Wer kennt sie nicht, die gefürchteten Formulare des Internal Revenue Service (IRS, vgl. Abb. 1), der US-amerikanischen Steuerbehörde, die einen einmal und immer wieder erreichen, sobald man in den USA ein kleines Honorar entgegen zu nehmen gewagt hat. Schon hält der Pale King (David Foster Wallace)Footnote 1 des IRS die Hand auf, weniger um Geld abzuzweigen – das auch –, vielmehr aber um einem die eigene Zeit abzuzwacken, denn die Formulare des IRS sind so aufwändig auszufüllen und undurchdringlich wie sonst nur das letzte verbliebene Stück Dschungel in Papua-Neuguinea. Keines dieser Formulare, so unscheinbar und leicht verständlich sie auf den ersten Blick auch erscheinen mögen, ist ohne eine dickleibige Instruktion überhaupt verstehbar, geschweige denn mit den notwendigen Informationen passgenau zu versorgen.

Abb. 1
figure 1

(Quelle: https://www.irs.gov/pub/irs-pdf/fw8ben.pdf (Aufruf: 21.12.2021))

Form W-8BEN.

Das Formular Form W-8BEN möge hier jedoch einstweilen nur als aktuelle Hintergrundfolie für den folgenden Versuch einer vierstufigen Minimalontologie des Formulars dienen, den es in einem ersten Schritt vorzustellen gilt, bevor in einem zweiten Schritt die Relation von Formularen und Formatierungen untersucht wird und schließlich, drittens, die Organisation und Erstellung von Formularen mit Hilfe von Schaubildern (und auch umgekehrt: die Erstellung und Organisation von Schaubildern mit Hilfe von Formularen) anhand eines historischen Beispiels illustriert sei.

Minimalontologie des Formulars

Was zeichnet ein Formular aus? Erstens wohnt dem Formular ein Imperativ inne, und zwar die stumme, wenngleich unhintergehbare Aufforderung, alle offenen Felder möglichst vollständig auszufüllen. Das leere Feld wirkt als Unerträglichkeit; gekoppelt mit einem Ausfüllungszwang gegenüber dem Benutzer markiert es bedrohlich eine Schuld, es womöglich leer zu hinterlassen. Jedes Darüberhinwegsehen oder -gehen erscheint aus Sicht der Administration als ein Akt zivilen Ungehorsams. Wie ein leicht erkennbarer Schandfleck springt dem Formulareigner das leere Feld ins Auge. Von ihm geht dank der Markierung eines unmarkierten Raums ein eigentümlicher Appellationscharakter aus, der vom Formularbenutzer nur schwer zu ignorieren ist. Das Formular operiert immer schon im Modus des horror vacui.

Die Tendenz eines Formulars besteht – zweitens – darin, Daten nicht nur zu sammeln, sondern sie zu differenzieren, zu spezifizieren, sie möglichst fein zu granulieren. Statt einfach nur ›Name‹ erscheint diese Kategorie oftmals unterteilt in zwei eigene Felder mit jeweils einem Vor- und Nachnamen. Der Feind des Formulars ist daher nicht allein die Auslassung, sondern ebenso die unspezifische, allzu allgemeine Angabe, der das Formular mit einer differenzierten Klassifikation seiner Eingabewerte begegnet.

Ein Formular ist – drittens – algorithmisch organisiert, insofern es mit seiner Liste aufeinanderfolgender Handlungen, die Informationen in vorgefertigte Felder zwingt, einen Weg durch eine zumeist papierene Seite legt. Dieser Weg erfolgt jedoch nicht zwangsläufig linear, sondern kann über Auslassungen, Bedingungen, Verzweigungen und Sprungmarken verfügen. Die Logik eines Formulars folgt dabei zumeist einer Ordnung von oben nach unten. Ein einsatzfähiges Formular enthält einen vorgefertigten Pfad, der an der oberen Seite, gleich unterhalb einer allgemeinen Erklärung oder eines Kopfes mit den ersten leeren Feldern beginnt, von wo aus zahlreiche Verzweigungen oder aber eine einzige Abfolge linear gereihter Etappen folgen.

Diese Fläche selbst erfordert eine Rasterung, sie muss also von einem Adresssystem überzogen sein, wo die Positionen einer Information im Raum eindeutig referenziert werden können. Die Fläche eines Formulars besitzt also notwendigerweise eine Formatierung. Beruht ein Formular doch – schon etymologisch – auf einer spezifischen Form, die dem materiellen Träger zunächst beigebracht werden muss. Das medienmaterialistische Substrat des Papiers selbst muss also zuallererst formatiert werden. Seit 1924 folgt dieses Format zumeist der DIN A-Reihe, woraufhin die derart formatierten Flächen ihrerseits mit graphischen Formen überzogen werden, die kaum Limitierungen kennen (mehr dazu im abschließenden Beispiel).

Ein Formular legt also gleichsam ein unsichtbares Wegenetz durch den strukturierten und vorformatierten Raum einer zweidimensionalen Papierseite. Es ist daher – viertens und trotz des Primats der Schrift als Informationsmittel – eine graphische Operation, weil Punkte, Koordinaten und Adressen die entscheidenden Referenzstellen und Sprungmarken bilden, die eine nicht-lineare Abfolge von Eintragungen überhaupt erst ermöglichen. Formulare lassen sich wegen dieser Aufgabe oder Überwindung von Linearität daher nicht zuletzt auch als Schaubilder oder Diagramme verstehen, in denen heterogene Entitäten miteinander in Verbindung gebracht werden: Bilder mit Schriften, Schriften mit Zahlen, Zahlen mit Symbolen wie Pfeilen, gestrichelten Linien und anderen Elementen der Signalethik und Deixis. – Wollte man diese funktionale Minimalontologie des Formulars auf einen einfachen Merksatz bringen, er würde lauten: Formulare fordern Daten.

Formatierung

Daten erfordern Formate. So macht es einen Unterschied, ob bei der Bestandsaufnahme im Rahmen einer Volkszählung der Befrager eines Haushalts in die vorgesehene Rubrik eines Formulars ›ein Kind‹ oder ›1 Kind‹ einträgt. Die erste Art des Eintrags bezeichnet mit dem unbestimmten Artikel lediglich den angetroffenen Nachwuchs, währenddessen die zweite Art die Anzahl mit einem ganzzahligen (Integer-)Wert numerisch fixiert. Über den ersten Eintrag lässt sich reden, mit dem zweiten kann man rechnen.Footnote 2 Die Kulturtechnik Schreiben bietet bekanntermaßen andere Funktionen für eine anschließende Verarbeitung der Daten an als die Kulturtechnik Rechnen. Hier ist die Form, also der jeweilige Datentyp in Gestalt einer Zahl oder einiger Schriftzeichen, höchst relevant. Ebenso entscheidend ist freilich die Position, in die der Eintrag auf dem Befragungsformular beispielsweise bei einem Zensus wandert. Denn es macht einen ebenso großen Unterschied, ob in der Spalte für die festgestellte Anzahl der Mitglieder eines Haushalts zusätzlich noch der allfällig dort lebende Hund erscheint, oder ob dieser in die entsprechende Spalte für Haustiere gelangt. Hier gibt das Format der Daten, ihre Standardisierung und die jeweilige diagrammatische Anordnung zueinander den Ausschlag für eine korrekte kategoriale Erfassung und anschließende Verarbeitung.Footnote 3

Es ist demnach das Format, nicht nur der gleichgeschnittenen Papierseite, sondern auch das Format der einzelnen Felder, welches die Funktionsfähigkeit des Formulars insgesamt bestimmt. Dieser Wirkungszusammenhang, nämlich dass das Format eines Datenverarbeitungsprozesses auf ganz fundamentale Weise die Funktionsweise des Mediums – in diesem Fall des Formulars – determiniert, sei es wie bei dem hier zu sehenden Zensuserhebungsbogen oder etwas allgemeiner bei einem Datenträger wie einem Buch oder einer Karteikarte, oder sei es – etwas abstrakter noch – bei einer diagrammatischen Struktur überhaupt, sei im Folgenden anhand eines Aspekts aus der Geschichte der Karteikarte näher illustriert, und zwar wie aus der ›normalen‹ Karteikarte zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein standardisierter, mechanisch-elektrisch lesbarer Datenträger namens Lochkarte wird.

Auch auf der Fläche einer vergleichsweise kleinen Karteikarte lassen sich Informationen umso einfacher wiederfinden, wenn man sich beim Ausfüllen an bestimmte Konventionen hält, also die fraglichen Informationen stets an der gleichen Stelle notiert, etwa Personennamen immer oben links. Um die Einhaltung eines solchen Regelwerks zu gewährleisten, bieten Hersteller von Katalogkarten am Ende des 19. Jahrhunderts die Möglichkeit an, die benötigten Kategorien bereits im Vordruck, d. h. als Formular mit vorgezeichneten Feldern, auf die Datenträger aufzubringen. Was zunächst als marginale Erweiterung erscheinen mag, erweist sich späterhin als wichtiger Schritt der Formalisierung, aus dem heraus die Mechanisierung der karteitechnischen Datenverarbeitung erfolgt. Denn die durch Unterteilung der Fläche nun noch deutlicher vorformatierte und strukturierte Karte muss schließlich nur noch die Informationen selbst formalisieren, d. h. die entsprechenden Eigenschaften codieren durch Zahlen und diese in ein festes Raster bringen (Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

(Quellen: Privatarchiv des Autors)

Karten in digitaler Transformation.

Der Vordruck standardisiert die Karteikarte auch inhaltlich, die damit dank ihrer formalisierten Felder kompatibel wird zur Codierung mit Löchern. Innerhalb der Buchführung mit Karteien, also dem Standardrechnungswesen vor Einführung von elektrischen Buchungssystemen, zeigt sich damit zunehmend eine Tendenz, die Felder immer stärker einzuengen, gleich einem mathematischen Punkt in der Fläche zusammenschrumpfen zu lassen, um dafür umso genauer angesteuert werden zu können. Jedem dieser Punkte lässt sich nun ein bestimmter Inhalt zuordnen; mit einem festgelegten Regelwerk, was wo steht, ist die Codierung etabliert und kann anschließend automatisch, d. h. von Lese- und Lochmaschinen prozessiert werden. »Das würde also das Ende unserer Vordruckkunst sein, daß wir jedem Punkt der Karteikarte einen bestimmten Sinn zuordnen, dann brauchen wir diesen Punkt bloß anzustreichen – um zu buchen« (Porstmann 1928, 257), notiert Walter Porstmann, selbsternannter »Karteidoktor« und ein publizistisch einflussreicher Apologet der Kartei 1928. Genau dieses Ende hat freilich Herman Hollerith (1860–1929) bereits vier Jahrzehnte zuvor als Anfang für seine Lochkarten-Technologie zu nutzen gewusst.

Unabhängig von der Frage, ob sich die elektronische Speichertechnologie mit Lochkarten letztlich auf ein Dispositiv des Jacquard-Webstuhls oder auf ein Dispositiv der Bücher und ihrer Verwaltung bzw. Katalogisierung zurückführen lässt, sei noch einmal der Weg abgesteckt, den Daten und (beim Katalogisieren ja auch und vor allem) Metadaten nehmen müssen, um maschinenlesbar zu werden. Die Transformation von der Katalogkarte über die Karteikarte bis zur Lochkarte lässt sich als eine zunehmende Formalisierung und damit auch als eine zunehmende ›Formularisierung‹ charakterisieren, insofern die anfangs einfach linear auf dem Papier notierten Schriftzeichen immer stärker äußerlich formatiert werden, etwa durch gleichgeschnittene Papiermaße wie sie im internationalen Katalogzettelformat von 1908 zum Weltstandard werden. Gleichzeitig unterliegt die Anordnung der Schrift auf dem Papier einer zweiten, inneren Formatierung, und zwar hinsichtlich der Position auf dem Blatt. Anhand von variierenden Schriftgrößen, ergänzt durch geometrische Elemente wie Linien und besonders ausgezeichnete Flächen, entwickelt sich eine Logik der Formatierung, die im Formular bzw. Vordruck der Karteikarte schließlich ihre stärkste Ausprägung erfährt. Entscheidend bei dieser Logik der Formulare ist die Position der Information auf dem Papier. In Analogie zum Kalkül mit indisch-arabischen Ziffern lässt sich dieses In-Formation-Bringen als eine Stellenwertlogik begreifen. Gleiche Informationen wandern stets an die gleiche Position auf der Karte, die dadurch nicht nur das äußere Format vorgibt, sondern mit ihren vordefinierten Feldern einen Standard setzt, der eine immergleiche Zuordnung der Daten zu ihren Funktionsstellen auf dem Papier erfordert. Von den manuell ausgefüllten Formularen zur maschinellen Auswertung ist es damit nur noch ein kleiner Schritt, insbesondere wenn die auszufüllende Information nicht mehr von Parametern wie einer schwer entzifferbaren Handschrift abhängt, sondern in hinreichender Codierung vorliegt, eine Information also nur noch durch ›Ja‹ oder ›Nein‹, Loch/kein Loch repräsentiert erscheint.

Die Transformation des Katalogzettels zur Lochkarte zeigt, wie dessen Daten allmählich in feinere Raster geraten, wie sie mit der Zeit in Strukturen gezwängt werden, welche die Form des Datums selbst verändern. Denn die Daten sind bei der Transformation der Speichermedien ihrerseits verschiedenen Codierungsschritten unterworfen; sie wechseln gar ihr Medium, indem sie von der Kulturtechnik Schrift zur Kulturtechnik Zahl umcodiert werden (wie in Abb. 2). Die einzelnen Übergänge, vom Katalogzettel zur Karteikarte, von dieser zur Lochkarte, genügen jeweils einer Logik des In-Form-Bringens, um dadurch letztlich vom arbiträren Datum zur maschinenlesbaren In-Formation zu geraten. Dieses In-Form-Bringen, diese zunehmende Rasterung und Adressierung bis hin zu elementaren, nicht weiter zerlegbaren Daten ließe sich treffender und kurzerhand als Formatierung oder auch Formularisierung bezeichnen. Wenn also bei der allmählichen Metamorphose eines Katalogzettels zur Lochkarte ein ganzes Ensemble beinahe gleichlautender Prozesse wirksam wird, die aus einem Datum infolge von Formalisierungen und Formularen (Vordrucken) sowie durch äußere Formatierungen überhaupt erst eine In-Formation generieren, so muss man fragen, welche Datenstruktur am Ende dabei herauskommt. Die Antwort ist ebenso naheliegend wie weitreichend: Durch die Formularisierung, welche die eigentliche Formatierung der Information darstellt, wird die Karteikarte zum Diagramm mit vorgefertigten Positionen und Stellen, an denen die Informationen maschinell auszulesen (oder besser: abzutasten) sind.

Man könnte das Format dieser diagrammatischen Struktur einerseits als eine Tabelle begreifen, wenn der Zweck darin besteht, mit den exakt positionierten Informationen zu rechnen. Man könnte das Format aber auch als ein Bild verstehen, als eine visuelle Relationierung dessen, was an Vorgaben durch das Formular und an Eingaben durch den Ausfüllenden in Beziehung gesetzt wird. Man könnte das Formular demnach auch als eine Art Schaubild begreifen, das mit einem dezidiert didaktischen Charakter durch seine graphische Anordnung neue Einsichten oder gar neue Erkenntnisse generieren soll.

Die Organisierung der graphischen Arbeit durch Fritz Nordsieck

Wie hängen also Formulare und Schaubilder zusammen? Was ist überhaupt ein Schaubild? Unter einem Schaubild sei einstweilen eine zweidimensionale diagrammatische Struktur verstanden,Footnote 4 deren Zweck darin besteht, eine mitunter komplexe Informationslage oder einen in der Zeit operierenden Informationsprozess visuell unmittelbar evident zu machen. Oder mit den normativeren Worten eines Schaubild-Spezialisten des frühen 20. Jahrhunderts:

Das Schaubild ist die graphische Darstellung eines tatsächlichen oder gedachten Beziehungskomplexes oder einer Geschehensabfolge. Es verwendet dabei geometrische Symbole, die an Stelle der körperlichen Dinge, der Beziehungen, der Wege usw. stehen. […] Die Verwendung von Symbolen gibt dem Schaubild Eigenschaften, die es befähigen, die genannten Darstellungsmittel, speziell auch die Sprache, bei der Wiedergabe von komplexen Tatbeständen nicht nur zu ersetzen oder zu ergänzen, sondern das Wesen des dargestellten Gegenstandes oft viel vollkommener ersichtlich zu machen, als es mit den anderen Darstellungsmitteln überhaupt möglich ist. (Nordsieck 1956, 3)

So lässt sich beispielsweise ein recht gewöhnlicher Vorgang wie die Beantragung eines neuen Reisepasses inkl. eines VisumsFootnote 5 nicht nur trefflich in Prosa beschreiben oder in Otl Aicher-artigen Piktogrammen darstellen, sondern ebenso in einem Schaubild (Abb. 3). Wer glaubt, die Beantragung eines Reisepasses wäre mit dem Ausfüllen eines Passantragsformulars (Abb. 3, Nr. 8) bereits absolviert, sei hiermit eines Besseren belehrt, insofern hier 23 weitere, nicht weniger wichtige Schritte zu befolgen sind.

Abb. 3
figure 3

(Quelle: Fritz Nordsieck [1956]: Die schaubildliche Erfassung und Untersuchung der Betriebsorganisation, Bd. XV, Die Bücher: Organisation, 5. Aufl., Stuttgart: C.E. Poeschel Verlag, 112)

Schaubild zur Beantragung und Ausstellung eines Reisepasses.

Es mag nicht weiter verwundern, dass in den einzelnen Schritten der Darstellung einer Passbeantragung eine Fülle von weiteren Formularen auftauchen, neben dem eigentlichen Reisepassantragsformular noch diverse Bescheinigungen etwa zur Dringlichkeit, Steuerentlastung, Ausreisefreigabe oder einfach eine – durchaus ominöse – Bescheinigung zur Bescheinigung (Abb. 3, Nr. 13). All diese Schriftstücke hat man sich als Vordrucke mit Formularcharakter vorzustellen. Bemerkenswerter mag dagegen der Umstand sein, dass dieses Schaubild selbst einer ähnlichen Logik der Pfadsteuerung und demselben Imperativ zum Ausfüllen unterliegt wie eingangs für das Formular beschrieben. Bevor dies noch an einem zweiten Beispiel en détail herausgearbeitet sein soll, gilt es kurz die Quelle des Schaubilds und seine darin eingebettete Theorie zu würdigen.

Das Diagramm ebenso wie das noch folgende Beispiel sind dem Buch Die schaubildliche Erfassung und Untersuchung der Betriebsorganisation von Fritz Nordsieck entnommen, das 1932 zum ersten Mal erscheint und bis in die frühen 60er Jahre hinein in insgesamt sechs Auflagen zu einer Art Klassiker der graphischen Analyse von Betriebsabläufen avanciert.

Sein Autor, Fritz Nordsieck (1906–1984), war studierter Betriebs- und Volkswirt, der 1930 mit der genannten Arbeit an der Universität zu Köln promoviert worden war, bevor er in kurzer Folge mit weiteren Veröffentlichungen hervortrat, etwa zur Organisation und Aktenführung der Gemeinden (1937) oder noch allgemeiner mit seinen Grundlagen der Organisationslehre von 1934.Footnote 6 Eine Habilitation scheitert 1940 an der nicht bestandenen wissenschaftlichen Aussprache – vermutlich wegen politisch nicht-konformen Ansichten zur nationalsozialistischen Herrschaft. Ebenso gescheitert war 15 Jahre zuvor Nordsiecks Bewerbung zur Zulassung an der Kunstakademie Düsseldorf, woraufhin aus dem abgelehnten Künstler ein künstlerisch tätiger Ökonom, Verwaltungsfachmann und Organisationsforscher wurde, der sich zudem noch ein umfassendes, autodidaktisches Wissen zu Mollusken und anderen Weichtieren aneignete, die er nicht nur in beeindruckender Anzahl sammelte und klassifizierte. Zudem entdeckte er eine neue Subspezies, und zwar die in Südspanien heimische, 1978 nach ihm benannte Tricolia nordsiecki. Im Alter publizierte Nordsieck, der in der jungen BRD als Kommunalpolitiker für die SPD im Kreis Mettmann rasch Karriere machte, neben seinen Untersuchungen zu Meeresschnecken. Vom wunderlichen Treiben unbewusster Künstler (1958) zudem noch ein Katzenbuch für Kinder (1979) sowie ein Jahr später sein Alterswerk, diesmal eher in einem philosophischen Kontext, mit dem Titel Das neue Bewußtsein (1980). Darüber hinaus richtete Fritz Nordsieck seit den 60er Jahren, vorzugsweise im Rheinland, verschiedene Kunstausstellungen mit eigenen Bildern aus.

Der letztgenannte Umstand erscheint nicht ganz unerheblich, wenn man bedenkt, dass ein Großteil der Illustrationen und Bilder aus Nordsiecks Büchern von dessen eigener Hand stammte; so auch das abschließend zu analysierende Beispiel eines formularartigen Schaubilds bzw. eines schaubildhaften Formulars. Es ist Teil einer ganzen Serie von Schaubildern, die einer ganz eigenen optischen Optimierungslogik folgen (vgl. Nordsieck 1956).

Ausgangspunkt ist ein Formular, das den sogenannten Ablauf Nr. V27 der Büromaschinenwerke Stuttgart zeigt (Abb. 4). Es handelt sich um eine organisationstechnische Darstellung, die Nordsieck selbst einer der Publikationen des AWV – des Ausschusses für wirtschaftliche Verwaltung, einer Organisationsgruppe innerhalb der Frankfurter Gesellschaft für Organisation – von 1927 entnimmt. Ins Bild gesetzt wird hier eine vergleichsweise einfache Handlung, der Bestellvorgang einer Büromaschine, die es zu versenden und buchungstechnisch zu prozessieren gilt. Die Abbildung zeigt eine organisationstechnische Darstellung dieses Arbeitsablaufs, wo vor beinahe hundert Jahren der Eingang einer schriftlichen Bestellung auf eine im Warenlager vorrätige Maschine vom Mitarbeiter Niedlich am 26.10.1927 entgegengenommen wird. Sodann zeigt das Schaubild, wie in 16 Teilschritten und unterschiedlichen Abteilungen einerseits die Maschine auf den Versandweg zu bringen, andererseits der Bestellvorgang in die zugehörigen Buchungssysteme einzutragen ist. Dieser Prozess wird auf einem DIN A 4-Blatt inkl. eines vorgezeichneten Rasters in seine Wegläufe, Akteure und zeitliche Bearbeitung zerlegt, die jeweils mit zum Teil komplexen Symbolen in eine graphische Anordnung gebracht werden. Zur Erklärung der einzelnen Teilschritte dient ein ebenfalls in DIN A4-Größe beigelegtes Blatt, auf dem die »Zeichentabelle der ›Richtlinien‹ des AWB« (= Ausschuss für wirtschaftliche Betriebsführung, Wien; weshalb die Richtlinien in Anführungszeichen stehen, ließe sich nur mutmaßen), also die verwendeten graphischen Symbole in bemerkenswerter Detailtreue aufgeschlüsselt sind (Abb. 5): Man beachte nur die feine Differenzierung von Tisch vs. Schreibtisch vs. Trogtisch, und ihre jeweilige graphische Repräsentation.

Abb. 4
figure 4

(Quelle: Fritz Nordsieck [1956]: Die schaubildliche Erfassung und Untersuchung der Betriebsorganisation, Bd. XV, Die Bücher: Organisation, 5. Aufl., Stuttgart: C.E. Poeschel Verlag, 113 B242)

Bestellung einer Büromaschine.

Abb. 5
figure 5

Legende zur Bestellung einer Büromaschine (Fritz Nordsieck [1956]: Die schaubildliche Erfassung und Untersuchung der Betriebsorganisation, Bd. XV, Die Bücher: Organisation, 5. Aufl., Stuttgart: C.E. Poeschel Verlag, 114 B242)

Im Unterschied zu dem von Nordsieck zuvor diskutierten Schaubild zur Reisepassbeantragung, das lediglich einen »Wegplan mit Zeitfolgedarstellung und Wiedergabe der an den einzelnen Orten des Weges erledigten Arbeiten« (Nordsieck 1956, 48) zeigt, hat man es im Schaubild B242 mit dem Eintrag einer strengen zeitlichen Abfolge zu tun; hier wird also eine Handlung – wie seinerzeit bei Taylor und Gilbreth (vgl. Rabinbach 1992) – in ihre Elemente (Nordsieck nennt das ›Arbeitsstufen‹) zerlegt, um solcherart Aufschluss über Verbesserungsmöglichkeiten dieser Handlungsfolge zu gewinnen. Die graphische Analyse erfolgt demnach durch Elementarisierung der einzelnen Prozesse in ihre basalsten Arbeitsstufen, diese werden dann – gemäß der Richtlinien des AWV – in jeweils einer eigenen Zeile notiert. Damit schließt diese Darstellungsform zwar Multitasking, also das Nebeneinander von gleichzeitigen Prozessen, explizit aus, kann so jedoch in der Unterteilung wiederum jeden Schritt funktional zuordnen und auf seine Stimmigkeit hin überprüfen. Das formularhafte Schaubild dient somit als Analyseinstrument und Medium der Kritik des darzustellenden Gesamtvorgangs.

Nordsieck optimiert nun die vom AWV bzw. dem AWB vorgegebene Darstellung mit seiner eigenen Variante in zwei Schritten (Abb. 6 und 7). Die finale Verbesserung in Abb. 7 wird allem voran durch eine komprimierte Anordnung der Symbole erzielt, so dass im Kästchenraster der Seite ungleich weniger Freiraum herrscht als noch in den beiden vorherigen Stufen. Des Weiteren reduziert er die anfangs noch 16 Arbeitsschritte auf nunmehr 13. Insgesamt erscheint das Schaubild besser lesbar, wenngleich er noch eine eigene Legende am unteren Bildrand hinzufügt, in der insbesondere der Umgang mit den Formularen des Bestellvorgangs auf eine alternative, nach Nordsiecks Formulierung »eindeutige« Weise graphisch analysiert wird.

Abb. 6
figure 6

Bestellung einer Büromaschine nach Nordsieck (Fritz Nordsieck [1956]: Die schaubildliche Erfassung und Untersuchung der Betriebsorganisation, Bd. XV, Die Bücher: Organisation, 5. Aufl., Stuttgart: C.E. Poeschel Verlag, 115 B243)

Abb. 7
figure 7

Formularisierte Variante des Bestellvorgangs einer Büromaschine nach Nordsieck (Fritz Nordsieck [1956]: Die schaubildliche Erfassung und Untersuchung der Betriebsorganisation, Bd. XV, Die Bücher: Organisation, 5. Aufl., Stuttgart: C.E. Poeschel Verlag, 116 B244)

Was legt diese graphische Darstellung frei? Anders gefragt: was ist hier eigentlich nicht-figurativ zu sehen? Und welcher medialen Logik folgt das, was hier eigentlich sichtbar wird? Auf den ersten Blick scheint es recht naheliegend: Zu sehen ist die Organisation, d. h. die Erstellung und hausinterne Prozessierung eines Bestellvorgangs der Stuttgarter Büromaschinenwerke, der beim Gang durch die verschiedenen Instanzen (»Dienststellen«) das Ausfüllen und Verschieben von Formularen nachzeichnet (Abb. 4, 7). Zu sehen ist also die Organisation und Erstellung von Formularen mit Hilfe von Schaubildern. Aber es ist noch mehr zu sehen, und zwar auch umgekehrt: Die Anordnung zeigt ebenso die Erstellung und Organisation von Schaubildern mit Hilfe von Formularen. Denn es ist die vorgefertigte Rasterung der Papierfläche, die wie eine Tabelle organisiert ist und damit das Koordinatensystem aus Dienststellen und Zeiten des Arbeitsablaufs vorgibt, in die die einzelnen Symbole und ihre Verbindungen, also das Diagramm des Bestellvorgangs, einzutragen sind. Das vorgefertigte Formular gibt damit dem Schaubild den Rahmen vor und determiniert es gleichsam in seiner Rhetorik oder diagrammatischen Ausformung, insofern hier die charakteristischen Tugenden des Schaubilds wie Kürze, Exaktheit, Klarheit, Bildhaftigkeit, Flächenhaftigkeit (vgl. Nordsieck 1956, 3) durch das Formular vorgegeben oder bestimmt werden. Man hat es hier also mit einer Kippfigur zu tun. Das Diagramm ist sowohl ein Schaubild im Sinne Nordsiecks als auch ein Formular im Sinne der anfangs skizzierten Minimalontologie.

Der epistemische Status des Formulars ist nicht ganz leicht zu ergründen, weil es die fließenden Übergänge zum Schaubild und dessen informationstechnischen Eigenheiten – buchstäblich – veranschaulicht. Einerseits unterscheiden sie sich in spezifischer Weise vom Formular (z. B. hinsichtlich des größeren Textanteils, während das Schaubild noch stärker graphisch operiert, oder auch in seiner prinzipiell offenen Serienhaftigkeit: ein Formular kann theoretisch schließlich auch in Endlosschleife arbeiten, ein Schaubild kann das nicht ohne weiteres). Andererseits fusionieren die Charakteristika beider Medien. Nordsieck sieht zudem den Wieder-Eintritt der Form in die Form, oder genauer: die Abbildung eines Formulars in einem Schaubild als weiteren Grenzfall oder als ein Beispiel des Übergangs zwischen den Medien an (Abb. 8).

Abb. 8
figure 8

Wiedereintritt des Formulars in das Formular anlässlich der »Behandlung eines Versicherungsantrages in der Direktion« (Fritz Nordsieck [1929]: Das Ausschreiben der monatlichen Prämienrechnungen, in: Zeitschrift für Organisation Jg. 3 [1929], 572–575, hier 575)

Formulare erfordern Daten, und diese werden ausschließlich im alphanumerischen Code akzeptiert, nicht aber in selbst-erfundenen Symbolen. Die schaubildliche Erfassung von Betriebsabläufen erfolgt hier jedoch nicht über eine textuelle Beschreibung, sondern über graphische Operationen, die sich im Medium des Formulars vollziehen, in diesem Fall auf einer einfachen, gerasterten Fläche oder mit Hilfe einer tabellarischen Anordnung, wo die einzelnen Arbeitsstufen in den Zeilen den in die Bestellung involvierten Akteuren bzw. in den Spalten den räumlichen Instanzen des Betriebs (›Dienststellen‹) zugeordnet sind. Durch eine spezielle Symbolsprache, durch kleine graphische Operatoren,Footnote 7 entsteht so im Formular ein Diagramm, das in seiner »Flächenhaftigkeit« den jeweiligen Prozess analytisch fasst, indem es ihn zerlegt, um auf diese Weise die Organisation des Arbeitsvorgangs überhaupt evident und ggf. auch optimierbar zu machen.

Das Schaubild ist also seinerseits eingetragen in ein Formular, ohne dessen visuelle Orientierungskraft und Durchlauflogik der gesamte Arbeitsvorgang, statt zu einer funktionalen Analyse, zur abstrakten Kunst würde. Denn auch das Formular in seinen Varianten B242/243/244 ist algorithmisch organisiert, insofern es mit seiner Liste aufeinanderfolgender Teilschritte zum Bestellprozess der Büromaschine einen Weg durch die papierene Seite legt. Dieser Weg erfolgt nur teilweise linear (erste Zeile), ungleich häufiger sind jedoch Auslassungen, Bedingungen, Verzweigungen und Sprungmarken zu erkennen. Die Logik des Formulars folgt auch hier einer Ordnung von oben nach unten. Und es ist das Format des Formulars, welches das Schaubild zu einer exakten Darstellung zwingt: »Kürze und Übersichtlichkeit werden in ihrer Wirkung erhöht durch den Zwang zur Exaktheit der jedem Schaubild durch das Operieren mit Symbolen innewohnt.« (Nordsieck 1956, 3) Das Schaubild leistet durch diese Art der Formatierung, Formularisierung und graphischen Verarbeitung einen spezifischen Erkenntnisfortschritt: »Oft kommt der Darstellende selbst erst durch das Schaubild zu der begrifflichen Klarheit, die, wenn auch unausgesprochen, einer jeden Organisationsuntersuchung zu Grunde liegen sollte.« (Nordsieck 1956, 3 f.)

Die Ergebnisse sind nicht ohne eine bestimmte Einsenkung in die Bildsprache zu begreifen. Man könnte auch sagen, die resultierenden Diagramme sind – zumindest graphisch – überaus komplex. Ob sie in dieser Form, am Vorabend der elektrifizierten Betriebsführung, als Formular zur Optimierung oder vielleicht eher zur Verhinderung von Optimierung beitrugen, lässt sich aus heutiger Perspektive hingegen nur schwer ermessen oder – ganz im Sinne eines Formulars – ebenso schwer datentechnisch erfassen.