»Der SchimmelFootnote 1 ist ein uralter Behelf im Kanzleibetriebe« (Langer 1914, iii). Mit diesem Satz leitete Alfons LangerFootnote 2 im Februar 1914 sein Büchlein zum Disziplinarverfahren nach der eben verabschiedeten Dienstpragmatik (im Folgenden: DP) mit Erläuterungen und Beispielen ein. Er wollte damit den Amtsvorständen und Beamten, denen die neuen Bestimmungen noch unvertraut waren, eine praktische Handreichung bieten. Die Materie war aber doch so komplex, dass es nicht bei einer »bloßen Formulariensammlung« (Langer 1914, iv)Footnote 3 wie ursprünglich geplant geblieben war.

Die Regelung der Ahndung von Verletzungen der Dienstpflicht oder des Standesansehens, also das Disziplinarrecht, ist ein wesentlicher Bestandteil des Beamtendienstrechts. Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, dass die Anstellung von Beamten auf Lebenszeit, in österreichischem Amtsdeutsch »Pragmatisierung« genannt, zuerst im Rahmen einer Reihe von Hofkanzleidekreten des frühen 19. Jahrhunderts zu Disziplinarverfahren »eingeschmuggelt« wurde, wie Waltraud Heindl festgestellt hat (Heindl 2013a, 48). Diese Verordnungen waren zwar weit von einem modernen Disziplinarrecht entfernt, verhinderten aber bereits ein willkürliches Entfernen von Beamten aus dem Dienst. Eine weitere wichtige Station auf dem Weg zu einem geregelten Disziplinarrecht war eine »Kaiserliche Verordnung vom 10. März 1860, über die Disziplinarbehandlung der k. k. Beamten und Diener« (RGBl 64/1860), die bereits Disziplinarkommissionen kannte, allerdings nur mit beratendem Votum gegenüber dem Dienstgeber. Das »Gesetz vom 21. Mai 1868, betreffend die Disciplinarbehandlung richterlicher Beamten und die unfreiwillige Versetzung derselben auf eine andere Stelle oder in den Ruhestand« (RGBl 46/1868) war, so Barbara Cargnelli-Weichselbaum, ein Impuls für die Forderung nach einer Dienstrechtskodifikation für Verwaltungsbeamte (Cargnelli-Weichselbaum 2019, 455). Der Jurist Hans Nawiasky bezeichnete das Disziplinarverfahren vor der DP als »Inquisitionsprozess«, da der Beschuldigte keine Parteienrechte und keine Verteidigung hatte und da Richter und Ankläger nicht getrennt waren (Nawiasky 1914, 31).

Erst die DP des Jahres 1914 brachte ein umfassendes Dienstrecht und damit auch neue Regelungen des Disziplinarrechts. Das Disziplinarrecht nach der DP ist kein Typenrecht, wie Barbara Cargnelli-Weichselbaum hervorhebt. Es gibt darin also keinen Katalog von Verfehlungen, die ein Dienstvergehen oder eine Standespflichtverletzung ausmachen, vielmehr war es die Aufgabe der zuständigen Kommission, auf Basis von unterschiedlichen Aussagen und Beweismitteln »herauszudestillieren« (Cargnelli-Weichselbaum 2019, 457), was vorgefallen war, wie schlimm dieses Vergehen war und in welcher Weise es sohin zu sanktionieren war. Aus diesem Grund sind Disziplinarakten eine sehr aussagekräftige historische Quelle: verschriftlichte Auseinandersetzungen über soziale Normen anhand von Abweichungen von solchen Normen aus der Perspektive der Behörde, aber auch aus Sicht der beschuldigten Person und von etwaigen Zeuginnen und Zeugen.Footnote 4

Im Rahmen dieses Beitrags möchte ich diese Verfahren und im Zusammenhang damit entstandene Quellen auf ihre mehr oder weniger formularförmigen Teile hin untersuchen, in denen sich der Kontrast zwischen dem geregelten Verfahren einerseits und der teils überbordenden Realität des Disziplinarvergehens und dessen Dingfestmachung und Ahndung andererseits widerspiegelt. Insofern als hier von einem Formular die Rede sein kann, geht es überwiegend um dessen interne Funktion für die Verwaltung, die mit jener eines Fließbands verglichen wurde, das die Verwaltungsabläufe effizienter gestalten soll (Becker 2009, 283). Die Funktion des ›Interviews‹ finden wir auch im Disziplinarakt, auch hier aber nicht an eine externe Klientel gerichtet (Ausnahmen davon bilden die Ladungen von Zeuginnen und Zeugen, die nicht der Behörde angehören), sondern als Fragenkatalog für die Disziplinarkommission. Der zeitliche Rahmen sind die Jahre zwischen 1914 und 1938.

Das Disziplinarverfahren nach der DP von 1914

In der DP ist die Ahndung von Pflichtverletzungen in 68 Paragraphen geregelt. Diese Pflichtverletzungen betreffen entweder den Bereich des Dienstes oder die Standesehre, letztere kann auch durch das Verhalten im Privatleben verletzt werden. »Alle disziplinär strafbaren Handlungen, welche nicht unter das Strafgesetz fallen, sind […] entweder Verletzungen spezieller Pflichten, welche mit den Dienstesverrichtungen verbunden sind, oder Verletzungen der Standesehre durch Handlungen, die den Beamten der Achtung unwürdig machen, die sein Beruf erfordert« heißt es in einem Bericht des Staatsangestelltenausschusses des Abgeordnetenhauses vom 2. Mai 1912 (Pace 1914, 137 f.).

Das für das Disziplinarverfahren zuständige Gremium war die Disziplinarkommission einer jeden Behörde für die Verfahren erster Instanz. Disziplinaroberkommissionen in den Zentralstellen wickelten zweitinstanzliche Verfahren bzw. jene für höhere Beamte von der 6. Dienstklasse aufwärts ab. Diese Kommissionen setzten sich aus einem Vorsitzenden und dessen Stellvertreter sowie den weiteren Mitgliedern zusammen. Die Kommission war in Senate untergliedert, die die Verhandlung und Entscheidung der ihnen zugeordneten Disziplinarverfahren bewerkstelligten. Außer dem Vorsitzenden und seinem Stellvertreter setzte sich der Senat aus vier Beisitzern zusammen, von denen zwei rechtskundig sein mussten, die anderen zwei Fachbeamte. Wiewohl das Disziplinarverfahren in seiner Form dem Gerichtsverfahren nachempfunden ist, stellt es »Laiengerichtsbarkeit in Reinkultur« (Cargnelli-Weichselbaum 2019, 453) dar. Damit sollte gewährleistet sein, dass die Fachbeamten aufgrund ihrer Vertrautheit mit der Praxis ein Dienstvergehen adäquat einschätzten und sanktionierten – auch auf die Gefahr hin, dass sie in juristischen Abläufen nicht so versiert waren. Die weiteren Beteiligten außer der beschuldigten Person selbst waren ein auf drei Jahre bestellter DisziplinaranwaltFootnote 5 sowie ein Anwalt der beschuldigten Person, entweder aus dem Beamtenstand oder ein Rechtsanwalt.

Wie kam nun ein Disziplinarverfahren zustande? Die Einleitung eines Verfahrens, also die Beauftragung der Disziplinarkommission oblag dem Vorstand der Behörde, in der der oder die Beschuldigte beschäftigt war. Zunächst musste entschieden werden, ob es sich lediglich um eine Ordnungswidrigkeit oder ein regelrechtes Dienstvergehen handelte.Footnote 6 Der oder die Beschuldigte musste die Möglichkeit haben, sich mündlich oder schriftlich zu rechtfertigen. Der Vorgesetzte entschied, ob eine Ordnungsstrafe – eine Verwarnung oder eine Geldbuße – zu verhängen war oder nicht. Ordnungsstrafen wurden nicht in den Standesausweis eingetragen, eine Kommission wurde nicht einberufen. War es aber nicht eindeutig, ob eine Ordnungswidrigkeit oder eine schwerere Verfehlung vorlag, so musste eine Kommission entscheiden. Ein Untersuchungskommissär – ein untergeordneter Beamter oder aber der Vorstand selbst (vgl. Langer 1914, 29) – musste nun Erhebungen anstellen, den Beschuldigten verhören, Zeugenaussagen sammeln, wenn notwendig Gutachter beauftragen und so das Verfahren bestmöglich vorbereiten. Der Bericht, den die Disziplinarkommission dann erhielt, sollte den Tatbestand schildern, aber auch Informationen zur beschuldigten Person und ihrer bisherigen dienstlichen Verwendung enthalten (vgl. Langer 1914, 30). Die Disziplinaranzeige erging an die Disziplinarkommission, die nach einem Bericht des Disziplinaranwalts entscheiden musste, ob ein Verfahren einzuleiten war. War dies der Fall, so wurden, falls die Sachlage noch nicht klar genug war, noch weitere Untersuchungen in Auftrag gegeben (vgl. Cargnelli-Weichselbaum 2019, 465). Nach Abschluss des Untersuchungsverfahrens wurden die Untersuchungsakten an den Disziplinaranwalt übermittelt, der sie mit seinen Anträgen der Disziplinarkommission vorlegte (vgl. Cargnelli-Weichselbaum 2019, 466). Die Disziplinarkommission entschied nun, ob das Verfahren eingestellt werden sollte (mit oder ohne Verhängung einer Ordnungsstrafe) oder ob eine Verweisung zur mündlichen Verhandlung beschlossen werden sollte.

Bei der nichtöffentlichen mündlichen Verhandlung waren außer den Kommissionsmitgliedern auch der oder die Beschuldigte und sein oder ihr Verteidiger, der Disziplinaranwalt sowie etwaige Zeugen, Zeuginnen und Sachverständige anwesend. Dazu kamen noch der Protokollführer und wenn gewünscht Vertrauenspersonen des Beschuldigten. Zuerst wurde der Verweisungsbeschluss verlesen. Im Anschluss daran wurden der Beschuldigte sowie allfällige Zeugen und Zeuginnen vernommen,Footnote 7 bei Bedarf Berichte über vorhergehende Ermittlungen verlesen. Der Disziplinaranwalt und der Beschuldigte durften sich zu den Beweismitteln äußern und Fragen an die Zeugen und Sachverständigen stellen. »Nach Schluß des Beweisverfahrens werden der Disziplinaranwalt mit seinen Ausführungen und Anträgen und der Beschuldigte sowie dessen Verteidiger mit der Verteidigung gehört. Dem Beschuldigten steht das letzte Wort zu.« (DP § 125, zitiert in Pace 1914, 163 f.).

Auf Basis dieser Verhandlung kam die Disziplinarkommission zu einem Erkenntnis, in dem der Beschuldigte entweder von der Dienstpflichtverletzung freigesprochen oder aber dieser für schuldig erklärt wurde. War letzteres der Fall, wurde auch das Strafausmaß beschlossen. Der Beschuldigte wie auch der Disziplinaranwalt hatten das Recht, gegen das Erkenntnis binnen 14 Tagen nach Zustellung des Erkenntnisbescheids zu berufen, und zwar sowohl hinsichtlich der Schuld als auch des Strafausmaßes. Dann war die Disziplinaroberkommission am Zug, angesiedelt bei den übergeordneten Zentralstellen,Footnote 8 deren Erkenntnisse nicht mehr in Frage gestellt werden konnten.

Je nach Schwere des Vergehens wurde als Disziplinarstrafe ein Verweis, ein Ausschluss aus der Vorrückung in höhere Bezüge, eine Minderung des Gehalts, eine strafweise Versetzung in den Ruhestand mit verminderten Bezügen oder als drastischste Maßnahme die Entlassung verhängt (vgl. Langer 1914, 11–20). Die Bemessung der Strafe war abhängig von der Schwere des entstandenen Schadens, der Schuldhaftigkeit, dem Vorleben der beschuldigten Person sowie diversen Umständen, die strafverschärfend oder -mildernd wirken konnten. Wenn die beschuldigte Person Familienangehörige zu erhalten hatte, wurde das etwa als mildernder Umstand gewertet.

Woraus besteht ein Disziplinarakt?

Die formale Ausgestaltung der Disziplinarakten variierte von Amt zu Amt und auch im Laufe der untersuchten Jahre. An Akten der frühen 1920er Jahre kann man erkennen, dass Formulare und Vordrucke aus der Monarchie weiterverwendet wurden, manchmal mit, manchmal ohne Korrektur der Überschrift (»Disziplinaroberkommission des k. k. Finanzministeriums«). Je nach Vollständigkeit und Komplexität des jeweiligen Falles befinden sich in Disziplinarakten – so wie sie heute in Archiven gefunden werden könnenFootnote 9 – unterschiedliche Schriftstücke mit mehr oder weniger formularhaftem Charakter. Die chronologische Ordnung variiert ebenfalls, häufig beginnt sie aber mit dem letztgültigen Erkenntnis und geht dann in umgekehrter Weise bis zu den frühesten Dokumenten weiter.

Zumeist ist die äußere Hülle ein Aktendeckblatt der Behörde, das ein Vordruck mit den Rubriken Geschäftszahlen, Geschäftszeichen, Grundzahl, Gegenstand, Fristen sowie »Zur Einsicht vor Genehmigung/Abfertigung/Hinterlegung« ist. Der Bericht des Untersuchungskommissärs ist ein Bestandteil der Disziplinarakten. In zweitinstanzlichen Verfahren der Disziplinaroberkommission findet man auch ein sogenanntes Referat (in dem mehr oder weniger ausführlich die in erster Instanz verhandelte Tat und das dazugehörige Erkenntnis dargelegt werden) sowie den Antrag auf weitere Schritte im Verfahren. Hier finden sich auch – mitunter sehr ausführliche – Informationen die Person der oder des Beschuldigten betreffend. In einigen Akten nimmt dieses Referat eine formularhafte Form an (z. B. Diziplinarakt - im Folgenden DA – Fransche) – was naheliegt, zumal in unterschiedlichen Fällen ähnliche Informationen abgefragt werden –, in anderen ist es als Fließtext gestaltet. In manchen Fällen ist die in Formularform gestaltete Qualifikationstabelle einer beschuldigten Person beigelegt (DA Finsterer) oder auch eine ausformulierte Beschreibung der Person (DA Franek, DA Feiferlik). Verhandlungsschrift und -protokoll sind Dokumente, die Besprechungen der Kommission außerhalb der mündlichen Verhandlung dokumentieren. Ein Verweisungsbeschluss wurde gefasst und schriftlich niedergelegt, sofern eine mündliche Verhandlung für erforderlich erachtet wurde. Das Protokoll der mündlichen Verhandlung kann sehr umfangreich sein, zumal mitunter lange Vernehmungen unterschiedlicher Personen darin verschriftlicht sind, manchmal in direkter, manchmal in indirekter Rede. In einigen Fällen liegt dem Protokoll der mündlichen Verhandlung ein regelrechter Fragebogen bei (z. B. DA Finsterer), welcher der Kommission dabei helfen soll, zu einem Erkenntnis zu kommen: Waren mildernde Umstände zu werten? Sind alle gewertet worden? Waren erschwerende Umstände zu werten? Sind alle gewertet worden? Ist der Berufung des Disziplinaranwaltes Folge zu leisten? Welche Strafe erscheint angemessen? Ein Protokoll über die Abstimmung belegt, wie die Entscheidung über das Erkenntnis vonstattengegangen ist. Über die Schuld- und Straffrage wird dabei jeweils separat abgestimmt. Häufig sind mehrere Abschriften des Erkenntnisses mit den Entscheidungsgründen, die zu diesem geführt haben, enthalten. Abgesehen von den manchmal sehr ausufernden Protokollen, Referaten und Berichten sind in den Akten auch kleinere Textsorten zu finden wie etwa Ladungen für Zeugen oder Vollmachtsübertragungen an die Rechtsanwälte der Beschuldigten. In den Akten der 1930er Jahre liegen sie oft als Vordruck bei.

Zusätzlich zu den erwartbaren schriftlichen Dokumenten finden sich fallweise auch Skizzen und PläneFootnote 10 oder konkrete Beweismittel – so etwa ein Kalender der Deutschen Reichsbahn, auf dessen Blatt vom 20.–22. April 1936 Adolf Hitler abgebildet ist. Dieses Kalenderblatt hatte im Büro eines Bibliothekars der Universität für Bodenkultur Anstoß erregt und ihm die Ordnungsstrafe einer Verwarnung eingebracht (DA Feuerstein).

Interessanterweise finden sich in frühen Disziplinarakten explizite Hinweise auf Langers Buch, etwa im Fall eines galizischen Polizeibeamten, der in betrunkenem Zustand in einem Gasthaus mit russischen Offizieren über den Kriegsfortschritt gesprochen und dabei geäußert haben soll: »daß die Russen voraussichtlich siegen werden, und daß die österreichischen Offiziere in Brzesko nichts täten als essen und trinken« (DA Gadzinski). Dafür wurde er verhaftet und es wurde gerichtlich untersucht, ob sein Verhalten als Spionage gewertet werden sollte. Die Staatsanwaltschaft befand, dass es sich um betrunkenes Geschwätz, aber keinen strafbaren Tatbestand gehandelt hatte, und leitete die Akten an die Disziplinarkommission weiter. Diese wiederum befand, dass der Polizeikommissär sich eine Verletzung der Pflicht zur Wahrung des Amtsansehens zuschulden kommen lassen hatte und erkannte auf eine Disziplinarstrafe, nämlich eine Ausschließung von der Vorrückung in höhere Bezüge für die Dauer von zwei Jahren. Nun legte der galizische Statthaltereirat Adam von Gubatta, der als Disziplinaranwalt fungierte, Berufung ein, weil aus seiner Sicht seine Argumente und seine Rolle als Disziplinaranwalt zu wenig gewürdigt worden seien. Aus seiner Sicht sei die Verhaftung des Polizeikommissärs noch schädlicher für das Ansehen des Amtes als die Trunkenheit und das Sprechen mit russischen Offizieren. Zudem sei das Erkenntnis nicht ihm, sondern nur seinem Stellvertreter, der an der mündlichen Verhandlung beteiligt gewesen war, zugestellt worden. Die Kommission konterte unter Berufung auf Langer: »Statthaltereirat von Gubatta verkennt den Umfang der Aufgaben und Befugnisse des Disziplinaranwaltes« (DA Gadzinski).

Die verschwundene Waage vom Schwendermarkt

An einem etwas ungewöhnlichen Fall lässt sich zeigen, wie ein Disziplinarverfahren über Schimmel und Formular hinauswachsen konnte (Abb. 1 und 2).

Abb. 1
figure 1

Erste Seite des Protokolls über die mündliche Verhandlung, Muster aus Langer 1914, 85

Abb. 2
figure 2

(Quelle: Österreichisches Staatsarchiv, Archiv der Republik, Bundeskanzleramt, Präsidium, Disziplinaroberkommission, Karton 15, D-91/35, Disziplinarakt Leopold Fleischer)

Erste Seite des Protokolls über die mündliche Verhandlung, Beispiel aus dem DA Fleischer.

Konkret ging es um den Sicherheitswacherayonsinspektor Fleischer, der wegen einiger Vorfälle im Jahr 1927 zwei Disziplinarverfahren gewärtigen musste. Ihm wurde vorgeworfen, dass er angetrunken im Dienst erschienen sei, dass er sich unrechtmäßig vom Dienst entfernt habe, dass er regelmäßig in betrunkenem Zustand seine Hausmitbewohner lautstark beschimpfte und dass er eines frühen Morgens eine beim Schwendermarkt im 15. Wiener Gemeindebezirk auf dem Gehsteig stehende Waage mitgenommen habe. Die Verfehlungen wurden in zwei unterschiedlichen Verfahren behandelt, waren aber miteinander durch die zeitliche Nähe verschränkt.

Fleischer wurde 1893 geboren und war gelernter Techniker, der vor dem und im Ersten Weltkrieg Militärdienst geleistet hatte. Im Oktober 1918 trat er in den Sicherheitswachdienst ein, wurde ein Jahr später definitiv gestellt und erreichte im Jahr 1923 den Rang eines Rayonsinspektors. Zur Zeit der beschriebenen Vorfälle war er seit zwei Jahren geschieden (ohne Unterhaltspflichten) und lebte bei seiner Mutter, die einen Stand am Schwendermarkt innehatte.

Im Akt findet sich eine Auflistung seiner »Konduite« seit 1924, aufgegliedert nach den Punkten

  • Verhalten außer Dienst

  • Auffallende Neigungen

  • Persönliche Verhältnisse

  • Verhalten im Dienste

  • Benehmen gegen Vorgesetzte/Kameraden/das Publikum

Ab 1925 wird in beinahe allen Punkten die Einschätzung des dienstlichen und außerdienstlichen Verhaltens seitens der Vorgesetzten negativer, was im Akt einmal mit dem unglücklichen Ende seiner Ehe in Verbindung gebracht wird. Vermerkt sind auch drei Disziplinarstrafen (Verweis, Minderung des Diensteinkommens für 3–6 Monate) zwischen 1924 und 1927, die entweder mit Trunkenheit im Dienst, nichtstandesgemäßem Betragen außer Dienst und unzulässigem Verlassen eines Bereitschaftsortes zu tun haben.

Der chronologische Ablauf der Ereignisse gestaltete sich folgendermaßen:

Datum

Ereignis

1. Juni 1927

Trunkenheit im Dienst, Verlassen des Dienstpostens, Lautstarker Streit mit einem Chauffeur nach Dienstschluss => Einleitung eines Disziplinarverfahrens

4. Oktober 1927

Erkenntnis der Disziplinarkommission auf teilweise Schuldigkeit, Disziplinarstrafe der Minderung der Bezüge um 20 % für zwei Jahre

26. Oktober 1927

Berufung des Disziplinaranwalts, Forderung eines höheren Strafausmaßes

30./31. Oktober 1927

Entwendung einer Waage, angebliche Belästigung der Hausparteien

=> Einleitung eines neuen Disziplinarverfahrens

3. Mai 1928

Erkenntnis der Disziplinaroberkommission, der Berufung wird stattgegeben, Minderung der Bezüge um 25 % für zwei Jahre

19. Jänner 1929

Erkenntnis der Disziplinarkommission auf teilweise Schuldigkeit, Disziplinarstrafe der Entlassung

? Jänner 1929

Berufung des Beschuldigten: Minderung des Strafausmaßes

und des Disziplinaranwaltes: Schuldigkeit in allen Punkten

17. März 1930

Erkenntnis der Disziplinaroberkommission: der Berufung des Disziplinaranwaltes wird stattgegeben, Disziplinarstrafe der Entlassung bleibt aufrecht

Für die Abwicklung des ersten Verfahrens, die Vorfälle am 1. Juni 1927 betreffend, wurden Aussagen von Kollegen, von Geschäftsinhabern, bei denen der Beschuldigte in der Dienstzeit Essen und Getränke gekauft hatte, wie auch ein amtsärztliches Attest, das an jenem Tag von einem Vorgesetzten angeordnet wurde, in der mündlichen Verhandlung ins Treffen geführt. Ich möchte aber näher auf das zweite, aufgrund widersprüchlicher Aussagen sehr umfangreiche Verfahren eingehen.

Kurz nachdem Ende Oktober 1927 Berufungen gegen das Erkenntnis der Disziplinarkommission eingegangen waren, wurden neue Vorwürfe gegen Fleischer erhoben. Zum einen war ein anonymes Schreiben an das Abteilungskommando, bei dem er tätig war, eingegangen:

[…] Inspektor Leopold Fleischer legt ein Benehmen zutage, für das man keine Worte findet. Jeden Ersten besauft er sich derart, dass er keinem Menschen mehr gleich sieht, beschimpft alle Leute mit den ordinärsten Worten und ich glaube, um die Autorität der Wache zu wahren, solche Elemente in keine Uniform gehören [sic]. Andere müssen sich um ein paar Groschen schinden und rackern und er geht am Ersten, holt sich sein Geld und versauft es in den Tag. Die ganze Umgebung ist schon empört von dem Treiben dieses Inspektors. Bitte in sein Wohnhaus [Adresse] zu kommen, dort wird man erst Wunder erzählen und ich glaube, da wird er die längste Zeit bei der Wache gewesen sein, denn was er in seinem Hause aufführt, kann man nicht glauben, wenn man es schreibt. (DA Fleischer)

Die Verfasserin des Briefes war, wie sich im Laufe des Verfahrens herausstellte, eine mit dem Beschuldigten verfeindete Frau, die im selben Hause wie er wohnte.Footnote 11 Nachforschungen bei anderen Parteien ergaben, dass es tatsächlich zu solchen Belästigungen gekommen war. Während die Disziplinarkommission in diesem Fall auf nicht schuldig erkannte, sah die Disziplinaroberkommission das anders und erkannte, bezugnehmend auf die Erhebungen bei den Nachbarparteien und auf das Vorleben des Rayonsinspektors auf schuldig.

Komplizierter gestaltete sich die Angelegenheit mit der Waage. Nachdem Fleischer am Abend des 30. Oktober 1927 für seine Mutter in Schwechat eine große Menge Kartoffeln gekauft, danach bei dem Landwirt gegessen und getrunken und später noch ein Kaffeehaus aufgesucht hatte (»Ich habe in Schwechat vier Gläser HaustrunkFootnote 12 (Viertelgläser), im Kaffeehause Kaffee und 1 Flasche Bier zu mir genommen.«, DA Fleischer) machte er sich auf den Heimweg und kam dabei um ca. drei Uhr morgens am Schwendermarkt vorbei. Dort sah er nach eigenen Angaben einen Marktstand in Unordnung und davor auf dem Gehsteig eine Waage stehen. Er nahm die Waage an sich, ließ dabei seinen Regenschirm am Stand hängen, und brachte sie zu sich nach Hause. Dort übergab er sie seiner Mutter, die sich bereits für die Arbeit an ihrem Marktstand bereit machte, mit dem Ersuchen, sie solle herausfinden, wem die Waage gehöre, und legte sich schlafen. Ein Marktwächter, der den vergessenen Schirm als Fleischer gehörend erkannt hatte, brachte den Schirm zu ihm in die Wohnung. Als der Wächter wieder zum Markt zurückkehrte, herrschte große Aufregung über die verschwundene Waage der Marktstandlerin Tremer, überdies wurden beim Stand von Fleischers Mutter zu dieser Waage gehörende Gewichte entdeckt. Auf neuerliche Rückfrage des Wächters bei Fleischer kam heraus, wo sich die Waage befand. Die ebenfalls als Zeugin einberufene Mutter des Beschuldigten gab in der mündlichen Verhandlung an, sie habe vergessen, sich gleich zu erkundigen, wem am Markt eine Waage fehlte, weil sie noch verschlafen gewesen sei, zudem musste sie erst ihren Marktstand fertig machen. Sie wurde von Frau Tremer konfrontiert, die Fleischer als Dieb bezeichnete. Dazu entspann sich in der Verhandlung der folgende Dialog zwischen dem Vorsitzenden und der Mutter des Beschuldigten:

Vorsitzender: »[…] aber gesagt haben Sie nichts davon, daß Ihr Sohn die Waage gefunden habe?«

Zeugin: »Wenn man ein Kind hat, das immer brav war und es kommt plötzlich jemand und sagt, das Kind sei ein Dieb, so wird jeder wie vom Donner getroffen sein.«

Vorsitzender: »Wenn Sie gewusst hätten, daß Ihr Sohn die Waage gefunden habe, hätten Sie sicher davon gesprochen!«

Zeugin: »Ich konnte nicht sprechen, weil ich mich so schämte, ein Kind zu haben, das ein Dieb sei.«

Vorsitzender: »Sie hätten aber sagen können, mein Sohn ist kein Dieb, er hat die Waage gefunden und sie ist bei mir zu Hause!«

Zeugin: »Ich konnte nicht reden, da mich Frau Tremer nicht zu Wort kommen ließ.« (DA Fleischer)

In erster Instanz erkannte die Disziplinarkommission, dass sich eine Diebstahlsabsicht zwar nicht eindeutig nachweisen ließe, dass das Verhalten Fleischers aber dennoch ein schweres Dienstvergehen darstelle, das mit der strengsten Disziplinarstrafe geahndet wurde, zumal auch schon Gerüchte im Umlauf waren, er habe die Waage gestohlen. Die Disziplinaroberkommission änderte nichts an der Entscheidung über Schuld und Strafe in diesem Punkt, folgte also der Berufung des Disziplinaranwalts, nicht aber jener des Beschuldigten.

Es zeigt sich an diesem Beispiel auch, wie streng die Ahndung von Disziplinarvergehen ausfallen konnte: Wiewohl der Rayonsinspektor nicht strafrechtlich wegen Diebstahls belangt wurde, reichte der Verdacht, er könnte einen Diebstahl begangen haben, dafür, dass über ihn auch noch nach der Berufung die höchstmögliche Disziplinarstrafe der Entlassung ausgesprochen wurde.

Abschließende Bemerkungen

Wie schon eingangs bemerkt ist die Existenz von Schimmeln, Formulariensammlungen und Mustertexten im Kanzleistil – man denke an das 1802 in Wien erschienene zweibändige Kompendium von Mustertexten von Johann Georg Christoph von Keßler (1802, zitiert in Margreiter 2011, 79 ff.) – im Österreich des 20. Jahrhunderts keine Novität. Die Besonderheit von Langers Buch zum Disziplinarverfahren (das, anders als bei Keßler, keine Beispielsdialoge etwa der Zeugenvernehmung anführt) besteht darin, dass es eine Schnittstelle zwischen Bürokratie, Rechtswesen und – in Person der nichtbeamteten Zeugen und Zeuginnen – auch Bürgern und Bürgerinnen darstellt. Seine praktische Relevanz ist durch direkte Zitate in Disziplinarakten, insbesondere der ersten Jahre nach 1914, belegt. Die Vielfalt der Disziplinarfälle und der daraus resultierenden Fälle zeigt, dass die Fließbandfunktion von »Schimmeln« und Formularen wohl grundsätzlich Wirkung zeigte, aber dies wohl eher in unkomplizierten, wenig kontroversen Fällen. Aber selbst wenn in der mündlichen Verhandlung widersprüchliche Aussagen eine Entscheidung erschwerten, selbst wenn die Emotionen hochgingen und nicht immer mit feiner Klinge gefochten wurde, so blieben die DP und die damit verbundenen Formalia der strukturgebende Rahmen.