6.1 Zwischen Aufwertung und Ausgrenzung: Die paradoxe Politik mit dem Alter(n)

Alter und Altern sind in der Gegenwartsgesellschaft von einer grundlegenden, tiefgreifenden Ambivalenz charakterisiert. Einerseits werden der demografische Wandel und die damit erwartbar zunehmende Präsenz älterer Menschen im gesellschaftlichen Leben als ein sozialer Zukunftstrend erkannt. Die ‚Gesellschaft des langen Lebens‘, in der eine hohe Lebenserwartung zur Normalität geworden ist, wird als zivilisatorische Errungenschaft gewertet und als sozialpolitische Herausforderung verstanden. Andererseits aber dominieren nach wie vor Bilder und Semantiken einer ‚Überalterung der Gesellschaft‘ den öffentlichen Diskurs, wobei bisweilen selbst wissenschaftlich ausgewiesene Positionen dazu beitragen, demographische Schreckensszenarien zu befördern. Paradoxerweise unterlaufen gerade jene politischen Initiativen, die vor diesem Hintergrund auf eine Aufwertung des Alters zielen, letztlich ihre eigenen Absichten, indem sie faktisch dazu beitragen, das Alter(n) als soziales Problem zu rahmen.

In dieser Gemengelage ist das Projekt Altern als Zukunft mit der Absicht angetreten, zur Aufklärung der ‚alternden Gesellschaft‘ über sich selbst beizutragen. Seine nunmehr vorliegenden Befunde sind dazu geeignet, das ‚Problem‘ des Alter(n)s anders zu denken: Als eines nämlich, das die spätmoderne Gesellschaft mit sich selbst hat – und das, um es salopp zu formulieren, ihre Alten ausbaden müssen. Doch der Reihe nach.

Die gesellschaftlich vorherrschenden Beschreibungen des Alters sind dadurch gekennzeichnet, dass sie – so oder so – kein rechtes Maß kennen. Entweder tendieren sie zu einer Idealisierung des Alters, das einseitig mit positiven Eigenschaften wie Gelassenheit, Erfahrung und Weisheit verbunden wird. Im kollektiven Bilderhaushalt scheinen dann traditionelle Bilder von rüstigen, würdevollen Alten auf, dominieren Figuren wie die bei der Handarbeit am Kaminfeuer wohlige Geschichten erzählende Großmutter oder der seinen Enkelkindern kumpelhaft zugeneigte, immer zu einem augenzwinkernden Bruch mit den Erziehungsprinzipien der Eltern aufgelegte Großvater. Auf der anderen Seite aber, und durchaus häufiger, wird ein defizitäres Bild dieser letzten, mittlerweile nicht selten mehrere Jahrzehnte andauernden Lebensphase (Lessenich, 2014) gezeichnet. Das Alter ist demnach durch Einschränkungen der körperlichen und geistigen Leistungsfähigkeit gekennzeichnet, die sozialen Netze scheinen sich unaufhaltsam zu lichten, sodass alte Menschen tendenziell als einsame Gestalten wahrgenommen werden. Zugleich wird regelmäßig die finanzielle Belastung durch Rentenzahlungen und Pflegeleistungen für die Älteren thematisiert, bisweilen in der Zuspitzung, dass diese auf Kosten der Jüngeren leben und deren Aussichten auf eine angemessene Versorgung im Alter schmälern würden. Die Vergangenheit wird dann gegen die Zukunft in Anschlag gebracht: Während den Alten eigene Zukunftsperspektiven schlechthin abgesprochen werden, gelten ihre im Lebenslauf erworbenen sozialen Leistungs- und Unterstützungsansprüche als eine Hypothek der Lebenschancen nachfolgender Generationen.

Als Lösungen dieses vermeintlichen Problems werden älteren Menschen zwei verschiedene Pfade anempfohlen, auf denen sie sich – zu ihrem eigenen Wohl wie auch dem der Allgemeinheit – dem Lebensende entgegenbewegen können. So gegensätzlich diese beiden Pfade zunächst anmuten, so befördern die ihnen jeweils zugrunde liegenden Normen des „guten Alterns“ (de Paula Couto et al., 2022; Rothermund, 2019) doch gleichermaßen die gesellschaftliche Abwertung und Ausgrenzung des Alters. Zwar enthalten beide altersbezogenen Sozialnormen, die des Rückzugs ebenso wie jene der Aktivität, durchaus positive Elemente. In der gesellschaftlichen Praxis aber schlagen beide in ihr Gegenteil um und nähren, je auf ihre Weise, die kollektive Wunschvorstellung, dass das Alter tunlichst unscheinbar bleiben möge und dass Alte möglichst unsichtbar sein sollen: Sei es, weil sie für und unter sich bleiben, oder aber weil sie sich so erfolgreich anzupassen vermögen, dass sie in ihrem Alt-Sein gar nicht mehr auffallen.

Die Rückzugsnorm spiegelt fraglos erstrebenswerte Aspekte des Alter(n)s als Lebensphase wider, ist sie doch Ausdruck der Möglichkeit, das Leben im Alter frei von äußeren Verpflichtungen und ganz nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Sie eröffnet damit auch den Freiraum und die nötige Muße, um sich mit der Endlichkeit der eigenen Existenz auseinanderzusetzen, den Blick auf die wesentlichen Dinge des Lebens zu richten, letztlich ‚loslassen‘ zu können und die eigene Lebensgeschichte zu einem guten Abschluss zu bringen. Die Aktivitätsnorm wiederum stellt die Möglichkeit in Aussicht, über die Aufrechterhaltung der körperlichen und geistigen Beweglichkeit und eine entsprechend aktivische Gestaltung der alltäglichen Lebensführung auch noch im hohen und höchsten Alter gesellschaftliche Teilhabe realisieren zu können. Wer länger fit ist, bleibt auch länger sozial lebendig und wird den Ruhestand als eine Zeit genießen können, in der das Leben alles andere als ruhiggestellt ist.

So sehr beide Altersnormen also positive Implikationen haben oder jedenfalls haben könnten, so sehr verkehren sie sich unter den gegebenen gesellschaftlichen Bedingungen in ihr Gegenteil. Um die ‚Probleme‘ der alternden Gesellschaft zu lösen, werden beide Normen alterspolitisch instrumentalisiert – und auf diese Weise pervertiert (Denninger et al., 2014). Die Norm des Rückzugs wird dann zu einer Norm des Verzichts: Idealerweise stellen die sich zurückziehenden, auf sich selbst orientierten Alten keine weitergehenden Ansprüche mehr, weder an ihr näheres soziales Umfeld noch an die gesellschaftliche Gemeinschaft oder an ‚die Politik‘. Das gute Alter ist dann jenes, das innerlich wird, das sich in den eigenen vier Wänden oder hinter den Mauern der Altenheime abspielt, sich anspruchslos und selbstgenügsam gibt. Eben dieses sich selbst genügende Alter aber steht stets in der Gefahr, gerade wegen seiner wahrgenommen Nicht-, ja A-Sozialität als gesellschaftliche Belastung gezeichnet zu werden, als sozialer Kostenfaktor, dessen unproduktive Lebensführung zu Lasten des Restes der Gesellschaft geht. Aus Rückzug wird also Verzicht, aus Verzicht Verzehr.

Genau umgekehrt stellt sich die Konstellation mit Blick auf die Norm der Aktivität dar, die ihrerseits zum Produktivitätszwang zu geraten droht. Denn nicht jedwede Tätigkeit im Alter vermag der Aktivitätsnorm zu genügen, gesellschaftlich gefragt sind vielmehr vorrangig sozial nutzbringende, gemeinwohldienliche Verhaltensweisen, vom Ehrenamt bis zur Enkelkinderbetreuung. Aus der Aktivitäts- wird dann eine altersangepasste Leistungsnorm, die ältere Menschen in die Pflicht nimmt, ihren Beitrag im Dienste der Allgemeinheit zu erbringen – und sich nicht zuletzt deshalb aktiv gesund, fit und mobil zu halten, damit sie eben diesen Beitrag so lange wie möglich zu leisten vermögen. Das in die Aktivitätsnorm eingelagerte Teilhabeangebot schlägt so in ein Teilnahmegebot um, an dessen praktische Erfüllung die Wertschätzung des Alters gebunden ist.

Die Vorstellung des Alters als Problem, das zu bearbeiten ist durch wahlweise den Verzicht oder aber die Leistung der Älteren, die gleichwohl immer ein Problem bleiben: Dieser selbst problematische Deutungszusammenhang wurzelt in einer tiefsitzenden, im individuellen wie kollektiven Bewusstsein fest verankerten Überzeugung, dass das Leben im hohen Alter wertlos ist. Hier liegt des Pudels Kern: In der allgemein geteilten Gewissheit, dass das ‚eigentliche‘ Leben sich vorher abspielt und mit dem Alter – und also noch vor dem Tode – endet. Wer ‚wirklich‘ alt ist, hat demnach nichts mehr vom Leben, und hat auch nichts mehr zu geben. Allenfalls kann es dann noch darum gehen, den Anderen – Jüngeren – wenigstens nicht zur Last zu fallen. Dagegen hilft letztlich nur die Vermeidung des Alters, entweder indem man dagegen ankämpft und sich den Jüngeren anverwandelt oder indem man von der Bildfläche verschwindet und das Leben der Anderen nicht weiter stört.

Diese gesellschaftliche Überzeugung von der Wertlosigkeit des Alters gewinnt eine gleichsam ethische Qualität im individuellen und kollektiven Umgang mit dem Alter: Sie rechtfertigt die Ungleichbehandlung der Alten, sie lässt deren Zurücksetzung und Marginalisierung folgerichtig erscheinen, ja fordert diese geradezu heraus. Sie lässt den älteren Menschen kaum Spielraum für ein selbstbewusstes Auftreten, weil diese, sobald sie überhaupt öffentlich in Erscheinung treten, irgendwie immer stören: Mal halten sie den Betrieb auf, mal geben sie ungebeten gute Ratschläge; passen sie sich der gesellschaftlichen Erwartungshaltung nicht an, so gelten sie als starrsinnig, versuchen sie hingegen mitzuhalten und sich möglichst jung zu geben, dann bewegen sie sich in der Fremdwahrnehmung immer hart an der Grenze zur Peinlichkeit. Dabei ist bemerkenswert, dass die Tendenz, ältere Menschen auszugrenzen, indem man Unauffälligkeit und Bescheidenheit von ihnen fordert, einer aktuellen Studie (Martin & North, 2021) zufolge besonders stark bei Personen ausgeprägt ist, die ansonsten starke Gleichheits- und Fairness-Einstellungen (egalitarian attitudes) bekunden. Einerseits massiv gegen Sexismus und Rassismus eingestellt, sind sie andererseits davon überzeugt, dass ältere Menschen der jüngeren Generation nicht im Wege stehen sollten. Die Kategorie Alter(n) steht also, viel mehr noch als die Kategorien Geschlecht oder Ethnizität, für das ‚Andere‘ eines gelingenden Lebens, für das sozial Unerwünschte und vom eigenen Ich Abzuspaltende – was Ungleichbehandlung nicht nur als angemessen, sondern sogar als Norm der Fairness im Umgang mit alten Menschen erscheinen lässt.

Insofern ist es nicht weiter verwunderlich, dass die verbreiteten Formen der sowohl alltagspraktischen wie institutionalisierten Benachteiligung Älterer für wenig öffentliches Aufsehen oder gar Kritik sorgen. Im Grunde genommen stoßen die zahlreichen diskriminierenden Praktiken, mit denen sich ältere Menschen konfrontiert sehen (Ayalon & Tesch-Römer, 2018; Rothermund et al., 2021; Rothermund & Mayer, 2009), gesellschaftlich auf breite Akzeptanz, wenn nicht auf ausdrückliche Zustimmung. Dies gilt namentlich für rigide Altersgrenzen im Erwerbsleben und beim Übergang in den Ruhestand: In anderen kulturellen Kontexten, etwa in den USA, völlig unüblich, wird der an ein bestimmtes chronologisches Alter gekoppelte, gesetzlich verfügte Erwerbsausstieg hierzulande zwar bisweilen abstrakt problematisiert, bei eigener Betroffenheit womöglich auch konkret kritisiert. Im Übrigen aber, wenn es nämlich um die alten ‚Anderen‘ geht, wird der geregelte Generationswechsel im Betrieb – aller Rede von altersgemischten Teams zum Trotz – für ökonomisch und organisationspolitisch funktional erachtet.

Zugleich bleibt der Widerspruch unthematisiert, dass eben jene Personen, die soeben noch als ‚zu alt‘ für den ersten Arbeitsmarkt (dis-)qualifiziert wurden, gleichsam im selben Akt in das Visier einer staatlichen Engagementpolitik geraten, die nicht müde wird, die Bedeutsamkeit, ja Unverzichtbarkeit von sozialer Produktivität im Nacherwerbsleben zu betonen. Ähnlich paradox muten die vorsorgepolitischen Anrufungen an, denen sich ältere Menschen in immer drängenderer Form gegenübersehen: Was sich zunächst als gesellschaftliche Überzeugung von der Sinnhaftigkeit vorsorgenden Handelns darstellt, schlägt unvermittelt in die politische Erwartungshaltung um, dass es nicht etwa öffentliche Institutionen seien, denen die Verantwortung für allgemein geteilte Vorsorgebedarfe zukomme, sondern dass die einzelnen Subjekte – hier die älteren Menschen – selbst gehalten sind, sich um sich und die eigene Zukunft zu kümmern.

Interessanterweise werden die gesellschaftlichen Vorstellungen von der Wertlosigkeit des Lebens im Alter, aus denen sich die vielfältigen Mechanismen der Altersdiskriminierung speisen, auch von älteren Menschen selbst verinnerlicht, womit sie zu einer Reproduktion der das Alter(n) abwertenden und ausgrenzenden Praktiken beitragen bzw. derartige Praktiken subjektiv verlängern und dadurch zementieren. Dass die von den Älteren sozial erfahrene Ungleichbehandlung in Form ihrer Selbstdiskriminierung (Rothermund, 2018; Rothermund et al., 2021; Voss et al., 2018a) verdoppelt wird, meint freilich nicht, dass sie ‚selbst schuld‘ wären an ihrer gesellschaftlichen Ausgrenzung. Es verweist vielmehr darauf, wie komplex die Grundlagen und Zusammenhänge jenes sozialen Phänomens sind, das in internationalen wissenschaftlichen, aber auch politischen Debatten als ‚Ageism‘ bezeichnet wird – und für das es, durchaus bezeichnend, im deutschen Sprachgebrauch keinen eigenen Begriff gibt. Hierauf wird noch zurückzukommen sein.

6.2 Von Variabilität und Vulnerabilität: ‚Das‘ Alter(n) gibt es nicht

Die vielfältigen Formen faktischer Abwertung des Alters und alltagspraktischer Ausgrenzung der Alten kulminieren in wiederkehrenden Debatten über eine mögliche ‚Abschaffung des Alters‘: Was, wenn man den biologischen Alternsprozess verlangsamen, aufhalten, aufschieben könnte? Was, wenn es medizinisch-technologisch möglich wäre, das Altern zu ‚besiegen‘? Was zunächst wie eine etwas skurrile, gedankenspielerische Fortschreibung klassischer Vorstellungen des Jungbrunnens und zeitloser Utopien vom ewigen Leben anmutet, verleiht doch tiefere Einblicke in die (vorsichtig ausgedrückt) Altersvergessenheit unserer Zeit. Die Imagination eines Lebens ohne Alter und einer Gesellschaft ohne Alte ist letztlich nur die Radikalisierung herrschender Praktiken einerseits der Umdeutung des Alters (in der Diskursfigur der „jungen Alten“; van Dyk & Lessenich, 2009b), andererseits seiner individuellen Verleugnung und kollektiven Verdrängung: ‚Alt‘ ist dann grundsätzlich eine Fremdbezeichnung, und die ‚wirklich‘ Alten bekommen nur noch Angehörige und das Pflegepersonal zu Gesicht. In der Tiefe des psychosozialen Umgangs mit dem unabweisbaren Faktum des Alterns haben wir es hier mit einer folgenreichen Flucht vor dem Realitätsprinzip zu tun: Die Alten werden dafür bestraft, dass sie die soziale Tatsache des Alter(n)s verkörpern, dass sie uns den Spiegel unserer persönlichen – als Verfallsgeschichte vorgestellten – Zukunft vorhalten (Martens et al., 2005).

Dabei ist das Alter(n) ganz anders, als es in den Negativvisionen, aus denen sich die schlechte Utopie der Gesellschaft als altersfreier Zone speist, ausgemalt wird. Das ist der wohl wichtigste empirische Befund des Projekts Altern als Zukunft: Das ‚eine‘ Alter gibt es nicht, denn es ist so vielfältig wie das Leben selbst. Und es gibt es ‚als solches‘ auch deswegen nicht, weil das Alter ein Prozess ist, ein beständiges Älterwerden, das keine klaren Grenzen und Schwellenwerte kennt. Das Altern ist in der Tat ein langer ruhiger Fluss, der zu keinem terminierten Datum – dem Auszug des jüngsten Kindes oder dem Tod des Partners, dem Tag der Verrentung oder dem 80. Geburtstag – in das Meer des Altseins mündet. Und die Wege zum Alter, die Flussläufe des Alterns gewissermaßen, sind äußerst unterschiedlich, keiner ist wirklich identisch mit dem anderen. Selbst nach kritischen Lebensereignissen wie einem Schlaganfall oder der Diagnose einer tödlichen Erkrankung sind nicht alle Biographien grau, selbst dann noch lassen sich verschiedenartigste Umgangsweisen mit der vielleicht elementaren Alterns-Erfahrung feststellen: Dass die Dinge des Lebens plötzlich nicht mehr so sind wie zuvor.

Eine bemerkenswerte – weil gesellschaftlich abgeblendete – Variabilität des Alter(n)s zeigen unsere quantitativen wie qualitativen Befunde in zweierlei Hinsicht: zwischen Individuen wie innerhalb von Individuen.

Mit der Variabilität des Alter(n)s zwischen Individuen ist dessen sozialstrukturelle Dimension angesprochen. Die Verschiedenartigkeit von Lebenslagen, Lebensläufen und Lebensstilen ist unter älteren Menschen nicht geringer als unter jüngeren, also bei Menschen im Jugend- oder Erwachsenenalter. Wie und warum sollte es auch anders sein? Warum sollten Millionen von Personen, die in ihren jüngeren Jahren in ganz unterschiedlichen Elternhäusern aufgewachsen sind, ganz verschiedenen Sozialmilieus entstammen, unterschiedlichste Bildungswege durchlaufen haben, auf völlig verschiedenartige Erwerbsbiographien zurückblicken, in je andersartige Familienkonstellationen und soziale Netzwerke eingebunden sind, über sehr ungleiche finanzielle Möglichkeiten verfügen, und so weiter: Warum sollte diese bunte Mischung an Menschen mit dem Übergang in den Ruhestand oder mit Erreichen eines bestimmten chronologischen Alters – ob nun 70, 80, 90 oder 100 Jahre – sich unversehens angleichen, mit einem Mal zu einer amorphen Masse von ‚Alten‘ verschmelzen, die einheitliche soziale Charakteristika und psychische Dispositionen aufweisen? Die Frage so zu stellen heißt, die Hintergrundannahme einer uniformen Lebensphase namens ‚Alter‘ für absurd zu erklären. Und dennoch ist die Homogenisierung ‚des‘ Alters gängige gesellschaftliche Praxis: Da gelten dann alle Alten wahlweise als häuslich oder reiselustig, als rüstig oder klapprig, wohlsituiert oder armutsbedroht, starrsinnig oder weise. Ob nun also beneidens- oder bemitleidenswert, Bürde oder Chance: Hauptsache, es lässt sich ein möglichst schlichtes Kollektivurteil über das Alter und die Alten fällen.

Die soziale Realität des Alters im frühen 21. Jahrhundert, wie sie in den Befunden des Projekts Altern als Zukunft aufscheint, dementiert solch eindimensionale Bilder hingegen auf eindrucksvolle Weise. Zur in sich selbst vieldimensionalen, nämlich aus unterschiedlichen Quellen sich speisenden, Heterogenität des Alters tragen sowohl individuelle wie institutionelle, materielle wie kulturelle Faktoren bei. So beeinflussen unterschiedliche Persönlichkeitsmerkmale und prägende Lebenserfahrungen ebenso den verschiedenartigen Umgang etwa mit Fragen der Vorsorge für das Alter oder der Alltagsstrukturierung im Alter wie dies auch Faktoren wie die eigenen Familienverhältnisse, der (objektive und subjektive) Gesundheitszustand oder die Ausstattung mit finanziellen Ressourcen und Bildungskapital tun. Auch die im Vergleich zu anderen Lebensphasen eher geringe normative und institutionelle Prägung des höheren Alters ist für dessen viele Gesichter verantwortlich (Riley et al., 1994): Nach dem Ausscheiden aus dem Erwerbsleben gibt es keine alterschronologischen Fixierungen (wie z. B. die Schulpflicht) oder sozialen Übergangsnormierungen (wie z. B. der Auszug aus dem Elternhaushalt spätestens bei eigener Familiengründung) mehr, sondern ältere Menschen verbleiben so lange wie möglich in ihrem angestammten Wohnumfeld oder aber sie bemühen sich ganz im Gegenteil frühzeitig um den Wechsel in Formen des betreuten Wohnens, sie leben wahlweise Jahrzehnte lang alleine oder aber verpartnern sich noch im höchsten Lebensalter neu, womöglich auch mit Personen des eigenen Geschlechts.

Um auch in diesem Sinne keine falschen Vorstellungen aufkommen zu lassen: Es ist nicht so, dass im Alter individuell wie strukturell ‚alles möglich‘ wäre (was freilich auch in jungen Jahren keineswegs der Fall ist). Aber empirisch findet sich eben doch eine Vielzahl an Lebensgestaltungsmustern und realisierten Lebensentwürfen auch unter den Älteren. Für deren Spannbreite und spezifische Ausgestaltung wiederum sind nicht zuletzt auch kulturelle Faktoren von Bedeutung, was im Kontext unseres Projektes vor allem durch die internationale Vergleichsperspektive gezeigt werden konnte: Von der Frage, ab wann eine Person überhaupt als ‚alt‘ gilt, bis hin zu jener, welche Bedeutung dem Lebensende bzw. der Endlichkeit des Lebens zugeschrieben wird und welche praktischen Konsequenzen diese Bedeutungszuschreibung hat, finden sich markante Differenzen nicht nur zwischen älteren Menschen, sondern auch zwischen älteren Menschen in unterschiedlichen Alterskulturen. Und dies wiederum nicht nur zwischen westlichen und ostasiatischen Gesellschaften (in unserem Projekt repräsentiert durch Hongkong und Taiwan), sondern auch zwischen dem europäischen und dem nordamerikanischen Kulturraum (die vor einem deutschen Erfahrungshintergrund äußerst ‚fremd‘ anmutende US-amerikanische Praxis der Alterserwerbstätigkeit beispielsweise wurde hier bereits erwähnt).

Vielleicht überraschender noch für den Alltagsverstand könnte die Tatsache sein, dass es nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb von Individuen, also bei jedem einzelnen Menschen selbst, ein hohes Maß an Variabilität von Altersbildern und Alternserfahrungen gibt. Ein zentrales Erkenntnisinteresse unseres Projekts bezog sich auf genau diese innerindividuelle Vielfalt des Alter(n)s, genauer auf dessen Kontextgebundenheit und Bereichsspezifität. Und unsere Befunde zeigen auf eindrückliche Weise genau dies: In unterschiedlichen Lebensbereichen gelten jeweils andere, eigene Kriterien und Regeln des Alt-Seins. Zudem hat jede ältere Person in unterschiedlichen Bereichen auch je anders geartete Fähigkeiten und Ressourcen, Anschlussmöglichkeiten und Selbsteinschätzungen. Ein und dieselbe Person kann sich etwa im Bereich von Arbeit und Beruf schon als ‚alt‘ erfahren, weil sie sich innerbetrieblich zurückgesetzt oder in ihren Kompetenzen und Qualifikationen nicht wertgeschätzt fühlt – und sich zugleich aber im Bereich von Partnerschaft und Familie noch als deutlich ‚jünger‘ empfinden, sei es, weil sie eine neue Liebesbeziehung eingegangen ist, oder weil sie durch die Geburt von Enkelkindern neue Lebensbezüge entwickelt.

Aber nicht nur das subjektive Altersempfinden changiert je nach Lebensbereich. Auch das Bild vom Alter – dessen positivere oder negativere Einschätzung – ist stark davon abhängig, welche Dimension der Lebensführung die von uns befragten Menschen vor Augen haben: Gelten hier Ältere z. B. mit Bezug auf das religiöse Leben als gleichsam in ihrem Element, wird ihnen mit Blick auf ihr Sozialleben eher eine defizitäre Lage zugeschrieben. Diese Vorstellungen vom Leben der Älteren bzw. im Alter ändern sich wiederum über die Lebenszeit: Jüngere Menschen haben tendenziell negativere Bilder des Alter(n)s als jene, für die das Altersleben und Alternserleben bereits persönliche Realität ist. Auch in diesem Zusammenhang sind allerdings unterschiedliche Kontexte von Bedeutung: In den Bereichen von Arbeit und Gesundheit etwa ist man, je näher das eigene Alt-Sein zu rücken scheint, umso eher geneigt, dem Alter – und damit sich selbst – Kredit einzuräumen und es sich etwas weniger düster auszumalen. Geht es hingegen um das Feld von Familie, Freunden und Freizeit, so haben 50- bis 60-jährige Menschen, also jene, die kurz vor dem Übergang ins höhere Alter stehen, die negativsten Bilder desselben – eine nur scheinbar paradoxe Distanznahme gegenüber jener Altersgruppe, der man demnächst selbst angehören wird. Positive Alternserfahrungen in einem persönlich hoch bewerteten Lebensbereich hingegen können auch das Gesamtbild des Alters aufhellen bzw. auf die Einschätzung anderer Lebensbereiche abfärben – und umgekehrt. Insofern sind durchaus Positiv- wie auch Negativspiralen im individuellen Umgang mit Alternserfahrungen denkbar, einschließlich solcher Dynamiken, in deren Zuge sich ältere Menschen selbst in einer Welt der objektiv eingeschränkten Möglichkeiten ‚einrichten‘ und womöglich sogar wohlfühlen.

Neben der Variabilität gilt es an dieser Stelle allerdings noch von einem zweiten Metabefund unserer empirischen Studie zu berichten, nämlich von der Vulnerabilität des Alters, seiner besonderen Verwundbarkeit. Auch dieses Ergebnis des Projekts Altern als Zukunft hat wiederum zwei Dimensionen, denn die Vulnerabilität des Alters lässt sich so verstehen, dass sie die soeben beschriebene Variabilität einerseits einschränkt und andererseits aber – in einer gegenläufigen Bewegung – zugleich verstärkt. Dieser zunächst verwirrend anmutende Zusammenhang sei zum Abschluss der Rekapitulation unserer Ergebnisse noch kurz dargelegt.

Auf der einen Seite lässt sich das hohe Alter als eine besonders vulnerable Lebensphase bezeichnen (Kruse, 2017). Zwar ist die Tatsache, verwundbar zu sein, für das menschliche Leben an sich bestimmend, in grundsätzlich jedem Lebensalter: Als soziale Wesen sind wir existenziell von Anderen abhängig, von ihrer Zuwendung und Sorge, vom ersten bis zum letzten Tag unseres Lebens. Kein Mensch ist wirklich autonom – unabhängig – in seiner Lebensführung; ein jeder, auch der vermeintlich stärkste, ist der Unterstützung durch Dritte bedürftig, und in eben dieser Bedürftigkeit verletzlich. Doch gibt es jenseits dieser grundlegenden, für das Menschsein konstitutiven Verwundbarkeit durchaus eine spezifische Vulnerabilität am Lebensende – und der alltagsweltliche Begriff des Alters ist letztlich nur eine Chiffre, technisch gesprochen eine Proxy-Variable, für eben diese besondere Form sozialer Abhängigkeit. In dem Maße, wie mit fortschreitendem Alter Erfahrungen von Krankheit und Pflegebedürftigkeit schlichtweg statistisch wahrscheinlicher werden, wie die Hinfälligkeit des Lebens sich am Horizont ankündigt und das Leben als ein langer Weg ‚hin zum Tode‘ erkennbar wird, wird die Vulnerabilität ihrer Existenz zum geteilten Wissensbestand älterer – ‚höchstaltriger‘ – Menschen. Insofern, und nur in diesem Sinne, lässt sich von einer Angleichung der Lebensumstände im Alter sprechen: Was ältere Menschen jedenfalls objektiv miteinander teilen, ist ihre knapper werdende Restlebenszeit, ihre relative lebensweltliche Nähe zum Exitus.

Auf der anderen Seite aber gibt es auch unter den Älteren, ja selbst unter den Ältesten der Alten, durchaus variable Vulnerabilitätszustände. Abgesehen davon, dass das Faktum des mit jedem gelebten Tag näher rückenden Todes Menschen jeglichen Alters betrifft (aber nur mit Blick auf die ‚wirklich‘ Alten zu gesellschaftlichen Ausschlussimpulsen führt), ist festzuhalten, dass keineswegs jeder alte Mensch gleichermaßen verletzlich ist. Schon hinsichtlich ihrer subjektiven Restlebenserwartung unterscheiden sich ältere Menschen derselben Alterskohorte auf Befragen massiv – und übrigens auch in ihren Aussagen zum gewünschten Sterbealter (Rupprecht & Lang, 2020; Lang & Rupprecht, 2019a). Nicht alle Älteren wollen die Lebenszeit maximal ausreizen, und keineswegs alle meinen, ein bestimmtes Lebensalter erreichen, etwa ihren 80. Geburtstag erleben zu können. Auch statistisch hat nicht jede hochaltrige Person in biographischer Perspektive dasselbe objektive Risiko, fundamentale Einschränkungen ihrer Lebensqualität hinnehmen zu müssen. Und schon gar nicht sind die Möglichkeiten und Fähigkeiten zu einem in der Selbstwahrnehmung befriedigenden Umgang mit solchen Einschränkungen, so sie denn tatsächlich eintreten sollten, sozial gleichverteilt – ganz im Gegenteil. Auch im Alter gilt: Alle Menschen sind verletzlich, aber in ihrer Verletzlichkeit sind sie nicht alle gleich. Es ist eine Frage von materiellen Ressourcen und sozialen Netzwerken, von biographischen Erfahrungen und persönlicher Ich-Stärke, welche konkrete Form die altersbedingte Verletzlichkeit und die Praktiken des Umgangs mit ihr annehmen.

Das Zukunftshandeln älterer und alternder Menschen ist von dieser Konstellation einer letztlich differenzierten Vulnerabilität geprägt: Mit der zunehmend konkreten Lebenserfahrung der Verwundbarkeit nimmt auch die subjektive Dringlichkeit zu, Vorsorge für die Eventualitäten des Alters in Form von Versicherungen und Patientenverfügungen zu treffen. In welchem Alter aber dieses Dringlichkeitsgefühl einsetzt, ob erst mit 70 oder aber schon mit 40, und wie es sich dann in praktisches Handeln übersetzt, ist von den je besonderen Lebensumständen im konkreten Einzelfall abhängig. Die Vulnerabilität des Alters ist somit nicht der große Gleichmacher, im Gegenteil: Sie setzt nur den geteilten Rahmen, innerhalb dessen sich die soziale Vielfalt des Alterns erweist.

6.3 Das Alter(n) würdigen – aber wie?

Das Alter(n), soviel dürfte bis hierhin deutlich geworden sein, ist eine ambivalente Erfahrung – für die alternden Menschen selbst wie für eine Gesellschaft, die sich der kollektiven Realität eines langen, sich stetig verlängernden Lebens gegenüber sieht, damit aber nicht recht umzugehen weiß. Nicht minder doppeldeutig ist die Welt des Alter(n)s freilich auch für die Alter(n)sforschung, also für diejenigen, die den individuellen wie gesellschaftlichen Alterungsprozess beobachten, aus einer wissenschaftlichen Perspektive, die ihrerseits niemals gänzlich frei von normativen Urteilen ist. Als solcherart ‚befangene‘, ihrem Forschungsgegenstand verpflichtete Wissenschaft steht die Alter(n)sforschung vor einem kaum zu bewältigenden Dilemma: Möchte sie doch im Prinzip die Alterskategorie in ihrer konkreten, häufig negativen gesellschaftlichen Bestimmtheit überwinden, ohne aber damit der oben erwähnten Tendenz zur ‚Abschaffung des Alters‘ das Wort reden zu wollen.

Im Lichte der unvermeidlichen Tatsache, mit der Abgrenzung einer bestimmten Lebensphase – eben jener des ‚Alters‘ – von anderen Lebensabschnitten zumindest kategorial auch eine Ausgrenzung vorzunehmen, und damit womöglich unwillentlich sozialen Exklusionsprozessen Vorschub zu leisten, könnten Alter(n)sforscher und -forscherinnen geneigt sein, auf die Alterskategorie gänzlich zu verzichten. So sehr dies aber wiederum ein Widerspruch in sich ist und weder wissenschaftlich noch gesellschaftspolitisch eine angemessene Lösung des benannten Problems wäre, so sehr steht die Alter(n)sforschung auch zukünftig in der Gefahr, selbst an der ‚Besonderung‘ des Alters mitzuwirken.

Gerade eine gesellschaftliche Sonderstellung des Alters aber, so die gemeinsame Schlussfolgerung aus unserer über ein Jahrzehnt hinweg betriebenen interdisziplinären Forschung zum Altern als Zukunft, gälte es zukünftig zu vermeiden. Denn jede soziale Zuweisung eines Sonderstatus, und möge sie in noch so wohlmeinender Absicht erfolgen, trägt in sich die Tendenz, wie ein Bumerang auf die mit diesem Abgrenzungsmerkmal versehene Gruppe zurückzuschlagen: Die jüngsten Erfahrungen mit der Konstruktion älterer Menschen als ‚Risikogruppe‘, deren erhöhte Gefährdung durch das Coronavirus als Rechtfertigung ihrer Isolation in Pflegeheimen und damit ihrer sozialen Ausgrenzung herangezogen wurde, kann als Beleg für diesen Zusammenhang gelten (Ayalon et al., 2021). Statt aber ‚die Alten‘ großgruppenförmig zu vereinheitlichen und als ‚besonders‘ – ob nun besonders schutzbedürftig, produktivitätsträchtig oder würdigungswürdig – auszuweisen, wäre es an der Zeit, ‚das Alter‘ schlicht als das zu verstehen und zu verhandeln, was es im Grunde genommen ist: Eine weitere Phase des Lebens halt. Nichts anderes (und ‚Anderes‘), so selbstverständlich wie die vorherigen Lebensabschnitte – und wie die womöglich noch folgenden.

Eine solche neue Selbstverständlichkeit, die kollektive Annahme der gesellschaftlichen Realität eines langen Lebens, und damit eines individuell verlängerten Alter(n)serlebens, wäre der Schlüssel zur auch je persönlichen Anerkennung des Alters als eigenständige Lebensphase, als Lebensabschnitt eigenen Rechts und eigener Qualität. Beide Seiten der Alter(n)serfahrung, die individuelle und die kollektive, die persönliche wie die gesellschaftliche, sind auf das Engste miteinander verschränkt: Sollen nicht allein einige wenige privilegierte Ältere, und auch nicht nur die große Mehrheit der älteren Menschen, sondern tatsächlich alle Alten das Alter als eine Quelle persönlicher Lebenszufriedenheit und zukunftsgerichteter Lebensführung realisieren – sprich erkennen und verwirklichen – können, dann sind die Akteure und Institutionen der Alterspolitik gefragt, der hier dargelegten Variabilität und Vulnerabilität des Alters Rechnung zu tragen. Nur wenn die gerne als rein individuelle Kompetenzen und Qualitäten ausgewiesenen Phänomene der ‚Wirklichkeitsaneignung‘ und des ‚Möglichkeitserlebens‘ im Alter konsequent als gesellschaftliche Probleme gerahmt würden, ließe sich auch die Lebensqualität älterer Menschen strukturell verbessern: Dann würden die Bereitschaft und die Fähigkeit, die Realität des Alterns anzunehmen und das Alter als Möglichkeitsraum neuer Erfahrungen zu begreifen, endlich nicht mehr als persönliche Probleme gelten, sondern als das diskutiert werden, was sie eigentlich sind, nämlich als öffentliche Angelegenheiten (Mills, 2016).

Die ‚Gesellschaft des langen Lebens‘ wird dieser Bezeichnung erst dann gerecht werden, wenn sie allseits als eine neue gesellschaftliche Konstellation begriffen wird, in der es eben nicht nur statistisch ‚normal‘ wird, sich eines verlängerten Lebens zu erfreuen, sondern in der es wie selbstverständlich ein ‚Recht auf Altsein‘ gibt – oder, allgemeiner formuliert, das in jeder beliebigen Lebensphase gleiche Recht, so sein zu dürfen, wie man nun einmal ist, im Zweifelsfall nämlich ‚alt‘.

Dies aber wiederum hieße, den Reproduktionszyklus extrem negativer Altersbilder (zumeist projiziert auf das höchste, „vierte“ Lebensalter, vgl. Higgs & Gilleard, 2015) zu durchbrechen und jenem extremen Biologismus der Altersdebatte entgegenzutreten, der sich in geflügelten Worten wie „Gesundheit ist ja das Wichtigste“ oder gar „Ohne Gesundheit ist alles Nichts“ äußert. Ganz in diesem Sinne müsste sich übrigens auch die Alter(n)sforschung selbst prüfen und von ihrer verbreiteten Orientierung auf Fragen der Gesundheitsförderung, der Medikalisierung und der Aktivierung lösen – von ihrer Fixierung also auf die Funktionalität des Alters und die Funktionsfähigkeit der Alten (Kocks & Unckhoff, 2021). Viel wäre alter(n)spolitisch schon gewonnen, wenn wenigstens das wissenschaftliche Interesse vorrangig auf jene Themen gerichtet wäre, die empirisch wirklich wichtig sind für ältere Menschen und deren Lebenszufriedenheit im Alter: auf Fragen der materiellen Ressourcenausstattung und des sozialen Eingebundenseins, der gesellschaftlichen Partizipation und Anerkennung.Footnote 1

Mit Blick auf die Sozialkategorien Geschlecht und Ethnizität ist das politisch-soziale Ringen um derartige Anerkennungsfragen heute gang und gäbe. Sexismus und Rassismus, #metoo und #blacklivesmatter erfahren mittlerweile – und angemessener Weise – große öffentliche Aufmerksamkeit. Für das Alter und dessen Anerkennungsdefizite hingegen gilt dies einstweilen nicht: #themtoo oder #oldlivesmatter sind als Hashtags unbekannt, Ageism ist hierzulande – ganz anders als im englischen Sprachraum – als politischer Problematisierungsbegriff nicht nur ungebräuchlich, sondern völlig inexistent. Ihn auch in die deutsche gesellschaftliche Debatte einzuführen, beispielsweise mit dem Lehnwort des Ageismus, wäre ein unschätzbarer Fortschritt nicht nur für die deutsche Alter(n)spolitik, sondern längerfristig auch für die Lebensverhältnisse älterer Menschen in Deutschland. Sollte das vorliegende Buch zu diesem Fortschritt einen, und sei es nur bescheidenen, Beitrag leisten können, so hätte es seinen Zweck erfüllt.