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Stichler: Professor Lohse, Sie haben mich heute Morgen begrüßt und dabei den aufrüttelnden Satz gesagt: „Die beste Zeit liegt hinter uns.“ Bitte erklären Sie ihn uns.

M. Lohse: Das war vielleicht etwas zugespitzt formuliert. Aber wenn wir nicht aufpassen und uns nicht neuer Technologien bedienen, liegen die besten Jahrzehnte hinsichtlich Infektionen vielleicht tatsächlich hinter uns. Bislang haben wir Glück gehabt, denn wir verfügten über Antibiotika, die wirksam waren, und über Impfungen, die funktionierten. Wir haben in den letzten Jahrzehnten keine Pest gehabt, also keine Epidemie, die wirklich große Teile der Bevölkerung dahinraffte. Ob das so bleibt, wissen wir nicht. Es ist klar, dass wir uns anstrengen müssen, damit die Zeit, die vor uns liegt, ähnlich gut wird wie die, die hinter uns liegt.

A. Lohse: Herr Lanthaler, warum ist es so schwer, neue Antiinfektiva – antivirale Wirkstoffe, Impfstoffe oder Antibiotika – zu entwickeln und vor allem auf den Markt zu bringen? Die Frage geht an Sie, weil Ihre Firma Evotec die zentrale Mission hat, die Entwicklung von Medikamenten und neuen Therapeutika voranzubringen, ohne diese später selbst zu produzieren.

Lanthaler: Hinsichtlich der Impfstoffe möchte ich der These widersprechen, dass die beste Zeit hinter uns liegt. Denn früher hat es vom Beginn einer Impfstoffentwicklung bis zur Komplettierung der Phase-3-Studie zwölf Jahre gedauert. Heute sind wir bereits ein Jahr nach dem Bekanntwerden der ersten COVID-19-Fälle soweit, dass wir Innovationen in die klinische Testung oder gar auf den Markt bringen können. Bei der Impfstoffentwicklung hat es innerhalb von zwanzig Jahren einen dramatischen Fortschritt gegeben.

Bei Antiinfektiva sehen wir dagegen tatsächlich diesen dramatischen Fortschritt nicht, den es nicht nur bei den Impfstoffen, sondern beispielsweise auch in der Onkologie oder bei den metabolischen Indikationen gegeben hat. Der wesentliche Grund dafür ist, dass die finanziellen Anreize, ein Medikament gegen Infektionskrankheiten zu entwickeln, weitaus geringer sind als bei einer chronischen Krankheit oder einer onkologischen Indikation. Wissenschaftlich ist es aber genauso schwer etwa einen therapeutischen Antikörper gegen eine Infektionskrankheit oder ein neues Antiinfektivum gegen multiresistente Erreger zu entwickeln als ein Mittel gegen Krebs. Es ist nicht leicht, Infektionskrankheiten zu besiegen, aber der finanzielle Anreiz ist gering.

Stichler: Professor Schmitt von Pfizer: Lohnt es sich nicht, Impfstoffe zu entwickeln?

Schmitt: Einen erfolgreichen Impfstoff auf den globalen Markt zu bringen, kostet grob angenommen mehr als eine Milliarde Euro. Um das zu verstehen: Für eine aufwendige klinische Studie müssen pro Probanden bis zu 10.000 Euro aufgebracht werden, Phase-3-Studien werden meist mit mehreren 10.000 Teilnehmern durchgeführt. Außerdem: Die Produktionskosten – etwa für den Bau und die Zulassung einer Fabrik – falls schon früh in der Entwicklung an. Zum Zeitpunkt des Ausbaus einer Produktionsstätte ist also noch völlig unbekannt, ob der Impfstoff überhaupt wirksam und absolut sicher ist. Die Erfolgschancen dafür liegen in Phase 1 bei rund zwanzig Prozent, in Phase 2 bei dreißig Prozent, in Phase 3 bei sechzig Prozent.

Die Knackpunkte der Impfstoffentwicklung – so man einen Impfstoffkandidaten hat – sind also: erstens die Entwicklungskosten für die Studien der Phasen 1 bis 4. Zweitens benötigt man ein umfassendes fachliches Know-how auch jenseits der Grundlagenforschung und auch außerhalb der Medizin, mit Präsenz um die Welt. Drittens werden fachliche und logistische Ressourcen gebraucht, um ein Produkt tatsächlich weltweit verfügbar zu machen. Das können tatsächlich wohl nur „global player“.

A. Lohse: Marylyn, werden wir für diese Pandemie einen ausreichend effektiven und sicheren Impfstoff in ausreichend großer Menge haben, um noch einen wesentlichen Einfluss auf die Infektionsentwicklung zu haben? Oder ist die Pandemie dann vielleicht schon ohnehin beendet?

Addo: Das sind ganz zentrale Fragen, million dollar questions: Werden wir überhaupt einen Impfstoff haben? Für wen? Wie wirkt er? Kommt er früh genug? Diese Fragen haben wir uns bei Ebola auch gestellt. Denn für den großen Ebola-Ausbruch in Westafrika 2014 waren wir mit unserer Impfstoff-Entwicklung zu spät dran. Doch auch danach gab es drei Ausbrüche – und da sind über 300.000 Dosen des Impfstoffs schon vor der Zulassung eingesetzt worden. Vielleicht kommen die COVID-19-Impfstoffe, die jetzt in der Entwicklung sind, erst gegen Ende dieser Pandemie auf den Markt. Wir werden aber mit dieser Erkrankung und dem Virus für die nächsten Jahre leben müssen. Es ist nicht davon auszugehen, dass das Virus uns verlässt. Wir werden auch weiter Infektionen haben. Insofern sind COVID-19-Impfstoffe auf jeden Fall wichtig, um für die kommenden Jahre besser gerüstet zu sein.

Stichler: Frau Prof. Betsch, Sie haben in Ihrem Vortrag erläutert: Selbst, wenn wir einen sicheren Impfstoff bekommen, wird die Kommunikation darüber mit der Bevölkerung wahrscheinlich sehr schwierig. Sie haben darauf hingewiesen, dass gerade das Personal im Gesundheitswesen sich zum Beispiel relativ wenig gegen Grippe impfen lässt. Haben Sie Erkenntnisse, woran das liegt?

Betsch: Man weiß, dass bei der Grippeimpfung Falschinformationen unterwegs sind: Viele Menschen denken etwa, dass man von der Grippeimpfung Grippe bekommen kann, auch wenn das nicht so ist. Außerdem gibt es Hinweise darauf, dass etwas Hierarchisches im Spiel ist. Vielleicht sagt sich das Krankenhauspersonal: „Hier habe ich die Freiheit, selbst zu entscheiden, und muss nicht tun, was mein Chef sagt. Deswegen tue ich es nicht.“ Drittens scheint auch das Stressempfinden einen Einfluss zu haben: Wenn Leute gut mit Stress umgehen können oder weniger Stress empfinden, dann sind sie besser geimpft. Das war das interessante Ergebnis einer Studie, die wir mit dem Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf zusammen durchgeführt haben.

Bei COVID-19-Impfstoffen spielen Sicherheitsbedenken sicher eine große Rolle. Um sie auszuräumen, wird es viel Aufklärung brauchen. Virologe Christian Drosten hat einmal in einem Interview gesagt: „Wir müssen die Bevölkerung auf einen nicht perfekten Impfstoff vorbereiten.“ Ich finde, das ist eine ganz gute Leitlinie. Es muss nicht immer alles perfekt sein. Wir müssen darüber reden: Was ist der Nutzen? Was sind die Risiken? Am Ende kann jeder selbst entscheiden, ob er eine Impfung möchte oder nicht.

Stichler: Herr Schmitt, Sie wollen wahrscheinlich nicht mit einem halb perfekten Impfstoff losziehen?

Schmitt: Die Daten werden die Daten sein. Es ist jedenfalls gut, dass viele Firmen parallel Impfstoffe entwickeln. Wenn ich das richtig sehe, haben die meisten Unternehmen nicht einen Impfstoff-Kandidaten im Rennen, sondern mehrere. Wenn die Ergebnisse, die jetzt die ersten Kandidaten erzielen, nicht ausreichen, dann werden die nächsten Kandidaten erprobt. Es ist somit schon im System angelegt, dass es Fortschritte gibt.

A. Lohse: Ich möchte etwas zur Verteidigung des Gesundheitspersonals sagen und über den perfekten Impfstoff. Gegen Hepatitis B sind praktisch alle Mitarbeiter im Gesundheitswesen geimpft. Das ist ein praktisch perfekter Impfstoff, der hervorragend verträglich und hervorragend wirksam ist, und einen mehr oder weniger lebenslangen Schutz bietet. Ein COVID-19-Impfstoff wird dagegen wohl genauso wenig wie der Grippe-Impfstoff zu hundert Prozent vor der Erkrankung schützen. Und dann besteht auch noch die Frage, wie gut verträglich er sein wird.

Thomas, Du hast in Deinem Vortrag gesagt, dass es in der Tiermedizin schon verschiedene Corona-Impfstoffe gibt. Können wir nicht die Tiermedizin nutzen, um sehr viel schneller einen Impfstoff zu entwickeln?

Mettenleiter: Ja und nein. Natürlich ist es so, dass wir bei Impfstoffen einiges im Tier und in der praktischen Anwendung nachspielen können. Die Medizin sollte sich die Informationen zunutze machen, die in der Tiermedizin gewonnen wurden. Ich muss immer schmunzeln, wenn jetzt viel von einer neuen Generation von Impfstoffen die Rede ist. Diese sind in der Veterinärmedizin in vielen Bereichen schon lange im Einsatz, ob das nun Vektorimpfstoffe sind, gentechnisch veränderte Impfstoffe oder Nukleinsäure-Impfstoffe. Beispielsweise sind die jetzt so hoch gehandelten mRNA-Impfstoffe seit über zehn Jahren schon in Tierversuchen gegen unterschiedliche Infektionen angewendet worden. Bei viralen Infektionen haben sie im Tiermodell ihre Wirksamkeit gezeigt. Es ist dann aber nicht weitergegangen: Kein einziger der Impfstoffe hat es bis zur Zulassung geschafft. Andere Nukleinsäure-Impfstoffe auf der Basis von DNS sind zumindest in der Veterinärmedizin über einen bestimmten Zeitraum durchaus angewendet worden.

Man muss aber sagen, COVID-19 ist hinsichtlich des Erregers nicht der schwierigste Gegner, den wir haben. Denn bei Corona-Viren haben wir ein Haupteiweiß, das für die schützende Immunantwort verantwortlich ist, zumindest was Antikörper angeht. Dieses Eiweiß kennen wir sehr gut sowohl von den veterinärmedizinisch relevanten Viren als auch von den humanmedizinisch relevanten. Ein Gegenbeispiel, das auch aktuell ist, ist die afrikanische Schweinepest. Da wissen wir bis heute nicht, welcher der vielen Eiweißstoffe eine solche Immunantwort auslösen kann. Bei solchen Viren könnte die Tiermedizin der Medizin kaum helfen.

Ich denke, man sollte sich darauf konzentrieren, Impfstoffplattformen zu entwickeln. Wenn man eine geeignete Plattform hat, die zum Beispiel gezeigt hat, dass sie mit Antigen A, B und C gut funktioniert und sicher ist, kann man Antigen D relativ schnell einbauen und in die Umsetzung bringen. Außerdem muss man all die Informationen, die die neuen Methoden der Diagnostik und der genetischen Charakterisierung sehr schnell liefern können, dann auch schnell für die Impfstoffentwicklung nutzen.

M. Lohse: Frau Betsch hat mit ihrer Äußerung die Frage aufgeworfen, ob ein Impfstoff perfekt sein muss, damit er von der Bevölkerung akzeptiert wird. Ich denke, die Erwartungen an Impfstoffe sind sehr hoch – und das zu Recht. Warum müssen Impfstoffe besser sein als Arzneimittel? Weil wir eine gesunde Bevölkerung impfen. Wir müssen auch besonders empfindliche Teile der Bevölkerung – zum Beispiel Kinder oder alte Menschen – impfen, damit die öffentliche Gesundheit wirkungsvoll geschützt werden kann. Und tatsächlich gibt es fantastische Impfstoffe: Dazu zählt nicht nur der schon erwähnte Impfstoff gegen Hepatitis B, sondern auch die Impfstoffe gegen Masern und Polio.

Die Frage, die Herr Lanthaler aufgeworfen hat, ist die entscheidende: Ist unser System richtig, um solche fantastischen Impfstoffe auf den Markt bringen zu können? Die ökonomischen Modelle, die für alle anderen Arzneimittel zu greifen scheinen, greifen in diesem Fall wohl nicht.

Lanthaler: Ich möchte noch zwei Punkte einbringen. Der erste Punkt: Wenn es um COVID-19 geht, vernehme ich eine Überbetonung von Impfstoffen. Warum sage ich das? Weil wir zum Beispiel kaum über den Einsatz von therapeutischen Antikörpern diskutieren. In der Öffentlichkeit muss der Gedanke verankert werden, dass wir eine Werkzeugkiste mit mehreren Instrumenten benötigen. In einem Teil der Werkzeugkiste sollten Impfstoffe sein. Therapeutische Antikörper sollten aber auch in der Kiste sein. In den letzten fünf bis zehn Jahren wurde diese Forderung meist abgelehnt mit dem Argument, Antikörper seien viel zu teuer in der Produktion, um sie für Infektionskrankheiten einzusetzen. Infektionskrankheiten finden typischerweise in Afrika und Asien statt und der Einsatz eines 5000 Euro teuren Antikörpers war dort komplett undenkbar. Doch es ist eine Revolution zu beobachten: Die Kosten für Antikörper werden dramatisch nach unten gehen, wenn wir die Industrie dazu bewegen, sich infektiöse Indikationen anzusehen. Dann lässt sich plötzlich ein völlig anderes Bild zeichnen, denn dann können wir den kranken Menschen behandeln und heilen – und dann müssen wir nicht die ganze Weltbevölkerung impfen.

Der zweite Punkt: Es müsste die einfachste Rechnung der Welt sein, Kosten für Notfallvorsorge und Gefahrenabwehr den Kosten der Pandemie gegenüberzustellen. Diese Rechnung müssen wir alle gemeinsam machen. Es kostet ein bis zwei Milliarden Euro, einen Impfstoff zu entwickeln. Demgegenüber haben wir höchstwahrscheinlich 380 Trillionen EUR Pandemie-Folgeschäden. Wenn man das bedenkt, sollte es ein leichtes sein, einige Milliarden Euro locker zu machen, um Plattformen für therapeutische Antikörper und Impfstoffe bereitzustellen. Von der Liste der WHO mit den möglichen Krankheiten, die sich pandemisch ausbreiten könnten, haben wir in den Vorträgen schon gehört. Darauf stehen keine tausend Viren, auf die wir uns vorbereiten müssen. Um auf die zehn bedrohlichsten Viren vorbereitet zu sein, benötigt man zehn mal zwei Milliarden Euro. Dann kann man noch einen Misserfolgsfaktor kalkulieren. Grob überschlagen, wäre man mit einem Einsatz von 50 Mrd. EUR sehr, sehr gut auf künftige Pandemien vorbereitet.

A. Lohse: Man erkennt den Betriebswirt. Das ist wunderbar. Denn ich denke, wir müssen hier wirklich über Wirtschaft reden, auch wenn dies Wissenschaftlern und Akademien traditionell schwerfällt. Der Markt versagt und ist nicht geeignet, das Problem der Pandemien wirklich anzugehen. Heute wurde schon mehrmals gesagt, dass wir eine Technologie-Plattform brauchen. Aber wer bezahlt die Plattform? Wer entwickelt sie? In welchem Institut wird sie entwickelt? Wird sie in der Industrie entwickelt, in der Akademie oder bei einem Bundesinstitut? Oder brauchen wir etwas Neues? Herr Schmitt, Sie sind während meiner Worte unruhig geworden…

Schmitt: Global betrachtet ist die Zeit der Staatsimpfstoffe vorbei. Stellen Sie sich vor, die Bundesregierung müsste aktuell ihr eigenen Produkt anpreisen – das können wir nicht wollen. Und als Erinnerung: Die Plattformen sind da.

A. Lohse: Aber das ist kein Lösungsvorschlag.

Schmitt: Die Plattformen müssen Forscher entwickeln. Dann braucht es Lösungen für das upscaling – viele neue Techniken existieren bereits: mRNA-, DNA-, Vektor- und andere Plattformen werden heute für COVID-19-Impfstoffe genutzt. Aber man müsste auch politisch vorbereitet sein. Zwar gab es schon vor knapp zehn Jahren Pandemievorbereitungen, aber die sind nie umgesetzt worden. Da ist unter anderem beschlossen worden, für ausreichend Kittel und Schutzmasken zu sorgen. Offensichtlich ist wenig passiert.

Stichler: Frau Addo, Sie haben sich schon länger gemeldet.

Addo: Zu jedem Redebeitrag hätte ich eigentlich einen Kommentar. Tatsächlich müssen wir alle Säulen der Pandemiebekämpfung entwickeln, nicht nur die Impfstoffe. Da bin ich ganz bei Herrn Lanthaler. Zu diesen Säulen gehören Schutzmaßnahmen, Impfstoffe und die Therapie von COVID-19. Ja, wir brauchen auch neue Therapien. Wir erwarten im Winter klinische Studien zu monoklonalen Antikörpern, die im Deutschen Zentrum für Infektionsforschung entwickelt werden. Und wir haben das prominente Beispiel von Donald Trump, der Antikörper-Cocktails erhalten hat. So neu ist das Konzept nicht, denn auch Ebola wird mit einem solchen Cocktail behandelt. Remdesivir, dass jetzt in der Behandlung von COVID-19-Kranken eingesetzt wird, wurde ebenfalls bereits während eines Ebola-Ausbruchs in einer klinischen Studie erprobt.

Lanthaler: Ich bin äußerst optimistisch, dass wir aus Studien mit therapeutischen Antikörpern und mit Vakzinen sehr gute Daten erhalten werden. Wir müssen aber den Kreis schließen, also das Produkt zum Menschen bringen. Was meine ich damit? Wir müssen Produktionsanlagen für Millionen Impfdosen in Glasbehältern mit einer Kühlkette bis zum Menschen vorsorgend bereitstellen. Da wird es komplex. Wir müssen komplette Prozesse durchdekliniert haben, durch die Millionen Impfdosen bis nach Indien kommen, wo eine Kühlkette mit minus achtzig Grad Celsius bisher nicht aufrechtzuerhalten ist.

A. Lohse: Sie sagten: „Wir müssen.“ Wer sind wir?

Lanthaler: Ich meine damit die globale Notfallvorsorge, den globale Infektionsschutz.

A. Lohse: Wer bezahlt diese Notfallvorsorge? Wer organisiert sie?

Lanthaler: Eine Organisation, die in den Vorträgen schon häufig genannt wurde, ist die CEPI, die Coalition for Epidemic Preparedness Innovation. Bisher noch nicht erwähnt wurde die BARDA, die US-amerikanische Biomedical Advanced Research and Development Authority. Daneben stellt die US-amerikanische Verteidigungswelt heute sehr, sehr viel Geld zur Verfügung, um vorbereitet zu sein. Auf Kosten des Militärs liegen heute sehr viele Impfstoffe in Lagern und warten auf den Einsatz für Ausbrüche, die hoffentlich nie passieren werden. Aber wir müssen umdenken: Die Notfallvorsorge liegt in der Verantwortung aller und daher ist auch eine globale Anstrengung notwendig. Die Kosten dafür sind nicht dramatisch, wenn man sie gegen die Folgekosten einer Pandemie aufrechnet.

Schmitt: Mit neuen Plattformen ist man laut publizierten Angaben in der Lage, Milliarden Impfstoffdosen bis zum Ende des nächsten Jahres zu produzieren. Andere Unternehmen werden das ähnlich hinbekommen. Ich denke, die technologischen Plattformen gibt es schon.

Und es gibt auch ein Beispiel dafür, was in der heutigen Impfstoffentwicklung äußerst gut funktioniert: die Zulassungsverfahren. Sie sind äußerst standardisiert und es gibt eine großartige Kooperation zwischen Industrie und den Zulassungsbehörden. Das Paul-Ehrlich-Institut in Deutschland ist für mich eine der kompetentesten und besten Zulassungsbehörden der Welt. Andererseits bin ich staatlichen Impfstoffen gegenüber skeptisch: Der Pertussis-Ganzkeimimpfstoff der Niederlande war wenig wirksam, aber nebenwirkungsreich – er wurde allen Kindern des Landes verabreicht, selbst noch lange, nachdem es wirksamere und sicherere Produkte auf dem Weltmarkt gab.

Stichler: Herr Mettenleiter?

Mettenleiter: Ich möchte mich dem anschließen, was Marylyn Addo gesagt hat. Ich glaube, wir brauchen alles in unserer Werkzeugkiste, was möglich ist. Ich würde nicht argumentieren, dass ein Werkzeug wichtiger ist als das andere. Ich möchte aber trotzdem eine Lanze für die Impfstoffe brechen. Wir haben in den Vorträgen heute von den Pocken gehört, von Rinderpest, Polio und Tollwut. Das sind alles Infektionskrankheiten, die sich wunderbar durch Impfstoffe verhindern lassen und die zur globalen Eradikation führen, also diese Krankheiten ausrotten können. Produktionskapazitäten und Kühlketten lassen sich anhand von Plattformen entsprechend etablieren.

In der Diskussion ist aber bisher etwas die Frage zu kurz gekommen: Worauf sollen wir uns vorbereiten? Es gibt im Reich der Säugetiere 100.000 bis 700.000 Viren. Welcher Erreger davon der nächste sein wird, der für den Menschen oder unsere Nutztiere gefährlich wird, können wir nicht vorhersehen. Insofern kann man sich nicht auf einen Erreger vorbereiten. Man muss reagieren, und zwar sehr schnell, wenn ein gefährlichen Ereignis eingetreten ist.

Wir können versuchen, uns vorzubereiten, indem wir etwas entwickeln, das nicht spezifisch für einen bestimmten Erreger ist, sondern das bestimmte Erregerklassen so breit wie möglich abdecken kann. Das gilt vor allem für Therapeutika. Die Strategie zielt dann eben nicht auf Antikörper, die sehr spezifisch einen einzigen Erreger bekämpfen. Sondern bei diesem Forschungsgebiet, das sich erst in den letzten Jahren entwickelt hat, wird gefragt: Wo gibt es Angriffspunkte, die mehr oder weniger bei allen Erregern vorhanden sind? Wie können wir etwa die Vermehrung von Viren allgemein unterbinden, natürlich ohne den Wirt zu schädigen? Auf solche Forschung setze ich große Hoffnungen.

Stichler: Frau Betsch, Sie haben sich schon länger gemeldet…

Betsch: Ich möchte gerne zunächst noch etwas klarstellen zu meiner Aussage, dass man die Menschen auf einen nicht perfekten Impfstoff vorbereiten sollte: „Nicht perfekt“ bezog sich selbstverständlich nicht auf die Sicherheit. Sondern es kann sein, dass die Effizienz eines COVID-19-Impfstoffs oder der erreichte Gemeinschaftsschutz möglicherweise nicht perfekt ist.

Wir haben von Herrn Mettenleiter gehört, dass wir aus dem Tierbereich viel lernen können. Ich erinnere mich an einen anderen Vortrag, den Sie, Herr Mettenleiter gehalten haben, in dem es um die Blauzungenkrankheit ging: Da gab es einen Impfstoff und eine Impfpflicht – und die Seuche war schon nach einem Jahr Geschichte. Bei Menschen ist eine solche Erfolgsgeschichte nicht möglich. Wir können die Rechnung nicht ohne den Wirt machen. Der Mensch muss die Impfung akzeptieren.

Ich möchte daher sehr stark dafür plädieren, die Kommunikation über die Impfung nicht einfach den Marketingabteilungen zu überlassen. Wir brauchen eine sehr wache Risikokommunikation. Es muss jetzt schon angefangen werden, Bedenken zu den Impfstoffen zu antizipieren und diese Bedenken vorweg auszuräumen. Dabei helfen vielleicht auch Geschichten aus dem Tierreich. Erfolgsgeschichten, wie dort Krankheiten ausgerottet wurden, können hilfreich sein. Die Fragen nach Langzeitwirkung und Langzeitsicherheit kann man an solchen Beispielen möglicherweise in der öffentlichen Diskussion abarbeiten.

A. Lohse: Frau Betsch, ist es nicht eine Hypothek, dass in der jetzigen politischen Diskussion die Impfung wie der Erlöser propagiert wird? Es heißt, wir müssen bis Anfang 2021 durchhalten, dann kommt der Impfstoff. Wir haben hier aber bereits festgestellt, dass der Impfstoff nicht die Lösung sein wird. Ist es diese Überfrachtung der Bedeutung des Impfstoffs, die seine Akzeptanz schwierig macht?

Betsch: Das kann eine Rolle spielen. Wenn man große Erwartungen hat, können auch große Enttäuschungen entstehen. Wenn man die Diskussion stärker in die Richtung der Therapieformen lenken könnte, würde das sicher helfen, die Erwartungen auf verschiedene Schultern zu verteilen.

Tatsächlich wird bereits angefangen, eine Werbestrategie für die Impfungen zu entwickeln, wobei wir noch nicht einmal wissen, ob es überhaupt einen Impfstoff geben wird und wie der dann sein wird. Ich befürchte, dass die Politik nichts aus der umfangreichen Forschung zur Risikokommunikation gelernt hat. Es werden alte Wege gegangen. Auch zum Umgang mit Fake News gibt es viele Empfehlungen aus der Wissenschaft. Bei der WHO gibt es gesammelte Metaanalysen, Reviews und Dokumente. Es ist in unser aller Verantwortung, diese zu verteilen und die verantwortlichen Politiker dazu zu bringen, sie zu nutzen.

Stichler: Während über die Impfstrategien und die Kommunikation dazu nachgedacht wird, sind die Impfgegner schon sehr laut zu vernehmen, vor allem in Netz. Herr Professor Lohse?

M. Lohse: Ich wollte das fortsetzen, was Herr Mettenleiter angesprochen hat. Er hat gesagt, wir wissen nicht, was kommt. Doch wir wissen sehr genau, dass etwas kommen wird, nur nicht im Einzelnen. Das ist so ähnlich wie bei der Feuerwehr: Man weiß nicht, wo es brennen wird, aber man weiß, dass es brennen wird. Man hält ein System vor, um damit umzugehen, und man hält es als öffentliches System vor. Die Situation bei den Infektionskrankheiten ist eine grundsätzlich andere als bei allen anderen Krankheiten.

Schon häufig standen wir am Anfang einer Pandemie. Es waren glückliche Umstände, die dazu führten, dass vor COVID-19 Pandemien bei uns und in unserer Lebenszeit nicht zugeschlagen haben. Aber wir können damit rechnen, dass COVID-19 nicht die letzte ausbrechende Infektionskrankheit gewesen sein wird, die wir als Personen erleben. Wir sollten also die Technologien ausbauen, die wir zwar schon verbessert, aber noch längst nicht zur Perfektion gebracht haben. Und wir müssen uns auch um die wirtschaftlichen Aspekte kümmern. Wer hält Systeme des Infektionsschutzes vor? Es ist schon angeklungen, dass das nur weltweit geht. Es ist eine öffentliche Aufgabe, nicht nur eine privatwirtschaftliche.

Stichler: Es wurde schon gesagt, dass ein Pandemieplan seit 2012 in der Schublade lag. Die Schutzmasken hat man vergessen oder man dachte, die bestellen wir dann, wenn es ernst wird. So ist es auch bei anderen Themen, die wir noch nicht spüren: Bei Antibiotika zum Beispiel weiß man, dass es Resistenzen gibt, und dass davon eine große Bedrohung ausgeht. Aber es scheint trotzdem nichts unternommen zu werden. Passiert erst etwas, wenn es richtig knallt?

M. Lohse: Ich glaube, dass so wenig passiert ist, liegt daran, dass es diese Jahrzehnte ohne größere Gesundheitskatastrophen gab. Wir haben uns in einer unglaublichen Sicherheit gewiegt. Als ich Medizin studierte, dachte man: Infektionen und Seuchen sind Geschichte. Lediglich ein paar exotische Impfforscher kümmern sich noch darum. Herr Schmitt kann dazu eine persönliche Geschichte erzählen.

Hinzu kommt, dass unser Gedächtnis offenbar sehr kurz ist. An Zika scheint sich kaum jemand zu erinnern. Auch Ebola ist schon fast vergessen. Jetzt ist alles nur noch COVID-19.

Stichler: Herr Schmitt?

Schmitt: Die persönliche Geschichte ist die, dass ich 1993 aus den USA von meiner Ausbildung zum Infektiologen zurückkam. Dann habe ich zwanzig Jahre lang gegen das Paradigma gekämpft, dass Infektionskrankheiten in Deutschland keine Rolle mehr spielen. Seit 1995 hatte ich ein Atemwegsnetzwerk in Deutschland mit aufgebaut, in dem wir als erste weltweit 19 Erreger mit Multiplex-PCR nachgewiesen und deren Epidemiologie beschrieben haben. Dieses Netzwerk wurde eingestampft und nicht weiter gefördert. Daher bin ich 2007 in die Industrie gegangen.

Stichler: Herr Lanthaler?

Lanthaler: Auch bei der Antibiotika-Entwicklung müssen wir anfangen, über die Folgekosten von multiresistenten Keimen nachzudenken. Es wäre heute effizienter, manche Krankenhäuser in England oder in südlichen Ländern komplett abzubrennen und neu zu bauen, weil die Folgekosten durch multiresistente Keime so hoch sind. Wie bekommen wir ein System hin, dass man gegen multiresistente Keime eine ähnliche Kampagne auflegt, wie wir sie jetzt gegen COVID-19 führen? Wir kennen die Krankheiten und die Keime, aber wir haben keine Lösungen, weil es wissenschaftlich schwierig ist, sie zu finden.

Stichler: Das Problem ist doch der Markt. Die Pharmaindustrie sagt zu der Entwicklung neuer Antibiotika: „Da steigen wir aus. Das bringt uns nichts.“

Lanthaler: Indem man die Folgekosten bewusst macht, lässt sich ein neues Marktbewusstsein definieren und damit auch ein neues Preisbewusstsein. Heute haben wir für Antibiotika Preise wie für Generika und nicht Preise wie für Medikamente, die hocheffektiv und wirksam sind.

Doch es ist auch alles andere als einfach, einen Erreger zu besiegen. Ein Beispiel ist das Denguefieber, das in Südostasien sehr weit verbreitet ist. Wir alle wollen seit Jahrzehnten einen Impfstoff dagegen haben. Trotz massiver Anstrengungen haben wir aber keinen.

Wir müssen uns künftig aber nicht nur auf bekannte Viren wie Dengue, Chikungunya und Zika fokussieren, sondern uns auch mit enormer Kraftanstrengung um die Erreger kümmern, die künftig Pandemien auslösen können.

A. Lohse: Allerdings sind Impfungen nicht für jedes neue Virus eine mögliche Strategie, aber antivirale Mittel vielleicht schon. Marylyn, die öffentlich-private Partnerschaft CEPI hat bei Ebola einen großen Erfolg zu verzeichnen: Keiner wusste, ob man nach dem großen Ausbruch in Westafrika 2014 jemals wieder einen Ebola-Impfstoff brauchen würde. Trotzdem wurde der Impfstoff entwickelt, weil die CEPI eine Abnahmegarantie gegenüber dem Hersteller Merck ausgesprochen hat. Ist CEPI nicht eine Blaupause für die Entwicklung neuer Antibiotika und neuer antiviraler Mittel?

Addo: Ja, CEPI kann ich mir sehr gut als Blaupause vorstellen für andere Entwicklungen in Richtung Diagnostika, Therapeutika und antimikrobielle Substanzen. CEPI hat mit einer Anschubfinanzierung und einer Abnahmegarantie mindestens zehn Konsortien gefördert, die heute bei der Entwicklung eines COVID-19-Impfstoffes ganz vorne dabei sind. CEPI übernimmt aber nicht nur Finanzierungen, sondern ist auch politisch aktiv: Da werden die Rahmenbedingungen geschaffen, um die Verteilung der Impfstoffe mitzugestalten, und es werden zwischen den verschiedenen Impfstoffkonsortien Standards festgelegt.

Wir haben bisher nicht viel über Zika gesprochen. Da gab es viele Aktivitäten, Impfstoffe zu entwickeln. Die Zahl der Impfstoffkandidaten lag mindestens im zweistelligen Bereich. Kein einziger dieser Kandidaten ist bisher zur Lizenzierung gekommen. Man hört jetzt auch nichts mehr von den Kandidaten. Man muss schon kritisch fragen, ob man die Entwicklungsaktivitäten nicht besser bündeln kann, damit nicht alle Pharmaunternehmen und Entwickler auf einmal loslaufen. Bei COVID-19 sind wir derzeit mit 170 Impfstoffen unterwegs. Es ist zwar gut, dass wir uns ein bisschen breiter aufstellen, aber 170 benötigt man sicher nicht.

Wer die Aktivitäten bündeln soll, ist noch zu diskutieren. Gremien wie CEPI und die Impfallianz Gavi haben auch die Funktion, die Aktivitäten zur Impfstoffentwicklung mitzugestalten und den größten Erkenntnisgewinn zu generieren. Ich meine, dass die Impfstoffentwicklung noch sehr, sehr viel Empirie ist. Es handelt sich um „learning by doing“. Wir verstehen die Immunologie noch nicht besonders gut: Welche Art von Immunität, welche Antikörper, welche neutralisierenden Antikörper und welche nicht-neutralisierenden Funktionen von Antikörpern brauchen wir für welchen Erreger? Das ist noch eine Blackbox. Wir haben bei diesen vielen Impfstoffkandidaten und Impfstoffstrategien jetzt die einzigartige Chance, Daten zu vergleichen. Selbstverständlich müssen dafür die Endpunkte der Studien ähnlich sein. Institutionen wie CEPI könnten beispielsweise zusammen mit der Brighton Collaboration dafür sorgen, dass man nicht Äpfel und Birnen vergleicht.

Stichler: Noch mal die Frage: Wer stellt Medikamente oder Impfstoffe her, die nicht das große Geld bringen? Da ist die Pharmaindustrie bekanntlich nicht interessiert, Herr Schmitt, oder?

Schmitt: Das ist falsch. Die Industrie – und speziell auch Pfizer – entwickelt Orphan Drugs, also Medikamente, die nur selten angewendet werden. Die Frage dabei ist: Wer zahlt die Entwicklungskosten für diese Medikamente? Die Pharmaindustrie müsste pro Produkt eine Milliarde Euro investieren – und bekäme am Ende vielleicht nur eine Million Euro zurück. Inzwischen gibt es bei den Orphan Drugs eine politische Lösung für dieses Problem. Der Staat könnte auch bei Impfstoffen die Grundlagen dafür schaffen, dass die Entwicklung der Vakzine für die Pharmaindustrie interessanter wird.

Lanthaler: In der FDA-Zulassungskette sind für Infektionskrankheiten mittlerweile Push- und Pull-Mechanismen für Infektionskrankheiten eingebaut. So gibt es zum Beispiel einen Gutschein, der hundert Millionen Euro wert ist, wenn Phase 3 für eine seltene tropische Krankheit erfolgreich abgeschlossen wurde. Diese Mechanismen sind zwar nicht perfekt, aber ein recht gutes Eintrittsticket. Doch wichtiger als solche Mechanismen finde ich – wie schon gesagt – die Bewusstwerdung für die Notwendigkeit der Vorsorge.

Darüber hinaus ist es wichtig, dass wir die Forschungs- und Entwicklungsanstrengungen auf die gleichen Standards hin bündeln, damit wir nicht hundertmal das Gleiche am falschen Assay messen. Dann kommen wir nie in die Produktentwicklung. Wir müssen aus der akademischen Forschung die Translation standardisieren, damit Produkte den Weg in den Markt schaffen.

Stichler: Aber welche Instanz macht die Bewusstwerdung?

Lanthaler: Es war eine Sternstunde für die Pharmaindustrie, aber auch für die ganze Welt, dass wir und 25 andere Unternehmen gemeinsam beschlossen haben, präkompetitiv alle Daten von Tests zu teilen, bei denen bewährte Wirkstoffe auf antivirale Eigenschaften hin untersucht wurden. Das musste nicht von extern organisiert werden. Wir haben uns gesagt: Entweder wir bekommen das jetzt als gesamte Healthcare-Industrie hin oder wir verlieren unsere Bestimmung. Man sieht an diesem Beispiel, wie schnell wir uns selbst organisieren können – und das stimmt mich sehr optimistisch. Es braucht nicht mehr zwanzig EU-Gremien, sondern wir können uns selbst zusammenrufen und anfangen.

A. Lohse: Wir kommen zum Ende der Diskussion. Ich würde gerne den Bogen noch ein bisschen breiter spannen. Wir haben bei unserem interessanten interdisziplinäres Forum heute gesehen, wie viele unterschiedliche Facetten und Fachdisziplinen gebraucht werden, um mit den Phänomenen der Pandemie umzugehen: etwa der Messung der Bedrohung, den Maßnahmen, ihrer Angemessenheit und ihren Konsequenzen. Wie können wir zu Strukturen kommen, die diesen interdisziplinären Dialog und Forschungsbedarf für die Bedrohung zukünftiger Pandemien strukturieren?

Betsch: Sobald wir uns hoffentlich wieder ein bisschen entspannen können, ist es ganz wichtig, dass wir zusammentragen, was wir gelernt haben. Wir müssen die Verhaltensdaten, die Simulationsdaten und andere Daten, die wir gesammelt haben, vernetzen. Ich glaube, da gibt es ganz viel für die zukünftige Pandemievorsorge zu lernen. Wir benötigen dazu interdisziplinäre, große Forschungsverbünde. So etwas wie Exzellenzcluster sind gut geeignet, um einen ordentlichen Schritt vorwärts zu machen.

Auch in der Wissenschaftskommunikation ist es wichtig, sich zu vernetzen. Vom Virologen bis zum Politiker sollten alle Beteiligten kritisch reflektieren: Was haben wir gelernt und was können wir beim nächsten Mal besser machen?

Stichler: Noch mal in die Runde die Frage: Was nehmen wir mit für die Zukunft, um uns besser vorzubereiten?

M. Lohse: Ich glaube, dass in der jetzigen Situation auch eine ungeheure Chance liegt, weil wir begonnen haben, über Pandemien und Infektionskrankheiten sehr interdisziplinär nachzudenken. Wir haben über die juristischen und die ethischen Fragen diskutiert und auch über Kommunikationsfragen. Sämtliche Life-Science-Gebiete sind involviert. Das Wichtigste ist, dass wir die jetzige Situation nicht vergessen dürfen, wie wir viele andere Dinge vergessen haben, die Warnungen hätten sein können. Wir müssen uns überlegen, wie wir eine dauerhafte Struktur in unserem Land schaffen. Ein Vorschlag könnte zum Beispiel so etwas wie ein deutsches Pandemie-Institut sein, das sich mit CEPI vernetzt. Die Struktur braucht aber auch nicht unbedingt ein einzelnes Institut zu sein. Es muss aber das öffentliche Interesse deutlich gemacht werden, das Herr Lanthaler benannt hat.

A. Lohse: Wir haben bei der DFG, der Deutschen Forschungsgemeinschaft, eine Pandemiekommission gegründet, in der Sie auch sitzen, Frau Betsch. Könnte die solche Strukturvorschläge weiterentwickeln?

Betsch: Ja. Momentan wird versucht, zu identifizieren, wo drängender Forschungsbedarf ist, damit schnell Ressourcen umgeleitet werden können. Es gibt auch Bestrebungen, irgendwann zu evaluieren, wie wir mit der Pandemie umgegangen sind, und die Forschungsprojekte, die es dazu gibt, größer zu vernetzen. Da sehe ich bei der DFG eine große Chance.

Die Erkenntnisse, die wir gewinnen, können gerne auch auf andere Krisen angewandt werden. Über die Klimakrise haben wir naturgemäß heute nicht geredet, obwohl das vielleicht das noch größere Problem ist. Wir sehen jetzt, dass wir uns erst um Krisen kümmern, wenn sie direkt vor unserer Haustür liegen. Auch das ist eine wichtige Erkenntnis. Wir können uns überlegen, wie wir die Klimakrise mit diesen Mechanismen, die wir jetzt verstehen, anders angehen können.

Addo: Ich möchte noch einmal auf einen der ersten Vorträge heute zurückkommen. Herr Kräusslich hat sehr schön dargestellt, dass wir in weniger als zwanzig Jahren drei große Corona-Ausbrüche gehabt haben: SARS im Jahr 2002 mit zehn Prozent Mortalität, MERS im Jahr 2012 mit dreißig Prozent Mortalität und jetzt den SARS-Coronavirus-2, der sehr infektiös ist, aber nur zu einer geringen Mortalität führt. Infektiosität und Mortalität waren reziprok. Herr Kräusslich hat darauf hingedeutet, dass ein Virus im schlimmsten Fall hochinfektiös und tödlich zugleich ist. Auf dieses Szenario müssen wir uns vorbereiten. Ich sehe die COVID-19-Pandemie als ein Art Stresstest für unsere Gesellschaft. Dieser Test hat uns in vielen Facetten gezeigt, wo es Schwachstellen in der Pandemie-Bekämpfung gibt. In den nächsten Monaten müssen wir noch durch einen langen Winter. Danach müssen wir sehr kritisch nach hinten blicken und feststellen, was gut und was schlecht funktioniert hat. COVID-19 war eine Testsituation, in der wir uns auf einen noch schwereren Ausbruch vorbereiten konnten. Vielleicht kommt der nächste Ausbruch in zehn, vielleicht in fünfzig, vielleicht aber schon in zwei Jahren. Wir müssen im April oder Mai, wenn wir ermüdet durch diesen COVID-19-Winter gekommen sind, zurückblicken, uns erinnern und lernen.

Stichler: Ich nehme die wunderbare Formulierung von Humanmedizinern als Fachtierärzte für Menschen mit. Von Ihnen, Herr Mettenleiter. Sie möchten auch noch etwas sagen.

Mettenleiter: Zunächst zur Impfstoffentwicklung: Ich denke, Bündelung ist angesagt. Da sind internationale Organisationen gefordert, Standards zu setzen. Es ist zwar gut, verschiedene Ansätze zu verfolgen, aber es ist bei weit über hundert Impfstoffkandidaten doch eine gehörige Redundanz absehbar. Wenn man sich das aus wissenschaftlicher Sicht genauer anschaut, dann sind es gar nicht so viele unterschiedliche Impfstoffe. Letztlich geht es um eine Größenordnung von 10 bis 15 verschiedenen Impfstoff-Technologien.

Dann möchte ich auf Nachhaltigkeit dringen. Das, was wir jetzt durchführen, ist ein gigantischer „Feldversuch“ für eine richtig schwere Pandemie. Wir üben jetzt das, was möglicherweise kommen kann. Das gab es allerdings auch schon früher: Ich erinnere mich sehr gut, was es in der Öffentlichkeit für ein Erdbeben ausgelöst hat, als 2006 H5N1 das erste Mal in Deutschland aufgetaucht ist. Wir wissen, dass dieser Erreger seit 1997 das Potenzial hat, auf den Menschen überzugehen. Dieses Wissen wurde aber sehr, sehr schnell wieder vergessen. Der zweite Schuss vor den Bug war SARS. Das war eine andere Erregergruppe, die relativ hohe Mortalitätsraten mit sich brachte. Wir hatten nur Glück, dass die Ansteckungsfähigkeit nicht so hoch war. Der dritte Schuss vor den Bug war die Schweinegrippe 2009, wo wir noch einmal üben hätten können. Das ist ein Influenzavirus, das nicht hochpathogen ist, aber eine unheimliche Ausbreitungsgeschwindigkeit hat, genauso wie jetzt SARS-CoV-2. Ich weiß nicht, wie viele Schüsse vor den Bug uns die Natur noch erlaubt, bis es wirklich ernst wird.

Was die Wirtschaft und die Verluste der Pandemie betrifft, reden wir im Moment über Summen, die noch vor einem Jahr völlig surreal gewesen wären. Wir haben vorhin gehört, dass ein Bruchteil davon in die präventive Forschung geht. Wir brauchen Strukturen wie Industry Labs oder öffentlich-private Partnerschaften. Ich kann nur hoffen, dass wir das, was wir jetzt lernen, nicht in zwei Jahren wieder vergessen haben, wenn wir uns wieder wohlfühlen oder in den Urlaub ans andere Ende der Welt fliegen.

Stichler: Das ist die Schwierigkeit der Prävention. Danke. Ich glaube, das ist ein schönes Schlusswort. Herr Lohse?

A. Lohse: Ja, das ist eigentlich ein Schlusswort gewesen. Ich werde es noch formal zu Ende bringen. Dass wir eine solche Pandemie nicht vergessen und daraus lernen, darin sehen wir auch eine Aufgabe der Wissenschaftsakademien. Wir hätten diese Veranstaltung gerne als ein offenes Forum mit sehr viel Publikum vor Ort gehabt. Wir hätten den Saal leicht füllen können, so brisant, wie das Thema jetzt ist. Wir haben uns fest vorgenommen, ein ähnliches Symposium zu machen, sobald wir das im großen Raum machen können. Ob das im nächsten Sommer oder vielleicht erst im Frühjahr 2022 sein wird, müssen wir abwarten. Das kann keiner von uns vorhersagen. Aber für diesen Teil der Nachhaltigkeit sind wir in dieser Gemeinschaft verantwortlich. Ich möchte mich bei allen ganz, ganz herzlich bedanken für diese wirklich hochinteressanten Beiträge. Ich finde, wir haben das Thema zumindest ein klein bisschen vorangebracht.