empfahl den Gebrauch von fälschungssicherem Papier für gefaltete oder gebundene Pässe. Die britische Version eines mehrfach gefalteten Blattes wurde von den Teilnehmern der Konferenz einhellig als »perfection itself« bezeichnet, aber aufgrund der hohen Kosten nicht als Modell weiterempfohlen (Passport Conference 1926, 168).

Der Pass kommunizierte die Authentifizierung des Inhabers und seine Berechtigung zur Vornahme von Reisen an die Kontrollorgane eines anderen Staates. Der Erfolg dieser Kommunikation beruhte auf der Authentizität des Dokuments. Die Kontrolle der Ausweisdokumente erforderte zuerst eine Beobachtung auf zweiter Ebene, die sich auf das Dokument selbst bezog. Sie wurde unterstützt durch die Vorkehrungen, die von einzelnen Delegationen vorgeschlagen und von der Konferenz beschlossen wurden. In der Auseinandersetzung zur Gestaltung des Passformulars kamen unterschiedliche Praxisformen zum Ausdruck. Für die türkische Delegation war es kaum vorstellbar, dass ein Passformular im Laufe seiner zweijährigen Gültigkeit keine materiellen Änderungen erfahren durfte. Die türkische Verwaltung fügte Blätter oder geringfügigere Einschiebungen hinzu, um Raum für die häufigen Revisionen zu schaffen. Aus der Sicht der Länder mit einer anderen bürokratischen Kultur eröffnete eine solche Praxis Raum für Fälschungen. Obwohl die türkische Delegation rein formal dieselbe Anzahl von Stimmen hatte wie Vertreter der mittel- und westeuropäischen Staaten, fanden deren Stimmen während der Debatte mehr Gehör. Deshalb waren in der abschließenden Resolution keine nachträglichen Ergänzungen beim Einheitspass vorgesehen (vgl. Passport Conference 1926, 45 f.).

Das österreichische PassformularFootnote 16 setzte diese Anregungen um. Verwendet wurden gebundene und perforierte Seiten, wobei die Anzahl der Seiten auf dem Deckblatt (s. Abb. 2) vermerkt wurde. Die Perforation, die Bindung und die Paginierung sollten das Austauschen bzw. nachträgliche Einbringen von Seiten verhindern, das fälschungssichere Papier das Ersetzen von Daten verunmöglichen. Den amtlichen Charakter des Passes vermittelten das Wappen am Deckblatt und der Rundstempel des Amtes, der prominent platziert war. Die Nummer des Passes stellte eine Referenz zur Registratur der ausstellenden Behörde her und ermöglichte im Zweifelsfall die Nachverfolgung des Ausstellungsvorgangs.Footnote 17

Die Evaluierung erster Ordnung zielte auf die Überprüfung der Identität des Passinhabers und seiner Begleitpersonen. Grundsätzlich ging man von einer männlichen Person aus, die einen Pass erhielt und alleine oder in Begleitung ihrer Familie auf Reisen ging, wie bereits das Deckblatt des Passformulars deutlich macht. Zur Feststellung der Identität verwendete das österreichische Passformular eine stark reduzierte Personenbeschreibung, eine Fotografie und eine Unterschrift.Footnote 18 Blickt man auf die Personenbeschreibung auf der zweiten Seite des Passformulars, ist man mit einer Liste von sozialen und körperlichen Merkmalen konfrontiert, die hinter den Standards biometrischer Beschreibungen der Jahrhundertwende zurückblieben (vgl. Becker 2001, 139–163; Robertson 2015, 122).

Die Passkonferenz in Graz – sie fand 1922 statt, zwei Jahre nach der ersten Passkonferenz in Paris, die den Einheitspass definiert hatte und vier Jahre vor der großen Passkonferenz in Genf, die endgültige Standards festlegte – forderte die Erweiterung dieses Formulars um Angaben zur Größe als einem proto-biometrischen Merkmal mit langer Tradition und zweifelhafter Präzision und vor allem auch um die Angaben zur Staatsbürgerschaft des Passinhabers (auf dem in Abb. 2 gezeigten österreichischen Formular ist die Forderung nach Eintragung der Staatsbürgerschaft schon umgesetzt). Im internationalen Vergleich war die Regierung in Uruguay eine der wenigen, die einen Fingerabdruck als biometrisches Erkennungsmerkmal verwendete, diese Erweiterung jedoch nicht in den Pässen von Reisenden nach Uruguay erwartete (vgl. Passport Conference 1926, 112).

Die sorgfältige Lektüre der Protokolle der Passkonferenzen eröffnet einen Blick auf das Ringen der anwesenden Experten um eine angemessene Gestaltung des Formulars. Es musste gleichermaßen den Ansprüchen an eine internationale Standardisierung entsprechen und mit den einzelstaatlichen Verfahren soweit kompatibel sein, dass sie erfolgreich umgesetzt werden konnten. Angesichts des globalen Geltungsanspruches und der kulturellen Unterschiede im Hinblick auf die Identifikation einer Person und deren Zuordnung zu einem verfahrensrelevanten sozialen Feld überrascht die Zustimmung von Staaten ohne eine europäische Verwaltungstradition mit dem vorgeschlagenen Modell, das auf europäischen Traditionen beruhte. Die Kontrollorgane als die eigentlichen Nutzer des Passformulars waren offenbar ausreichend in einem europäischen Modell von Subjektivität und Identität geschult, um den Pass kompetent nutzen zu können.Footnote 19 Sie verstanden im Moment der Nutzung des Passformulars zu Kontrollzwecken den Staat, mit Pierre Bourdieu gedacht, »als Produzent von Klassifikationsprinzipien … das heißt von strukturierenden Strukturen, die sich auf alle Dinge der Welt anwenden lassen, insbesondere auf die sozialen Dinge.« (Bourdieu 2014, 293 f.) Deshalb konnten sie die Beschreibungskategorien erfolgreich mit der konkreten sozialen Situation eines Probanden in Beziehung setzen – und zwar auch dann, wenn sie Amtswalter von Staaten waren, in denen diese Klassifikationen keine hegemoniale Position besaßen.

Auf europäische Traditionen von Subjektivität verweisen jene Kategorien, die das Passformular für die Beschreibung der Personen vorsah und die sich auf deren soziale Verortung durch Beruf, Geburts- und Wohnort bezogen. Die Angaben zur Verortung einer Person waren bereits im 19. Jahrhundert für die deutsche Polizei von zentraler Bedeutung, um Zweifel an der Identität einer Person abzuklären. Der Beruf war für die Kriminalisten in der Mitte des 19. Jahrhunderts ebenfalls ein Anhaltspunkt für einen kritischen Blick auf Kleidung und Verhalten eines Verdächtigen, weil man von dauernden Einschreibungen einer beruflichen Tätigkeit auf den Körper ausging (vgl. Becker 2005, 144–152). Im Passformular der 1920er zielte die Nennung des Berufes jedoch weniger auf eine Decodierung des Verhaltens, sondern auf die Zuordnung einer Person zu einer Statusgruppe. Das Beispiel, das der ungarische Vertreter nannte, brachte diesen Punkt sehr gut zum Ausdruck: »Director of Mssrs.X. …« Er forderte ausreichenden Raum für die Erfassung dieser Information, weil die 3–4 cm für die Eintragung des Berufs eine vollständige Beschreibung der beruflichen Position nicht ermöglichten (Passport Conference 1926, 27).

Das Passformular verortete eine Person als Staatsbürger, als Mitglied einer Berufs- bzw. Statusgruppe und im Hinblick auf seinen Wohnsitz. Das war für Bürgerinnen und Bürger der meisten modernen Staaten ein ausreichendes Koordinatensystem. Als einzige Abweichung von diesem Referenzrahmen wurde die Bedeutung des Heimatrechts für die mittel- und südeuropäischen Länder betont und dessen Einführung als zusätzliche Kategorie gefordert. Die Teilnehmer an der Konferenz von Genf diskutierten diese Erweiterung und stellten es letztlich den betroffenen Staaten frei, das Passformular um dieses Element zu erweitern (vgl. Passport Conference 1926, 27, 169).

Kritik an dem Formular des Einheitspasses wurde aus praktischer und nicht theoretischer Perspektive geäußert. Sie betraf etwa den Raum, der im Formular des Einheitspasses für die Eintragung der entsprechenden Daten vorgesehen war. Ich habe bereits auf den Wunsch hingewiesen, den der ungarische Delegierte im Hinblick auf die Eintragung des Berufs geäußert hatte. Er forderte gleichzeitig mehr Raum für die Erfassung des Namens, weil die 5 cm, die von der Passkonferenz dafür vorgesehen waren, nicht ausreichten. Im Ungarischen waren manche Namen einfach länger als der dafür vorgesehene Platz. Sensibilität fehlte auch in den Diskussionen für die Eintragung der besonderen Kennzeichen. Der dafür vorgesehene Raum war noch beschränkter als der für Namen und Beruf. Für die Experten der 1920er Jahre waren diese proto-biometrischen Angaben offenbar nicht mehr wesentlich.

In der Verwaltungspraxis waren die kleinen Formen der Formulare zur Erfassung und Beschreibung der Antragsteller entscheidend. Die bei der Passkonferenz des Jahres 1926 versammelten Experten waren zu einem erheblichen Teil Praktiker aus dem Konsulardienst, die mit den Fallstricken der Ausstellungspraxis von derartigen Dokumenten bestens vertraut waren. Ihre Diskussionen sind für mich äußerst spannend, weil sie die kleinen Formen mit den großen Fragen von Reisefreiheit verbanden. In einer Welt von modernen Staaten, die sich ihrer globalisierten Vergangenheit vor dem Krieg noch bewusst war und die ihre gemeinsamen Anstrengungen der De-Globalisierung mit rechtsstaatlichen Mitteln organisieren wollten, spielten gerade diese kleinen Formen der Passformulare eine wichtige Rolle. Das lässt sich mit einem Blick auf die letzte Seite des Formulars (s. Abb. 3) weiter verdeutlichen.

Abb. 3
figure 3

Passformular vom 15. Dezember 1921, 3–4 (Verordnung des Bundesministeriums für Inneres und Unterricht im Einvernehmen mit den beteiligten Bundesministerien vom 15. Dezember 1921 über das Paßwesen (Paßverordnung), BGBl 702/1921, 2138–2141, Quelle: Alex/Österreichische Nationalbibliothek)

Im Jahr 1920 war es für die Experten noch nicht vorstellbar, dass man sich auf einen Pass einigen würde, der allgemeine Gültigkeit besitzen könnte. Die Staaten waren an einer möglichst kleinteiligen Kontrolle der eingehenden und auch der hinausgehenden Mobilität interessiert. Deshalb beschränkten sie die Gültigkeit des Passes auf eine bestimmte Anzahl von Zielstaaten. Nur für diese konnten Reisende ein Visum beantragen. Von dieser Regel ausgenommen waren Menschen, die als Flüchtlinge in einen Staat aufgenommen werden wollten.

In den ersten fünf Jahren der 1920er hatte sich die politische Lage soweit entspannt, dass viele Staaten bereit waren, ihren Pässen eine Gültigkeit für alle Staaten zu geben – und eher eine Negativliste vorzusehen (d. h. die Staaten aufzulisten, für die ihre Pässe keine Gültigkeit besaßen). An dieser Stelle entstand in der Konferenz im Jahre 1926 eine weitere lebhafte Diskussion, die sich auf die Pässe und ihre Funktion im Bereich der symbolischen politischen Kommunikation bezog. Die französische und deutsche Delegation vertraten eine liberale Position, die keine Beschränkungen für die Reisenden ihrer Staaten vorsahen: »The French Government saw no reason for prohibiting any French citizen from going to any country he chose« (Passport Conference 1926, 31). Der britische und der indische Vertreter sahen weder eine allgemeine Gültigkeit noch eine Negativliste als wünschenswert. Die Nennung von Staaten, für die ein Pass keine Geltung besitzen würde, verstanden sie als Gehässigkeit gegenüber den davon betroffenen Staaten. Sie setzten dabei voraus, dass eine fehlende Nennung auf der Positivliste keine Nachteile für einen Staat haben würde.

Was störte die britische Regierung an einer allgemeinen Gültigkeit von Pässen? Sie begründete ihre Haltung mit der Notwendigkeit, dem Mädchenhandel entgegenzutreten. Junge Frauen, die unter dem Vorwand einer künstlerischen Karriere angeworben wurden, sollten in ihren Reiseaktivitäten auf jene Länder beschränkt werden, in denen die Gefahr einer Prostituierung gering war. Ebenso am Wohl der betroffenen Bürgerinnen und Bürgern orientiert war die Absicht, diese an der Auswanderung in klimatisch ungünstige Länder zu hindern. Mit dem Hinweis auf die beschränkte Gültigkeit von britischen Pässen für Reisen in die Mandatsgebiete Palästina und Irak kam der politische Hintergrund dieser Ablehnung jedoch deutlich zum Ausdruck. Die britische Regierung wollte den Zugang von eigenen Bürgerinnen und Bürgern zu politisch labilen Kolonien und Mandatsgebieten kontrollieren (vgl. Passport Conference 1926, 31).

Die britische Position konnte sich nicht durchsetzen. Die in der österreichischen Version des Einheitspasses noch vorhandene Beschränkung auf einige Staaten wurde aufgegeben. Die Resolution der Konferenz von 1926 setzte auf eine regional unbeschränkte Gültigkeit. Um die Zustimmung der britischen Regierung und ihrer Kolonien sicherzustellen, schränkte man die Verbindlichkeit dieser Resolution ein und ermöglichte in special oder exceptional cases die Beschränkung der Gültigkeit auf eine Liste klar definierter Staaten (vgl. Passport Conference 1926, 32).

Die Gestaltung des Passformulars war aufs engste mit den politischen Fragen der Freizügigkeit verbunden, aber auch mit Vorstellungen von gesellschaftlicher Normalität. So zeigt das Passformular ganz offen und ungeniert den patriarchalen Charakter der Politik und Gesellschaft in den 1920er Jahren. Das Formular des Reisepasses war an der Idee eines männlichen Familienvorstands ausgerichtet, der entweder alleine oder in Begleitung von Frau und Kinder verreiste. Seine Frau wurde ihm zugeordnet, anders als die Kinder jedoch detailliert beschrieben. Sowohl für den Haushaltsvorstand als auch für seine Ehegattin waren eine Photographie, eine eigenhändige Unterschrift sowie eine individuelle Personenbeschreibung notwendig. Dafür gab es keine eigenständigen Formularblätter, sondern lediglich eine Erweiterung des bereits für den Mann vorgesehenen Raumes (s. Abb. 2 u. 3).

Schluss

Sigismund Gargas blickte ein Jahr nach dem Ende der Passkonferenz des Jahres 1926 auf die Veränderungen der Personenfreizügigkeit seit dem Beginn des Ersten Weltkrieges zurück. Für den Migrationsexperten stand der einzelne Reisende und nicht der von den Staaten vertretene Kontrollanspruch im Vordergrund. Aus dieser Perspektive waren die Änderungen durch den Krieg und die Fortführung der Einschränkungen nach dessen Ende fatal. Sie schufen ein Klima der Unsicherheit und setzten viele Menschen einem erheblichen Risiko aus: »dass der Pass bzw. seine Vidierung oder seine Nichtvidierung oft das ganze Leben eines Individuums umgestalten, es gaenzlich neue, unerwartete und von demselben unbeabsichtigte Wege einschlagen laesst« (Gargas 1927, 80).

Für Gargas war nicht das Passformular umstritten, sondern die Zugänglichkeit von Pässen und deren Kontrolle. Das war einer der Ansatzpunkte der drei Passkonferenzen in den 1920er Jahren. Gargas sah durchaus Fortschritte hin zu einem liberaleren Passregime, kritisierte jedoch den weiterhin starken Einfluss von staatlichen Interessen auf die Schicksale einzelner Menschen. Die Konferenzen waren von der Völkerbundorganisation für Organisation und Transit dafür gedacht, diese Interessen der einzelnen Staaten aufeinander abzustimmen und sie mit den Erwartungen der Wirtschaft und weiten Teilen der Bevölkerung auf eine Reduktion der Reisebeschränkungen in Einklang zu bringen.

Die Konferenzen waren geprägt von den Diskussionen zwischen den Experten der teilnehmenden Staaten und nicht von deklamatorischen Stellungnahmen von Politikern. Die Position der Experten war bestimmt von den Vorgaben der Regierungen zu ihrem Verhandlungsspielraum. In den Protokollen der Passkonferenz von 1926 erscheinen immer wieder Hinweise auf die kurze Leine, an der die Experten von ihren Regierungen gehalten wurden. Wenn etwa eine Obergrenze für die Preise von Visa diskutiert wurde, musste die britische Delegation bei der Abstimmung passen: »it had telegraphed to its Government for instructions, but, as there had not been time to enable these to arrive, it regretted that it was unable to agree to the proposal submitted« (Passport Conference 1926, 61).

Die Experten waren bestens vertraut mit den kleinen Formen der Kontrolle von Freizügigkeit. Sie wussten um die Herausforderungen, mit denen die Verwaltung vor Ort konfrontiert war, und die sich auf die Bewältigung von technischen Problemen bezogen. Die Sicherheitsinteressen des Staates galt es auch beim Ausfüllen eines Passformulars zu verteidigen, und das Fehlen von ausreichendem Raum für die Eintragung eines Namens oder Berufs konnte staatliche Interessen ebenso gefährden wie die Gewährung von Zugang zum Territorium für politisch unliebsame Personen.

Das Passformular kann in vielerlei Hinsicht als boundary object verstanden werden. Es vermittelte die Hoffnungen, Wünsche, Sehnsüchte von einzelnen Personen nach der Verwirklichung individueller Ziele, ebenso wie die Ängste und Kontrollbedürfnisse der einzelnen Staaten, aber auch das Streben der Tourismusindustrie nach einem erhöhten Volumen von Reiseaktivität und die Hoffnungen der internationalen Bürokratie des Völkerbundes auf die Rückkehr zu einer weitgehend unbeschränkten individuellen Mobilität. Die Konferenz des Jahres 1926 stand unter einem erheblichen Erwartungsdruck. Heinrich Reinhard, das österreichische Mitglied der Organisation für Kommunikation und Transit, hat diesen Punkt im vorbereitenden Treffen in Paris explizit angesprochen: »public opinion demanded that the League of Nations should achieve something positive and should no longer be satisfied with expressing vague recommendations« (League of Nations 1925, 2).

Die auf der Konferenz von 1926 versammelten Experten vertraten einzelstaatliche Behörden, die durch ihren Druck aus der Verwaltungsumwelt zum Handeln gezwungen wurden. Sie sollten einen verbindlichen internationalen Standard entwickeln, der mit den Normen der eigenen Verfahren im Einklang stand oder durch Gesetzesänderungen damit in Einklang gebracht werden konnte. Aus der Perspektive dieser Aufgabenstellung erscheint das Passformular ebenfalls als ein boundary object, jedoch als eines, das zwischen internationaler Standardisierung und einzelstaatlichen Verfahren erfolgreich vermitteln musste. Der Zwang zur Konkretisierung stellte das Passformular als kunstvoll konzipiertes materielles Objekt immer in Bezug zu Verfahrensfragen und Erwartungen seitens der Umwelt.

Zentral für die Gestaltung des Passes als materielles Objekt war die Fälschungssicherheit. Wie sollte man die Seiten so anordnen, dass die Möglichkeit des Einschubs von zusätzlichen, amtlich nicht autorisierten Blättern unmöglich gemacht wurde? Es gab die Anhänger einer möglichst sicheren Lösung, wie sie etwa der britische Pass bereitstellte. Er bestand aus einem einzigen Blatt, das so kunstvoll gefaltet wurde, dass Raum für zahlreiche Visaeintragungen blieb. Außer in Großbritannien fand es in Belgien Verwendung. Die Experten der anderen Staaten erachteten diese Lösung jedoch als zu kostspielig. Deshalb votierte man für ein gebundenes Heft, das aus 32 Seiten bestehen sollte. Um das Einfügen von zusätzlichen, nicht amtlich autorisierten Seiten zu verhindern, empfahl die Konferenz des Jahres 1926 die Verwendung einer Perforation, wie sie österreichische Pässe bereits nutzten. Die von der österreichischen Regierung in Vorschlag gebrachte Verwendung von fälschungssicherem Banknotenpapier fand keine einhellige Zustimmung, da es als zu teuer galt. Papier, Perforation, Bindung, und ein entsprechendes Formular waren somit die Elemente, auf denen die erfolgreiche internationale Standardisierung von Reiselegitimationen aufbaute.

Die Standardisierung des Passformulars war ein wichtiger Schritt zu einer erhöhten Erwartungssicherheit seitens der Reisenden, deren Fehlen Gargas in seinem Buch so stark kritisierte. Sie sollte durch eine Vereinheitlichung der Verfahren im internationalen Maßstab bei der Bereitstellung von Pässen und Visa aber auch bei deren Kontrolle erreicht werden. Für die Kontrollorgane hatte die Verwendung des Einheitspasses eine entlastende Funktion, weil sie auf die Legitimität der Ausstellungsverfahren vertrauen konnten und ein einheitliches Raster zur Authentifizierung der Dokumente und ihrer Träger zur Verfügung gestellt bekamen.

Die Passkonferenzen der 1920er Jahre konnten die vom Völkerbund, der Wirtschaft und den Medien gewünschte Rückkehr zur Freizügigkeit der Vorkriegszeit nicht erreichen. Sie begründeten ein internationales Passsystem, das bis heute seine Gültigkeit besitzt. Es reduzierte die Freizügigkeit und kann deshalb als eine Form der De-Globalisierung verstanden werden. Gleichzeitig war es eine Rückkehr zu einem globalen Regime der Mobilität und als solches ein Bekenntnis zu einer globalen Ordnung, die international akkordierte Mindeststandards vorgab und dabei offen blieb für die Einführung von weitergehenden Erleichterungen auf regionaler oder bilateraler Basis. Das Schengener System der Europäischen Union ist heute ein solches regionales Freizügigkeitsregime.