Texte mit Lücken

Formulare sind von einer Ordnung bereitgestellte und im Rahmen dieser Ordnung verwaltete Texte mit Lücken, die von individuellen Fällen ausgefüllt werden, die von dieser Ordnung gesucht werden oder diese Ordnung in Anspruch nehmen. Formulare sind somit Metaphern, die Sachverhalte in Sachverhalte übersetzen (siehe Frese 1985, 155).Footnote 1 Auch diese Definition des Formulars ist bereits ein Formular, das eine Ordnung herstellt, die von einzelnen Formularen mehr oder minder genau erfüllt wird.

Entscheidend ist die Herstellung einer Distanz zwischen zwei Sachverhalten. Diese Distanz enthält das Risiko, dass die Ordnung des Sachverhalts den zu ordnenden Sachverhalt verkennt, und mit diesem Risiko die Chance, im Formular, im individuellen Sachverhalt oder in deren Verhältnis so nachzusteuern, dass es passt. Man kann sich entschließen, Lücken offen zu lassen oder das Formular durch weitere Formulare, die es erläutern, zu variieren. Formulare sind in diesem Sinne ›bürokratische‹, die Herrschaft eines Büros realisierende Akte, deren Reichweite davon abhängt, wie flexibel diese Herrschaft sowohl die internen Regelungszusammenhänge wie die Erfassung der zu erfassenden Sachverhalte zu handhaben versteht (so Vismann 2000). Die Distanz zwischen dem regelnden und dem geregelten Sachverhalt kann entweder objektivistisch-zweiwertig dazu genutzt werden, Irrtümer auf Seiten der Ordnung oder des individuellen Falls zu korrigieren, oder konstruktivistisch-mehrwertig dazu beitragen, das Verhältnis zwischen den beiden Sachverhalten zugunsten der Gestaltung eines gegenüber den Ausgangspunkten eigensinnigen Falles neu zu interpretieren. Im ersten Fall spricht man von Subsumtion, im zweiten von Design (so Simon 1981, 128–159; vgl. Glanville 2014a, 2014b).

Formulare prüfen, regulieren und konditionieren mit einem individuellen Fall immer auch sich selbst. Jedes Formular und jede Anwendung des Formulars sind Tests, ob sie noch immer Geltung beanspruchen können. Die Technizität des Formulars gründet in einer Kommunikation, die das Formular gesellschaftlich kontexturalisiert. Die Technizität ist das Ergebnis einer Technisierung (siehe Blumenberg 1981), die gelingen, aber auch misslingen kann. In beiden Fällen lernt man etwas über Ordnung, wenn nicht sogar über Herrschaft. In beiden Fällen lernt man etwas über Kommunikation, die von der Technik entlastet, da ihr fragloses Funktionieren Konsens einspart (siehe Gehlen 1957, 8; vgl. Luhmann 1997, 518), in besonderen Fällen aber auch herausgefordert werden kann. Die Technik des Formulars digitalisiert die Komplexität eines Falles zugunsten seiner Beschreibung und Bearbeitung im Rahmen distinkt gegebener Merkmale, die entweder erfüllt oder nicht erfüllt sind. ›Digitalisierung‹ heißt hier im strengen Wortsinn: Zählen und Ordnen im Rahmen binärer Schematisierungen, die nach Bedarf intern verschachtelt werden können und nach Bedarf ihre Wertigkeit und Gewichte korrigieren können.Footnote 2

Spencer-Browns Kalkül als Formular soziologischer Forschung

Nichts schließt aus, diesen Formularbegriff auch für die soziologische Forschung fruchtbar zu machen. Jeder Begriff ist ein Formular, dem individuelle Fälle entweder subsumiert werden oder das erlaubt, individuelle Fälle zu gestalten.Footnote 3 Methoden, Modelle, Formeln und Gleichungen der empirischen Sozialforschung sind ebenfalls Formulare, deren Reichweite, Anwendbarkeit und Verknüpfbarkeit untereinander von Theoriearbeit mehr oder minder reflexiv begleitet wird. Man kann daraus eine Wissenschaftstheorie und, mehr noch, eine Wissenschaftssoziologie gewinnen, die sich anschaut, wie einzelne Formulare begründet werden und auf welche Selektivität ein Fach sich mit ihnen festlegt. Auch dafür werden Formulare benötigt und erstellt, die den eigenen Ansatz zu ordnen erlauben und ihrerseits wissenschaftstheoretisch und ‑soziologisch untersucht werden können.

Darüber hinaus kann man Formulare erster und zweiter Ordnung voneinander unterscheiden. Formulare erster Ordnung zählen und ordnen statistisch, welche individuellen Fälle mit welchen Merkmalen gegeben sind und in welchen Korrelationen miteinander stehen. Formulare zweiter Ordnung unterstellen zusätzlich, dass die individuell gegebenen Fälle sich selber formularähnlich zählen und ordnen. Formulare zweiter Ordnung untersuchen Gegenstände, die ihre Komplexität mithilfe eines Formulars ordnen beziehungsweise ›selbst organisieren‹ indem sie ihrer Organisation eine zweite Organisation gegenüberstellen (Ashby 1947). Im einfachsten Fall läuft dies auf eine Erforschung von Bürokratien hinaus, die Formulare verwenden, um ihre Klientel zu erreichen und ihre schriftliche Aktenführung sicherzustellen (siehe Weber 1990, 125 ff. und 551 ff.). In komplizierteren Fällen müssen Ordnungen untersucht werden, deren Formularcharakter implizit ist. Hier ist der Formularbegriff ein beschreibender Begriff, der im Gegenstand selbst nicht verwendet wird. Damit steigt das Risiko der Beschreibung, aber auch die Chance der Selbstkorrektur. Der möglicherweise komplizierteste Fall schließlich ist jener, in dem der Gegenstand sich in einem Formular konstituiert, das im Gegenstand umstritten ist: umstritten sowohl im Hinblick auf seine Existenz wie auf seine Gestaltung und Variierbarkeit. Noch komplizierter ist allenfalls jener Fall, in dem die wissenschaftliche Beschreibung des Gegenstands als Formular im Gegenstand zum Teil des Streits über den Gegenstand wird.

Um einen solchen Fall geht es im Folgenden. Platon scheint seine Ideen- bzw. Formenlehre ebenso präzise wie ironisch im Sinne eines Formulars entwickelt zu haben, das zur Überprüfung philosophischen Fragens im Medium der Beschreibung von Konstitutionsproblemen des Gegenstands geeignet ist (siehe Schäfer 2007). In der Folge suchte der Formbegriff seine Stabilität sowohl im Unterschied zu Materie als auch zu Inhalt, doch misslang die Stabilisierung und wurde schließlich aufgegeben: Nachdem Kant (1968, B324) den in der Tradition bis zu Leibniz angeblich primären Begriff der Materie zum gegenüber dem Begriff der Form sekundären gemacht hat, da nur die Form »für sich allein gegeben ist«, stellt Hegel (1975, §129) lapidar fest, Form und Materie seien »an-sich dasselbe«, da die Materie als Einheit aller Bestimmungen auch die Form enthält und die Form als Reflexion-in-sich bereits enthält, was auch die Materie ausmachen soll.

Wittgenstein (1963, Satz 4.12) bestimmt die (logische) Form nur noch als das, worin ein Satz und die von ihm dargestellte Wirklichkeit übereinstimmen, ohne dass diese Übereinstimmung ihrerseits dargestellt werden könnte.Footnote 4 Man kann dann zwar Formen als Inhalte lesen (vgl. Heinrich 1987, 9), aber aus diesen Inhalten wiederum nur auf die Formen schließen. In diesem Sinne verzichtet auch George Spencer-Brown für seinen Formbegriff auf jeden Gegenhalt und entwirft einen Indikationenkalkül, der zu zeigen vermag, wie Gegenstände aus Unterscheidungen gewonnen werden können, die von Beobachtern getroffen werden, die mit diesem Gegenstand »in der Form« identisch sind (Spencer-Brown 2008, 63; vgl. Kauffman 1987; Luhmann 1993a; Schönwälder-Kuntze, Wille und Hölscher 2009). Ich schlage im Folgenden vor, Spencer-Browns Kalkül als ein Formular soziologischer Forschung zu lesen, und schließe nicht aus, dass dies auch für die Sozialwissenschaften sowie die Literatur-, Kultur- und Medienwissenschaften von Interesse ist. Spencer-Browns Formbegriff erschließt ein Formular zur Beschreibung reflexiver Gegenstände, für die nicht auszuschließen ist, dass ihre wissenschaftliche Beschreibung, wie vermittelt auch immer, in ihre Reflexion Eingang findet. Wir haben es mit einem Formular zu tun, das nach subsumierbaren Gegenständen sucht, in deren Design die Beschreibung als Form eine Rolle spielen kann (für die Soziologie siehe Baecker 2005, 2013b; Karafillidis 2010; Lehmann 2011, 2012). Immerhin gibt es für ein solches Vorgehen prominente Beispiele, denen man nicht vorwerfen kann, um die sich selbst problematisierenden Aspekte des Formbegriffs nicht gewusst zu haben:

  • Karl Marx analysiert die Warenform als Einheit der Differenz von Gebrauchswert und Tauschwert und übersetzt die Problematik des Begriffs in die Einsicht in den »historischen Charakter« (Marx 1980, 90) jeder Form.

  • Georg Simmel untersucht die »einheitliche Realität« (Simmel 1992, 19) der Gesellschaft unter dem Gesichtspunkt einer nur analytisch möglichen Trennung von Form und Inhalt und geht seinerseits davon aus, dass die Form so oder so »nur in ihrem Zerstörtwerden« lebt (Simmel 1989a, 714). Das Leben, so Simmel andernorts (1994, 14), sei zugleich »geformt und formdurchbrechend«.

  • Auch für Ernst Cassirer liegt die Pointe der ›symbolischen Formen‹ Sprache, Mythos und Kunst nicht nur darin, dass die ›Form‹ Einheit in die Materie trägt, sondern ebenso sehr darin, dass sie ›symbolisch‹ ist, den Gegenstand in eine Entfernung rückt und im Medium dieser Entfernung ein (variierbares) Verhältnis zu ihm schafft (siehe Cassirer 2009).

Oszillation in der Form

Spencer-Browns Indikationenkalkül liefert ein Formular für die Beschreibung und Gestaltung komplexer Formen. Komplexe Formen sind Formen, die analog zu »komplexen« Zahlen in ihrer Unterscheidung oszillieren und mit dieser Oszillation einen dritten, imaginären Wert aufrufen, der die Form als Form benennt. Man kann diese Formen in folgende Elemente dekomponieren:

  • erster Wert: die Bezeichnung der Innenseite einer Unterscheidung, a;

  • zweiter Wert: die Bezeichnung der Außenseite einer Unterscheidung, b;

  • dritter Wert: der Wiedereintritt (re-entry) der Form in die Form.

Für die komplexe Form eines beliebigen Gegenstandes, a, erhalten wir folgende Formgleichung beziehungsweise folgendes Formular:

In dieser Gleichung ist jedes Symbol definiert. Das Symbol a bezeichnet den Gegenstand, der einen Beobachter interessiert, der mit einem Gleichheitszeichen = notiert, dass er diesen Gegenstand als einen komplexen Gegenstand zu beschreiben und gestalten beabsichtigt, dessen Spezifika auf der rechten Seite der Gleichung angegeben werden. Dort findet sich der Gegenstand a wieder als Ergebnis einer Bezeichnung (indication), die von einer Unterscheidung (distinction) getroffen wird, die diesen Gegenstand mittels eines cross, , von der Außenseite der Unterscheidung, hier b, unterscheidet. Die Wiedereinführung der Unterscheidung in die Form der Unterscheidung wird mithilfe des re-entry, , notiert. Die Form markiert einen Raum, space, der dank der Form und mithilfe der Form explorierbar wird. Auf der Außenseite der Form erinnert die Leere, void, an die Herkunft der Form aus einer Unterscheidung, die von einem Beobachter getroffen oder auch nicht getroffen werden kann.

Die Form vollzieht eine Schließung, closure, deren prekärer Stand grafisch durch die nach links unten hin offene Notation symbolisiert wird. Der dritte Wert, das re-entry, macht ein cross für einen Beobachter zweiter Ordnung beobachtbar, das sich dem Beobachter erster Ordnung entzieht.Footnote 5 Der Beobachter erster Ordnung erschöpft sich, wenn man das so sagen darf, in der Bezeichnung des Gegenstands als a. Das cross in seiner Eigenschaft der Produktion sowohl des Gegenstands a wie des als Beobachter des Gegenstands sichtbar werdenden Beobachters erster Ordnung ist die Wirklichkeit der Form, erschlossen von einem Beobachter zweiter Ordnung, dem sich die Unterscheidung und damit Außenseite der Form, die er zum Wiedereintritt nutzt, ihrerseits entzieht. Der Beobachter zweiter Ordnung kann nur als Beobachter erster Ordnung Wirklichkeit gewinnen. Für ihn gilt daher, was auch für den von ihm beobachteten Beobachter erster Ordnung gilt. Beschreibungen sind Beschreibungen zweiter Ordnung, deren Wirklichkeitsgehalt sich zeigt, aber nicht gesagt werden kann.Footnote 6

Operatives Verständnis von Komplexität

Dieser Formbegriff ist als ein Formular der Erforschung komplexer Gegenstände schon deswegen interessant, weil er an ein operatives Verständnis von Komplexität gebunden ist. Komplex ist der in seiner Unterscheidung oszillierende, weil in seiner Form nur prekär gesicherte, seiner eigenen Wirklichkeit ungewisse Gegenstand. Wir können hier offenlassen, ob dies nur für kommunizierte und bewusste oder auch für biologische und physikalische Gegenstände gilt.Footnote 7 Hält man sich an die Einsicht, dass wir uns in einem Text wie dem vorliegenden »Bilder der Tatsachen« machen (Wittgenstein 1963, Satz 2.1), halten wir so oder so gleichweiten Abstand zu Sachverhalten der Kommunikation und des Bewusstseins wie des Lebens und der Natur.

Die Komplexität der Form, die das Formular abbildet, gibt sich auch daran zu erkennen, dass Spencer-Browns Formen mit Operatoren arbeiten, crosses und re-entries, die nicht nur auf zwei Elemente wirken, wie dies in jeder bisherigen Algebra der Fall ist, sondern auf eine unbegrenzte Anzahl von Elementen, für die überdies die Reihenfolge der Darstellung irrelevant ist (siehe Spencer-Brown 1997, xv). Eine Addition oder Subtraktion, Multiplikation oder Division, Quadrierung oder Radizierung bezieht sich immer nur auf zwei jeweils benachbarte Elemente. Enthält eine algebraische Gleichung mehrere Elemente, macht es einen Unterschied, in welcher Reihenfolge man die Operationen durchführt. Klammerausdrücke schaffen hier Eindeutigkeit. Die Elemente einer Form des Indikationenkalküls hingegen sind hochgradig interdependent. Jede Operation wirkt auf alle Elemente ein. Spencer-Brown spricht von einem »pervasive space«, der das gesamte Arrangement durchwirkt (Spencer-Brown 2008, 6). Wir haben es mit einer mehrstelligen, von der Reihenfolge der Operationen unabhängigen, mathematischen Operation der Bezeichnung, Unterscheidung und Verschaltung von Beobachtungen erster und zweiter Ordnung zu tun – wenn man so will, mit einer nicht-trivialen Maschine, die neben ihrer Transformationsfunktion auch über Zustandsfunktionen verfügt, die ihre Operationen vielfältig abhängig machen von ihren Zuständen (von Foerster 1993a). Oder eben: mit Reflexion.

»Eine Funktion«, so hatte Wittgenstein festgehalten, »kann nicht ihr eigenes Argument sein, wohl aber kann das Resultat einer Operation ihre eigene Basis werden« (Wittgenstein 1963, Satz 5.251). Daran hält sich auch der Indikationenkalkül. In Kap. 11 seines Buches zeigt Spencer-Brown, wie Argumente, etwa a und b, Funktionen ihrer selbst werden können (Tydecks 2017–2020). Durch die Wiedereinführung der Unterscheidung in die Form der Unterscheidung kann jedes cross zum marker werden (Spencer-Brown 2008, 53), die Operation zum Operand, die Konstante zur Variablen. Spencer-Brown nutzt dazu die Vorstellung, dass oszillierende Werte imaginäre Werte in der Zeit sind, die alle reellen Werte mit ihrer Variation »bedrohen«: Das Imaginäre existiert »not as a reality, but as a threat« für den Fall, dass eine Unterscheidung falsch operiert (Spencer-Brown 1992, 9). Soziologisch kann man sich vorstellen, dass die zusätzlichen Zustände einer Form nicht nur in der Zeit, sondern auch in der Ökologie der Sache oder in der Divergenz (»Gesellschaft«) der Beobachterperspektiven imaginiert und von dort aus zur Wirkung gebracht werden.

Die systemtheoretische Interpretation

In der soziologischen Systemtheorie findet dieses Formular komplexer Formen eine mehrfache Interpretation. Ich halte nur einige wenige Punkte fest und beschränke mich auf theoretische Perspektiven, ohne auf ihre empirische Überprüfung einzugehen. Diese empirische Überprüfung beträfe ideen- und begriffsgeschichtliche Studien (etwa Gulkowitsch 1938; Koselleck 1979; Luhmann 19801995) sowie Fallstudien.

(1) Wichtig ist zunächst, wie bereits betont, die Operationalisierung von Komplexität, die zum einen in der Interdependenz der in ihren Raum wiedereingeführten Bezeichnungen und Unterscheidungen zu suchen ist sowie zum anderen darin zum Ausdruck kommt, dass trotz der hochgradigen Reflexion der Form in der Form die Form selbst in einer unerreichbaren Realität verankert ist. Jede Operation in der Form muss eine Unterscheidung voraussetzen, die im Moment der Beobachtung von etwas ihrerseits nicht beobachtet werden kann (Luhmann 1990a). Spencer-Brown spricht von einem »unwritten cross« (Spencer-Brown 2008, 6), unter dem alle Operationen stehen und das nur expliziert, ausgeschrieben werden kann, wenn es im Rahmen einer Unterscheidung bezeichnet wird, die ihrerseits zunächst unbeobachtet bleibt.

(2) Dieses Verhältnis von Beobachtung und mitlaufend unbekannt bleibender Realität gilt auch dann, wenn man darauf achtet, dass jede Form Beobachtungen erster und zweiter Ordnung miteinander verschaltet. Durch diese Verschaltung wird Reflexion operationalisiert. Jede Form ist, sobald sie notiert wird, die Form einer Beobachtung zweiter Ordnung. Sie beobachtet Beobachtungen, nämlich Bezeichnungen im Rahmen von Unterscheidungen. Crosses notieren Beobachtungen erster Ordnung, re-entries Beobachtungen zweiter Ordnung. Das Gleichheitszeichen und der Ausdruck auf der linken Seite des Gleichheitszeichens sind daher Elemente der Form. Sie explizieren den Beobachter, der die Form, die er auf der rechten Seite des Gleichheitszeichens identifiziert, mit dem Gegenstand »verwechselt« (Spencer-Brown 2008, 57), den er auf der linken Seite des Gleichheitszeichens notiert. Bereits durch diese Bereitschaft, den untersuchten Gegenstand mit der Form zu verwechseln, die er beschreibt, geben sich das Engagement und damit auch die Verantwortung des Beobachters zu erkennen. Erst recht gilt dies für den Umstand, dass die Beobachtung zweiter Ordnung damit rechnen muss, ihrerseits im Gegenstand wie eine »Messung« beobachtet zu werden und so den Gegenstand bereits zu verändern, wenn nicht sogar als den zu konstituieren, als der er in der Beobachtung erscheint (Mittelstaedt 1998, 2000).

(3) Eine weitere Form der Operationalisierung von Komplexität ist die Dynamik des Einschlusses des Ausgeschlossenen, die die Form durchzieht. Jedes cross schließt auf der Außenseite der Unterscheidung aus, was ausgeschlossen werden muss, um auf der Innenseite der Unterscheidung eine Schließung vollziehen und bezeichnen zu können, was bezeichnet werden soll. Und jedes re-entry schließt diesen Ausschluss ein und macht ihn als Voraussetzung der Schließung in der Form sichtbar. Für den Fall der klassischen zweiwertigen Logik bietet Spencer-Brown für diesen Einschluss des Ausgeschlossenen die Interpretation an, das cross als Negation des unter ihm stehenden Wertes zu lesen sowie die Außenseite der Unterscheidung als Implikation dessen, was auf der Innenseite bezeichnet und negiert wird (Spencer-Brown 2008, 91). Negation und Implikation werden somit beide durch das cross notiert, das auf der Außenseite der Unterscheidung Ausgeschlossene ist das durch die Innenseite der Unterscheidung in der Form Implizierte und so Eingeschlossene.Footnote 8 Nicht umsonst versteht Spencer-Brown seinen Kalkül als eine Verallgemeinerung des Shefferschen Postulats, dass alle logischen Operationen auf die eine Operation der Negation reduziert werden können (vgl. Spencer-Brown 2008, 87 ff.; Sheffer 1913). Und nicht umsonst formuliert Wittgenstein als »allgemeine Form des Satzes« eine Wahrheitsfunktion, die jeden Satz als Resultat der Anwendung der Negation aller Sätze auf die Elementarsätze begreift (Wittgenstein 1963, Sätze 6 und 6.001). Nicht die binär-antinomische, sehr wohl aber die generell-reflexive Negation erschließt im Medium des Sinns alle möglichen Sätze (siehe Spencer-Brown 2021; Luhmann 1975). Die aktuelle Bezeichnung potenzialisiert durch ihre Unterscheidung von dem, was sie ausschließt, mögliche andere Bezeichnungen (siehe Barel 1989), die genauso in die Form eingeschlossen sind: »Distinction is perfect continence« (Spencer-Brown 2008, 1). Im Medium des Sinns (inklusive der Wahrnehmungsmedien des Bewusstseins) ist dies nachvollziehbar (siehe Luhmann 1971; White u. a. 2007; Godart und White 2010), doch inwieweit gilt es etwa auch in physikalischen und biologischen Medien?

(4) Diese über den Indikationenkalkül hinausführende beziehungsweise seine allgemeine kognitionswissenschaftliche Applizierbarkeit testende Frage lässt sich mithilfe der Unterscheidung von Form und Medium bearbeiten. Im Rahmen dieser Unterscheidung lässt sich jede Form in jedem Moment ihrer Operation zugleich als fest gekoppelte Form der Elemente, die in ihr bezeichnet, unterschieden und wiedereingeführt werden, und als Medium begreifen, in dem dieselben Elemente lose gekoppelt vorliegen (so Heider 2005; Luhmann 2017). Bei dieser Vorstellung hilft, dass die Form im Moment ihres Wiedereintritts in die Form der Unterscheidung bereits temporalisiert ist und somit zum Ereignis ihrer selbst wird. Wie die Kommunikation in Gesellschaft oder die Vorstellung in einem Bewusstsein taucht sie auf, um sofort wieder zu verschwinden (siehe Luhmann 1984, 1985; Clam 2001, 2002). Man kann sich die Form daher zum einen als Eigenwert einer rekursiven Funktion vorstellen (so von Foerster 1993b) und zum anderen als Produkt einer Wiedergewinnung aus ihrem eigenen Zerfall (so Luhmann 1984, 394). Dieser Zerfall hinterlässt Spuren in Gestalt eines Mediums potenzialisierter Formen (siehe Krämer 1998a, 1998b). Auf diese Spuren kann zurückgegriffen werden, wenn jede aktuelle Form bereits im Medium einer alternativen Realisierung beobachtet worden ist. Komplexe Formen ermöglichen genau dies. Sie destabilisieren die Form zugunsten einer Beobachtung ihrer Unwahrscheinlichkeit ebenso wie ihrer alternativen Formen der Realisierung. Wer so unterscheidet, kann auch anders unterscheiden. Luhmann zögert daher nicht, die Stabilitätsbedingungen der Gesellschaft in ihren Medien, nicht in ihren laufend zerfallenden Formen zu sehen: Formen sind fest gekoppelt, aber instabil; Medien sind lose gekoppelt, aber stabil (so Luhmann 1997, 200).

(5) Wenn die Identität jeder Bezeichnung innerhalb der Form auf einer Unterscheidung beruht, die sie absichert und zugleich gefährdet, besteht die Komplexität einer Form auch darin, dass sie Identität auf Differenz zurückführt. Die Bezeichnung von a ist nur möglich im Kontext einer Bezeichnung von b, mit dem Ergebnis, dass a ist, was es ist, weil es sich zugleich auf b bezieht, das es nicht ist, und diesen Bezug im re-entry der Unterscheidung in die Form der Unterscheidung reflektiert. Insofern formalisiert das Formular komplexer Form jede Differenzierungstheorie, die in der Soziologie seit Georg Simmel, in der Linguistik seit Ferdinand de Saussure und in der Psychoanalyse seit Jacques Lacan ausgearbeitet worden ist (vgl. Simmel 1989b; de Saussure 1972; Lacan 1966). Parallel dazu nimmt die Philosophie Abstand von Hegels Annahme der Aufhebung aller Differenzen in einer absoluten Einheit (siehe Deleuze 1997; Derrida 1972; Lyotard 1987), definiert die Informationstheorie jede Information als Differenz einer Nachricht im Kontext des Auswahlbereichs möglicher Nachrichten (so Shannon und Weaver 1963) und führt auch die Kulturtheorie kulturelle Identitäten auf Kulturkontakte zurück, in denen man sich von anderen Identitäten abgrenzt, die im selben Moment konstruiert werden (so Bateson 1981; vgl. Baecker 2001; Jullien 2017). Komplexe Formen sind das Ergebnis von Anleihen im Modus der Negation, von Diffusion im Modus der Übersetzung und Imitation im Modus der Konkurrenz (so Girard 1987; Dumont 1966, 1977).

(6) Eine weitere Möglichkeit, das Formular komplexer Formen zu interpretieren, liefert die Theorie der Evolution nach Darwin (siehe Campbell 1969). Jede Veränderung des Werts einer Bezeichnung ist eine Variation, die alle anderen Werte zu Selektionen und Retentionen im Beziehungsgeflecht ihrer Unterscheidungen zwingt. Wie immer implizit muss die Form insgesamt interpretiert werden, um Selektionen motivieren zu können, die ihrerseits Variationen darstellen und nur auf der Ebene eines re-entry, das jede denkbare reflexive Variabilität mit der Unterstützung von Beobachtungen erster Ordnung kombiniert, restabilisiert werden können. Die Zeitlichkeit des Zerfalls arbeitet einer Evolution zu, die daraus neue Spielräume gewinnt, diese jedoch nicht zugunsten des Verlusts jeder Eindeutigkeit nutzen darf, da damit verloren ginge, worauf die Evolution angewiesen ist, nämlich die Trennung zwischen den Ebenen der Variation, Selektion und Retention. Diese Trennung kann für längere oder kürzere Zeiträume gelten, darf aber nicht ganz aufgegeben werden, wenn die Evolution nicht riskieren will, zu einer Drift zu werden, die von sich selbst keinen (reflexiven) Begriff mehr hat (siehe Luhmann 1997, 494; vgl. Maturana-Romesín und Mpodozis 2000).

(7) Nichts garantiert, dass eine komplexe Form immer auf der reflexiven Höhe ihrer selbst operiert. Die Qualität eines cross, das sich der Bezeichnung entzieht, solange es nicht in die Form wiedereingeführt und so auf die Funktion eines marker reduziert wird, lässt sich dazu nutzen, jede vorausgesetzte Realität der Form unbefragt zu lassen. Beobachter zweiter Ordnung können sich darauf beschränken, die Bezeichnungen der Beobachter erster Ordnung zu bestätigen, ohne sie durch Hinweise auf die diesen zugrundeliegenden Unterscheidungen zu komplizieren. Bleibt es bei Bezeichnungen ohne Thematisierung von Unterscheidungen, bekommt man es mit Selbstbeschreibungen beziehungsweise fixen Identitäten zu tun, die ihre Rolle darin sehen, bereits gefundene Bezeichnungen zu wiederholen. Selbstbeschreibungen gefährden sich, wenn sie das auf der Außenseite ihrer Unterscheidungen Ausgeschlossene als notwendigerweise Ausgeschlossenes thematisieren, doch selbst diese Gefährdung kann als zusätzliche Motivation zur Stabilisierung von Identitäten herangezogen werden.

(8) Wesentlich ist mit all dem nicht zuletzt, dass die reflexive Form der Gegenstand einer Kommunikation ist. Sie ist der Gegenstand einer Kommunikation und öffnet so erst das »Differenzfeld« (Scheier 2016), auf dem alle weiteren Bezeichnungen und Unterscheidungen ihren Grund und in dem sie ihren Raum finden. Wenn es keine vorherige Kommunikation gäbe, könnte keine anschließende Kommunikation anschließen (Luhmann 1997, 190 f.). Aber zugleich gilt, dass jede Kommunikation als Markierung eines Unterschieds eine Form kommuniziert, an die vielfältig (komplex) angeschlossen werden kann. Sie informiert – und könnte über anderes informieren beziehungsweise die Information auch unterlassen. Sie teilt etwas mit – und man fragt sich, wer spricht und wer gemeint ist und warum beides ausgerechnet hier und jetzt. Und sie wird als Kommunikation verstanden, sobald und insofern zwischen Information und Mitteilung in der Kommunikation (nicht etwa nur im Bewusstsein) unterschieden wird – und auch dies erschließt eine Kombinatorik alternativer Möglichkeiten, die von Strukturen sozialer Systeme in Hinsichten, die sich empirisch bewähren müssen, zu ihrer möglichen Einschränkung genutzt wird.

Ein Fall von Digitalisierung

Es ist ebenso evident wie rätselhaft, was dieser Entwurf eines Formulars soziologischer Forschung im Besonderen und hermeneutischer Forschung im Allgemeinen mit Fragen der Digitalisierung zu tun haben könnte, wie sie von Luhmann mit Blick auf die Einführung struktureller Kopplungen zwischen komplexen Sachverhalten (etwa: Gegenstand und Beobachter) angesprochen worden sind und wie sie aktuell die gesellschaftliche Diskussion beschäftigen. Evident ist, dass die Form der Unterscheidung mit ihren beiden Seiten Ansprüche an Binarisierung erfüllt, wie sie mit der Digitalisierung einhergehen. Maschinen arbeiten im Takt der Zweiwertigkeit. Jede Formalisierung, die auf eine Übersetzung von Komplexität in eine zweiwertige Unterscheidung hinausläuft, müsste semantisch geeignet sein, der Maschine diese Komplexität für die Zwecke eigener Operationen zur Verfügung zu stellen.

Andererseits ist die Binarität der Unterscheidung weit davon entfernt, sich auf eine zweiwertige Logik reduzieren zu lassen. Die beiden Werte der Innen- und Außenseite der Unterscheidung stehen in einem doppelten, reflexiven Verhältnis der Implikation und Negation zueinander. Das cross ihrer Unterscheidung ist die Operation eines Beobachters, der spätestens dann als dritter Wert eine Rolle spielt, wenn die Unterscheidung in die Form ihrer Unterscheidung wieder eingeführt wird. Nach allem, was man bisher weiß, ist die Maschine in der Lage, Gegenstände im Hinblick auf ihr Gegebensein (oder nicht), aber nicht Beobachter im Hinblick auf ihre Unterscheidungen zu beobachten (vgl. Esposito 1996, 2001), ganz zu schweigen davon, diese Beobachter als Beobachter im Medium der kontingenten Wahl ihrer Formen zu beobachten. Zwar kann die Maschine Vorhersagen der Entscheidung dieser Beobachter für Gegenstände treffen, wenn die beobachteten Beobachter im Hinblick auf ihr vorheriges Verhalten und ihre sozialen Kontakte, errechnet im Rahmen einer »influence matrix« (Pentland 2014, 80 ff.), ein einigermaßen stabiles Muster aufweisen, doch unter welchen Umständen diese Beobachter statt der Formen in deren Medium alternative Formen aufrufen, bleibt für die Maschine unbeobachtbar.

Das Formular komplexer Form macht deutlich, dass Kommunikation es wesentlich mit Nichtwissen zu tun hat, genauer: mit dem Wissen um eine unbekannt bleibende Realität und eine unbestimmt bleibende, mitlaufende Außenseite jeder Form. Dieses Nichtwissen kann nicht binarisiert werden. Es ist nicht einfach die Außenseite des Wissens, denn dann wäre es benennbar und berechenbar. Es ist der Gegenhalt, wenn nicht das Motiv jeder Kommunikation (vgl. Luhmann 1997, 36 ff.). Nicht zuletzt ist es als Gegenstand einer zwischen Wissen und Nichtwissen oszillierenden Kommunikation das Motiv für den Aufruf imaginärer Werte, die in rekursiv verschachtelte Zeithorizonte von Erinnerungen und Erwartungen, in die Ökologie ebenso faszinierender wie bedrohlicher Sachverhalte und in die Gesellschaft konformer und dissidenter Beobachterperspektiven ausgreifen. Von dort aus rufen sie Operationen der Transjunktion zwischen verschiedenen Unterscheidungen und ihren Formen auf (siehe Günther 1976), von denen Maschinen keine Vorstellung haben.

Das hier vorgestellte Formular komplexer Form ist geeignet, einen Typ von Forschung anzuleiten, der Luhmanns Anregung entspricht, Kommunikation nicht als Übertragung (von Information oder von Sinn), sondern als Prozessieren der Differenz von Form und Medium zu denken (siehe Luhmann 1997, 195). Das Formular operationalisiert diesen Vorschlag. Es muss sich herausstellen, inwieweit Methoden der empirischen Sozialforschung dem zu folgen in der Lage sind (siehe Bohnsack 2010; Vogd 2005). Aber es ist wie in der physikalischen Grundlagenforschung: Wenn die Theorie nicht zu sagen vermag, wonach man sucht, kann man es auch nicht finden. Das gilt nicht für einfache, aber es gilt für komplexe Gegenstände der Forschung. Und es gilt in der Wissenschaft ebenso wie in anderen Formen der beruflichen Praxis.

Formulare haben den Vorteil, dass sie Lücken lassen, und den Nachteil, dass sie dies auf eine häufig allzu starre Weise tun. Das Formular einer komplexen Form lässt sich selber als komplexe Form beobachten. Dann werden seine Konstanten (= Operationen) zu Variablen (= Operanden), sein Beobachter wird zum Interpreten und Designer und die individuellen Fälle, die zu bearbeiten sind, werden zu Komplizen, wenn sie es nicht vorziehen, ihre Markierung zu verwischen.