Der Brockhaus bestimmt 1895 den »Interviewer« als jemanden, der »berühmte Persönlichkeiten« besucht, um sie über ihre »Ansichten und Absichten« – »auszufragen« (Brockhaus 1895b, 656); auch Thomas Mann nennt Interviewer »Ausfrager« (Hansen und Heine 1983, 9). Das im engeren Sinne politische Interviewformat etabliert sich erst später; um 1900 kommen als Auszufragende besonders Schriftsteller respektive Dichter infrage. Heute rangieren sie in Michael Hallers Handbuch zum Interview unter der Rubrik »DDK«: »Dichter«, »Denker«, »Künstler«. Das »DDK«-Interview soll die »geniale (bewundernswerte) Persönlichkeit« im Hinblick auf ihre »Erlebnisse und Erfahrungen« erschließen. Auf diesem Wege kann der »Zusammenhang« zwischen der »Person« und ihren »Werken« erkennbar werden. Das Handbuch gibt einen Fragenkatalog zu Zwecken der praktischen Operationalisierung dieser Perspektive vor: Spiegelstrichartig führt er den Lebensweg, entscheidende Situationen, Begegnungen, Beschlüsse, Erfahrungen und Motive auf. Kindheit, Eltern und Familie; es folgen, entsprechende Reifungsprozesse vorausgesetzt, »Lebensziele«, »Werte«, »Vorbilder« (Haller 2001a, 162). Beim so verstandenen Interview hat man es mit einer Anleitung zu moderner Selbstthematisierung respektive Autobiografisierung zu tun (vgl. Hahn 1987, 9–24).

Wenn es die Funktion eines solchen Interviews ist, das »geniale«, womöglich gar »bizarre« Subjekt und seine »Selbsterfahrung« dem Publikum, wie das Handbuch betont: »nahe« zu bringen (Haller 2001a, 162), setzt dies offenbar voraus, dass die Persönlichkeit des Künstlers oder Dichters dem Publikum durch seine Werke entrückt ist. Das Frage-und-Antwort-Interaktionsszenario schafft Nähe. In diesem Sinne wird das Interview in erster Linie als Begegnung beziehungsweise angelehnt an frz. entrevue als »Zusammenkunft« (Kluge 1995, 405) verstanden, weniger als verschriftlichtes oder publiziertes Resultat, das das Wort Interview ja gleichermaßen bezeichnet. Tritt demgemäß in Hallers Handbuch an die Stelle des Ausfragens von 1895 ein moderateres Befragen (Haller 2001a, 162), wird dies allerdings als »kein leichtes Unterfangen« charakterisiert, da die Befragten von sich aus erfahrungsgemäß nur wenig »Erhellendes« preisgäben. Der Interviewer wird sie also dazu bringen müssen, sich zu ›öffnen‹, ohne sie allerdings zur »Bloßstellung« zu verführen (Haller 2001a, 163). In diesem Zusammenhang wird die Interviewpraxis des André Müller angeführt, der eine seiner prominenten Interviewsammlungen 1979 »Entblößungen« genannt hat (Müller 1979) und der im vorliegenden Handbuch dann auch selbst in einem Interview zur Sprache kommt. Das Erstaunliche ist Müller zufolge, dass seine Gesprächspartner, vom Interviewer gekonnt gelenkt, an den Punkt einer »Offenbarung« gelangen, an dem sie die übliche reservatio mentalis aufgeben, um, so Müller geradezu rilkisch, das »Unsägliche« zu offenbaren (Haller 2001b, 423).

Eine solche Indiskretion ist im genauen Sinn jener Diskretion entgegengesetzt, wie sie seit der Frühen Neuzeit als angemessene und taktvolle, zur Verschwiegenheit neigende Zurückhaltung verstanden wurde (vgl. Paul 2002, 225). Im Zusammenhang mit dem sich etablierenden modernen Schriftsteller-Interview wird Indiskretion gemeinhin entschieden umcodiert, sodass es sogar als werbendes catchword eingesetzt werden kann. Ein »Spiegel-Gespräch« mit Ruth Klüger wird betitelt mit: »Man ist irrsinnig indiskret«, auf diese Weise einen Satz der interviewten Autorin selbst umfunktionierend: »Na ja, man ist irrsinnig indiskret, wenn man eine Autobiographie schreibt.« (Doerry und Meyer 2008, 144). Das mit der Autorin geführte Interview präsentiert mittig ein Foto und eine eingekastelte Kurzbiographie. Konsequent werden auf Offenlegung und Offenbarung im Sinne Müllers zielende Fragen gestellt: nach ihren Erfahrungen unter dem Nationalsozialismus, nach ihrer schwierigen Beziehung zur Mutter und zu den eigenen Kindern, nach bedeutsamen Erlebnissen überhaupt. Kurz: erfragt und festgehalten wird, was Klügers 2008 erschienene Autobiografie Unterwegs verloren: Erinnerungen sagt – oder besser: eigentlich sagen wollte. Kaum anders als das Spiegel-Gespräch geht ein wenig später in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung publiziertes Interview vor. Es hebt den Entschlüsselungsgestus – insbesondere die Nennung von Namen – der Autobiografie im Interview hervor und doppelt ihn (Encke 2008, 27). Spiegel und FAS erfüllen offenbar ein Schema, genauer: Sie erfüllen ein Formular, proprie: füllen ein Formular aus, ein Formular der Indiskretion.

Hatte Christian Fürchtegott Gellerts Brieftheorie noch gefordert, dass eine »aus dem Innersten« kommende Sprache sich dem rhetorisch geprägten »Formular« zu entwinden habe, und damit einer Semantik des Authentischen, der Unmittelbar- und Vorbehaltlosigkeit aufs Ganze gesehen Vorschub geleistet (Gellert 1751, 48), so stehen Hallers Handbuch zufolge Formular und Authentizitätsversprechen in keinem Widerspruch mehr zueinander. Sein exemplarischer journalistischer Fragenkatalog folgt der poetologisch-hermeneutischen Maßgabe, literarische Kommunikation strikt autorfokussiert zu verstehen. Gefragt wird nach der ›eigentlichen‹ Person und ihrer Intention. »Wer sind Sie eigentlich und was haben Sie für Absichten bei dem Buche?«, hat in diesem Sinne ein fingierter Leser einen ebensolchen Autor in einem 1780 im Teutschen Merkur erschienenen literarischen Dialog Johann Heinrich Mercks adressiert. Dies sei, so erwidert der befragte »Autor«, eine »neue Art Kunstwerke zu beurtheilen« (Merck 1780, 51f.; dazu Trilcke 2014, 107). Im Rahmen späterer Interviewpraktiken wird sie erst regelrecht legitim und virulent. Hier gilt der freie Schriftsteller einerseits, durchaus dem juristischen Eigentumsbegriff entsprechend, als Eigentümer und Herr seiner Texte, der einem zeitgenössischen Axiom gemäß seine ›eigenen Worte‹ gebraucht (vgl. Plumpe 1979; Bosse 1981). Andererseits, nämlich ökonomisch gesehen, ist eben dieser Souverän dem Markt unterworfen, selbstbestimmtes und ›freies‹ Subjekt allenfalls in diesem Zwiespalt und gehalten, kontinuierlich ökonomisches wie soziales und symbolisches Kapital zu akquirieren. Das Schriftstellerinterview ist Schauplatz und Instrument dieser intrikaten Situation – mag man es auch Zwiesprache, Begegnung, literarisches Gespräch, später dann Werkstatt-, Labor- oder Ateliergespräch (vgl. Doering und Eden 2008, ein Konvolut von Interviews mit Franzobel, Arno Geiger, Katja Lange-Müller, Antje Rávic Strubel und Juli Zeh) nennen.

Es handelt sich um Formate, die allesamt von schematisierten Formen und Formeln, genauer gesagt: von Formularen Gebrauch machen. Formulare steuern das einzelne Gespräch, gehen diesem in der Vorbereitung auf die Situation voraus und sind dem konkreten Resultat wiederum ablesbar. Um welchen Formularbegriff geht es, was impliziert er? Der im Hinblick auf Indiskretion zu Rate gezogene Brockhaus von 1895 unterscheidet das konkrete, vornehmlich im Handelsverkehr zirkulierende Formular: »gedruckte Vorschriften (Schemata), in welchen nur die zufälligen, im einzelnen Fall veränderlichen Bestandteile ausgefüllt werden«, von einem Verständnis von Formular, das eher vormodern zu nennen ist: Formular als »vorgeschriebene Weise einer Handlung, Rede oder Schrift« (Brockhaus 1895a, 987). Das schematisch ›Vorgeschriebene‹ ruft also einen älteren Begriff von Formular auf, der bis ins 18. Jahrhundert hinein in Poetik und Rhetorik geläufig war und sich von lat. formularium ableitet (Paul 2002, 343). In Zedlers Universal-Lexicon aus dem Jahr 1735 findet sich das »Formular (Formul, Formula, Formulaire)« eben als »Vorschrifft, Muster und vorgeschriebene Weise einer Handlung, Schrifft oder Rede« definiert (Zedler 1735, 1516). Betont der vormoderne Formularbegriff die »Vorschrifft«, das schematisch, verbindlich und mustergültig Vorgeschriebene (Fugger 1967), so akzentuiert der spätere Begriff, wie am Brockhaus-Eintrag von 1895 zu sehen, die »veränderlichen Bestandteile«, dasjenige also, was innerhalb des Schemas allererst auszufüllen bleibt. Er eröffnet und sichert damit freie Stellen, die insbesondere vom Individuellen, dem einzelnen Fall, zu besetzen sind.

An diese Konfiguration, die durch die Spannungsmomente von Vorschrift und Eintrag, von Allgemeinem und Besonderem, Vorgabe und Leerstelle zu charakterisieren ist, knüpft der Formularbegriff des Sozialphilosophen Jürgen Frese an. Er charakterisiert das Formular als teilweise schon beschriebene, schon »ausgefüllte«, »dadurch inhaltlich stark vorgeprägte Struktur«, die allerdings bestimmte freie Flächen aufweist, »Leerstellen«, in die »individualisierende« Charakteristika eingetragen werden können. Ein Formular ist damit »mehr als bloß strukturelle Festlegung möglicher Erfüllungen, aber weniger als inhaltliche Determination.« (Frese 1985, 155). Wie Dirk Baecker ergänzt, haben Formulare den Vorteil, »Lücken« zu lassen, dies allerdings, und darin ist ihr Nachteil zu sehen, auf häufig »allzu starre Weise« (Baecker 2021, 14). Im Hinblick auf ein analytisches Verständnis des Autoreninterviews erscheint der Formularbegriff überzeugender als die epistemologischen Konkurrenten Struktur, Diskurs, Schema oder Script. Von letzteren unterscheidet sich das Formularkonzept durch seine prägnante Verzahnung von Vorschrift und prästrukturiertem Eintrag in vorgegebene Leerstellen. Weder ein durchgehalten Allgemeines noch ein schier Individuelles determinieren das Interviewformular; weder ist es reine Vorschrift noch kann es als schlechthin unbegrenzte Ermöglichungsbedingung fungieren.

Interviewformulare, die in unterschiedlichen Kontexten mit unterschiedlichen Verbindlichkeiten zirkulieren, bestehen aus Konstanten und aus Leerstellen, aus Fragen (Q), die im Hinblick auf das Interview unter Umständen mehr oder weniger erwartbar sind, und aus Antworten (A), die diesen Erwartungen mehr oder weniger entsprechen. (Man spricht im Unterschied zum völlig freien, sich selbst überlassenen Gespräch vom A-und-Q-Format.) Wenn man ein so strukturiertes Autoreninterview als Generator und Ausweis moderner Individualität und zugehöriger Semantik verstehen will (vgl. Ruchatz 2014, 16 und 14), hält der Formularbegriff dazu an, die präskriptiven allgemeinen Individualitäts-Register zu bedenken, in die das Individuum sich einzutragen, denen es sich zu fügen hat. Dem Autoreninterview eignet außer der ökonomischen auch eine hermeneutische Unumgänglichkeit. Es fällt nämlich auf, dass die formulierten oder vorformulierten journalistischen Fragen an ältere literaturgeschichtliche und literaturwissenschaftliche Fragestellungen anknüpfen. Sie beleben damit ein Deutungsparadigma, das mit und nach der Durchsetzung strukturalistischer und poststrukturalistischer Einsichten längst hinter uns liegt. Ethisches Prinzip und wissenschaftliche Disziplin mit und nach Michel Foucault: »Qu’importe qui parle?« (Foucault 1994, 789).

Setzt sich das Wort ›Interview‹ (von frz. entrevue) in Deutschland gegen Ende des 19. Jahrhunderts durch, so ist die Sache um einige Jahrzehnte älter. Das Interview kommt in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts vor allem in den Vereinigten Staaten auf. Journalisten, genauer Polizeireporter, imitieren Polizeiverhöre, spielen dabei auf ihre spezielle Weise Gericht (Nilsson 1971; vgl. auch Pekar 1998, 534). Im Boulevardjournalismus der Penny Press entstehen Interviews, deren Frage-Antwort-Abfolgen polizeiliche Verhörsituationen vergegenwärtigen, mit eigenen Fragen anreichern und ›verlebendigen‹. Die Reporter positionieren sich als Autoritäten, höhere Instanzen, eine Art obszönes Gewissen des Gemeinwesens. Konstitutives Moment dieser Situation ist eine vorgegebene und durchgehaltene Asymmetrie, die vor allem die Unumkehrbarkeit der Fragerichtung impliziert. Inhumanes Semi-Verhör und Human Interest der populären Presse gehen Hand in Hand mit einem das »Geständnistier« (Foucault 1977, 77) umtreibenden Drang auf Wahrheit und Wahrhaftigkeit. Das moderne Autoreninterview profiliert sich in genau dieser Richtung. Das Geständnis wird im Kontext der Literatur als »Bekenntnis« verstanden und besetzt literarische Formen wie das Tagebuch und wichtiger, da mit klarem Bezug auf den urteilenden und richtenden Leser, die Autobiografie, für die vor allem Jean-Jacques Rousseaus Confessions stehen (zum autobiografischen Pakt des Interviews siehe Lejeune 1980, 109). Entsprechende Formulare geben Platz für Gedanken und Gefühle, für Begehren, Vergehen, Träume und anderes bislang Verschwiegenes, das es in situ zu entbergen gilt. Die Grenze von ›privat‹ und ›öffentlich‹ wird prekär und durch neue Praktiken redefiniert. Verlegt dies die zu entbergende Wahrheit ins Innerste, ins Verborgen-Verschwiegene und in die Tiefe, so ermöglicht die Inanspruchnahme der Differenz von bloßer Oberfläche und aufzuschließender Tiefe (hierzu Geitner 2008) zugleich ein Versprechen: Am Ende einer effektiven Befragung stehe das Authentische (vgl. Hansen 1998; Ruchatz 2007). Es hervorzubringen, darauf sind die einzelnen Operationen methodisch abgestimmt.

Das Interesse am Wahren und an authentischer Deutung im engen Konnex von Autor und Werk charakterisiert auch jene literarischen Gespräche, die dem Typus des modernen Schriftsteller-Interviews entscheidend vorgearbeitet haben: Johann Peter Eckermanns Gespräche mit Goethe, geführt zwischen den Jahren 1823 und 1832 und 1836 bis 1848 veröffentlicht (Eckermann 1836–1848; hierzu Schlaffer 1986; außerdem Heubner 2002). Human Interest des Boulevard-Journalismus auf der einen und ›höheres‹ menschliches Interesse am Dichter auf der anderen Seite liegen nicht nur zeitlich nah beieinander. Eckermanns Beschreibungen der kontinuierlichen Zusammentreffen mit Goethe setzen eine Konfiguration in Szene, die Mensch, Haus und Heim einheitlich, organisch umschließt. Diese Form der Begegnung entspricht jenem ›entrevue‹, aus dem das englische ›interview‹ entsteht, Home Story avant la lettre (vgl. Kraus 1994), die einen fundamentalen Einblick gibt: in Leben, Charakter und Geist und mit ihnen in die ursprünglichen Absichten des Autors, die seinen Werken zugrunde liegen und ihre sinnhafte Bedeutung bis ins Letzte steuern. Diesem Drang hin zum Ursprung von Absichten und Ideen entspricht eine ungefähr zur selben Zeit entstandene literaturgeschichtliche Disposition, die die Interpretation literarischer Texte an die eigentliche Intention des Dichters knüpft, die Entstehung des Werks nachzuvollziehen sucht und auf diese Weise ein zugrundeliegendes und dennoch zeitlos relevantes »Sinndepot« des Dichtens erschließt (Weimar 1989, 398). So heißt es in einer 1838 erschienenen Arbeit über Schiller, dass man dessen Dichtung nur aus der »Denkweise und Persönlichkeit« des Verfassers, nicht aber »durch eine andere Stelle und ein anderes Gedicht« erklären könne (Hoffmeister 1838, VII f.). Alle Werke des Dichters sind bis »in die Denkweise und die Persönlichkeit des Verfassers hinein zu verfolgen«, nur so werde man des »Innern« der Geistesprodukte habhaft, ohne sich von bloß »äußerlichen« Eigenschaften ablenken zu lassen (Hoffmeister 1838, VII f.).

Das Begehren Eckermanns, das ihm nachfolgend auch das moderne Interview als Text bestimmt, besteht darin, das factum brutum der abwesenden Person imaginär zu kompensieren, ja zu übersteigen, nämlich die insofern ›tote‹ und zeitlich zerdehnte schriftliche Kommunikation in eine ›lebendige‹ und gegenwärtige Begegnung von Dichtern mit Lesern umzustilisieren, das heißt die Schriftlichkeit der Publikation als unmittelbare und zugleich erlesene und gepflegte Mündlichkeit erscheinen zu lassen. Vermutlich entspricht das »Gespräch vom Typ Eckermann« als gebildete und gewählte, auch ins Bedeutsam-Pathetische spielende Ausdrucksweise dem gebildeten Bürgertum und seiner Umgangsweise mit Dichtung (Heckmann 1977, 54). Ottilie von Goethe hat in diesem Sinne fasziniert bemerkt, als Leserin höre sie in Eckermanns Gesprächen ganz deutlich Goethes »Worte und Stimme« (Petersen 1925, 2 f.). Dieser halluzinatorische Modus des an sich ›toten‹ Gesprächstextes vermag bis in die Gegenwart hinein zu überzeugen, einzunehmen, ja zu fesseln, wie mit Blick auf konkurrierende audiovisuelle Interviewformate wohl zu Recht diagnostiziert worden ist (vgl. Ruchatz 2014, 117; zu Rundfunk, Fernsehen/Talkshow und Internet ausführlich ebd., 181–340).

Als schriftlicher Text zielt das Print-Interview auf ein Vor-Augen-Stellen, die rhetorisch instrumentierte Re-Vision einer ursprünglichen Begegnung. Die Primärsituation instantaner mündlicher Rede soll unbeschadet in die schriftliche Sekundärsituation des Textes eingehen, ja in ihr noch deutlicher hervortreten, um über den Mediensprung hinweg die ursprüngliche Begegnung ›aus der Nähe‹ zu simulieren. Eine Vorrede zu einer Sammlung von Schriftstellerinterviews, die 1977 unter dem Titel »Aussage zur Person« erscheint, vergegenwärtigt das wie folgt: »Da äußert sich eine Person in unmittelbarer Reaktion«; da zeigt sich ein Mensch »unverstellter« als im Schriftlichen; und dadurch wird im Gespräch sehr viel »von der besonderen Eigentümlichkeit eines Menschen« erkennbar (Rudolph 1977, 10). Die Eigentümlichkeit, die in der Lektüre hervortritt, ist allerdings die einer rhetorischen Figur, die ›Gesicht und Stimme‹ hervortreten lässt, der Prosopopöie (De Man 1984, 76).

Auf diese Weise erscheint Goethe anwesend, ertönt sein Sprechen gespenstisch-halluzinatorisch in einer Art ewiger Gegenwart, ein Effekt, der sich nüchtern betrachtet einer Reihe selektiver Operationen und nachträglicher schriftlicher Korrekturen verdankt. Eckermanns diaristische Notationen fungieren als Rohstoff (siehe Schlaffer 1986, 716), sein Tage- und Notizbuch enthält, zeitlich gesehen, Aufzeichnungen vor allem in der Form des epischen Präteritums: ›Goethe sprach heute über …‹. Allerdings bleibt zu konstatieren, dass zwischen Ereignis (›Eräugnis‹) und verarbeitender redigierter Verschriftlichung Jahre, ja Jahrzehnte liegen können. Die Evidenz des Instantanen ist nachträglicher Natur, und die verlockend-verführerische Vorstellung einer ›Stimme‹ des Autors, die in einen Dialog mit dem Leser tritt, wird in der Sekundärsituation des Textes artifiziell und im Effekt phantasmagorisch heraufbeschworen. Eckermanns Gespräche mit Goethe avancieren zur meistzitierten Schrift der Goethe-Literatur – nicht nur ›über‹, sondern auch ›von‹ Goethe (Schlaffer 1986, 729). In dieser Gestalt verwachsen eine fabrizierte Autor-Legende (Tomaševsky 2000) und das, was die literarischen Texte als zu Lesendes (legenda) bieten, indem es etwa so einfach wie hoch bedeutsam heißt: ›Goethe sagte …‹ oder, wie auch gern formuliert wird: ›bei Goethe heißt es …‹. Von hier ist der Schritt zu üblichen literaturgeschichtlichen und literaturwissenschaftlichen Rede- und Zitierweisen nicht weit.

Oft wird übersehen, dass in Roland Barthes’ »La mort de l’auteur« das Momentum des Todes strukturell an den Eintritt der Schriftlichkeit (écriture) und an die abwesende Stimme (voix) gebunden ist (Barthes 1994, 491; vgl. Wegmann 2016, 19 f.). Das bezeichnet weit mehr als einen Phantomschmerz. Es fehlt, was man nicht hat – und nie hatte. Vor dem Hintergrund der strukturellen Abwesenheit der Stimme entsteht die kompensatorische Vision eines Autors, dem es gelingt, ›mir‹ als Leser Vertrauliches mitzuteilen (vgl. Barthes 1994, 492). Damit soll greifbar werden, was sich notwendigerweise dem Lesen immer wieder entzieht: ein eindeutiges Signifikat, zu dem auch und gerade unter dem Vorzeichen literarischer »Unverständlichkeit« der passende Schlüssel gefunden wäre (vgl. Schlaffer 1986, 705; Schlegel 1967, 368). Die Zuweisung eines so errungenen Signifikats hält Barthes zufolge den prinzipiell unabschließbaren Prozess der Signifikation unzulässig an. Den Kürzeren zieht fatalerweise der literarische Text, die eigentliche Leistung des Autors.

Literaturwissenschaftliche Doxa und kategoriale Indiskretion

Welchen Status hat das Interviewformular literaturkritisch, literaturwissenschaftlich? Nicht selten wird das Interview als privilegierter, in die Tiefe und auf den Grund gehender Epitext einer bloß oberflächlichen Sekundärliteratur konfrontiert. Nur auf dem Wege ›primärer‹ Erkundung, heißt es im Sammelband Aussage zur Person, sei »authentische Deutung« möglich (Rudolph 1977, 8). In Wendungen wie dieser behauptet sich ein Genre, das eine Mischung von verhörartiger Obszönität und beflissener Hingabe bietet und mit der Fokussierung der Dyade von Autor und Fragesteller die Öffnung auf Dritte und Drittes verdrängt, etwa das Aufnahmegerät, den Schriftbezug und mit ihm die unsteuerbare, zerdehnte Kommunikation, den strukturell anonymen Leser, die Notwendigkeit des Lesens, das letztlich nicht stillzustellende, mit dem Interviewtext wiederkehrende Interpretationsproblem. Diese störenden und unbequemen Faktoren sucht man zu umgehen. Das Interview, genauer: das literarische Gespräch, heißt es apodiktisch bei Gérard Genette, sei eine »unersetzbare Form des Paratextes« (Genette 1989, 348). In welcher Hinsicht, mit Blick worauf »unersetzbar«? Jedenfalls sollte das bloß informierende journalistisch-ephemere und auch ökonomisch-betrieblich motivierte Interview vom seriösen, betont dialogischen Gespräch, das für Genette in eine eher seriöse, wissenschaftlich orientierte Richtung weist, deutlich unterschieden werden (Genette 1989, 343–348). In letzterem spielt nämlich der Fragen stellende Dialogpartner eine entscheidende und, genauer besehen, durchaus befremdliche Rolle. Dieser – mit dem Autor unter günstigen Umständen gar befreundet – ist ihm auf jeden Fall ›nah‹ (vgl. Genette 1989, 343). Der damit gegebenen privilegierten Position entspricht die eigentümliche, immer wieder herausgestellte Wertschätzung, die Genettes Paratextkonzeption aufs Ganze gesehen den »Verbündeten« des Autors einräumt. Diese Verbündeten, so das Postulat, garantieren eine relevantere Lektüre als andere, die als sogenannte Dritte bloß Allographes beisteuern (Genette 1989, 10; dazu Geitner 2004). Das literarische Gespräch, so wie Genette es vom bloß betrieblich-instrumentellen Interview unterscheidet, wird damit an die Schwelle zum wissenschaftlichen Interpretationsdiskurs gerückt und legt diesem – mitunter auf dem Wege »autobiographische[r] Rückbesinnung« den »Boden des Werks« verlassend (Genette 1989, 347) – die entsprechenden Vorlagen bereit.

Im Rahmen der Entwicklung und Konsolidierung der literaturwissenschaftlichen Epistemologie des 20. Jahrhunderts ist ein solches – autobiografisierendes – Formular allerdings bereits als methodologisch unzureichend zurückgedrängt, ja explizit ausgeschlossen worden. An die Stelle von ›Stimme‹ und ›Person‹ treten damit die Instanzen Schrift und Zeichen. Statt das literarische Werk nach Art »unserer Väter« als »psychisches Privatissime« zu verstehen, als Ausdruck der Persönlichkeit, Behälter und Vehikel bedeutsamer »Erlebnisse« (Mukařovský 2000, 65), gelte es, sich dieser vorwissenschaftlichen Situation und der sie charakterisierenden Sprach- und Schriftvergessenheit, die sich im Begriff des »Ausdrucks« äußert, zu entwinden und zu respektieren, dass es das plural zu interpretierende »Zeichen« (Mukařovský 2000, 72) und der Text als Zeichenkonfiguration sind, die die literarische Kommunikation sowohl ermöglichen als auch herausfordern – und sei es als Störung. Reduktionistisch verfährt, so Jan Mukařovský quasi im Vorgriff auf Roland Barthes (vgl. Barthes 1994, 494), wer dies zugunsten der Vorstellung eines privatistischen Seelenausdrucks negiere und die literarische Kommunikation als Vermittlung von Bewusstseinszuständen missverstehe (Mukařovský 2000, 71). Dass es weder um die Rekonstruktion intentionaler Bewusstseinszustände gehen kann noch soll, arbeitet zu etwa gleicher Zeit der New Criticism heraus. Im Vordergrund einer literaturwissenschaftlichen Analyse muss William K. Wimsatt und Monroe C. Beardsley zufolge vielmehr die Bedeutung der Zeichen und der besondere Anspielungsreichtum (allusiveness) literarischer Texte stehen (Wimsatt und Beardsley 1954). An genau dieser Stelle setzt Umberto Ecos kritischer Beitrag zum Verhältnis von Autorschaft und Interpretation an. In einer Art von theorie-sensitivem Selbstexperiment hat er – als Wissenschaftler respektive Semiotiker – herausgearbeitet, dass die elaborierten Interpretationen, Lektüren und Assoziationen, die sein Roman Der Name der Rose herausgefordert und ermöglicht hat, den aktuell abrufbaren Kenntnissen, An- und Absichten des Autors Eco nicht entsprechen, sondern diese, sofern es sich überhaupt um korrekte Erinnerungen handelt, überschreiten, interpretatorisch überbieten. Den Anspielungsreichtum der vom Schriftsteller zwar fixierten, in ihrer Bedeutung aber unbeherrschbaren Zeichen vermögen Interviewfragen nicht auszuschöpfen. Konsequent hat Eco vorgeschlagen, der empirische Autor möge in der Auseinandersetzung um die Legitimität von Interpretationen besser schweigen (Eco 1996, 88).

In der Literaturwissenschaft ist das Interview vor allem als Populargenre respektive als bloßer Gebrauchstext wahrgenommen worden, sodass man ihm lange kein besonderes explizites Interesse schenkte. Gleichzeitig fungieren Interviews und Autorengespräche als gemeines Treib- und Strandgut, das sich, zitierender Rede und entsprechender Nachweise kaum wert, einer beiläufigen Aneignung geradezu aufdrängt. Darüber hinaus ist das Formular des klassischen autobiografisierenden Interviews akademisch, in der Disziplin, ›unterirdisch‹ omnipräsent (vgl. Genette 1989, 341–350): Wenn es auch explizit weder appliziert noch gar verteidigt wird, dann strukturieren die einzelnen Konstanten des Formulars dennoch und nach wie vor in der Form »impliziten Wissens« (Polanyi 1985) die an Autor und Werk zu richtenden thematischen ›Fragestellungen‹. Sie sichern Renommee und Wert, liefern die dem Werk vermeintlich zugrundeliegenden intentionalen Problemkonstanten; konfigurieren das Werk, stellen den Kanon bedeutsamer Stellen und klassischer Zitate zusammen, schaffen eine primäre Grundlage für zu befestigende Interpretationen und bewegen eine Begrifflichkeit, die das Plurale der Bedeutungen in Form eines singulär kompakten Sinndepots kassiert. Es lässt sich – mit Michel Foucault – weiterhin beschreiben als »mehr oder minder psychologisierende Projektion der Behandlung, die man Texten angedeihen lässt, der Annäherungen, die man vornimmt, der Merkmale, die man für wichtig hält, der Kontinuitäten, die man zuläßt, oder der Ausschlüsse, die man vornimmt.« (Foucault 2001, 1017 f.). Mit dem Interviewformular setzt sich eben jene Praxis fort, die der Kirchenvater Hieronymus in De viris illustribus von der Kritik gefordert hatte: den Autor als »Einheit« des Schreibens zu erschaffen (Foucault 2001, 1019). Im Interview wird einer so verstandenen Autorschaft »Realitätsstatus« verliehen (Foucault 2001, 1017; vgl. Wegmann 2016, 12).

Auf dem Weg zu einer solchen Konstruktion von Autorschaft ist manche Indiskretion in Kauf zu nehmen. Ingeborg Bachmann hat sie fiktional in Szene gesetzt: In ihrem Roman Malina kommentiert die zum Interview mit »Küß-die-Hand-Anrufen« charmierend genötigte statt von sich aus geneigte Erzählerin ein Interview (Bachmann 1971, 89–103), zu dem sie sich nach allerhand Ausflüchten und Ausreden dann doch entscheidet: »Wenn Umfragen und ihre Fragen sich auch allesamt ähneln«, heißt es mit Blick auf die Formularhaftigkeit des Genres, »so kommt diesem Mühlbauer doch das Verdienst zu, mir gegenüber die Indiskretion an eine äußerste Grenze getrieben zu haben.« (Bachmann 1971, 89; zum Folgenden auch Weigel 1999, 189 sowie Nittel 2008, 158–161). Was hat es mit der Indiskretion dieses in der Erzählung nun folgenden Interviews durch den wohl in Anlehnung an André Müller Mühlbauer getauften Journalisten auf sich? Die Antwort liegt bereits in der Form, nämlich in einer frappanten Inversion des Interviewformulars. Das erste der sieben Frage-Antwort-Paare liest sich folgendermaßen (für die erste wie für jede dieser sieben Fragen stehen sieben Auslassungspunkte):

1. Frage: .......?

Antwort: Was ich zur Zeit? Ich weiß nicht, ob ich Sie verstanden habe. Falls Sie heute meinen, dann möchte ich lieber nicht, jedenfalls heute nicht. Falls ich die Frage anders verstehen darf, zur Zeit im allgemeinen, zu einer für alle, dann bin ich keine Instanz, nein, ich will sagen, nicht maßgeblich, meine Meinung ist nicht maßgebend, ich habe auch gar keine Meinung. Sie haben da erwähnt, wir lebten in einer großen Zeit, und ich war natürlich nicht gefaßt auf eine große Zeit […]. (Bachmann 1971, 89)

Dieser Text inkriminiert also keineswegs einfach das Interview nur als taktlose ›Ausfragerei‹. Er gibt ihm vielmehr eine inverse Form, in der die vom Formular vorgesehenen Leerstellen, wie sie üblicherweise dem Interviewten auszufüllen zugemutet werden, nunmehr buchstäblich an die Stelle der Interviewfragen rücken – mit dem Effekt, das Publikum vor die Aufgabe zu stellen, die Leerstelle jeweils seinerseits zu erfüllen. Das verlangt aber der Lektüre nichts anderes ab, als sich mit ihren eigenen konventionellen Erwartungen an das Formular zu konfrontieren. Während die Antwort, wie überraschend auch immer, Karl Kraus’ klassischen Aufsatz aus dem Winter 1914 sowie Die letzten Tage der Menschheit aufruft (vgl. Kraus 1914; Kraus 1986, 101), lässt sich erkennen, dass die zitierte erste Frage in diesem Sinne den Topos vom Autor als zeitdiagnostischem Orakel bedient.

Wie der Malina-Roman mit seiner nach diesem Schema organisierten siebenteiligen Serie – sieben Fragen, sieben Plagen – herausarbeitet, besteht die Konvention vor allem darin, mit allen nur verfügbaren Mitteln ein möglichst einheitliches Porträt, ein adäquat erscheinendes ›Bild der Autorin‹ zu erschaffen (hierzu instruktiv Dörfelt-Matthey 2014, bezogen auf Charlotte Roche). Um diese Art von »Bildnispolitik« (vgl. Berndt et al. 2018; zu Bachmann im besonderen Hotz 1990) zu gewährleisten, ist Mühlbauer – »Herr Mühlhofer, Verzeihung, Herr Mühlbauer« (Bachmann 1971, 90) – bestrebt, Differenzen zwischen Leben und Werk einzuebnen. Gleich die zweite Frage des Gesprächs steuert zielgerichtet auf den kausalen Nexus von Erlebnis und Dichtung hin; sie zielt auf die Person im Sinne einer dem Gespräch abzugewinnenden »persönliche[n] Note« (Bachmann 1971, 93, explizit im Zusammenhang mit dem cat content, der in dieser Homestory nicht fehlt), darüber hinaus auf den Menschen ›hinter‹ den Texten und auf das ihm vorausgehende ›Leben‹.

2. Frage: .......?

Antwort: Meine Entwicklung … Ach so, geistige Entwicklung, fragen Sie. Ich habe im Sommer lange Spaziergänge auf der Goria gemacht und bin im Gras gelegen. Verzeihen Sie, es gehört aber zur Entwicklung. Nein, ich möchte lieber nicht sagen, wo die Goria ist, sie wird sonst auch noch verkauft und verbaut, es ist ein unerträglicher Gedanke für mich. Beim Heimgehen mußte ich über den Bahndamm ohne Schranken, es war manchmal gefährlich, weil der Gegenzug nicht zu sehen war, wegen der Haselnußstauden und einer Gruppe von Eschen, es ist heute aber kein Bahndamm zu überwinden dort, man geht durch eine Unterführung.

(Hüsteln. Eine merkwürdige Nervosität des Herrn Mühlbauer, die mich nervös macht.) (Bachmann 1971, 89 f.)

Die Befragte nimmt mit der Differenz von früher und »heute« das mit der Entwicklungsfrage verbundene Moment der Zeitdimensionen zwar auf, reagiert aber mit einer Art überkonkretisierenden Nennung des Unterschieds von schrankenlosem Bahnübergang und »Unterführung« in einer Weise, die bezogen auf die erfragte »geistige« Entwicklung an Unverständlichkeit grenzt. Die eingeklammerte Notiz zur nonverbalen Äußerung des Interviewers invertiert im Übrigen ebenso die gängige journalistische Transkriptionspraxis – auch im Folgenden, zum Beispiel so: »(Verlegenes Husten des Herrn Mühlbauer.)« (Bachmann 1971, 99). Die interviewte Schriftstellerin verweist sodann, sich den Spielregeln mehr oder weniger erfolgreich entziehend (anders Pottbeckers 2014, 374), insbesondere mit ihrer Antwort auf die »4. Frage: …….? (Zum zweiten Mal.)«, aufs »Lesen«, aufs Lesenlernen und die »Zeichen«, jene »unmenschlichen Fixierungen«, die uns »Schwarz auf Weiß« entgegentreten (Bachmann 1971, 94; vgl. Kaschnitz 1962, 41). Dass hier mit der Differenz von ›Persönlichkeit‹ und ›Zeichen‹ Jan Mukařovský und mit dem Schwarzweißzitat Roland Barthes ins Spiel kommen (»L’écriture, c’est ce neutre, ce composite, cet oblique où fuit notre sujet, le noir-et-blanc où vient se perdre toute identité« [Barthes 1994, 491]), gibt diesem Interview nun geradewegs den Charakter einer zwar stolprigen (Röggla 2006), aber dennoch ebenso konsequenten wie luziden Metakommunikation. Darin resultiert die ›Autorin‹ aus dem Prozess eines ›Making of …‹, eines praxeologisch beobachtbaren »doing being« (Sacks 1984), das an Stelle eines formulargetreuen Einblicks in ›Autor und Werk‹ vielmehr Hinweise auf jene Verfahren, Praktiken und sprachlichen Figuren gibt, die eine solche Person befragend vergegenwärtigen – und erschaffen (über Bachmanns eigene Interviewpraxis im Zusammenhang mit dem Erscheinen von Malina, in paratexttheoretischen Begriffen: Borhau 1994, 60–63).

Mühlbauers Indiskretion, die das gängige Interviewformular gegen alle Ausweichversuche der Befragten in Anschlag bringt, besteht in der Zurückweisung von Unterscheidungen – sofern diskret (von lat. discernere) das voneinander Abgesonderte, Getrennte und Unterschiedene bezeichnet –, jener Unterscheidungen nämlich, die sich im literaturwissenschaftlichen Diskurs seit und mit dem Strukturalismus behaupten konnten. Indiskret erscheinen vor diesem Hintergrund sowohl die immer wieder herbeigewünschte und herbeigenötigte Re-Union von Leben und Werk als auch die Integration literarischer Texte in gelebtes ›eigenes‹ Leben, in eine als einheitlich erfahrbare Wirklichkeit. Anstelle von literarisch konstituierten Subjekt-Positionen – shifter, Protagonisten, fiktives Personal – figuriert im Formular der Indiskretion der alte Singular namens ›Persönlichkeit‹. In ihrem Namen werden literarische Texte massiv kategorial vereinheitlicht, als: Ursprung, Intention, Person, Erlebnis; Stimme, Idee, eigentliche Bedeutung; Aussage, Auftrag, thetische Aussage.

Und man kann wohl konstatieren, dass Mühlbauer gegenwärtig wieder ausgesprochen angesagt ist. Dem personalen Individuum wächst als Autor- und celebrity-Individualität neue, auch wissenschaftlich motivierte Aufmerksamkeit zu. Der Autor soll wieder »ein Wörtchen« mitzureden haben (Ruchatz 2014, 59) – vom entscheidenden Wort à la Eckermann zum Wörtchen: Wer möchte dieser vermeintlichen Harmlosigkeit widersprechen? In einer Einführung in Die deutsche Gegenwartsliteratur wird Gegenwartsliteraturforschung der hermeneutische Vorteil zugeschrieben, Autoren befragen zu können (Braun 2010, 206). Schon Foucault hat eine gewisse folgenlose Rede vom »Tod des Autors« als »affirmation vide«, leere Beteuerung, beargwöhnt (Foucault 1994, 796). Vielmehr sei zu fragen und zu bestimmen, wo ihm welche Funktion zugewiesen werde. Nimmt man diesen Auftrag ernst, lässt sich beobachten, dass offenbar gerade die wissenschaftliche Behandlung von Gegenwartsliteratur nicht nur gelegentlich und nicht nur implizit zu einer Re-Installierung der ›Autorstimme‹ einlädt. So hat der Literaturwissenschaftler Stephan Porombka die Gespräche Eckermanns geradezu zum Modell des Werkstattgesprächs als probates Genre neu verstandener Literaturvermittlung erhoben: Gegenwartsliteraturwissenschaft soll in die »Eckermann-Schule« (Porombka 2007, 196) gehen und »Gespräche über Gegenwartsliteratur« (Porombka 2007, 202) führen. Klaus Weimar hat dies für literaturgeschichtliche Paradigmen des 19. Jahrhunderts als »Präsenzsimulation« beschrieben, die den Ursprung der ›Schöpfung‹ zu erkennen strebt und damit das entfaltete Werk paradoxerweise degradiert (Weimar 1989, 406; Porombka 2007, 191 beruft sich zu Unrecht auf ihn). Heinrich Düntzers Torquato Tasso-Interpretation – die bereits mit ihrem Motto ausstellt, worum es ihr geht: »Seht ihr aber meine Werke / Lernet erst: so wollt er’s machen« (Düntzer 1854, Titelseite) – steht Weimar zufolge für diese Struktur.

Florian Kesslers 2012 an Porombkas Eckermann-Studie anschließende, »Werkstattgespräche« betitelte Arbeit (Kessler 2012) steht in einer gewissen Kontinuität zu den 1962 erschienenen Werkstattgesprächen mit Schriftstellern des Autors, Kritikers und Lektors Horst Bienek. Sollen die darin versammelten Interviews und Gespräche einen durch nichts zu überbietenden hermeneutischen Schlüssel bereitstellen (Bienek 1962, 7), will zwar Kessler sein Werkstattgesprächs-Formular nicht umstandslos auf das Vorgehen des Literaturkritikers Bienek verrechnen lassen. Vielmehr ist ihm daran gelegen, sich als Wissenschaftler auszuweisen und eine entsprechende philologische Kompetenz geltend zu machen. Mit Bezug auf die Gespräche mit Schriftstellern des vor allem am »prallen Leben« interessierten Kritikers Heinz Ludwig Arnold (Arnold 2011, Epilog Min. 2:38; zit. nach Kessler 2012, 143) führt er aber aus: »Philologie, wie dieses Fragen es versteht, sammelt Informationen und Einschätzungen eines Schriftstellers, um aus ihnen Rückschlüsse auf seine Werke ziehen zu können.« (Kessler 2012, 161). Philologie folgt so verstanden den »Fragen« des Interviewformulars und ist durch es begrenzt. Dass Kessler sich im Vorbeigehen auf den »Tod des Autors« bezieht (Kessler 2012, 81), entspricht als methodologisch folgenloses Aperçu der erwähnten, von Foucault so genannten »affirmation vide«. Die Begriffe von Autor und Werk, auch die von Literaturkritik und Literaturwissenschaft (zu deren nicht-konsensueller Kooperation siehe Geitner 2018), verschwimmen unter den Vorzeichen eines Projekts, für das erstaunlicherweise »alles von Interesse« sein soll (Kessler 2012, 161). Versprochen wird »Deutungswissen«, an dem der sich ›inszenierende‹ Autor mitarbeite. ›Person‹ und ›Stimme‹ treten an die Stelle »diskreter Zeichensysteme« (Linke 2008, 83; vgl. auch Weimar 1989, 352). So behauptet sich das überkommene Interviewformular mit seiner Autorfokussierung in einer Gemengelage von Popdiskursfaszination, Interesse am prallen celebrity-Leben und bildungsphiliströsen Ambitionen (vgl. Heckmann 1976, 54). Von einer praxeologischen Vorgehensweise, wie sie sich in der Gegenwartsliteraturforschung bereits konzipiert findet (vgl. Martus und Spoerhase 2009), ist das weit entfernt.

Dass »Werkstattgesprächen« der Rang eines hermeneutischen Fundaments zugewiesen wird, dafür ist Peter André Blochs im renommierten Fachverlag Wallstein erschienener Friedrich Dürrenmatt ein signifikantes Beispiel. Die Arbeit verspricht das Desiderat einer »umfassende[n], überschaubare[n] Gesamtdarstellung von Leben und Werk« zu beheben. Im Unterschied zu gängigen wissenschaftlichen Standards und Praktiken bietet sie aber zunächst eine Beschreibung und Platzierung der eigenen Person als Interviewer, geeigneter Gesprächspartner und relevanter Interpret innerhalb einer gewachsenen, hermeneutisch privilegierten hermetischen Dyade: In exklusiven »Vertrauensmomenten« (Bloch 2017, 15) gab Dürrenmatt dem Gesprächspartner »Einblick« in seine poetologische Reflexion, erläuterte sein fiktionales Personal als »Spiegelfiguren« und steuerte regelmäßig zu einer »umfassende[n] Gesamtdeutung« seines Werks bei (Bloch 2017, 23). Auf diesem Wege, nämlich dem eines »wirklich hinterfragende[n]«, »schöpferisch-intuitive[n] Interpretieren[s]«, habe der Fragende mehr erfahren als – man ahnt es – in den vielen »sogenannt wissenschaftlichen Vorlesungen und Seminarien der Universität« (Bloch 2017, 23). Aus der Perspektive des Interviewformulars werden wissenschaftliche als ›sogenannte‹ Positionen diskreditiert.

So behaupten die Formulare indiskreten Verstehens sich nicht nur als Rand- und Ausnahmephänomene (hierzu instruktiv Heubner 2002, 86 f.), sondern sollen als Normal Science gelten. Wenn man diesem Normalisierungstrend entgegenwirken will, empfiehlt es sich, statt weiterhin nur Autorinnen und Autoren vielmehr und vor allem entsprechende Formulare zu befragen, in ihrer Reichweite, Aussagekraft und Legitimität zu begrenzen oder zur Disposition zu stellen. Vor diesem Hintergrund könnte man regelmäßig jenen methodischen Vorschlag Foucaults aufgreifen, Texte gerade renommierter Autoren als ›Texte ohne Namen‹ zu behandeln (Foucault 1984). Das würde die auf die Ausdeutung von »Onymität« (Genette 1989, 43–50; zur vormodernen Codierung der Unterscheidung Onymität/Anonymität Haferland 2011) konzentrierten modernen Autorschaftsvorstellungen selbstverständlich weder verdrängen noch tilgen oder tabuisieren; vielmehr würden sie als solche in diskreter Differenz zum Text oder Werk gelesen und der Lektüre damit experimentell entzogen. Erst mit Hilfe eines solchen theoretisch reflektierten wie praktisch-operativen Entzugs ›indiskreter‹ Formulare behaupten sich der Text und auf diesem Weg auch Autor und Autorin.

Es war ein Interview, in dem Roland Barthes zum Genre Stellung genommen hat. Das Interview sei ein gesellschaftliches Spiel, dem man sich kaum entziehen könne. Wer publiziert und damit auf Aufmerksamkeit und Anerkennung zielt, müsse akzeptieren und erfüllen, was die Gesellschaft im Zusammenhang mit Büchern verlangt. Theoretisch aber sei einzuwenden, dass die Rede des Interviews die Schrift des behandelten Werks verdoppele und seine Bedeutung mindere: »was ich habe sagen wollen, konnte ich nicht besser als schreibend sagen, und es redend noch einmal zu sagen, führt dazu, es zu vermindern.« (Boncenne 2002, 350).