»Wir«, schreibt Howard Rheingold 1993 in Virtuelle Gemeinschaft, »die Kinder von McLuhan«, spielten im Internet mit Identitäten, schöpften neue, multiple Personen, wandelten, pseudonymisierten sie: »Ähnlich, wie frühere Medien an Raum und Zeit gebundene soziale Schranken überwanden, scheint das neueste computervermittelte Kommunikationsmedium nun auch die Grenzen der Identität zu überwinden« (Rheingold 1994, 185).

Die folgenden Jahrzehnte zeigten eher das Gegenteil. Identität wurde nicht überwunden, sondern immer differenzierter ausgehandelt. Facebook bildet hier einen historisch relevanten Fall, denn Mitte der 2000er Jahre scheint diese Plattform etwas Erstaunliches vollbracht zu haben: Gegen den Trend auf YouTube, Twitter und anderen Plattformen und gegen die lange Geschichte des Pseudonyms online (van der Nagel 2017) hat Facebook es offenbar geschafft, in großem Stil den sogenannten Klarnamen durchzusetzen. Festgeschrieben wird dieser Username in Facebooks Registrierungsformular, mit dem wir uns deshalb im Folgenden befassen.

Der Accountname als digitaler Paratext

Damit ist eine grundlegende literatur- und medientheoretische Frage aufgeworfen, die insbesondere auch Gérard Genette (2001) beschäftigt hat: Ob und, wenn ja, wie Medientechnologien Texte mit Namen verknüpfen. Dass Texte und Namen der Personen, die sie verfassen, eng zusammengehören, ist eine neuzeitliche Entwicklung, und an den Medien der Verknüpfung von Namen und Text hat sich in den vergangenen Jahren einiges verändert. In Genettes Paratexte ist dieser Zusammenhang so zentral, dass »Der Name des Autors« gleich das zweite Kapitel nach »Der verlegerische Peritext« bildet – noch vor dem dritten Kapitel »Titel«.

Ganz grundsätzlich ist Genettes Trias aus verlegerischer Peritext, Name und Titel weiterhin entscheidend – vielleicht sogar mehr denn je, denn immer häufiger werden Paratexte automatisch erstellt. Einen gewissen Bedeutungsverlust hat dabei der Titel erlebt. In der E-Mail ist er noch enorm wichtig; so sehr, dass geläufige E-Mail-Clients einen zur Eingabe einer Betreffzeile auffordern, wenn man eine titellose Nachricht verschicken möchte. Lässt man das Eingabefeld doch leer, trägt die Software häufig automatisch ein, dass es keinen Betreff gebe. Kein Titel ist auch ein Titel, ob man will oder nicht. Diese formularische Titelpflicht gilt noch im Usenet und den späteren Foren des World Wide Web, und auch beim Blogging kann man in aller Regel nicht nicht-betiteln.

Mit den Social-Media-Plattformen gewinnen andere Paratexte an Relevanz. Zwar verlangen auch YouTube-Videos und Reddit-Threads einen Titel, Facebook-Posts und Tweets allerdings nicht. Name und verlegerischer Peritext – auch wenn die Plattformen gern so tun, als hätten sie nichts mit Verlagen gemein – werden umso wichtiger. Auflagen und andere Popularitätsindikatoren aus dem verlegerischen Peritext handelt Genette noch auf wenigen Seiten ab (2001, 38 ff.). Für die Social-Media-Plattformen ist dieser Peritext ein ungleich größeres Thema: Unter Tweets und Facebook-Posts gewinnen deren aktualisierte Pendants in Form von Like-Countern und Anderem eine unheimliche Prominenz – so unheimlich, dass Twitter noch im Januar 2021 die aufrührerischen Tweets des damaligen amerikanischen Präsidenten dadurch zu entschärfen versuchte, dass man diese digitalen Paratexte sperrte; ohne Like-Counter schienen Trumps Tweets offenbar nur noch halb so gefährlich (Paßmann 2021). Von solchen Ausnahmefällen abgesehen,Footnote 1 gibt es aber keinen Tweet und keinen Facebook-Post ohne Likes und Like-Counter.

Vor allem aber gibt es überhaupt keine plattformisierten Texteinheiten ohne Namen. Die Kopplung zwischen Account-Namen und Plattform-Text ist noch wesentlich strikter als die zwischen E-Mail und Betreffzeile. Man kann erst gar nicht mit dem Schreiben auf einer Plattform beginnen, wenn man nicht vorher einen Namen festgelegt hat. Dieser Name ist nicht auf den einzelnen Text anpassbar. Man trägt auf Social-Media-Plattformen – von AusnahmenFootnote 2 abgesehen – ein für alle Mal den Namen, den man bei der ersten Registrierung in das Formulareingabefeld des Interfaces eingetippt hat. Oder genauer: Jeder auf den Plattformen veröffentlichte Text, ja sogar jeder vergebene Like trägt diesen einen Namen als Paratext mit sich.

Die Striktheit dieser Kopplung zwischen Text und Name ist typisch für digitale Paratexte. Denn wenn digitale Texte versendet werden, folgen sie stets einem Protokoll (Galloway 2004), sei es dem Internet Protocol oder den Regeln der Plattformen, die vor allem auch in den Namensformularen eingefordert werden (Nakamura 2002, 102). Die Protokolle verlangen Namen von »Sender« und »Empfänger« – ohne Namen keine Sendung; damit ist die Namenspflicht eine der härtesten protokollarischen Regeln digitaler Partizipation. Das Namensformular einer Plattform ist deshalb ein obligatorischer Passagepunkt von maximaler semantischer Nachhaltigkeit, der die Bedeutung jedes Textes und jeder Plattform-Einheit wie Likes, Shares oder Retweets mitkonstituiert.

Anonymität, Pseudonymität und Onymität in der Internet-Forschung

Genette unterscheidet drei Praktiken der Namensgebung: Die der Anonymität, die Texte nicht signiert, die der Pseudonymität, die mit einem »falschen, entlehnten oder erfundenen Namen« zeichnet, und die der Onymität, d. h. der Operation mit dem »richtigen Namen« (Genette 2001, 43). Vor dem Hintergrund der digitalen Namenspflicht sollte es online also eigentlich nur Pseudonyme und Onyme geben. Die Forschung zur Namensgebung im Internet hat sich dennoch zu großen Teilen mit Anonymität befasst.

Hier ist insbesondere virulent, ob Anonymität Enthemmungseffekte auslöst, für Trolling und Mobbing verantwortlich ist und wie sich diese Probleme lösen ließen (etwa Christopherson 2007; Moore et al. 2012; Rains 2007; Suler 2004; Papacharissi 2002; Reagle 2016). Manche Auswirkungen der Anonymität werden positiv bewertet (Marx 1999; Hogan 2012). Viele Arbeiten argumentieren dabei mit der Unterscheidung anonym/real, die deshalb von anderen dekonstruiert wird.

Sie wird als politisches Mittel kritisiert, das sich inbesondere Facebook angeeignet habe. Das Unternehmen errichte eine »all-or-nothing dichotomy between real names and faceless anonymity, without considering persistent pseudonyms« (Hogan 2012, 8). Anonymität online sei insofern ein Scheinkonstrukt, das neben Facebook auch mediale Berichterstattung nutze: »When anonymous Internet users are the subject of mainstream news articles, it is often in the context of either large-scale political protests, or hacking, trolling, deceiving, or abusing others on the Internet through inflammatory posts« (van der Nagel und Frith 2015). Dass Anonymität häufig erst durch mediale Berichterstattung über das Internet hergestellt wird, lässt sich bis in die Gegenwart auch im deutschsprachigen Feuilleton beobachten (Franzen 2020).

Eine Übersicht zur Debatte findet sich bei van der Nagel und Frith (2015), die zwischen verschiedenen Praktiken der Namensgebung differenzieren, bei denen Pseudonyme, anglisierte chinesische Namen, Künstler:innennamen und andere verwendet würden. Facebook und insbesondere Mark Zuckerberg persönlich seien dabei zur Synekdoche für eine Anti-Anonymitäts-Bewegung geworden, was vor allem auch mit Facebooks Geschäftsmodell zusammenhänge, für das die Firma User:innen auch jenseits der eigenen Plattform identifizieren wolle.

Es lässt sich deshalb ein Wandel von Anonymitätsforschung zur solcher über Pseudonyme und ihre vielfältigen Praktiken beobachten. Dies ist auch Ausdruck einer Kritik an der Plattform-Politik Facebooks und anderer. Van der Nagel (2017) beobachtet auf Social-Media-Plattformen Praktiken der »Kompartmentalisierung« von Identität und rekonstruiert eine Geschichte der Pseudonymität online, die sich immer mehr in Richtung einer solchen Ausdifferenzierung der Namensgebungspraktiken bewegt, bei der dieselben Personen in unterschiedlichen Situationen mit unterschiedlichen Pseudonymen – oder Onymen – arbeiten. Diese Entwicklung verfolgt sie bis in die Usernamen des UNIX-Systems der 1970er Jahre zurück und kommt zu dem Ergebnis, dass Facebook zwar einen erstaunlichen Wandel der Namensgebungspraktiken online hin zum Onym zustande gebracht habe, die Vielfalt solcher kompartmentalisierten Pseudonyme dadurch aber umso wichtiger werde, als »a way to negotiate platform expectations and segment audiences« (van der Nagel 2017, 327).

Insbesondere ethnografische Studien über Social-Media-Nutzung in der Türkei (Costa 2016), in Nordamerika (Philips 2015) oder Deutschland (Paßmann 2018) beobachten diverse Praktiken des Umgangs mit Pseudonymen, bei denen User:innen viele Accounts mit unterschiedlichen Namen betreiben und diesen Accounts unterschiedliche Bedeutung zuschreiben, wobei Äußerungen unter dem einen Namen ›ernster‹ gemeint sind, als jene unter anderem.

Facebooks Namenspolitik gerät in den Blick der Online-Forschung durch die »nymwars« – einer Auseinandersetzung nach dem Launch von Googles (später gescheiterter) Social-Media-Plattform Google+ im Juni 2011. Die Plattform verlangte von ihren User:innen, ihre sogenannten Klarnamen anzugeben und suspendierte jene, die dieser »real name policy« nicht folgten. Erklärungsbedürftig sei, dass sich diese Politik auf Google+ zu einem solchen »Krieg« auswüchse, obwohl dort letztlich dasselbe gefordert werde, was auf Facebook längst üblich sei. Auf Facebook sei eine »›real name‹ culture« durch soziale Normen gewachsen, Google+ hingegen sei »purely driven by market and reinforced by corporate policies and technology« (boyd 2012, 30) – eine retrospektiv erstaunliche Wertungshierarchie zwischen ›gutem‹ Facebook und ›schlechtem‹ Google, in die sich auch Hogan (2012) einreiht, die aber auch medientheoretisch und historiografisch höchst problematisch ist: »the real name web is not a technology; it is a social practice« (Hogan 2012, 13).

Geschichte des Facebook-Accountnamens

Eine solche Unterteilung zwischen den Technologien auf der einen Seite und den nur sozialen Praktiken auf der anderen ist medientheoretisch überholt, da es Medienpraktiken nie ohne ihre Medientechnologien gibt (Latour 2007, 130 ff.), sondern beide eine immer schon irreduzible Operationskette bilden (Schüttpelz 2006). Genau genommen kann überhaupt von »practice« nur dann die Rede sein, wenn die Dualismen zwischen Subjektivität und Objektivität, Struktur und Handlung, die die Praxeologie auflösen wollte, nicht durch neue Dualismen zwischen Technologien und Praktiken wiederholt werden. Dies ist gerade für die Analyse von Social-Media-Plattformen wie Facebook ein naheliegender und nicht seltener Fehler, der sich in den Dienst der Begriffspolitik der Plattformen stellt, statt sie zu dekonstruieren (Paßmann 2020).

Ein Fokus auf das Formular birgt insofern die Gefahr, zwischen dem Formular und seinen Praktiken zu unterscheiden und dann die Namensgebungspraktiken entweder auf vorgängige ältere Praktiken oder neue technische Änderungen im Formular zu reduzieren. Diese Reduktion liegt auch nah, weil die starke Handlungsträgerschaft dieser Formulare so eindeutig ist, wie Lisa Nakamura bereits vor zwei Jahrzehnten feststellte (Nakamura 2002, 104).

Wenn wir uns deshalb im folgenden Schritt mit Eingabeformularen für Facebooks Accountnamen befassen, geht es nicht um die Frage, ob die real name policy entweder durch »social practice« oder die Medientechnik (das Formular, die Plattform) etabliert wurde, sondern wie diese Medien-Praktiken materiell-semiotisch hergestellt wurden. Das heißt nicht, dass Änderungen im Eingabeformular nicht große Folgen für die Praktiken der Namensgebung hätten, ganz im Gegenteil. Wir müssen aber dabei neue Medien-Praktiken stets als Folgepraktiken älterer Medien-Praktiken denken, d. h. das Formular ist nicht die eine ›Stellschraube‹, mit der man schwere semantische Folgen auslösen kann, sondern das Formular lässt sich nur folgenreich ändern, wenn all die anderen Praktiken, an die es anschließt und die an es anschließen, auch dazu bereit(et) sind. Dies ist ein medienhistoriografisches Grundproblem: Die Prägekraft der Medientechnik herauszuarbeiten, ohne in einen Medientechnik- oder Praxisreduktionismus zu verfallen.

Update-Geschichte

Begeben wir uns also in einem ersten Schritt an den obligatorischen Passagepunkt der paratextuellen Festschreibung semantischer Zukünfte, der immer wieder Updates erfahren hat: Das Eingabeformular für den Usernamen auf Facebook. Hierfür haben wir aus der Wayback Machine des Internet Archive die Snapshots (also die archivierten Hypertexte) von Facebooks Registrierungsseite von 2004 bis 2021 verglichen. Zweitens haben wir Facebooks terms of service, ihre privacy policy und Hilfe-Seiten verglichen und hinsichtlich ihrer Änderungen ausgewertet. Hierfür haben wir auch das Platform Governance Archive (PGA) des Humboldt-Instituts für Internet und Gesellschaft (HIIG) in Berlin genutzt, das diese Policy-Dokumente durchsuchbar macht (Katzenbach et al. 2021). Um diese Archivalien zu nutzen, folgen wir einem an anderer Stelle detailliert explizierten Verfahren der Analyse von Allgemeinen Geschäftsbedingungen (Helmond und van der Vlist 2019).

Facebooks Registrierungsformular

In der Wayback Machine des Internet Archive ist der früheste Screenshot von Facebooks Registrierungsformular auf den 12. Februar 2004 datiert (Facebook 2004). Dies ist nur wenige Tage nach dem Launch der Plattform als thefacebook.com. Die Anforderungen scheinen auf den ersten Blick erstaunlich frei. Verlangt wird nur ein »Name«, das Formular spezifiziert nicht zwischen Vor- und Nachname, richtigem oder falschem.

Schon die nächste Zeile zeigt allerdings, warum das Namensfeld so ›frei‹ sein kann: Unter »Status« lässt sich nur auswählen zwischen »Student«, »Alumnus/Alumna«, »Faculty« und »Staff«, in der nächsten Zeile wird eine E-Mail-Adresse verlangt mit dem Vermerk »(harvard)«. Nur wer den Prozess des Erwerbs einer eigenen Mail-Adresse der Harvard University durchlaufen hat, kommt für dieses Formular überhaupt in Frage. Es ist nicht die ›freie‹ Formalisierung einer Namensgebungspraktik, sondern bloß ein weiteres Glied einer vorherigen Kette bürokratischer Auswahl-Prozeduren, die zu den elitärsten der Welt zählen.

Die Namensgebungspraktiken von thefacebook.com sind also nicht irgendwie ›bottom-up‹ entwickelte Usingpraktiken aus der Facebook-Community, es ist keine auf Facebook gewachsene »Kultur«, wie boyd, Hogan und andere nahelegen, es sind Übersetzungen der Namensgebungspraktiken der Harvard University in einen Service für Mitglieder der Universität – vermittelt durch die E-Mail-Adresse. Dadurch wird ein bereits verwalteter Bereich gewissermaßen zur StarterkulturFootnote 3 dieser Plattform.

Genau genommen sehen wir hier eine Folgepraktik der einer weniger erforschten Tradition. Judith Donath berichtet, Usenet-Nutzer:innen der 1980er sei etwa dann mehr Autorität zugeschrieben worden, wenn sie mit der.edu-Adresse einer Universität posteten statt mit einem Pseudonym (Donath 1999). Neben den oben beschriebenen Pseudonymitätstraditionen des Netzes gibt es im Kontext der Universität also auch eine Onymitätstradition, die vor allem durch die.edu-Adressen stabil gehalten wird. An diese Praktiken schließt Facebook an.

Die Regeln der Namensgebung ändern sich nach der Umbenennung von TheFacebook in Facebook im Jahr 2005. Auf der help-Seite taucht die Frage auf, ob es »any restrictions on Facebook names« gebe. Die Antwort: »Facebook requires you to enter your first name and at least one letter of your last name. […] we will not process requests for fake or celebrity names. Dude, everyone knows that you aren’t Paris Hilton« (Facebook 2005). Dieses Update lässt darauf schließen, dass zu dem Zeitpunkt bereits Namensgebungspraktiken etabliert waren, die versuchten als Fakes den Eindruck zu erwecken, es handele sich um Prominente. Allerdings machten ihre Schreibweisen offenbar bereits unfreiwillig sichtbar, dass es sich doch nur um einen anderen »dude« handelt. Für Facebook werden diese Namensgebungspraktiken offenbar so problematisch, dass sie sie – unter anderem mit oben zitiertem Satz – einzuhegen versuchen. Dieses Update versucht also mit den disruptiven Praktiken der »dudes« umzugehen.

Das Formular ist zu diesem Zeitpunkt noch dasselbe. Im Jahr 2006 ändert sich dies; es verlangt nun einen »Full Name« (Facebook 2006). Gleichzeitig wird das gesamte Formular inklusiver. Wo vorher nur zwischen den Statusgruppen der Universität Harvard differenziert wurde, steht nun ein zweistufiges Formular, bei dem im ersten Schritt eine Unterscheidung zwischen »in college/graduate school, at a company, in high school, none of the above« unterschieden wird. Klickt man auf »in college/graduate school«, wird die E-Mail-Adresse der Hochschule abgefragt, bei »at a company« die der Firma und so weiter. Bei »none of the above« wird keine spezielle E-Mail-Adresse abgefragt.

So sehr das Formular inklusiver wird, verlangt es doch gleichzeitig für bestimmte identitäre Zuordnungen Belege für deren Richtigkeit. Jeder darf schreiben, aber wer als Mitglied einer bestimmten Uni oder Firma schreibt, muss beweisen, dass er oder sie dort eine Adresse hat. Die Onymitätspraktiken der Harvard University werden also gleichsam hochskaliert, mit anderen Universitäten, anderen Organisationen. Dies hat die Folge, dass eine sehr viel schwieriger in solche Praktiken eingliederbare Kategorie der Sonstigen geschaffen wird.

So sehr dem Argument beizupflichten ist, dass Facebook seine real name policy aus ökonomischen Erwägungen verfolgt, so eindeutig scheint doch auch, dass sich diese Möglichkeit erst dadurch ergab, dass die Plattform die.edu-Namensgebungspraktiken der Harvard University – und anderer Universitäten – aufnehmen und weiterentwickeln konnte. Es handelte sich insofern zunächst nicht um einen Bruch mit Pseudonymitätspraktiken an anderen Orten des Internets, sondern um Folgepraktiken einer organisationalen Namensgebungskultur, die nicht weniger etabliert war als die der Pseudonyme – aber die eben lokal auf die Campus der Hochschulen und Unternehmen begrenzt und insofern weniger populär war. Facebooks Leistung war es deshalb nicht, Onymitätspraktiken im Internet etabliert, sondern sie popularisiert zu haben.

Die Regulierung der Ausnahme

Diese Skalierung verlangte Regulierungen jenseits des Formulars. Ab 2007 lassen sich die ersten solcher Versuche nachvollziehen, als Facebook beginnt, Accounts zu deaktivieren, die Pseudonyme nutzen (Schonfeld 2007; Popa 2007). Außerdem verkündet das Unternehmen bestimmte, häufig als Fake verwendete Namen zu sperren. Diese automatisierte Regulation von Namensgebungspraktiken setzte beim Formular an, aber in seinem nicht-sichtbaren back-end. Dies sorgte für eine Kontroverse, da manche Personen sich nicht mit ihrem bürgerlichen Namen registrieren konnten (Parker 2007). Nach diesen Beschwerden schuf Facebook die Möglichkeit, sich bei einer gesonderten E-Mail-Adresse zu melden und u. A. vollen Namen und Geburtstag anzugeben, offizielle Dokumente wurden aber nicht verlangt (Facebook 2007).

Außerdem führte Facebook gegen Ende des Jahres 2007 eine neue Form von Profil ein, die nicht mehr auf natürliche Personen, sondern auf Organisationen zugeschnitten waren, aber auch für »celebrities«: Pages (Pearlman 2007). Die populären Personen bilden die identitäre Ausnahme für Facebooks real name policy. Dies erscheint schlüssig, weil es sowohl unmöglich wäre, als auch den Popularitätslogiken öffentlicher Kommunikation widerspräche, Prominente und ihre Namen mit den Praktiken von Uni-Studierenden und Firmen-Mitgliedern zu benennen. Die alten Namensgebungs-Praktiken gelangen hier an ihre Grenzen und Facebook entfernt sich ein weiteres Mal von seiner Starterkultur, indem es Konzessionen an etablierte Praktiken der Prominenz macht – allerdings nur für den Ausnahmefall der Prominenz selbst.Footnote 4

Der Name im Dienst des Mediums

Ende des Jahres 2007 wurde zum ersten Mal der Konnex zwischen Facebooks Geschäftsaktivitäten und den Identifizierungspraktiken öffentlich sichtbar. Facebook hatte Beacon eingeführt, ein kontrovers diskutiertes Feature, durch das Aktivitäten wie der Kauf eines Produktes auf einer Partner-Website Facebooks auf der Plattform selbst angezeigt wurde (Facebook 2007). Dadurch zwang Facebook User:innen gleichsam dazu, mit ihrem Namen für Produkte zu stehen, die sie gekauft hatten. Beacon wurde zwar 2009 aus persönlichkeitsrechtlichen Gründen gelöscht, galt fortan aber als Schlüsselerfahrung dafür, wie die User:innen, ihre Namen und Daten für das business model der Plattform ausgebeutet wurden.

Im Jahr 2008 wurde Facebook Connect eingeführt (heute Facebook Login), wodurch sich User:innen auf anderen Websites mit ihrem Facebook-Account einloggen und so »their Facebook identity, friends and privacy« mit jeder anderen Website verknüpfen können (Shepard 2008; Morin 2008). Die Facebook-Identität weitet sich so auf Bereiche außerhalb der Plattform selbst aus.

Unter den meistgenutzten Features war dabei die Möglichkeit, sich per Facebookaccount in Kommentarfunktionen externer Websites einzuloggen und dort etwa Nachrichtenartikel zu kommentieren – inklusive Profilbild. Diese Kommentare wurden selbst wiederum auf Facebook angezeigt. Wer also etwa im Kommentarbereich einer Zeitung aktiv war, lenkte so auch die Beachtung der eigenen Facebook-Kontakte auf diese Zeitung und stellte, wie man frei nach Genette formulieren könnte »seine Identität in den Dienst des Buches« (Genette 2001, 43) – oder in dem Fall: in den Dienst der Website, auf der man kommentiert.

Semantische Konstanz

Im Mai 2009 verschärfte Facebook seine AGB und erklärte zum ersten Mal explizit, User:innen müssten »their real names and information« angeben (Facebook 2009). Kurz danach kommt aber auch eine Ausnahme: Facebook launchte Usernames, wodurch frei wählbare Namen in die URL der Profilseiten aufgenommen wurden (DiPersia 2009). Diese Adressen wurden so von einem Identifikator (z. B. facebook.com/profile.php?id=123456789) zu einem Namen (z. B. facebook.com/johndoe), der nicht derselbe sein muss, wie der im Profil angezeigte real name.

Entscheidend ist hier aber, wie die Regulierung der Namensgebungspraktiken semantisch vollzogen wird: Die neue Nutzernamen-URL rahmte Facebook als »your personal destination, or home, on the Web« (DiPersia 2009). Es wird also eine semantische Konstanz zu älteren Praktiken der Home-Page hergestellt; wieder wird eine neue Medien-Praktik zur Folgepraktik einer älteren gemacht. Ähnlich aufschlussreich ist insofern auch der folgende Sprechakt aus der Erklärung dieses Launches: »From the beginning of Facebook, people have used their real names to share and connect with the people they know. This authenticity helps to create a trusted environment because you know the identity of the people and things on Facebook« (DiPersia 2009).

Hier findet sich ein Bottom-Up-Narrativ, das an anderer Stelle bereits für folgenreiche Updates wie das des Retweet-Buttons auf Twitter beschrieben wurde: Die Plattform selbst behauptet, bloß unabhängig von ihr etablierte Nutzungspraktiken zur formalisieren, gleichsam als neutrales Medium für bestehende Praxis (Paßmann 2019), statt als die Transformation, die Formalisierung immer bedeutet. Die Unterscheidung zwischen Plattform und ihrer Technologie auf der einen Seite und den User:innen mit ihren Praktiken auf der anderen folgt so selbst einem Narrativ zum Nutzen der Firma, das die Ausübung ihrer eigenen Macht unsichtbar macht, aber eben auch die Medienpraxisgeschichten, auf die die Using-Praktiken aufbauen, und mitunter auch damit verbundene Urheberrechte (Paßmann 2019). Die Historiografie von boyd (2012) und Hogan (2012) reproduziert insofern Facebooks eigenes Narrativ, dass sich unabhängig von ihrer Plattformpolitik eigene Nutzungspraktiken etabliert hätten.

Diskursgeschichte

Eine Geschichte des Facebook-Usernamens ist auch eine des öffentlichen Diskurses über die Namensgebungspraktiken und -policies. Denn dies sind Fälle, in denen die Strukturen der Social-Media-Praktiken aus der Latenz geraten können und untersuchbar werden (Paßmann/Schubert 2021). Facebook muss die Regeln seines Tuns benennen oder ausagieren, und die User:innen müssen benennen, was die Probleme von Facebooks Namenspolitik für ihre Praktiken sind.

Suchen in gängigen Datenbanken wie LexisNexis, aber insbesondere im Archiv des Technologiemagazins TechCrunch gaben uns hierzu die Ausgangspunkte. Neben der Einführung von Google+ im Juni 2011, die u. a. in Bezug auf boyds (2012) Diskussion oben bereits thematisiert wurde, haben sich drei Konflikte als die prominentesten herausgestellt.

Die Ausnahme des Populären

Am 12. November wird der Facebook-Account des Schriftstellers Salman Rushdie deaktiviert und unter dem Namen »Ahmed Rushdie« am 14. November reaktiviert (Beuth 2011). Auf Twitter zeigt sich Rushdie empört über die Entscheidung Facebooks, seinen Erstnamen Ahmed anzugeben, den weder seine Familie noch er selbst nutzten: »They have reactivated my FB page as ›Ahmed Rushdie,‹ in spite of the world knowing me as Salman. Morons« (Rushdie 2011). Dabei wendet er sich in mehreren Mentions an Mark Zuckerberg und verlangt, seinen vorherigen Namen zurückzuerhalten. Gemeinsam mit einigen seiner Follower erstellt er eine Liste von Prominenten, die wie er ebenfalls ihre Zwischennamen als Rufnamen nutzen. Noch am selben Tag teilt er mit, eine Entschuldigung von Facebook erhalten zu haben. Sein Name sei zurückgeändert worden und er müsse sich nun nicht mit einer Identitätskrise auseinandersetzen.

Dieser Konflikt hängt mit einer Änderung im Privacy-Policy-Dokument zusammen. Am 7. September 2011 wird dieser Text aktualisiert, unter anderem mit einer Formulierung, die erklärt, welche Daten Facebook über seine User:innen veröffentlicht: »The types of information listed below are always publicly available, and are treated just like information you decided to make public […]. Name: This helps your friends and family find you. If you are uncomfortable sharing your real name, you can always deactivate or delete your account« (Facebook 2011). Erstaunlich ist hier nicht so sehr, dass Freunde und Familie herhalten müssen, um die real name policy zu rechtfertigen, sondern die Brutalität, mit der versucht wird, sie durchzusetzen: Take it or leave it! Man kann hier fragen, ob Facebook heute immer noch so kommunizieren oder stattdessen eher eine enorm umständliche Alternative anbieten würde (mit dem Ergebnis, dass man ihren einfachen ›Vorschlag‹ akzeptiert). Ob sich hier ein Wandel der Machtkommunikation beobachten lässt, wäre eine eigene Untersuchung wert.

Der Effekt dieser Regel ist jedenfalls, dass einer der bekanntesten Autoren der Welt plötzlich unter einem Namen erscheint, den er ablehnt. Dass Plattformen wie Facebook ziemlich genau das produzieren, was im Sinne Genettes verlegerischer Peritext ist, wurde so bereits vor zehn Jahren sichtbar. Facebooks Lösung dieses Problems ist allerdings nicht, diesen automatisierten Paratext abzuschaffen, sondern Ausnahmen zu schaffen – für populäre Autoren wie Rushdie.

Dadurch erzeugt die Plattform zwei verschiedene Welten der Namensgebungspraktiken: Die der nicht-populären Personen, die einen automatisierten Peritext erhalten, und die der populären Personen, in deren verlegerische Peritexte eingegriffen werden kann. Facebook kann seine Namensgebungspraktiken aus der universitären Tradition nicht durchhalten, sobald es die Universität und andere organisationale Zusammenhänge verlässt und ins Populäre wechselt. Dort muss akzeptiert werden, dass Namensgebung zu den konstitutiven Verfahren der Erzeugung von Bedeutung zählt, denen sich die Plattform beugen muss. Zu dieser Logik passt die Einführung von Pages im November 2007 (Pearlman 2007), womit Facebook teilweise Twitters a-reziprokes Follower-Prinzip übernimmt: Man kann einer Page als »Fan« folgen, ohne mit dem Account per reziproker Bestätigung befreundet zu sein.

Im Februar 2012 werden die Richtlinien der real name policy schließlich zum ersten Mal gelockert – und zwar nur für einige ausgewählte Prominente. Diese Personen konnten ihre Accounts »verifizieren« und ein Pseudonym bestimmen. Nach einer Überprüfung durch Facebook konnte das Pseudonym dann in Klammern neben dem Onym oder sogar als einziger Name angezeigt werden – der ›echte Name‹ bleibt allerdings im »About You«-Tab einsehbar. Ein sichtbares Verifizierungssymbol führt Facebook mit dem blauen Haken im Mai 2013 ein (Etherington 2013) – womit die Plattform ein weiteres Mal einer Innovation Twitters folgt, das diesen blauen Haken im Juni 2009 eingeführt hat. Diese »Verifizierung« des Namens populärer Personen führt gleich zu zwei selbstverstärkenden Effekten. Nicht nur erscheinen diese Namen durch den blauen Haken als besonders, zudem präferieren Facebooks Empfehlungsalgorithmen verifizierte Accounts (Constine 2012). Aus Popularität folgt damit höhere Popularität.

Automatisierte Beachtungssimulation

Neben dieser Unterscheidung der populären und nicht-populären Personen wird im Juli 2012 eine zweite praxisleitende Unterscheidung für die Namensgebungspraktiken auf Facebook aktuell: die zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren. So vermeldete Facebooks Chief Financial Officer (CFO) David Ebersman: »Facebook is actively working on making sure that its social network is populated only by real people – not bots« (Taylor 2012). Der Onlineshop-Anbieter Limited Run hatte kurz vorher verkündet, nicht mehr auf Facebook zu werben. Die Firma erklärte, sie habe festgestellt, dass rund 80 % der von Facebook abgerechneten Klicks von Bots stammten (Taylor 2012). Ebersman erklärt deshalb, etwa 9 % aller Profile auf Facebook seien Fake-Profile, und Facebook habe seine Methodik verbessert, sie zu entdecken. Diese Profile stammten primär aus »emerging markets« wie der Türkei oder Indonesien. »Since authentic identity is so important to the Facebook experience, we’ll continue to try and improve our user measurement techniques with the goal of ensuring that every account on Facebook represents an authentic unique individual« (Taylor 2012; Facebook 2012).

Während die Facebook-Namenspolitik ›Authentizität‹ zu erreichen versucht, indem sie einzelne Menschen mit einzelnen Accounts verknüpft, sind für die Nutzungspraktiken mitunter gerade gegenläufige Tendenzen beobachtet worden. Elisabetta Costa zeigt in ihren ethnografischen Arbeiten zur Facebook-Nutzung in der Türkei etwas anderes, als die Kundenberuhigungsrhetorik des Facebook-CFOs suggeriert. Dort verwenden türkische Nutzer:innen gerade deshalb unterschiedliche Pseudonyme, und teils mehrere, um einen »context collapse« zu vermeiden, also die Widersprüche unterschiedlicher Personalitätskonstrukte im familiären oder intimen Kontext. Mit anderen Worten gestatten es gerade die multiplen Accounts den User:innen, in unterschiedlichen Kreisen ›authentisch‹ zu sein, indem sie mit je eigenen Pseudonymen oder Onymen operieren (Costa 2016; Costa 2018).

Facebook jedenfalls schränkt diese Möglichkeit weiter ein, indem Accounts ausgeschlossen werden, die nicht ihrem Begriff authentischer Identität entsprechen – oder dem der Werbewirtschaft, die für die Kundschaftskontakte zahlt. Mit der Namenskultur der Universitäten hat dies kaum noch zu tun. Die größte Bedrohung und somit Anlass für Facebook, eine bestimmte Politik zu verschärfen und mittels Maßnahmen durchzusetzen, sind Beobachtungen wie die von Limited Run, dass die Werbewirtschaft für simulierte Aufmerksamkeit von Nicht-Menschen bezahlt – ein Eindruck, den Facebook um jeden Preis vermeiden muss. Beachtung muss ›echte‹ Beachtung sein, also die solcher Personen, die zahlen oder wählen können (Hecken 2006, 85). Für Facebooks Geschäftsmodell ist dies das zentrale Versprechen, dass »echte Menschen« erreicht werden (Facebook 2017). Dass Facebook solche Echtheitsbegriffe mit einer Rhetorik der Authentizität familiärer und freundschaftlicher Interaktion überzieht, spiegelt gerade die Einseitigkeit solcher Vorstellung – oder eben, dass es Facebook gerade nicht um Authentizität geht, sondern um korrekte Abrechnung von Werbekontakten.

Queerying Facebook

Etwa eineinhalb Jahre später wird die Klarnamenpflicht erneut zum Thema. Im September 2014 werden zahlreiche Konten von Drag Queens und Transpersonen deaktiviert. Betroffene und deren Sympathisant:innen äußern sich dazu unter dem Hashtag #mynameis, darunter auch Sister Roma, langjähriges Mitglied der Sisters of Perpetual Indulgence, einer Gruppe, die sich für queere Personen einsetzt. Facebook, so der Vorwurf, arbeite mit einem fragwürdigen Verfahren, bei dem erstens Accounts von Personen überprüft würden, »who police the site all over the world«, die also mit anderen Worten die spezifische Kultur, über deren Namensgebungspraktiken sie urteilten, nicht notwendig einschätzen könnten. Zweitens geschehe dies stets, nachdem die Accouns geflaggt würden, also nachdem andere User:innen diese Accounts als »fake« meldeten. Dadurch gerieten gerade Transpersonen zu Opfern transphober Aktionen Einzelner (Sister Roma 2014, Mikkelson 2014).

In Berichten über den Konflikt zwischen der LGBTQ+-Community und Facebook findet man ebenfalls immer wieder den Verweis auf einen einzelnen User, der diese Profile gemeldet und dies dann auf einer anonymen Beichtseite gestanden haben soll (Buhr 2014b, Cox 2014). Facebook selbst soll aber kommentiert haben, dass ein Algorithmus die Accounts der Drag Queens detektiert und nach ihrem richtigen Namen gefragt habe (Buhr 2014a).

Es folgte ein Treffen von Drag Queens aus San Francisco mit Facebook-Vertreter:innen, das keine Einigung brachte. Facebook habe sich geweigert, die Policy anzupassen, woraufhin die Gruppe eine Petition auf Change.org startete, die auf die Behandlung der Pseudoyme von Drag Queens aufmerksam machen sollte. Sister Roma bekräftigt: »There’s a difference between anonymous profiles and those with a different name. We have an identity […]. We have to stand by our names« (Buhr 2014b).

Im Vergleich zu den populären »different names« von Salman Rushdie und anderen wird hier die Spezifik des Falls der Drag Queens deutlich: Ihr Identitätsbegriff ist eng mit einem Pseudonym verknüpft, ohne dass dieses Pseudonym populär ist. Dass Popstars nicht mit ihren ›bürgerlichen Namen‹ auf Facebook erscheinen müssen, ist in dieser Gegenwartskultur der 2010er Jahre unmittelbar einleuchtend. Dass dies auch für nicht-populäre Drag-Queens gilt, bleibt in dieser Zeit noch fraglich. Geschlechtliche Identität und Popularität greifen hier ineinander: Die Pseudonyme der Betroffenen hängen mit ihrer geschlechtlichen Identität zusammen, der Präzedenzfall der von Facebook gestatteten Pseudonymität ist allerdings das populäre Pseudonym. Die populäre Kultur des Pseudonyms öffnet somit die Chance, eine Anerkennung geschlechtlicher Identität zu erkämpfen.

Am 1. Oktober 2014 entschuldigt sich Chris Cox, Facebooks Chief Product Officer (CPO), offiziell bei den Betroffenen und folgt dabei auch der Erzählung, eine einzelne Person habe alle diese Profile gemeldet: »Our policy has never been to require everyone on Facebook to use their legal name. The spirit of our policy is that everyone on Facebook uses the authentic name they use in real life« (Cox 2014). Facebooks Policy stehe demnach in keinem Konflikt zur Verwendung von Drag- und anderen Namen.

Fazit

Facebook gelingt es, trotz einer dominanten Pseudonymitätskultur eine Onymitätskultur zu etablieren, weil es auf bestehenden Praktiken der Onymität online an Universitäten und in anderen Organisationen aufbauen kann. Sobald Facebook populärer wird, geraten diese Praktiken an ihre Grenzen: Die Hochskalierung verlangt pragmatische Anpassungen an die Namenskulturen des Populären. Dabei wird zunächst eine Ausnahme für Prominente gemacht. Mit dem Einsatz der Drag Queens und Transpersonen wird sie dann zu einer Regel, die prinzipiell auch Nicht-Prominenten ein Recht auf Pseudonymität ermöglicht. Aufgelöst wird diese Differenz zwischen den Namen der Populären und dem Rest allerdings nicht, in gewisser Hinsicht wird sie eher noch verschärft: durch digitale Paratexte wie den blauen Haken oder durch die Followerzahl-Unterschiede der Fanpages, durch die aus Popularität weiterhin neue Popularität folgt.

Die von uns im Falle Facebooks untersuchte Medienpraktik betrifft noch weitere, wenn nicht alle Plattformen: Die Kopplung zwischen Account-Namen, Text und Popularitäts-Paratexten. Alle diese drei Parameter sind in jedem Text der Plattformen fest miteinander verkoppelt. Auf diese Weise sind sie bedeutungskonstitutiv. Über diese Kopplung entscheidet vor allem die Plattform selbst. In gewisser Hinsicht könnte man insofern konstatieren, dass das, was bei Genette verlegerischer Peritext heißt, durch die Plattformen wichtiger wird als Ende der 1980er, als Genette sein »Buch vom Beiwerk des Buchs« veröffentlichte. In jedem Fall aber knüpfen sie an diese älteren Praktiken des Paratextes an und transformieren sie grundlegend – dies nicht nur, indem der verlegerische Peritext zentral wird, sondern auch, indem die Frage der Namensgebung und die Differenzierung zwischen Onymen und Pseudonymen selbst zur populären Praktik wird, an der jede:r User:in mehr oder weniger teilnimmt und sie als Sinnressource nutzt.

Das Formular ist dabei einer von mehreren zentralen Akteuren. Allerdings sind ihm mal all die elitären Auswahlprozeduren der Harvard University vorgeschaltet, mal werden die Namen erst geändert, nachdem das Formular längst anders ausgefüllt wurde, wie etwa im Fall des Autors Salman Rushdie und mal ist es nur Front-End einer Operation mit Negativ-Listen im Back-End. So sehr das Formular also einerseits obligatorischer Passagepunkt für die Festschreibung semantischer Zukünfte ist, so sehr übt es seine Handlungsträgerschaft nie bloß als das Formular aus, sondern stets im Verbund mit Akteuren, die vor, nach oder hinter ihm liegen.

Gerade das macht es zu einem hilfreichen point of departure für medienhistorische Forschung, die Updates im Front-End von Webtechnologien zum Ausgangspunkt nimmt, um Praktiken dies- und jenseits dieses Front-Ends zu rekonstruieren. In dem vorliegenden Aufsatz konnten wir dies nur für Online-Archive wie die Wayback Machine des Internet Archive oder das Platform Governance Archive des HIIG nachvollziehen. Zukünftige Forschung kann und muss hier weitergehen und mehr über die hier nur oberflächlich rekonstruierten Praktiken in Erfahrung bringen – etwa durch Interviews mit den Akteur:innen. Digitale Formulare und ihre Updates regulieren so nicht nur Zugänge der Personen, die sie ausfüllen müssen, sie bieten auch Zugänge für empirische Medienforschung, weil sie eine Spur zu all den Praktiken sein können, deren Ergebnis und Bedingung sie sind.