Was sind Telegramme? Sind es die Zwanzig-Wörter-Botschaften, die zum Geburtstag oder zur Hochzeit gratulieren; Ankunft, Geburt oder Tod melden; Bestellung oder Kauf tätigen respektive bestätigen? Oder sind es die Papierformulare, die am Aufgabeort vom Absender, am Zielort von einem Telegraphisten ausgefüllt und anschließend an die Adressaten ausgeliefert werden? Während im Fall des Briefes der materielle Träger und die auf ihm geschriebene Botschaft in eins fallen, als transzendental-empirische Dublette untrennbar miteinander verknüpft sind, verkompliziert sich der Sachverhalt im Falle des Telegramms. Ein Telegramm ist viele Telegramm(formular)e: Wie Theseus‘ Schiff in der Werft vermehren sich die papiernen Träger des Telegramms in den Telegraphenbüros auf wundersame Weise, während die Botschaft des Telegramms ein und dieselbe bleibt – oder zumindest bleiben soll.

Die Medienwissenschaft der 1980er Jahre sah in dieser Loslösbarkeit der Botschaft von ihrem materiellen Träger das medientechnische Apriori für eine erst im 20. Jahrhundert entstehende mathematische Informationstheorie: »[E]rst die Telegraphie«, so schreibt Friedrich Kittler in seinem Aufsatz über den Telegrammstil »[implementiert] im Unterschied zu Boten, Briefen und allen übrigen hergebrachten Nachrichtensystemen […] Information als solche« (Kittler 1986, 364). Indem die Medienwissenschaftler die Buchstaben oder Zeichen vom Papier schieden und nicht die Bedeutung, sondern die Kombinatorik ersterer mit Shannon als Information verstanden, überließen sie die wuchernde Materialität des letzteren bedenkenlos den Papiermühlen. Papier: ein alter Hut?

Im Folgenden soll es um diese vernachlässigte Seite der telegraphischen Kommunikation gehen, um die Formulare und Papierstreifen, die einen wesentlichen Beitrag zur Beschleunigung und Stabilisierung der telegraphischen Kommunikation leisten. Als paper tools gehören sie, wie die Apparate und Kabel, mit zu dem Schreibzeug, das an den kurzen Gedanken mitarbeitet, die per Telegraph in Blitzeseile um die Welt versendet werden.

Schreibökonomie

»London, Charing Croß-Hotel. Alles über Erwarten groß. Sieben unvergeßliche Tage. Richmond schön. Windsor schöner. Und die Nelsonsäule vor mir. Ihr v. St.« (Fontane 2015, 276) Dieses fiktive Telegramm aus Theodor Fontanes Der Stechlin (1898) sorgt für eine Enttäuschung. Den Adressatinnen Melusine und Armgard von Barby hatte der Absender Woldemar von Stechlin eigentlich einen ausführlichen Brief aus London versprochen. Zudem, so stellt sich heraus, hat Woldemars Freund Czako exakt dasselbe Telegramm erhalten und urteilt: »Ich fand es wenig […] und als Doublette find’ ich es noch weniger« (Fontane 2015, 276). Dem widerspricht jedoch der alte Graf von Barby: »Was verlangt Ihr? Es ist umgekehrt ein sehr gutes Telegramm, weil ein richtiges Telegramm; Richmond, Windsor, Nelsonsäule. Soll er etwa telegraphieren, daß er sich sehnt, uns wieder zu sehn?« (Fontane 2015, 276 f.) Wie der alte Graf richtig erkennt, beherrscht Woldemar die Kunst des Telegrammschreibens. Es gelingt ihm mit Leichtigkeit, die Eindrücke seiner siebentägigen Reise in wenigen Worten zusammenzufassen. Auch der Versand von Dubletten zeigt, dass Woldemar mit dem Tarifsystem vertraut ist. Ein einmal aufgegebenes Telegramm an mehrere Adressaten zu senden ist weniger gebührenintensiv als der Versand zweier verschiedener Telegramme.

Die telegraphische Kommunikation unterwirft das Schreiben einem strengen ökonomischen Kalkül und stellt dabei Schreiber wie Leser vor neue Herausforderungen. Dr. Ernst Engel, der Direktor des preußischen statistischen Bureaus, führt im Jahr 1869 die noch spärliche Verwendung der Telegraphie im familiären Bereich auf eine »Lücke im Schulunterricht« (Engel 1870, 297) zurück:

So gut derselbe, wenigstens in den Mittelschulen, Bedacht auf Unterweisung der Schüler und Schülerinnen im Briefstyl nimmt und so sehr er anstrebt, dass sie einen ordentlichen Brief schreiben lernen, so gut sollten ihnen auch die nöthigsten Begriffe der Telegrammatik beigebracht werden, wodurch sie dahin gelangen, ihre Gedanken in gedrängtester Kürze zwar, aber dennoch mit vollster Klarheit auszudrücken und der Oeffentlichkeit zu übergeben. Wer mit den Depeschenstyl unvertraut ist, der kommt leicht in die Lage, die für eine einfache Depesche gesetzte Zahl von 20 Worten zu überschreiten und seine telegraphische Correspondenz erheblich zu vertheuern. (Engel 1870, 297)

Professionelle Telegrammschreiber wissen, wie es geht. Um die Kosten möglichst gering zu halten, verfassen sie nicht selten Texte, die ans Unverständliche grenzen. Nachrichtenagenturen, deren größter Ausgabeposten Telegrammgebühren waren (vgl. Barth 2020, 74), beschäftigten häufig sprachversierte Schriftsteller, um den wirtschaftlichen Erfolg des Unternehmens zu gewährleisten. Einer davon war Paul Lindau, der in seiner Autobiographie über seine Zeit als Mitarbeiter der preußischen Nachrichtenagentur Wolffs Telegraphisches Bureau berichtet:

Wir hatten nach auswärts zu depeschieren: »Gegenüber dem Dementi der offiziösen Blätter bestätigen die ›National‹ - und ›Vossische Zeitung‹ das von der ›Neuen Freien Presse‹ gemeldete Gerücht, daß eine Begegnung der Kaiser von Österreich und Rußland stattfinden werde.« (Einunddreißig Worte.) Das würde in der damaligen Telegraphie des Wolffschen Bureaus etwa folgende Fassung erhalten haben: »Gegenüber Offiziosdementi bestätigen Nationalvoß Neupreßmeldung Ostkaiserbegegnungsgerüchts.« (Fünf Worte und ein Doppelwort gleich sieben Worte). (Lindau 1917, 237 f.)

Die Tatsache, dass durch das ökonomische Diktat der Telegraphie »alle andern Rücksichten, nicht bloß die der conventionellen Höflichkeit, sondern auch die des guten Geschmacks ganz in den Hintergrund treten« (Anonym 1865, 9), wie es in einem zeitgenössischen Handbuch heißt, wurde durchaus kritisch gesehen. In Fontanes Stechlin stellt Woldemars Vater Dubslav folgende Diagnose:

Es ist das mit dem Telegraphieren solche Sache, manches wird besser, aber manches wird auch schlechter, und die feinere Sitte leidet nun schon ganz gewiß. Schon die Form, die Abfassung. Kürze soll eine Tugend sein, aber sich kurz fassen, heißt meistens auch sich grob fassen. Jede Spur von Verbindlichkeit fällt fort, und das Wort ›Herr‹ ist beispielsweise gar nicht mehr anzutreffen. Ich hatte mal einen Freund, der ganz ernsthaft versicherte: ›Der häßlichste Mops sei der schönste‹; so läßt sich jetzt beinahe sagen, ›das gröbste Telegramm ist das feinste‹. Wenigstens das in seiner Art vollendetste. Jeder, der wieder eine neue Fünfpfennigersparnis herausdoktert, ist ein Genie. (Fontane 2015, 28)

Die Kommunikationsform ›Telegramm‹ ist also wenig geeignet, um Fortschritte in einer Liebesbeziehung zu erzielen. Als erfahrener Telegrammschreiber macht Woldemar auch von dieser telegraphischen Sparsamkeit Gebrauch. Da er noch nicht weiß, für welche der beiden Schwestern er sich entscheiden soll, ist ein Telegramm allemal die bessere Wahl als ein Brief.

Papierökonomie

Anders als in den USA und in Großbritannien war die Telegraphie in Kontinentaleuropa von ihren Anfängen an in staatlicher Hand und ihre Nutzung zunächst ausschließlich auf Staatsangelegenheiten beschränkt. Dies änderte sich erst ab den frühen 1850er Jahren. Preußen ermöglichte ab dem 1. Oktober 1849 als erster kontinentaleuropäischer Staat die Nutzung des elektrischen Telegraphen durch die Öffentlichkeit. Österreich, Italien, Frankreich und weitere Staaten folgten schon kurze Zeit später. Es waren vornehmlich die hohen Bau- und Betriebskosten, die die Staaten dazu brachten, die Telegraphie der Allgemeinheit zur Verfügung zu stellen und damit »einen Kostenbeitrag zu der Unterhaltung des zunächst für politische und militärische Zwecke eingerichteten Instituts zu erzielen« (Schöttle 1883, 16). Auch sollte verhindert werden, dass private Betreiber dieses Geschäftsfeld übernehmen: Weder wollte man Staatsgeheimnisse einem Privatunternehmen anvertrauen, noch auf die Möglichkeit der Kontrolle privater Depeschen verzichten. Zudem fürchtete man, die Umsätze des rentablen staatlichen Postbetriebs könnten längerfristig durch die Nutzung des Telegraphen geschmälert werden. Überraschenderweise spielte die Förderung von Wirtschaft und Handel für die Entscheidung, die Telegraphie für das Publikum zu öffnen, nur eine untergeordnete Rolle. »Nur wenige vereinzelte Stimmen wiesen auf die Möglichkeit hin, daß für den Handelsstand etc. Nutzen daraus zu ziehen sein möchte« (Schöttle 1883, 17 f.).

Die Freigabe der Telegraphie für die Öffentlichkeit bedeutete einen Wandel der Operationsweise vom geheimen Nachrichtendienst hin zu einem öffentlichen Nachrichtendienstleister, der kostenneutral geführt werden sollte. Die Ausgaben für den Netzausbau und -betrieb sowie die hohen laufenden Kosten für die Beschäftigung von Telegraphenbeamten mussten hierzu in ein Verhältnis zu der Anzahl versendeter Nachrichten oder Wörter gesetzt werden. Eine strenge Buchführung und Kontrolle über die an jeder Station aufgegebenen, weitergeleiteten und empfangenen Telegramme war hierfür nötig. Die Telegraphenstationen waren angewiesen, »[s]ämmtliche abtelegraphirte[n], angekommene[n] und aufgenommene[n] Depeschen excl. der Localdepeschen, welche dem Adressaten übergeben werden, […] auf das Sorgfältigste zu verwahren, und je nach den verschiedenen Kategorieen täglich aneinander zu heften.« (Ludewig 1874, 366 f.) Am Monatsende mussten die Formularbündel dann an die Generaltelegraphendirektion übersandt werden, wo sie zentral gesammelt und auf die »Richtigkeit der Gebührenerhebung« (Ludewig 1874, 371) hin ausgewertet wurden.

Die Übermittlung trägerloser Information erzeugt dabei en passant eine Papierlawine immensen Ausmaßes. Allein in Preußen wurden bereits 1865 mehr als zwei Million Telegramme versendet, europaweit waren es knapp 21 Mio. (vgl. Engel 1870, 288–290). Für die Übermittlung eines jeden dieser Telegramme von der Aufgabestation bis zum Empfänger waren durchschnittlich vier Formulare erforderlich: ein Aufgabeformular, das meist vom Sender ausgefüllt und anschließend vom Telegraphisten abtelegraphiert wurde; eine variierende Anzahl an Durchgangsformularen, die an den Zwischenstationen anfielen, sowie ein Ankunftsformular, das schließlich an den Empfänger ausgeliefert wurde.

Die Menge benötigten Papiers, die proportional mit der Nutzung der Telegraphie anstieg, war dabei so beträchtlich, dass sie einen bedeutenden Teil der Betriebskosten ausmachte und die Rentabilität des Telegraphenbetriebs durchaus gefährden konnte. Des Öfteren ist in Jahresabschlussberichten zu lesen, dass »das unvorgesehene Bedürfniß von Formularen, welches durch die außergewöhnliche Zunahme des Verkehrs veranlaßt war, […] als die wesentlichste Ursache der Vermehrung dieses Postens [der Bürokosten, Anm. SB] angesehen werden« (Anonym 1869, 89) kann. Aus diesem Grund wurde einerseits versucht, die Papierausgaben durch die Verwendung kleinerer Formate zu senken. So berichtet die schweizerische Telegraphenverwaltung 1863 von der erfolgreichen Verringerung der Papierkosten durch die Verwendung schmälerer Morse-Papierstreifen (vgl. Anonym 1863, 26). Andererseits wurden die archivierten Formulare nach Ablauf ihrer sechsmonatigen Verwahrungsfrist nicht einfach entsorgt, sondern »im Interesse der Reichskasse meistbietend unter dem Beding der sofortigen Vernichtung, in der Regel Einstampfung in Papier oder Papp-Fabriken, verkauft« (Ludewig 1874, 372). Bei aller potenziellen Loslösbarkeit der Information von ihrem materiellen Träger erweist sich deren Verbindung am Ende aber doch als so stabil, dass erneute Personal- und Papierkosten in Kauf genommen werden mussten, um ein sicheres Papierrecycling zu gewährleisten:

Um das Telegraphen-Geheimniss gegen jede Verletzung zu sichern, bleiben die Papiere bis zuletzt unter amtlichem Gewahrsam und es wohnen dem Vernichtungsverfahren jedesmal zwei Beamte bei, welche sich die Ueberzeugung von der wirklich stattgefundenen Vernichtung zu verschaffen und über den ganzen Vorgang ein der Telegraphen-Direktion vorzulegendes Protokoll aufzunehmen haben. (Ludewig 1874, 372)

Formularkapazität

Während die Länge eines Briefes für die Dauer und Kosten seines Transports kaum eine Rolle spielt, gibt es beim telegraphischen Nachrichtenverkehr eine direkte Relation zwischen der Länge der Botschaft und der Dauer und den Kosten ihrer Übertragung. Da jede telegraphische Nachricht Zeichen für Zeichen gesendet und empfangen werden musste, steigen der Zeitaufwand und damit auch die Personalkosten proportional mit der Länge der Nachricht an. Anstatt nun aber nach Zeichen abzurechnen, hat sich im Telegraphenwesen die Quantifizierung der Nachrichten nach Wörtern etabliert.

Das Wörterzählen spielte in der öffentlichen Telegraphie von Anfang an eine zentrale Rolle. So beschränkten bereits die ersten Eisenbahntelegraphenlinien, die in Großbritannien zur Mitte der 1840er Jahren gegen Bezahlung auch für private Zwecke verwendet werden konnten, die Nachrichtenlänge auf ein Maximum von 20 bis 25 Wörter. Die in den späten 1840er Jahren in Großbritannien und den Vereinigten Staaten gegründeten privatwirtschaftlichen Telegraphieunternehmen legten ihrem Tarifsystem eine Maximalwortzahl pro Telegramm zugrunde, bei deren Überschreiten die Kosten stark anstiegen. In Preußen galt von 1849 bis 1876 ein Zonentarif mit 20-Wörter-Pauschale.

Anders als beim Chappe’schen Flügeltelegraphen ist die Limitierung der Länge einzelner Nachrichten bei der elektrischen Telegraphie nicht technisch bedingt (vgl. Kittler 2013); sie ist jedoch sinnvoll, um den Gesamtumsatz an Nachrichten zu erhöhen. Die Deckelung der Wörteranzahl pro Botschaft war also ein Resultat der massenhaften, öffentlichen Nutzung.

Aus informationstheoretischer Sicht macht die Quantifizierung von Nachrichten nach Wörtern wenig Sinn. Zur Optimierung der Sendeleistung eines Kanals ist es nötig, die Länge der Codierung eines Zeichens in Relation zur Wahrscheinlichkeit seines Auftretens zu setzten. Je wahrscheinlicher das Auftreten eines Zeichens ist, desto kürzer sollte die Codierung sein; je unwahrscheinlicher, desto länger. Der vom Welttelegraphenverein verwendete Code (eine Abwandlung des von Samuel Morse entwickelten Codes) folgt diesem Prinzip: Der häufigste Buchstabe ›e‹ wird durch nur einen einzigen, kurzen Impuls codiert. Seltene Buchstaben wie ›y‹ oder ›q‹ durch jeweils vier Impulse. Die dubiose Kategorie ›Wort‹, die dem Telegrammtarifsystem zu Grunde liegt, ist in dieser Hinsicht jedoch wenig optimiert. Sie kennt zwar immerhin eine Deckelung von 7 Silben pro Taxwort, berechnet aber für das kurze Wort ›er‹ (kurz, kurz lang kurz) denselben Betrag wie für das deutlich längere und in der Übertragung sehr viel fehleranfälligere Wort ›Glückwünsche‹ (lang lang kurz, kurz lang kurz kurz, kurz kurz lang lang, lang kurz lang kurz, lang kurz lang, kurz lang lang, kurz kurz lang lang, lang kurz, kurz kurz kurz, lang kurz lang kurz, kurz kurz kurz kurz, kurz). Die Orientierung an Wörtern für die Quantifizierung der Nachrichten, die im Übrigen bis zum faktischen Ende der Telegraphie in den frühen 2000er Jahren beibehalten wurde, dient also nicht einer preisökonomischen Optimierung der technischen Sendeleistung, sondern hat einen anderen Zweck.

Die im Kontext der Telegraphie häufig genannte ›Kanalkapazität‹, also die Anzahl der Signale, die pro Minute fehlerfrei versendet werden können, ist bei genauerer Betrachtung weniger durch die den Apparat und die Leitungen betreffende, technische Sendeleistung bedingt, als durch jene Faktoren, die die Arbeitsweise der Telegraphisten betreffen. So stellt beispielsweise weniger das Rauschen der Leitung als das Rauschen der Handschrift ein Problem für die schnelle und korrekte Übermittlung der Nachrichten dar. In der Gartenlaube berichtet ein Telegraphenbeamter über die Bedeutung einer leserlichen Handschrift für die Übertragungsgeschwindigkeit der Telegramme:

Man denke sich z. B. an die Stelle eines Beamten, der während der Börsenzeit – also der Zeit des stärksten Depeschenverkehrs – an seinem Hughes-Apparate sitzt, und dem die zu befördernden Depeschen immer zu zehn, zu zwanzig Stück auf den Tisch gelegt werden. Um diese Correspondenz zu bewältigen, muß er per Stunde gegen sechszig Stück – bei Weitem noch nicht das Maximum der Leistung – verarbeiten; er kann also selbstverständlich die einzelnen Depeschen nicht vor der Beförderung durchlesen, sondern erst im Moment des Abtelegraphirens; woher soll er die Zeit nehmen, um schlecht geschriebene Depeschen Wort für Wort durchzubuchstabiren, und warum sollen durch diese zeitraubende Beschäftigung alle anderen Depeschen verzögert werden? Die schlecht geschriebenen Telegramme wandern also zum Aufsichtsbeamten, kann dieser sie nicht lesen, zum Annahmebeamten behufs Entzifferung; der hat aber in diesen Stunden alle Hände voll zu thun, um das Publicum am Schalter zu befriedigen, und so kann es vorkommen, daß Depeschen von vielleicht großer Wichtigkeit und Dringlichkeit durch Schuld des Aufgebers wegen schlechter Schrift nicht unbeträchtlich verzögert werden. (Billig 1874, 418)

Für Telegraphenbeamte stellt eine saubere und leserliche Handschrift aus diesem Grund ein zentrales Einstellungskriterium dar, und eine sorgfältige Arbeitsweise gehört zu den wichtigsten Dienstpflichten. Zudem wurde mit einer speziellen »schnelltrocknenden Dinte« gearbeitet, um »Unsauberkeiten und Undeutlichkeiten« bei den unter hohem Zeitdruck auszuführenden Schreibarbeiten zu vermindern (Ludewig 1874, 359).

Neben einer deutlichen Handschrift und der Optimierung der Schreibmaterialien sorgten vor allem die Formulare für eine Beschleunigung und Stabilisierung der Nachrichtenübertragung. Indem sie, wie Peter Becker betont, »die Handlungsspielräume bei der Bearbeitung der erfaßten Informationen begrenzen und die Art der Weiterverarbeitung der bewerteten Daten in einer klar strukturierten Form vorgeben« (Becker 2009, 282), gewährleisten sie die korrekte Übertragung einer Botschaft über technisch anspruchsvolle Apparaturen und störungsanfällige Leitungen. Auf den Telegrammformularen wird die Botschaft mit zahlreichen Metadaten angereichert, die beim Übertragungsprozess systematisch abgefragt und mit aufgenommen werden: Datum und Zeit der Aufgabe, Telegrammnummer, Aufgabestation, Name des aufnehmenden Beamten, Leitungsnummer und Wortanzahl. Das Formular wirkt so an der Loslösung der Botschaft vom papiernen Träger mit und sorgt zugleich dafür, dass an einem weit entfernten Ort exakt dieselbe Botschaft wieder auf Papier erscheint.

Vor diesem Hintergrund gewinnt nun auch die Quantifizierung der Nachrichten nach Wörtern an Bedeutung. Als Prüfsumme, die deutlich schneller als die Zeichenanzahl bestimmt werden kann, verbessert sie nicht die technische, sondern die menschliche Sendeleitung:

Nach Empfang der Depesche [...] giebt der abnehmende Beamte zunächst ›Verstanden‹. Dann vergleicht er sofort die Zahl der erhaltenen Worte mit der angekündigten Wortzahl und theilt bei wahrgenommener Differenz dieselbe dem übermittelnden Beamten mit. Hat sich Letzterer bei Ankündigung der Wortzahl geirrt, so antwortet er: ›Einverstanden (admis) ... Worte‹; wenn nicht so wiederholt er nochmals die ursprünglich angekündigte Wortzahl: ›Nein ... Worte‹. - Der abnehmende Beamte giebt nun bei Gelegenheit der vorgeschriebenen Collation den ersten Buchstaben eines jeden Wortes zurück. Sobald der übermittelnde Beamte den Fehler entdeckt, berichtigt er die betreffende Stelle, worauf der abnehmende Beamte die Collation in gewöhnlicher Weise beendet. (Ludewig 1874, 355)

Das Formular steht im Zentrum der Ökonomie des Telegramms: Als kleinformatige Schreibfläche mahnt es die Schreiber, sich kurz zu fassen. Als Rechnungsbeleg, dessen materieller Wert selbst mit zu Buche schlägt, ermöglicht es, die Betriebskosten in ein Verhältnis zur Gesamtheit der gesendeten Wörter zu setzten. Als Protokoll optimiert es schließlich die Anzahl der pro Zeiteinheit korrekt übertragenen Wörter. Es wäre in diesem Sinne wohl präziser, statt von einer ›Kanalkapazität‹ von einer ›Formularkapazität‹ zu sprechen, die die Form telegraphischer Botschaften bestimmt.