Formulare der Lyrik

Lyrische Texte – oder zumindest solche, die als poetry markiert werden – sind auf Instagram ebenso zahlreich wie populär. Allein unter dem Hashtag #instapoetry finden sich, Stand November 2021, über 4,9 Mio. Beiträge versammelt, die ganz verschiedene Textformen umfassen. Auffällig ist die Kürze vieler ›poems‹, die Anklänge an Sentenzen und Kalendersprüche haben. Kritik bleibt dabei nicht aus, wie die oben zitierte Feststellung der Journalistin Jessica Robinson anzeigt. Bei Millionen von kurzen Texten ist es wenig verwunderlich, dass sich einige zum Verwechseln ähneln; und dass sich bestimmte Formen und Themen, Schrifttypen und Textarrangements bewähren und imitiert werden, weil sie für alle offen sichtbare Zustimmung durch Likes, Shares und Kommentare finden. In der wiederholten Nachahmung werden stereotype Formen formalisiert und letztlich uniformiert. Darauf zielt Robinsons Formulierung »like a formula« ab, bedienen doch die Beiträge durch variationsarme Textformen und ihre Gestaltung einen Schematismus »wie ein Formular«, das immer und immer wieder ähnlich ausgefüllt wird. Gewiss ist dies eine metaphorische Verwendung des Formular-Begriffs. Sie dient zur Beschreibung von Imitation und Wiederholung in routinisierten Abläufen. Ob jemand dieses Formular willentlich aufgesetzt hat, bleibt in der Behauptung dunkel.

Zieht man jedoch die medialen Bedingungen hinzu, die von der Plattform Instagram vorgegeben sind, dann bedarf es des metaphorischen Formular-Begriffs gar nicht. Denn alle dieser Instapoetry-Beiträge bedienen sich eines Formulars bzw. sogar zweier Blanko˗Formularfelder, die die Plattform immer bereitstellt: Ein Bild- und ein dazugehöriges Textfeld. Beide Felder sind vakant und machen es möglich, nahezu beliebige Inhalte zu posten. Sie bestätigen, dass Formulare »universal einsetzbar« (Vismann 2011, 161) sind. Wer die App installiert, kann unbegrenzt oft von ihnen Gebrauch machen. Die zu füllenden Felder sind indessen streng normiert; die leere Bildfläche bietet Raum für 1080 × 1080 Pixel, während die leere Schreibfläche für maximal 2200 Zeichen zugelassen ist – mit der Einschränkung, dass sich darunter maximal 30 mit Hashtags (#) versehene Begriffe befinden dürfen. Beide Felder fungieren als Lücken, die »nach dem Muster slot and filler« (Weingarten 1994, 160) mit Inhalt gefüllt werden können, wobei nur das Bildfeld ein Pflichtfeld ist. Für dieses können ausschließlich Bild-Dateien verwendet werden, sodass jeder darüber veröffentlichte Text notwendigerweise einen Medienwechsel durchläuft.Footnote 1

Die Formulare stellen auf der Benutzeroberfläche eine egalitäre Form aus. Alle User:innen haben die gleichen Publikationsbedingungen, die gleichen leeren Flächen als Möglichkeitsraum, der gefüllt werden kann. Doch die unsichtbaren Algorithmen im Hintergrund entscheiden, wessen Beiträge, in Abhängigkeit von der Aktualität der Postings wie der Popularität der Beiträger:innen, aber auch der Präferenz der jeweiligen Rezipient:innen, wo und in welcher Rangfolge zur Darstellung kommen. Diese automatisierten Priorisierungsprozesse unterlaufen die Egalität der Eingabeformulare. Um im Kampf um Aufmerksamkeit zu punkten und um die Wahrscheinlichkeit bei vielen Nutzer:innen, zur Darstellung zu kommen, zu erhöhen, empfiehlt es sich, die gängigen Nutzungspraktiken zu befolgen. Eine derartige Nutzung übt die Evidenz des Formulars ein. Und um als Formular reibungslosen Verkehr gewährleisten zu können, muss es Evidenz besitzen, sowohl für den denjenigen, der es ausfüllt, als auch für den ›Sachbearbeiter‹, der die Angaben weiterverwendet – einen immergleichen Betriebsablauf der klaren Angaben und institutionell routinisierten Kommunikations- oder Arbeitsschritte.

Was die Inhalte betrifft, herrscht – im Rahmen der Maßgaben von Gesetz und Grundsätzen der Plattform – Wahlfreiheit und damit Kontingenz. Das Formular der Instapoetry ist dasselbe wie das der Foodblogger:innen, der Hundetrainer:innen, Fitnessgurus oder Mode˗Influencer:innen. Erst die spezifische Füllung macht aus dem vakanten Formular-Feld ein Medium der Literatur. Formulare sind ihrer Bestimmung nach immer »beschränkend, diskriminierend, bevormundend« (Schwesinger 2007, 43),denn sie steuern bereits qua Einrichtung, welche Optionen zugelassen und welche ausgeschlossen sind. Sie stellen Schreibfläche zur Individualabrede zur Verfügung, reglementieren aber zugleich deren Nutzung.Footnote 2 Und sie fungieren als eine Doppelfigur, sie sind nämlich »nicht nur das Format eines virtuellen, sondern auch eines realisierten Schemas, eines Lückentexts« (Vismann 2011, 160), sie konkretisieren abstrakte Vorgänge in eine definite Form.

›Formular‹ hängt mit ›Form‹ etymologisch eng zusammen, sie leiten sich beide von lateinisch forma ab. Sie stellen in einer konkreten Realisation jeweils eine Option, eine bestimmte Gestaltung fest – und schließen im Gegenzug alle anderen aus. Konventionalisierte lyrische Formen sind damit ebenso wie verwaltungstechnische Formulare Schnittstellen der Kontingenz – jeder literarische Text könnte ebenso wie jeder Verwaltungsvorgang auch anders gestaltet sein, aber nicht beliebig, sondern stets im Rahmen formaler Restriktionen. Im Moment der Entscheidung für eine bestimmte Form werden jedoch alle anderen Optionen verworfen.Footnote 3 Unterschiede zwischen diesen Festlegungen bestehen freilich in der institutionellen Autorität und der Verbindlichkeit, mit der administrative Vorgänge verbunden sind. Während im Verwaltungsvorgang Formulare mit ausschließlicher Geltung verwendet werden müssen, ist die Wahl literarischer Gattungen und ihrer Formen nicht mehr derart streng reguliert. Seit der Emanzipation von der Rhetorik im Zeichen der Genie-Ästhetik in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sind Form- und Stil-Vorgaben sukzessive gelockert worden. Gleichwohl bestehen die strengen Formen als Optionen literarischer Produktion weiter fort. Jeder literarische Text besitzt eine Form; doch (auch graphisch) distinktive Gestaltungen von Sprache sind besonders für die Lyrik konstitutiv – sie entsteht erst aus der Setzung von Zeilenumbrüchen, die Sprache segmentieren und Aufmerksamkeit generieren, um Blick- und Leserichtungen zu lenken.

Literarische Formen sind zunächst virtuell; sie sind abhängig von einer bestimmten Vorstellung, wie Text überhaupt organisiert und eingerichtet werden soll. Der Produktionsprozess muss mit einem Vorsatzcharakter einhergehen, um letztlich die bestimmte literarische Form einzunehmen. Es bedarf der virtuellen Vorstellung, einer Form entsprechen zu wollen – mit der freien Wahl wird die Entscheidung für oder gegen eine bestimmte Form getroffen. Ein Sonett schreibt nur, wer dies auch beabsichtigt.

Form ist für Produktion wie Rezeption gleichermaßen konstitutiv. Bekannte Formen erleichtern die Kommunikation, weil sie Ordnung schaffen und dadurch Anschlüsse ermöglichen. Auch Ordnung kann, so Cornelia Vismann, den Charakter eines Formulars annehmen, wenn diese Arbeitsschritte derart »programmiert« werden, dass algorithmische Routinen entstehen (vgl. Vismann 2011, 161). Sie erhöhen die Wahrscheinlichkeit, verstanden zu werden. Die konventionalisierte Form gibt sich bereits im Voraus zu erkennen. Literarische Formen tun dies, etwa durch paratextuelle Beschriftungen und metatextuelle Beziehungen auf Gattung und/oder Genre, ebenfalls. Imitation und Wiederholung interner Funktionen der Kunst, also auch der Lyrik, bilden auf diese Weise Traditionen aus (vgl. Schmücker 2001, 21), deren Bezüge kommunikative Anschlussstellen markieren. Standardisierung und Serialität erhöhen die Berechenbarkeit, die computability von Texten. Zum einen lassen sie die Annahme zu, dass weiterhin neue formähnliche Texte erscheinen werden, andererseits dass sich diese immer wieder fast bis zur Ununterscheidbarkeit ähneln werden.Footnote 4 Imitation und Wiederholung provozieren aber auch Kritik an Formen, die in der beständigen Bestätigung eines Schemas den Anschein der ständigen Wiederholung des Äußerst-Ähnlichen betreiben und damit in der Konvention zu erstarren scheinen.

Form-Kritik

Solche Einwände sind nicht erst im Zusammenhang mit der Instapoetry geübt worden. Eine der entschiedensten Ablehnungen formal allzu konventionalisierter Dichtung artikuliert Jens Baggesen (1764–1826) in seinem Karfunkel oder Klingklingel-Almanach (1809). Darin lässt er die Figur des ›Fabrikanten‹ Danwaller behaupten, im Besitz des magischen Karfunkels zu sein. Dem Stein der »Liederweisen«, einem »Arcanum der Sonette«, der ihm das »Geheimnis der einzig möglichen und einzig wirklichen ächtpoetischen Poesie« (Baggesen 1809, IV) offenbart habe. Danwallers Entdeckung ermöglicht ihm eine lyrische Massenproduktion, die es gestattet, »Sonette aller Art durch eine äußerst leichte Handbewegung mechanisch in der größten Schnelligkeit, ja sogar dutzendweise, in der nehmlichen Zeit, die ein gewöhnlicher Sonettenschreiber braucht, eins abzuschreiben, hervorzubringen« (Baggesen 1809, IV). Aber nicht als »eigenes Handwerk für sich getrieben«, sondern in einer »Fabrik angelegt, worin während sieben Abenden, jeden Abend zu drei Stunden gerechnet, 700, schreibe siebenhundert vollständige Sonette […] von sieben, meistens ganz ungeübten Händen verfertigt worden« (Baggesen 1809, IV-V). Durch seine formale Einfachheit erscheint das Sonett als »non plus ultra« der »mystische(n) Poesie« (Baggesen 1809, V) – dieser wird auf inhaltlicher Ebene der gleiche Vorwurf gemacht, die stetige Reproduktion des Nahezu-Gleichen zu betreiben. Die diesem Vorbericht folgende Sammlung romantischer (Unsinns-)Poesie wird angepriesen, »dein Lieblings-Taschenbuch« zu werden, »dein Calender zu Hause, dein Breviar in der Kirche, und den Ebel auf Schweizerreisen« (Baggesen 1809, VIII). Produktionsseitig intendiert, hofft der Herausgeber, dass sich der Erfolg einstellen werde, um rezeptionsseitig als Vademecum zu fungieren. Sein Almanach ist dazu angetan, als ›ubiquitäre‹ Literatur überall verbreitet zu werden.

Lyrik, so ließe sich im Hinblick auf Baggesens Exempel zuspitzen, ist dort, wo sie sich ohne genialischen Anspruch streng konventionalisierter Formen bedient, bereits qua dieser Form der Formular-Charakter inhärent. Die Exponate lassen sich mit beliebigen Inhalten füllen und in großer Zahl herstellen, weil allein die starre Form dominiert – diese gibt virtuell vor, was wie einzusetzen ist. Der Inhalt ist zweitrangig, wenn die Gesamtkomposition allein dem exakten Schema entspricht. Jedes Feld muss entsprechend der Vorgabe ausgefüllt werden. Wie genau, bleibt kontingent, solange die äußere Form bedient wird. Lyrische Gattungen wie das Sonett, aber auch Haiku oder Limerick geben nicht nur vor, in welcher konkreten Form der lyrische Text arrangiert werden muss, sie sind ohne ein bestimmtes virtuelles Formular überhaupt nicht als solche zu konstruieren. Sonett ist nur, was einem bestimmten Textarrangement – vierzehn Verse, die auf je zwei Quartette und Terzette entfallen (mit historischen Unterschieden im Metrum und hinsichtlich der KadenzenFootnote 5) – entspricht. Nicht von ungefähr fiel daher die Wahl Raymond Queneaus für seine Oulipo-Matrix Cent Mille Milliards de poèmes (1961; im Englischen One Hundred Thousand Billion Sonnets) auf die Form des Sonetts. Durch Variation der Verse aus zehn Ausgangssonetten ermöglicht es die von Queneau vorgeschlagene Methode, innerhalb der strengen Form 1014 Textvarianten zu erzeugen.Footnote 6

Sonett, Villanelle, Tanka, Haiku oder Limerick setzen damit Formulare voraus, die innerhalb der lyrischen Form durch Text-Beziehungen begründet werden. Sie basieren auf Vorbildern, also kanonischen Autor:innen, die diese Gattung in der einen, aber nicht der anderen Weise geprägt haben – sie wirken als Konventionen, die historisch diachron immer wieder bestätigt wurden und werden, als ›Übereinkunft‹ (conventio) in einer perennierenden Praxis, dass das eine Muster seine Gültigkeit behalten sollte. Ein innersystemischer Formzwang, der, wenn sie sich ihm aussetzen, die besondere Fähigkeit der Dichter:innen anzeigen soll, in diesen »Ketten« dennoch zu »tanzen« (Nietzsche 2019, 612).

Mit der Herausbildung einer modernen Literatur im Gefolge der Genie-Ästhetik wird dieser Formular-Charakter der Lyrik nicht vollständig abgeschafft, aber freigestellt und der individuellen Entscheidungsgewalt von Lyriker:innen überantwortet. Überschreitungen, Variationen, Vermischungen und Brüche legen nahe und bestätigen, dass jede Form auch anders sein könnte, wenn ihr Urheber, ihre Urheberin es gewollt hätte. Das Form-Formular verfügt dann über keine normativ-determinierende Funktion mehr, es stellt lediglich noch eine Option, eine Wahlmöglichkeit unter anderen dar.

Für die Instapoesie lässt sich dies sogar noch zuspitzen: Konventionelle Gedicht-Formen spielen überhaupt keine Rolle mehr. Auffallend selten wird eine erkennbare Auseinandersetzung mit Form als spezifisch literarischer Form gesucht.Footnote 7 Es geht daher weniger um Dichtung als einer autonomen, nicht-pragmatischen und selbstreferentiellen Sprachverwendungsweise als um die bestmögliche Nutzung der gewährten Bedingungen zugunsten spezifischer Inhalte, die popularisiert werden sollen. Nicht in Ketten zu tanzen, sondern eher in einem medial verfügten und durch Verfahrensroutinen weiter verengten Käfig dessen Entfaltungsmöglichkeiten auszuloten. Was lässt sich unter diesen medialen Bedingungen daraus machen? Möglich wäre fast alles, aber trotzdem wird nicht fast alles gemacht. Warum?

Instapoetry. Formulare am Fließband

Mit den Texten, die über Social Media-Plattformen distribuiert werden, findet eine neue Art der Formularisierung von Lyrik statt. Diese aber ist, so meine These, nicht primär ästhetisch und in der Formgebung selbst begründet, sondern wird prinzipiell bestimmt von den technischen Vorgaben und Affordanzen, also den spezifischen Nutzungsangeboten und ˗aufforderungen (vgl. Penke 2019) der Plattform, auf der sie veröffentlicht wird. Auf diese Weise entstehen seit 2010 in millionenfacher Ausführung Texte, die sich einer spezifischen Medialität verdanken. Ohne Instagram würde es diese Texte so nicht geben, ihre Anzahl, Veröffentlichungsfrequenz und Verbreitung wäre eine andere, ihre Rezeptionschancen, so ist zu vermuten, wahrscheinlich um ein Vielfaches geringer.

Dies legt auch der englischsprachige Wikipedia-Eintrag nahe. Der für das sehr populäre Phänomen überraschend karge Artikel in der (ebenfalls stark formularisierten) Online-Enzyklopädie beschreibt die Instapoetry als »a style of poetry that emerged as a result of social media. This type of poetry is written specifically for sharing, most commonly on Instagram, but also Twitter and Tumblr. The form usually consists of short direct lines in aesthetically pleasing fonts that are sometimes accompanied by an image or drawing.« (Art. Instapoetry 2020).Footnote 8

»[W]ritten specifically for sharing« weist darauf hin, dass Instagram-Beiträge auf shareability, also die Weiterverbreitung innerhalb der Plattform durch shares und reposts, ausgelegt sind. Eng damit zusammen hängt die spreadability, die über die Plattform hinausweist und Spuren in andere Netzwerke legt. Beide Logiken sind konstitutiv für das Funktionsmodell Instagram, das dem Grundsatz aller erfolgreichen Social Media-Plattformen verpflichtet ist, keinen eigenen Content zu generieren, sondern lediglich Möglichkeitsräume (in Form von Eingabe-Formularen wie Profilen, Postings usw.) für den Content der User:innen und dessen bestmögliche Verbreitung bereitzustellen. Erst das vakante Formular bietet einen immensen, scheinbar unbegrenzten Möglichkeitsraum. Und dieses Angebot soll möglichst oft und in möglichst hoher Frequenz genutzt werden, um möglichst schnell mit dem nächsten Content in derselben Weise zu verfahren und den traffic hochzuhalten, aus dem Instagram als Werbeplattform Kapital schlägt. Das Geschäftsmodell Instagram baut damit auf die Prämissen einer participatory culture, wie sie von Henry Jenkins und seinem Team beschrieben worden ist (vgl. Jenkins et al. 2009).

Diese wird über niedrigschwellige Zugangsmöglichkeiten bestimmt, um möglichst vielen die Beteiligung an der Kreation von und der Interaktion über Inhalte zu ermöglichen. Aus der gegenseitigen Wahrnehmung und Bewertung entstehen soziale Konnektivität und Selbstbilder der Nutzer:innen. Notwendigerweise glauben diese an die Bedeutung ihres Tuns, um beständig Beiträge zu einem Gesamtphänomen zu leisten, das ohne diese Beiträge schwinden würde. Diese ›Partizipativität‹ wird von Plattformen via Angebot ermöglicht und über – mediale wie metaphorische – Formulare in einem permanenten Prozess realisiert.

Für die Texte, die als Instapoetry in einer participatory culture reüssieren sollen, bedeutet dies eine äußerst starke Heteronomisierung. Durch das Medium und seine Affordanzen, durch das Publikum und seine Interaktionen, die affektiv befördert werden muss, wird jede Lyrik unter das Primat von Medium und Publikum gestellt. Sie soll gefallen, gesehen werden, emotional berühren, geliked und kommentiert werden. Qua Affekt soll sie wie das engagement bait Interaktion provozieren – Reaktionen von Leser:innen, die ein ›geht mir genauso‹-Gefühl artikulieren und durch Emojis in Herzchen-Form affektiv bestätigen. Es wird erkennbar auf den Eindruck abgezielt, dass das Poem ausdrücke, »›what we all feel‹«Footnote 9. Identitätsfragen, persönliche Erfahrungen und darauf gegründete Identifikationsangebote dienen als Köder zu einer Kommunikation, die um Gefallen und Erfahrungsgemeinschaften, die sich ihrer Erlebnisse, ihrer Stellungen und Rollen in der Welt versichern, kreist – nicht aber um Literatur. Das sprachliche Kunstwerk, seine Selbstreferentialität und Mehrdeutigkeit, wird den Effekten und Affordanzen geopfert. Die Texte werden aufgrund der Affordanzen der Plattform stärker durch ihre mediale und soziale als durch jede sprachästhetische Funktion qualifiziert. Obwohl im Feed der Instapoets an einer »unendliche[n]« Form des »Selfie-Publishings« gearbeitet wird, gilt für das Gros der Produzierenden: »Originalgenies müssen draußen bleiben« (Frohmann 2015).

Um derart formularisiert zirkulieren zu können, müssen die Texte einer passgenauen Größe entsprechen, quasi ›mundgerecht‹ sein, um leicht konsumiert werden zu können: »In its most basic form, Instapoetry usually consists of byte-sized verses that consider political and social subjects such as immigration, domestic violence, sexual assault, love, culture, feminism, gun violence, war, racism, LGBTQ and other social justice topics« (Art. Instapoetry 2020), heißt es weiterführend in der Wikipedia-Definition. Kleine Häppchen, aber mit durchaus schweren thematischen Gehalten.

Die über Hashtags rubrizierten Beiträge in Text-Formular˗Feldern sind Schnittstellen zwischen Nutzer:innen, aber auch zwischen distinkten Themenbereichen und Instanzen, die an einem bestimmten Diskurs partizipieren. Der Hashtag markiert Einzelbeiträge und kanalisiert ihre möglichen Auffindungskontexte, erhöht so die Findbarkeit und gruppiert diese in einem permanent aktualisierten Datenstrom. Wer Hashtags setzt, macht aus rein statistischen Gruppen, die nur die Rechner im Hintergrund durch ähnliche Nutzungsarten aggregieren, soziale Gruppen, die über ein gemeinsames Bezugsmoment interagieren (können) – und seien sie noch so prekär und kurzlebig. Der Hashtag stellt Sichtbarkeit her und markiert assoziierende Zurechnungspunkte.

Bemerkenswert dabei ist, dass die sozialen Funktionen – eben die Verwendung von Hashtags, das Folgen anderer Accounts, Kommentare und Reposts – bei den populärsten und erfolgreichsten Instapoets keine oder eine nur untergeordnete Rolle spielen. Rupi Kaur, R.M. Drake oder Atticus weichen von diesen Routinen ab, weil sie es sich leisten können (vgl. Penke 2019). Sie waren die Wegbereiter und Influencer, die, wie Rupi Kaur bereits über Tumblr und Lesebühnen Aufmerksamkeit generieren konnten, also nicht bei Null und einer bereits großen Konkurrenz begonnen haben, auf Instagram zu veröffentlichen. Sie alle gehorchen demselben medialen Präskript der Plattform, nicht aber den Verfahren spezifischer Funktionssysteme, in diesem Fall dem der Literatur. Ästhetische Beurteilungen sind gegenüber den identifikatorischen Potenzialen zweitrangig. Literatur ist selbst nur eines unter vielen anderen: anstelle jedes Instapoetry˗Beitrags könnte auch ein anderer Inhalt stehen, wie z. B. Selfies oder Produktwerbungen, die über dasselbe Formular gepostet werden.

Doch auch bei den prominentesten Instapoets zeigt sich, dass sie mit kürzeren Texten stärkere Beachtung und höhere Zustimmungswerte finden als mit deutlich längeren (vgl. Penke 2019, 473). »Shorter is better online« (Gamper/Ruth 2017, 18), lautet nicht nur eine Maxime der Online-Kommunikation, auch der Hirnforscher Ernst Pöppel hat in seinen Untersuchungen festgestellt, dass Informationseinheiten, die binnen eines Drei-Sekunden-Intervalls rezipierbar sind, große Vorteile gegenüber längeren Einheiten besitzen (vgl. Pöppel 2000). Die Schnelligkeit, mit der die Inhalte bei Instagram für gewöhnlich über das Display bewegt werden, kommt diesem Intervall sehr entgegen bzw. unterschreitet es sogar.

Trotz der vielfältig ausfüllbaren Leerstellen tendieren die Nutzungspraktiken zu einer Normierung, die nicht nur generell kleine Formen nahelegt, sondern diese wiederum auch zur Kürze anhält. Wurde die Kürze poetischer Kleinformen noch bei Kallimachos als Nachweis formaler Vollendung verstanden, sind es nun nicht mehr literaturästhetische Ideale, die zur Entscheidung für die kurze Form führen. Kürze gehorcht vielmehr den Affordanzen von Plattform und Publikum. Mit ihr kompetent umzugehen, stellt die entscheidende techné dar. Mit Peter Plener lässt sich hier konzedieren, dass das Formular die mechané und die Kulturtechniken des Umgangs die techné darstellen.Footnote 10

Im Sinne der Aufmerksamkeitsökonomie ließe es sich so formulieren, dass längere Texte kostspieliger sind. Nicht nur, weil mehr Zeit in ihre Produktion und das Arrangement investiert werden muss, sondern auch weil der Outcome (Likes und andere Reaktionen) geringer ausfällt. Historisch besteht damit eine Analogie zum Telegramm und dem auch literarisch fruchtbar gewordenen Telegrammstil. Nur orientiert sich der ›Preis‹ des Textumfangs nicht mehr an monetären Mehrkosten, sondern an einer geringeren Wahrscheinlichkeit, im Kampf um Aufmerksamkeit erfolgreich zu sein.

Instagram, ein Portmanteau von Instant Camera und Telegram, trägt die Unmittelbarkeit bildlicher Kommunikation und den Bezug zum historischen Medium bereits im Namen. Die literarischen Verfahren, die zur absoluten Kürze tendieren, folgen damit nicht nur dem »kommunikativen Imperativ« (Jäger 2014, 21) der Moderne schlechthin, sie wiederholen auch die Konstellation einer vom Medium provozierten Zeichenökonomie. Bernhard Siegert hat den Telegrammstil der Jahrhundertwende um 1900 als ein solches medial induziertes Stilprodukt beschrieben: »Die von den Standards der Weltpostformate und der Übertragungskapazität abhängige Zeichenökonomie heißt literaturgeschichtlich expressionistischer Stil und mediengeschichtlich: Telegrammstil.« (Siegert 1993, 199)Footnote 11 In Anlehnung an Siegert ließe sich von einem Instagrammstil sprechen, dessen Standards durch eine vom Format der Plattform und den Aufmerksamkeitskapazitäten der Nutzer:innen abhängige Zeichenökonomie qualifiziert werden. Die instagrammatische Kürze wäre damit das historische »Apriori der Zeichenökonomie« (Siegert 1993, 199) des Social Media-Zeitalters. Wie der Telegraph forciert auch Instagram die Tendenz zur Kürze: »The telegraph, it should be remembered, performs some good services for English style. The periodic sentence, the clean-cut sentence, the readily understood sentence are at a premium on the telegraph. It thus serves clearness and force rather than elegance.« (O’Brien 1904, 470) Der klar umrissene »clean-cut sentence« gewährleistet clearness, die an die Stelle der sprachlichen Eleganz tritt. Dies trifft auch auf viele der Instapoetry-Beiträge zu. Es geht um die reine Message, die emotiv lesbare Aussage zu einem Thema, nicht um die Arbeit an der literarischen Form.

Auf diese Bedingungen ist die Rhetorik (zu deren Stadien vgl. Ueding und Steinbrink 2011, 211–235) der Instapoetry programmiert, die sich analog zu den Stadien der klassischen Rhetorik beschreiben lässt: in der inventio findet die Orientierung an den vorherrschenden Themen, den Topoi, wie den u. a. in der Wikipedia-Definition genannten, statt. Diese werden in der dispositio dem Zweckzusammenhang, also den Affordanzen des Mediums und der angestrebten Publikumswirkung, angepasst. Im Stadium der elocutio wird nunmehr eingelöst, was Medium und Nutzerpraktiken eingeschliffen haben: das aptum (›Angemessenheit‹) ist damit bereits vorab determiniert, es unterliegt der Pflicht zur perspicuitas (›Durchschaubarkeit‹), also nach inhaltlicher und gedanklicher Transparenz der Äußerungen, dem Bemühen um Deutlichkeit, um in Sekunden rezipiert und verstanden werden zu können. Jeder sprachliche ornatus (Schmuck) ist dabei hinderlich, denn er erhöht die Zeichenzahl und die Wahrscheinlichkeit von Irritation. Wo Ornat gesucht wird, wandert dieser, jedoch nicht bei allen Instapoems, in den illustrativen Peritext – als Zeichnung, virtueller Hintergrund oder abfotografiertes materielles Artefakt.

Wenn Texte schnell rezipiert werden sollen, verzichten sie auf Länge. Wenn Literatur sekundenschnell Emotionen entfachen soll (ohne damit gleichzusetzen, dass sie dies auch immer tatsächlich erreicht), spricht sie aktuelle Themen mit einer um Evidenz bemühten Klarheit an. Unzweideutige Bilder können diesen Effekt unterstützen. Auch hier gilt also das Prinzip Form follows function – und die Funktion ist jene Form, die nicht irritieren darf. Sie muss, um dem Spiel der Affordanzen Genüge zu tun, das Formular in einer Weise ausfüllen, die den bisherigen Ausfüllungen asymptotisch nahekommt, ohne identisch und dadurch zum Klon und Plagiat zu werden. Darin liegt eine Differenz zum von Siegert genannten »expressionistischen Stil«. Innovation im Umgang mit Sprache ist kein primäres Ziel des Instagramstils, denn Irritation soll ja gerade vermieden werden. Instantaneität ist auch die Maxime, die für die Verstehbarkeit dominiert. Allerdings stellt die Instapoetry keine Form des unmittelbaren instantanen Schreibens (vgl. Frohmann 2015) dar, die Plattform ermöglicht lediglich ein instantanes Publizieren. Die Formulare ermöglichen es, binnen Sekunden aus einem privaten Text einen öffentlichen Text zu machen, weil das Verfahren ebenso einfach wie schnell ist. Es ist überall möglich, wo eine ausreichende Internetverbindung besteht, also potenziell ubiquitär. Dennoch ist die Instapoetry keine ›ubiquitäre Literatur‹ im Sinne Holger Schulzes (vgl. Schulze 2020), der darunter vor allem ›Partikel‹ versteht, literarische Mikro-Formate, die vom Zufall, der spontanen Adaption, Rekombination und Transformation vorgefundenen Materials oder situativ entstehenden Moment-Aufnahmen bestimmt sind. Dies ist bei der Instapoesie anders. Denn im Gegensatz zu z. B. Twitter basiert Instagram auf einer medial bedingten Verzögerung – der Text im Hauptformular lässt sich nicht unmittelbar einstellen, sondern benötigt einen der Fotodatei vorgängigen Zeichenträger, sei es auf der materiellen Basis eines Blatts Papier, ein Post-It oder Notizbuch, ein auf dem Fußboden arrangiertes Set einzelner Buchstaben, das Display eines Laptops, Tablets oder Smartphones, auf dem eine den Schreibmaschinen-Font imitierende App installiert ist. Unabhängig davon, auf welcher Grundlage ein Text wie beschaffen ist, wird er in das Bildfeld-Formular der App eingepasst. Ehe Text auf Instagram erscheint, braucht es also mehrere Schritte, die nicht alle innerhalb der Plattform absolviert werden können. Gleichwohl sind die Formulare so ubiquitär wie es das Smartphone ist, sie können nahezu überall aufgerufen und ausgefüllt werden.

Der Wikipedia-Artikel setzt die Plattform vor die Praxis, so als habe es vor Instagram keine unveröffentlichte (Gelegenheits-)Dichtung gegeben. Doch um die Ursprungsfrage soll es hier nicht gehen. Bemerkenswert ist, dass sich die Beschreibung starrer Formen bereits hier wiederfindet. Kurze prägnante Formen, die durch ihre Schriftart ansprechen sollen und auf bestmögliche Verbreitung ausgelegt sind. Oder abermals: Form follows function. Short direct lines in aesthetically pleasing fonts specifically for sharing. Der Weiterverbreitung kommt dabei im Sinne der Plattform die wesentliche Aufgabe zu. Alle Formulare von Social Media˗Plattformen sind auf serielle Nutzung ausgelegt, je häufiger sie ausgefüllt werden, desto besser, denn jede Aktion steigert die Vernetzungsgrade der Nutzer:innen und generiert weitere Daten, die Geschäftsziel und Triebmittel der Plattformen sind (vgl. Staab 2019, 194).

Die Formularisierung bringt es mit sich, dass ein enorm umfangreiches selbst-ähnliches Repertoire an mehreren Millionen kurzer Texte entstanden ist, in dem Distinktion ebenso wichtig wie schwierig ist, um Aufmerksamkeit zu attrahieren. Erfolgreiche Instapoets experimentieren mit einer allgemeinen Account-Ästhetik, mit Stories und Slides, die aber, wie die Zahlen bestätigen, nicht die gleiche Resonanz finden wie evidente Kurzbeiträge (vgl. Penke 2019). In einem Nutzungsumfeld, das auf Konsolidierung des Erreichten und beständiges Wachstum ausgerichtet ist, stellt das Experiment also eine riskante Option dar, deren Nachteile überwiegen.

Zum Strom der immer ähnlichen Beiträge beizutragen und das ›Fließband‹ des Feeds am Laufen zu halten, hält somit die »uniforme Darstellungsweise« (Weingarten 1994, 160) des Formulars aufrecht. Auch die Instapoetry erscheint im Feed, als irgendwo beginnendes Initial mit einem endlosen Gefolge und immer wieder als Vorhut einer bislang nicht abnehmenden Masse an Bild˗Text˗Beiträgen in ähnlicher Form. Im Konkurrenzkampf um Aufmerksamkeit sind diese aber auf Wiedererkennbarkeit durch Formähnlichkeit angewiesen, um positiv selegiert und bewertet zu werden. Naheliegend für den Feed ist das Bild vom Fließband (vgl. Becker 2009), in das sowohl die Nutzer:innen scrollend ihre Displays verwandeln, wie auch den niemals abreißenden Datenfluss beständig neuer Inhalte. Die Verarbeitung des fließenden Contents verläuft über die instantane Entscheidung: Reaktion – like und/oder comment und/oder share, über die alle Nutzer:innen sowohl für den registrierten Post als auch für sich selbst Sichtbarkeit steigern – oder weiterscrollen. Die Anzahl der »mitgeteilten und auch angeschauten, kommentierten und bewerteten Leseaktivitäten« erhöht indessen »die Wahrscheinlichkeit, dass man wahrgenommen wird.« (Porombka 2018, 144).

Der Feed bedeutet in seiner permanenten Erneuerung durch Updates der angezeigten Inhalte zugleich einen Dauerzerfall von Neuigkeitswert, der das einmal Angezeigte zurück in die Latenz treten lässt. Kein Beitrag wird zweimal automatisch priorisiert, nur das Neue tritt im Modus permanenter Vorläufigkeit hervor, um gesehen und bewertet zu werden. Jede Entscheidung ist Datum und beeinflusst das, was zukünftig zur Anzeige gebracht wird. Das interaktive Handeln bewegt die Texte als eine »scrolling literature« (McElwee 2017) und die Finger der Nutzer:innen treiben den Strom der ›Datenproduktionsstraßen‹ immer weiter voran. Sie werden über dieselben Eingabe-Formulare gespeist, die immer wieder höchst ähnlich ausgefüllt werden. Auf diese Weise verwaltet sich diese Bild- und Textproduktionsmaschinerie mitsamt ihren Produzent:innen wie Nutzer:innen weiter fort. Im doppelten Sinne: autopoetisch.