5.1 Soziologische Perspektiven auf das Alter(n)

5.1.1 Die Gesellschaftlichkeit des Alters

Das Alter ist ein soziales Phänomen. Zunächst könnte man Gegenteiliges meinen: Führt nicht jeder Mensch sein eigenes Leben und altert gewissermaßen still vor sich hin? Ist nicht der Lebenslauf, als der mehr oder weniger lange Weg des Alterns hin zum Tode, geradezu das prototypische Beispiel für die Individualität des menschlichen Seins? Aus soziologischer Perspektive muss die angemessene Antwort – kürzest möglich formuliert – lauten: Nein. Nein: Das, was wir je individuell als unser ‚eigenes‘ Leben erleben, ist auf vielfältigste Weise ein Produkt gesellschaftlicher Verhältnisse und sozialer Beziehungen. Und nein: Auch wenn wir unsere Biographie naheliegenderweise als Autobiographie rekonstruieren (und manche diese auch verschriftlichen oder gar veröffentlichen), liegt unseres Lebens Lauf keineswegs allein in unserer – oder gar Gottes – Hand, sondern zu ganz wesentlichen Teilen in den Händen teils recht abstrakter, teils sehr konkreter gesellschaftlicher Mächte.

So banal die Aussage erscheint, so basal und folgenreich ist sie zugleich: Altern findet in Gesellschaft statt. Manche Soziologinnen und Soziologen würden noch weiter gehen und sagen, dass ‚Alter‘ eine soziale Konstruktion ist. Und wenn man dabei nicht so weit geht, in offensichtlich widersinniger Weise zu behaupten, dass es das Alter ‚nicht gibt‘, dann spricht doch einiges für diese Sichtweise. Denn schon das chronologische Alter – eine uns gleichsam natürlich erscheinende Kategorie – ist eine soziale Konvention: Irgendwann ist man übereingekommen, die Lebensspanne eines Menschen in Jahren zu bemessen und das biologische Fortdauern des Lebens als einen Prozess des ‚Alterns‘ zu begreifen und zu bezeichnen. Die Tatsache, dass der Autor dieses Beitrages zum Zeitpunkt dessen Entstehens ‚55‘ war bzw. ‚Jahrgang 1965‘ ist, muss als eine durch und durch soziale Tatsache verstanden werden: Als 55-Jähriger mag er sich zwar persönlich ‚jung‘ (oder zumindest ‚jung geblieben‘) fühlen, gesellschaftlich wird er aber nicht mehr zu ‚den Jungen‘ gezählt werden – freilich auch noch nicht zu ‚den Alten‘, denn sein Lebensalter wird von seinen Mitmenschen immer in Relation zur durchschnittlichen Lebenserwartung hier lebender Männer gesehen werden, und diese liegt (so viel wissen wir alle auch ohne die je aktuellen Zahlen des Statistischen Bundesamts zu kennen) irgendwo jenseits der Achtzig. Als 1965 Geborener wiederum ist der Autor – selbst erfahren und auch von anderen gewusst – Teil der Babyboomer-Generation, Mitglied also einer zahlenmäßig großen virtuellen Gruppe (Alterskohorte) von zu einer bestimmten historischen Zeit geborenen Menschen, die seither, ohne sich zu kennen, in gewisser Weise miteinander durchs Leben schreiten und in einem irgendwie gearteten, niemandem sich wirklich erschließenden Zusammenwirken die soziale Welt der Gegenwart geprägt und gestaltet haben.

Was mithin jedem und jeder Einzelnen von uns als hochgradig besonders und individuell erscheinen mag – der ‚eigene‘ Lebenslauf nämlich –, erweist sich aus soziologischer Perspektive als eine ebenso hochgradig kollektive, soziale Veranstaltung: Der Lebenslauf ist „institutionalisiert“ (Kohli, 1985), sprich auf eine Weise eingerichtet, dass alle Gesellschaftsmitglieder letztlich denselben, durch gesellschaftliche Institutionen geordneten und gesteuerten Lebensweg durchschreiten. Schule, Betrieb und Alterssicherung sind die Institutionen, die unterschiedliche Lebensphasen markieren und diese zugleich als differente Altersphasen rahmen: Kindes- bzw. Jugend-, Erwachsenen- und Rentenalter. Mit jeweils ganz verschiedenartigen sozialen Zuschreibungen (z. B. ‚Neugier‘, ‚Routine‘, ‚Erfahrung‘) versehen, gilt nur die letzte Phase des derart dreigeteilten Lebenslaufs im allgemein geteilten Verständnis – also bei ‚Jungen‘, ‚Erwachsenen‘ und ‚Alten‘ gleichermaßen – als ‚das Alter‘ schlechthin. Wobei sich – noch so ein soziales Phänomen – diese Zuschreibung in jüngster Zeit tendenziell verschoben hat, vom „dritten Alter“ (Laslett, 1987) des Rentenbezugs auf das „vierte Alter“ (Higgs & Gilleard, 2015) der Pflegebedürftigen und altersdemenziell Erkrankten. Dass das ‚eigentliche‘ Alter damit gleichsam externalisiert und als Bestimmungsmerkmal den ‚hochbetagten‘ und ‚höchstaltrigen‘ Anderen zugeschrieben wird, spricht für die herrschende soziale Negativkonstruktion des Alters – doch dazu gleich mehr.

5.1.2 Die Relationalität des Alters

Jede Altersbestimmung ist notwendig relational. Nicht als absoluter Größe kommt einer persönlichen Altersangabe individuelle und soziale Bedeutung zu, sondern nur relativ zu anderen Lebensaltern. „Mit 17 hat man noch Träume“ meint ja, dass diese jugendbedingt sind und schon den Angehörigen nicht allzu entfernter Altersgruppen („Trau keinem über 30“) bereits abhandengekommen seien; „mit 66 Jahren da fängt das Leben an“ lautet das Feelgood-Motto all derer, die zwar ‚nicht mehr die Jüngsten‘ sind, doch mit Beginn des Rentenalters in den Genuss einer „späten Freiheit“ (Rosenmayr, 1983) kommen, die wiederum den ‚wirklich‘ Alten nicht mehr vergönnt ist.

Unterschiedliche Lebensalter ‚leben‘ also im wahrsten Sinne des Wortes von ihrer jeweiligen Abgrenzung zu anderen. Die Praxis des Sozialvergleichs, ansonsten insbesondere von dem Feld der Einkommensverteilung und dem Schielen nach Besserverdienenden bzw. dem Herabschauen auf Schlechtergestellte bekannt, spielt mit Blick auf das Alter keine geringere Rolle. Innerhalb der Generationen wie auch zwischen ihnen setzen sich die Menschen alltagspraktisch immer wieder neu zueinander in Beziehung: Da hat man sich dann beispielsweise im Vergleich zu anderen, vermeintlich weniger fitten Alten ‚ganz gut gehalten‘, und ‚die jungen Menschen‘ der nachfolgenden Generationen sind im Zweifel immer weniger fleißig, kritisch, gut erzogen usw. als man selbst und seine Alterskohorte es einst gewesen ist. Vor allem aber gilt in dieser Hinsicht: ‚Alt‘ sind immer nur die Anderen – die Nachbarin, die anders als man selbst kaum mehr die Wohnung verlässt, oder aber der Bekannte, der ‚in seinem Alter‘ doch lieber kein Auto mehr fahren sollte.

Hinter der Rede von der Relationalität des Alters verbirgt sich allerdings noch mehr als die – auf ihre Weise vergesellschaftend wirkenden – Praktiken der Abgrenzung von Gleichaltrigen bzw. (zumindest gefühlt) Älteren. Für die Lebenslagen und Lebenschancen älterer Menschen sind auch und vor allem die generationalen Machtrelationen in einer Gesellschaft von Bedeutung, die von der Hegemonie des ‚mittleren‘ Lebensalters gekennzeichnet sind. Der Altersgruppe der 25- bis 55-Jährigen, die für sich den Status des erwerbstätigen und familienbildenden ‚Kerns‘ der Gesellschaft reklamieren kann, kommt eine nicht zu unterschätzende normsetzende Macht zu: Hier wird entschieden, was ökonomisch als produktiv, sozial als wertvoll, kulturell als legitim gilt. An den Regelwerken und Wertmaßstäben dieser ‚mitten im Leben‘ stehenden Altersmilieus haben sich ‚die Alten‘ zu messen, ihnen gegenüber haben sie sich zu verantworten (van Dyk & Lessenich, 2009a). Anders als es plakative Formeln wie die von der „Rentnerdemokratie“ suggerieren, wird die „Gesellschaft des langen Lebens“ (Stöckl et al., 2016), in der tendenziell mehr Menschen im Nacherwerbsleben stehen, keineswegs von diesen beherrscht. Die offenbar verbreitete Sorge allerdings, dass dem so sei bzw. werden könnte, sagt viel über das herrschende gesellschaftliche Bild vom Alter aus.

5.1.3 Die Negativität des Alters

Die Negativität der – zumindest im öffentlichen Diskurs – vorherrschenden Vorstellungen vom Alter ist durchaus bemerkenswert. Zumal wenn man bedenkt, dass sich in den reichen westlichen Gesellschaften Langlebigkeit immer weiter verbreitet und damit auch das soziale Phänomen der Hochaltrigkeit zunehmend ‚normal‘ wird (Lessenich, 2014). Vielleicht liegt aber gerade hier auch der Schlüssel zum Verständnis der gesellschaftlichen Abwertung des Alters: Denn irgendwie wollen zwar alle alt werden – aber niemand will alt sein. Genau genommen dominiert in der Gegenwartsgesellschaft daher ein äußerst ambivalentes Verhältnis zum Altern, zu einem biologischen Prozess also, der auf letztlich unvermeidliche Weise mit Einbußen des körperlichen und geistigen Leistungsvermögens verbunden ist. Doch nicht nur die relative Gewissheit psychophysischer Einschränkungen ist in Kauf zu nehmen, wenn man lange leben möchte. Sondern eben auch genau jene Abwertung der gesellschaftlichen Position im Alter, von der man als über Jahrzehnte hinweg alternder Mensch schon vorab weiß – und an der man, durchaus paradoxerweise, häufig im jüngeren Lebensalter selbst mitwirkt.

Im wissenschaftlichen, aber auch im politischen und medialen Feld ist vor diesem Hintergrund seit geraumer Zeit eine Gegenbewegung im Gange, die der strukturellen Dominanz eines defizitären Bildes vom Alter mit großem institutionellen und diskursiven Einsatz eine gezielte Aufwertung desselben entgegenzusetzen versucht (Denninger et al., 2014). Auch diese wohlmeinende Beförderung positiver Vorstellungen vom Leben im Alter hat allerdings ihre eigene Problematik, verbindet sie doch die Anerkennung des Alters mit dem Bild von gesunden und mobilen, aktiven und produktiven Alten – mit dem Verweis also auf Qualitäten, die gesellschaftlich eher mit jüngeren Menschen assoziiert werden bzw. in der öffentlichen Wahrnehmung als Attribute von Jugendlichkeit gelten. Durch eine solche Positivkonnotation des „jungen Alters“ (van Dyk & Lessenich, 2009b) drohen negative Altersbilder nur auf das höhere und höchste Lebensalter verschoben zu werden – wenn damit nicht sogar unwillentlich das „Othering“ des Alters (van Dyk, 2020), sprich die soziale Konstruktion des abhängigen, pflegebedürftigen, neuerdings vor allem auch dementen Alters als das Andere eines erstrebenswerten Lebens, ja quasi als Nicht-Leben, noch befeuert wird. Der „Skandal des Alterns“ (vgl. Améry, 2020) ist auf diese Weise nicht aus der Welt zu schaffen: Weder die persönliche Kränkung, als die der Alternsprozess häufig erfahren wird, noch die damit zusammenhängende Abwehr und Abschätzigkeit, mit der dem Alter und den Alten gesellschaftlich begegnet wird.

5.1.4 Die Heterogenität des Alters

Dass es weder ‚das‘ Alter noch ‚die‘ Alten als solche gibt, dass also weder alle Alten gleich noch die je individuellen Alterserfahrungen identisch sind, klingt wie eine wissenschaftliche Binsenweisheit, die allerdings in den öffentlichen Verhandlungen über diese Lebensphase und Bevölkerungsgruppe seltsamerweise konsequent ignoriert wird. Was man von Menschen im mittleren Erwachsenenalter, von 35- oder 45-Jährigen, niemals behaupten würde, nämlich dass sie charakteristische, von allen Gruppenangehörigen geteilte Merkmale aufweisen, ist mit Bezug auf alte Menschen gang und gäbe: Vom gebeugten Alten mit Krückstock bis zur ‚freundlichen älteren Dame‘, neuerdings alternativ die sportlich-junggebliebene Oma oder der in Enkelliebe aufgehende Großvater – stereotype Vorstellungen und Assoziationen bestimmen die Lebensphase des höheren Alters wie keine andere. Zwar werden auch Kinder mit vereinheitlichenden Zuschreibungen (lernbegierig, entdeckungslustig, unbeschwert) belegt, doch werden diese in der sozialen Praxis immerhin noch durch die individualisierende Überhöhung der besonderen Qualitäten und Qualifikationen des je eigenen Nachwuchses konterkariert.

Die Homogenisierung des Alters hingegen bleibt gesellschaftlich weitgehend ungebrochen, egal ob nun negative oder positive Stereotype mobilisiert werden – die ‚Volkskrankheit Demenz‘ auf der einen, die ‚Potenziale des Alters‘ auf der anderen Seite.Footnote 1 In der COVID-19-Pandemie hat sich dieser geradezu zwanghaft wirkende Hang zur Sammelkategorisierung neuerlich bestätigt, wurden doch sofort und reflexartig ‚die Alten‘ als besonders vulnerable Gruppe identifiziert (Lessenich, 2020; Graefe et al., 2020). Dabei ist selbstverständlich auch das höhere und höchste Alter nicht weniger vielfältig als alle anderen Lebensalter auch, sondern im Gegenteil ist es tendenziell sogar noch diverser, denn die biographische Akkumulationsdynamik sozialer Ungleichheiten (in Bildung und Beruf, Einkommen und Vermögen, Ernährung und Gesundheit) führt zu sehr unterschiedlichen Soziallagen älterer Menschen (Simonson & Vogel, 2019). Keineswegs sind also alle Rentner (oder gar Rentnerinnen) ‚wohlversorgt‘, und genauso wenig sind alle Alten ‚gebrechlich‘. Was die ‚Corona-Krise‘ neuerlich zeigt, ist die Tatsache, dass Gesundheitsrisiken keineswegs nur eine Frage des Alters sind, sondern mindestens so sehr Klassenfragen.Footnote 2

5.1.5 Alter(n) als Prozess und Praxis

‚Das‘ Alter ist also vielfältig – und es ist ein Prozess. Schon die Alltagsaussage, man sei soundso viele Jahre alt, entspricht einer Momentaufnahme im Prozess des Alterns, der seinerseits in der jeweiligen Altersangabe gewissermaßen aufgehoben ist: Im 56. Lebensjahr etwa hat man bereits 55 gelebte Jahre ‚auf dem Buckel‘, die sich eben nicht nur in dessen möglicher Krümmung oder in sonstigen körperlichen Veränderungen zeigen, sondern auch in Form von Erfahrungsaufschichtungen aus Jahrzehnten der Lebenszeit – und damit aus dem Durchlaufen verschiedener Phasen der eigenen Biographie, aber auch der erlebten Gesellschaftsgeschichte. Wer wie der Autor heute 55 ‚ist‘, war vor kurzem noch ein Jahr jünger und ist bald schon wieder ein Jahr älter, hat diverse Lebensstadien durchlaufen und wiederholt Altersgruppenzugehörigkeiten gewechselt und wird dies bis zu seinem Tode auch weiterhin tun. ‚Alter‘ ist mithin eine Prozesskategorie, individual- wie kollektivbiographisch (Crosnoe & Elder, 2002; Moen & Hernandez, 2009). Es ist vielgestaltig auch in der Zeit bzw. über die Zeit hinweg. Jede Alterssoziologie hat daher immer auch eine Soziologie des Alterns zu sein.

Alter ist aus soziologischer Perspektive zudem, und damit möchte ich die einführende Rahmung unserer im Folgenden darzustellenden Forschungsbefunde abschließen, eine Praxiskategorie. Das Alter wird gelebt, und zwar nicht nur im Sinne eines ‚doing age‘, d. h. einer permanenten alltagspraktischen Herstellung von ‚alterstypischen‘ Handlungs- und ‚altersangemessenen‘ Verhaltensweisen. Vielmehr sind Alter und Altern ganz grundlegend Kategorien des menschlichen Lebens und Zusammenlebens: Sie haben ein durch und durch materiales, biophysisches Fundament, sie sind eingebettet und eingebunden in die Reproduktion gesellschaftlicher Zusammenhänge, sie werden gelebt und ausgelebt, praktiziert und enaktiert, sprich im Vollzug des sozialen Lebens aus- und aufgeführt, mit Leben gefüllt und zur Darstellung gebracht (vgl. z. B. Twigg, 2004). Insofern beschäftigt sich eine Soziologie des Alter(n)s mit dem sozialen Phänomen des Alterslebens bzw. des ‚das-Alter-Lebens‘. Wir verwenden hierfür im Weiteren, mit Nina Degele (2008), den sprachlich handhabbareren und für unseren Untersuchungskontext zielführenden Begriff des AltershandelnsFootnote 3.

5.2 Die Fragestellung

Im Zentrum des Forschungsinteresses der qualitativen Teilstudie (bzw. Teilstudien) von Altern als Zukunft stand das Zeithandeln älterer Menschen als spezifische Dimension des Altershandelns. Ausgangspunkt unserer Untersuchungen war die Frage, in welchem Zusammenhang alltäglicher Zeitreichtum und biographische Zeitarmut im Alter stehen, oder genauer: Ob ältere, nicht mehr erwerbstätige Menschen ein Spannungsverhältnis zwischen zunehmender ‚freier‘ Zeit im Alltag und abnehmender Restlebenszeit wahrnehmen und wie sie gegebenenfalls mit dieser Spannung umgehen, welche Zeitgestaltungspraktiken sie also im höheren und höchsten Alter an den Tag legen.

Hintergrund dieser empirischen Fragestellung war die zunächst theoretische Überlegung, dass nicht länger erwerbstätige Menschen mit zwei unterschiedlichen, sich tendenziell widersprechenden Zeitlogiken konfrontiert sind. Zum einen potenziert sich mit dem Beginn der Nacherwerbsphase die verfügbare Alltagszeit, in gewisser Weise findet mit dem Renteneintritt ein Übergang in das Reich der Freizeit statt: Nicht nur das Korsett der betrieblichen bzw. beruflichen Arbeitsorganisation fällt weg, nicht selten nehmen auch die Anforderungen familiärer Zeitorganisation ab, sodass die Tage nun der eigenen, freien Gestaltung offenstehen. Zum anderen aber treten mit dem Übergang in den „Ruhestand“ zugleich die Begrenztheit der Lebensspanne und die unabweisbare Tatsache des eigenen Todes in den Erfahrungs- und Erwartungshorizont der Älteren: Es öffnet sich für sie das ‚letzte Kapitel‘ des Lebens, was erklären könnte, warum unter doch eigentlich mit ‚aller Zeit der Welt‘ ausgestatteten Personen das geflügelte Wort ‚Rentner haben niemals Zeit‘ kursiert.

In diesem Zusammenhang interessierte uns nicht nur, ob die von uns befragten Älteren diese Spannung für sich selbst tatsächlich konstatieren bzw. konstruieren, sondern vor allem, welche Faktoren – individueller und struktureller, situationsspezifischer und gesellschaftshistorischer Art – es sind, die den je konkreten Umgang mit den differenten Zeitlogiken des Alters prägen, die empirisch vorfindbaren Konstellation von Alltags- und Lebenszeithandeln im Alter bestimmen. Welche Rolle spielen Zeit und Zeithandeln für die Selbstbeschreibung älterer Menschen als ‚alt‘: Ist hier die Relation von bereits vergangener und noch verbleibender Lebenszeit maßgeblich – oder aber das Gefühl, über die eigene Alltagszeit verfügen zu können (bzw. die Erfahrung, dass gerade dies nicht mehr möglich ist)? Was macht eigentlich die Erfahrung zeitlicher Verfügungsmacht im Alter aus, wovon hängt sie ab: Wer verfügt nicht nur über ein großes Quantum an Zeit, sondern kann über dieses auch effektiv verfügen – und warum? Auf welche Weise und unter welchen Bedingungen entwickeln ältere Menschen Zeitgestaltungskompetenzen, wie trägt das daraus möglicherweise resultierende Gefühl der Gestaltungshoheit über die eigene Zeit dazu bei, die Tatsache der Hochaltrigkeit subjektiv auf Distanz zu halten und in eine mehr oder weniger entfernte Zukunft zu projizieren? Wie verändern sich das Zeithandeln bzw. die Zeitdeutungspraktiken Älterer im Übergang zum höchsten Lebensalter, etwa unter Bedingungen eigener sich ankündigenden Pflegebedürftigkeit oder bei Übernahme der Pflegeverantwortung für Angehörige, im Zweifel für den eigenen Partner?

Bei den Antworten auf diese Fragen erwarteten wir – gut soziologisch und ungeachtet der offen-qualitativen Herangehensweise an den Gegenstand – nicht nur erkennbare Geschlechterdifferenzen, sondern auch soziale Milieueffekte (nach Einkommen, Bildung und Herkunft) zu finden. Über das interkulturell vergleichende Design des Projekts sollten zudem ‚Kultureffekte‘ auf das Zeithandeln im Alter – im Sinne etwa des gesellschaftlichen Stellenwertes von Autonomieerfahrungen oder aber der sozialen Normen im Umgang mit dem Tod – eingefangen werden, die bei einer nur auf einen einzigen kulturellen Kontext beschränkten Untersuchung tendenziell verborgen blieben. Selbstverständlich und nicht zuletzt interessierten uns ferner auch spezifische Alters- und Kohorteneffekte, weswegen wir sowohl jüngere (60- bis 75-jährige) wie ältere (75- bis 85-jährige) Alte befragten sowie in einigen Fällen Wiederholungsbefragungen bereits zuvor interviewter Personen unternahmen. In der zweiten Förderphase konzentrierten wir uns zudem auf die Rekrutierung hoch- und höchstaltriger Interviewpartner und -partnerinnen, um Fragen des Zeithandelns mit Blick auf das Lebensende eingehender untersuchen zu können.

Die nachfolgende Präsentation der empirischen Befunde ist freilich nicht primär nach unseren Ausgangsfragen und auch nicht ausschließlich nach unseren ursprünglichen Erkenntnisinteressen strukturiert, sondern, der Logik qualitativer Sozialforschung folgend, vorrangig nach den Erzählungen, Relevanzsetzungen und Bedeutungszuschreibungen der von uns befragten älteren Menschen selbst.

5.3 Der Forschungsstand

Bevor wir hierzu kommen, sei allerdings noch in kürzest möglicher Form der wissenschaftliche Forschungsstand zu Fragen des Zeithandelns im Alter referiert, wobei diesbezüglich in besonderer Weise auch Forschungen von Mitgliedern des Altern als Zukunft-Projektverbunds selbst inhaltlich einschlägig sind.

Leitend für den qualitativen Forschungsfokus auf das Zeithandeln älterer Menschen war die im Zuge vorangegangener eigener Studien gewonnene – zunächst nicht überraschende – Erkenntnis, dass Zeit und Zeitlichkeit zentrale Dimensionen und Einflussgrößen des Altershandelns sind. In praktisch allen Sozialmilieus, über unterschiedliche Lebensbereiche hinweg und bis weit ins höhere – noch nicht pflegebedürftige – Alter hinein lässt sich empirisch zunächst ein relativ altersloses Selbstbild der Befragten feststellen (Graefe et al., 2011): In ihrem Selbstverständnis dominiert nicht die Erfahrung des Übergangs in einen neuen Lebensabschnitt namens ‚Alter‘, sondern eher eine gefühlte Kontinuität des Erwachsenenlebens, die sie in ihrer Selbstbeschreibung zu ‚älteren Erwachsenen‘ macht („adults who are older“, Harper, 2004, S. 3). Für dieses Selbstkonzept als „ageless selves“ (Kaufman, 1986), im Sinne eines subjektiv (jedenfalls noch) nicht vollzogenen Eintritts in den Status des bzw. der ‚Alten‘, spielt die Negativität der gesellschaftlich vorherrschenden Altersbilder (siehe oben), zu denen Attribute wie z. B. das des ‚alten Eisens‘ zählen, eine gewichtige Rolle. Von wesentlicher Bedeutung für die subjektiv wahr- und in Anspruch genommene ‚Alterslosigkeit‘, sprich Nicht-Hochaltrigkeit, ist in positiver Hinsicht jedoch die mit dem Übergang in das Nacherwerbsleben einhergehende Erfahrung von „Zeitsouveränität“ (Geissler, 2008): Das für viele Ältere biographisch neuartige Gefühl, Herr bzw. Herrin der eigenen Zeit und Zeitgestaltung zu sein (Münch, 2014). Altersbedingte Veränderungen und Verluste werden mit der gewonnenen Zeitautonomie gleichsam ‚verrechnet‘, die bereits zuvor zitierte „späte Freiheit“ gerade in Zeitbelangen erweist sich so als wichtige Stütze eines alterslosen Selbstbildes.

Die Frage der alltäglichen Zeitgestaltung im Alter wurde allerdings soziologisch und aus qualitativer Perspektive bislang nicht allzu gründlich erforscht, in der Literatur dominieren quantitative Zeitverwendungsstudien (für Deutschland z. B. Tokarski, 1989; Opaschowski, 1998; Engstler et al., 2004; international z. B. Gauthier & Smeeding, 2003; vgl. zum Folgenden auch Münch, 2021, S. 97 ff.). Diese geben einen Einblick in die Vielfalt und Häufigkeit von Tätigkeiten im Ruhestandsalltag, wobei im Grunde genommen wenig spektakuläre Erkenntnisse zutage gefördert werden: Als Hauptaktivitäten älterer Menschen werden Medienkonsum, soziale (v. a. familiale) Kontakte, Hobbys und die physische Reproduktion identifiziert. Die im deutschen Kontext wichtigste qualitative Untersuchung zum Thema (Burzan, 2002), die alltägliche Zeitgestaltungsmuster insbesondere nach ihrem Strukturierungsgrad unterscheidet und mit der relativen biographischen Bedeutung einzelner Lebensbereiche in Verbindung bringt, liegt mittlerweile zwei Jahrzehnte zurück. Eine zweite einschlägige, kaum aktuellere Studie (Köller, 2006) betont die Bedeutung der Erwerbsbiographie für die Zeitstrukturierung älterer Menschen wie auch, darüber vermittelt, für ihr subjektives Empfinden des alltäglichen „Zeitflusses“.

Noch älteren Datums, aber für unser Erkenntnisinteresse am Zeithandeln älterer Menschen von unmittelbarer Anschlussfähigkeit, sind die Forschungen der Arbeitsgruppe um Martin Kohli (vgl. z. B. Kohli et al., 1989), die auf dem historischen Höhepunkt des westdeutschen Vorruhestandsregimes u. a. die Zeit- und Zukunftsvorstellungen frühzeitig verrenteter Arbeitnehmer(innen) untersuchte. Auch hier dient als zentrale Erklärungsdimension die erwerbsbiographische Prägung der Vorruheständler (Kohli et al., 1983), die wiederum in enger Beziehung steht mit deren sozialstruktureller Position als Beschäftigte bzw. mit den Dispositionen, die sich aus der jeweiligen Position ergeben (vgl. Wolf, 1988; vgl. auch Graefe & Lessenich, 2012). So begreifen statusmobile Beschäftigte (was in der damaligen Zeit durchweg hieß: solche mit beruflichen Aufstiegserfahrungen) Zeit als Ressource, die es ermöglicht, sich auch im Nacherwerbsleben neue Handlungsmöglichkeiten zu erschließen. Beruflich in stabilen, mittleren Stellungen sozialisierte und an Statuserhalt orientierte Vorruheständler(innen) betrachten Zeit als Aufgabe der aktiven Gestaltung eines erfolgreichen Alter(n)s, wohingegen für eher niedrigqualifizierte Beschäftigte mit beruflichen Prekaritätserfahrungen Zeit im Übergang in den Ruhestand eher als Versprechen einer für sie neuartigen Erfahrung von Dauer gilt.

In der damit zugleich angesprochenen Dimension der subjektiven Wahrnehmung der Alltagszeit, ihrer Trägheit oder Geschwindigkeit, Verlangsamung oder Beschleunigung, liegt auch die analytische Verbindung zur alltagspraktischen Bedeutung der Lebenszeit (vgl. zur soziologischen Bestimmung der beiden Konzepte Brose et al., 1993). Die mit steigendem Alter und zunehmender lebensweltlicher Entfernung vom Erwerbssystem sich einstellende Perspektive eines schrumpfenden Lebenszeitkontingents (Thomae, 1989; Weiss & Lang, 2012) ist in der Regel keine Frage einer abrupten, krisenhaften Einsicht in die Endlichkeit des Lebens, sondern eher ein allmählicher Prozess der unmerklichen Umstrukturierung von Zeitperspektiven, in deren Zuge sich ein stärker gegenwartsorientiertes Handeln durchsetzt. Dieser zunehmende Gegenwartsbezug im Zeithandeln älterer Menschen dürfte eine Quelle der im Alter häufig wahrgenommenen Verdichtung der Alltagszeit sein. In einer trotz eigentlichen Zeitwohlstands sich irgendwie doch herstellenden alltagspraktischen Zeitnot liegt dann eine Grenze des oben thematisierten ‚alterslosen‘ Selbstbildes.

Eine andere, in der sozialen Praxis mindestens ebenso bedeutsame Grenze wahrgenommener Nicht-Zugehörigkeit zur Gruppe der ‚Alten‘ liegt in der eigenen Pflegebedürftigkeit. Der antizipierte, subjektiv mit der Pflegesituation verbundene Verlust von Unabhängigkeit und Selbstbestimmtheit stellt für viele ältere Menschen den ‚eigentlichen‘ Übergang ins Alter bzw. ins „vierte“, letzte Lebensalter dar. Wie unsere eigene vorangegangene Forschung zeigte, sind die Negativbilder insbesondere eines vermeintlich auf bloße Körperlichkeit reduzierten demenziellen Alters von einer bemerkenswerten Abgründigkeit. In der sozialen Vorstellungswelt des Alterns stellt der Beginn der Pflegebedürftigkeit das Ende nicht nur der Gestaltbarkeit der Alltagszeit, sondern der Lebensführung schlechthin dar, ja nicht selten sogar den Inbegriff des nicht lebenswerten, „verworfenen Lebens“ (vgl. van Dyk, 2020, S. 140 ff.).

5.4 Die Befunde im Überblick

5.4.1 Alltagszeithandeln

Eine der vielen pauschalisierenden Zuschreibungen an die Population ‚der‘ Alten bezieht sich auf deren angenommenen „Zeitwohlstand“ (Rinderspacher, 2002). Auf den ersten Blick scheinen die Dinge ja auch klar zu sein: Wer mit 65 oder gar schon ein paar Jahre früher den Dienst quittiert, hat eine Lebensphase vor sich, in der es jedenfalls an Zeit, genauer an alltäglich zur Verfügung stehender ‚freier Zeit‘, nicht mangelt. Allerdings ist schon der grundsätzlich nicht von der Hand zu weisende Befund eines objektiven Zugewinns an nicht anderweitig, vor allem nicht durch Erwerbsarbeit, gebundener Zeit durchaus zu qualifizieren. Denn nicht jeder Mensch war im höheren Erwachsenenalter abhängig beschäftigt und hat entsprechend den klassischen Übergang von der Arbeit in die Rente vollzogen. Insbesondere für Frauen war und ist bis heute zumindest der abrupte Wechsel von tagesfüllender Vollzeitbeschäftigung zum arbeitsentpflichteten Rentnerdasein keineswegs eine völlig normale Alterserfahrung – sei es, weil sie nach der Geburt ihrer Kinder gar nicht mehr erwerbstätig waren, oder weil sie nach den Zeiten der Kindererziehung nur noch einer Teilzeitbeschäftigung nachgingen. Zudem aber zeigt sich nicht allein in Zeitverwendungsstudien, sondern auch in unseren Interviews sehr deutlich die Geschlechtsspezifik des nacherwerblichen ‚Ruhestands‘: Für viele Frauen setzen sich die zeitraubenden familialen und haushaltlichen Verpflichtungen nach dem Renteneintritt ihres Partners oder auch ihrer eigenen Verrentung unvermindert fort, bleibt die alltägliche Arbeitsteilung im Haushalt eine ungleiche. Das viel bemühte Bild von der „späten Freiheit“ ist somit zunächst einmal ein zutiefst männliches bzw. ein auf die Lebenserfahrungen und Alltagspraktiken älterer Männer gemünztes Stereotyp.

Auch dieser Befund aber kann nicht einfach so stehen bleiben, sondern ist wiederum zu qualifizieren. Denn dass ‚das Korsett‘ der zeitlichen Verpflichtungen in der, zumeist ja partnerschaftlich verbrachten, Ruhestandsphase des Lebens wegfällt oder zumindest deutlich weniger eng wird, ist ein häufig und von Männern wie Frauen gleichermaßen verwendetes Bild für die subjektive Zeiterfahrung im Alter. Dieses verweist nicht zuletzt darauf, dass es bei dem Phänomen eines gefühlten ‚Zeitreichtums‘ nicht allein um die rein quantitative Dimension einer absoluten Erweiterung des Zeithaushalts geht, sondern mindestens so sehr – eigentlich sogar vorrangig – um die Wahrnehmung einer abnehmenden Fremdbestimmtheit, eines verminderten Zugriffs Dritter auf die eigenen Zeitressourcen. Entscheidend für den subjektiven Zeitwohlstand im Alter ist die biographisch zumeist neuartige Erfahrung, mit dem zur Verfügung stehenden Zeithaushalt wortwörtlich haushalten, über ihn verfügen zu können. Selbstbestimmung der Zeitverwendung: Das ist hier der Kern der Sache, erst unter dieser Bedingung lässt sich eigentlich auch auf triftige Weise von einem genuinen ‚Zeithandeln‘ sprechen. Das höhere Alter ist in diesem Sinne, so scheint es, die Zeit des Zeithandelns schlechthin.

Wie immer in der sozialen Welt ist freilich der so verstandene und qualifizierte Zeitwohlstand eine zwiespältige Angelegenheit, denn hinter bzw. in der Möglichkeit steckt zugleich immer auch die Notwendigkeit des Zeithandelns. Egal ob Männer oder Frauen, ob nun zuvor Beschäftigte, Nicht-Erwerbstätige oder Arbeitslose: Grundsätzlich stehen sie alle vor der alters- oder genauer lebensphasenspezifischen Herausforderung der Wiederherstellung bzw. der Neukonstruktion von ‚Alltag‘ im Ruhestand (vgl. Wolf, 1988). Ganz gleich, ob man selbst praktisch von heute auf morgen ‚die Arbeit verliert‘ oder ob den Partner bzw. die Partnerin dieses Schicksal ereilt: Für alle älteren Menschen gilt es, aktiv ihren Alltag jenseits der Erwerbsarbeit zu gestalten. Auf welche Weise auch immer sie dies tun (und eben darum ging es in unseren Interviews): Die Restrukturierung des Alltags und spezifischer die zeitliche Reorganisation von Alltagspraxis sind ‚die‘ Aufgaben schlechthin der Lebensführung im Alter (vgl. Ekerdt & Koss, 2016).

Die qualitativen Forschungen im Rahmen des Projekts Altern als Zukunft bestätigten unsere Erkenntnisse aus eigenen früheren Studien insofern, als ‚Zeit zu haben‘ von älteren Menschen selbst zunächst einmal nahezu durchgängig als ebenso bedeutsames wie positives Charakteristikum ihrer Lebenslage benannt wird. Auf für die gegebenen gesellschaftlichen Verhältnisse geradezu sinnbildliche Weise wird dies von einem Befragten auf den Punkt gebracht, der Zeit als „mein Kapital“ und sich selbst als „Kapitalist in Zeit“ bezeichnet. Jenseits aller möglichen Verlusterfahrungen im Prozess des Alterns wird das pralle Zeitbudget von unseren Befragten durchweg auf der Habenseite des Alters verbucht. Nicht jeder alte Mensch aber nimmt für sich die ‚Kapitalisten‘-Rolle im engeren Sinne in Anspruch, nicht jeder und jede Alte kann und will von sich behaupten, seine Zeit als Investitionsmittel mit entsprechenden Renditeerwartungen einzusetzen. Vielmehr ist der ‚investive‘ nur einer der drei von uns identifizierten bzw. sich in unserem empirischen Material bestätigenden, altersspezifischen Alltagszeitstile.Footnote 4

Zeit investieren, genießen oder ausfüllen: Das sind drei unterschiedliche, empirisch verbreitete Muster des Alltagszeithandelns im Alter, die zugleich in je eigener Verbindung stehen mit den Strukturmustern der Lebenszeit unserer Befragten. Für den ‚investiven‘ Modus ist die subjektive Orientierung auf einen persönlichen, mindestens ebenso sehr aber auch auf einen gesellschaftlichen Nutzen der Zeitverwendung im Alter charakteristisch. Die Alltagszeit wird in dem Sinne bewirtschaftet, dass sie sinnvollen Tätigkeiten gewidmet wird –gewissermaßen als freiwillige Verpflichtung nicht nur sich selbst und dem eigenen Wohlbefinden, sondern auch dem des sozialen Umfelds gegenüber. Der Zeithandlungsmodus des ‚Genießens‘ hingegen folgt ausdrücklich keiner Logik der Sinnhaftigkeit oder Nützlichkeit des eigenen Tuns: Zeit gilt hier eher als Konsumgut denn als Investitionsobjekt. Die Entpflichtung von den Zwängen des Erwerbslebens wird gleichsam beim Wort genommen und, in besonderer Wertschätzung der gewonnenen Alltagszeit, das ‚Zeit haben‘ und ‚sich Zeit nehmen‘ – vor allem sich auch wirklich Zeit für sich selbst zu nehmen – handlungspraktisch großgeschrieben. Die Zeit ‚auszufüllen‘ meint schließlich, sich Tätigkeiten und Beschäftigungen zu suchen, die den Tag vergehen lassen. Die von unseren Interviewten diesbezüglich dokumentierten Aktivitäten haben tendenziell passivischen Charakter, weil sie weniger eigenen Interessen, aber auch nicht unmittelbaren äußeren Zwängen folgen, sondern vielmehr darauf zielen, das verlorengegangene ‚Korsett‘ des Alltags neu zu schnüren. Jeder neue Tag erscheint hier als zu bewältigende Aufgabe, jeder ‚über die Zeit gebrachte‘ Tag schafft ein gewisses Gefühl der Erleichterung.

Nicht nur für diese letztgenannte Zeitpraxis, aber für sie in besonderem Maße ist die Herstellung von Routinen des Altersalltags von Bedeutung (vgl. Ekerdt & Koss, 2016). Ihnen kommt für viele ältere Menschen eine wichtige Ordnungs- und Stabilisierungsfunktion zu: Sich im Alltag praktisch von Tagesordnungspunkt zu Tagesordnungspunkt hangeln zu können, gibt ein Gefühl der Verortung und Sicherheit in der Zeit – und damit auch in der Welt. Zugleich hat der Verweis auf derartige Routinen, und zwar nicht nur im Interview, sondern auch in der alltäglichen Kommunikation mit Verwandten, Freunden und Bekannten, eine bedeutsame Kompetenzsuggestionsfunktion: Hier begegnet das soziale Gegenüber einem älteren Menschen, der sein Leben buchstäblich ‚auf die Reihe‘ kriegt und um den man sich dementsprechend nicht zu sorgen braucht. Was dann nicht zuletzt auch für die Selbsteinschätzung der Älteren gilt: Alltagsroutinen, die einem nicht mehr durch die Erwerbsarbeit zusammengehaltenen Lebenswandel dennoch Halt geben, produzieren eine durchaus wirkmächtige Kontrollfiktion in dem Sinne, das eigene Leben ‚im Griff‘ zu haben.

Ein solches Geländer, das auf dem Weg durch den Alltag Halt gibt, brauchen sicherlich nicht nur ältere Menschen – aber Menschen mit mehr ‚freier Zeit‘ eben mehr als zeitlich stark eingebundene Personen. Gleichwohl ist die Bedeutung von Routinen keineswegs für alle Älteren gleich. Vielmehr hängt deren Stellenwert, wie auch die drei genannten Alltagszeitstile selbst, stark von den erwerbsbiographischen Erfahrungen älterer Menschen und, darüber vermittelt, von ihrem jeweiligen sozioökonomischen Status ab. Aus soziologischer Perspektive ist dies ein ganz zentraler Befund unserer Forschung: Der alltagspraktische Umgang mit dem ‚Zeitreichtum‘ im Alter – und damit auch dieser selbst – ist sozial ungleich. Das im doppelten Wortsinn des Vermögens-Begriffs zu verstehende ‚Zeitvermögen‘ älterer Menschen wird strukturiert durch die Ungleichheit ihrer Lebensläufe und Lebenslagen.

So zeigt unsere qualitative Empirie, dass die Bedeutung von Routinen für die Lebensführung im Alter mit höherem Berufs- und Einkommensstatus tendenziell abnimmt oder sich jedenfalls relativiert. Wer im Alter alltagspraktisch darauf orientiert ist, seine Zeit auszufüllen, sie vielleicht ‚totschlagen‘ zu müssen, blickt in der Regel auf eine Erwerbsbiographie zurück, in der es geringe Handlungsspielräume für eine eigenständige Gestaltung des Arbeitsalltags gab; typischerweise erfolgte auch die Beendigung der Berufstätigkeit in diesen Fällen fremdbestimmt und eher unfreiwillig, nicht zuletzt in Erwartung einer vergleichsweise geringen Altersrente. Von den älteren ‚Zeitgenießern‘ hingegen wird der Übergang in den Ruhestand nicht zuletzt auch deswegen positiv gerahmt, weil dieser regulär, weitgehend selbstbestimmt und mit der Aussicht auf eine gute oder gar sehr gute, ausreichend Handlungsoptionen eröffnende Altersversorgung erfolgte. Die Angehörigen dieser Gruppe freuen sich, vor dem Hintergrund des in der Erwerbsarbeit erfahrenen Zeitdrucks, geradezu überschwänglich über die mit der Verrentung gewonnene Zeit und suchen diese in vollen Zügen für sich selbst – und die Familie – zu nutzen. Der investive Handlungstypus wiederum steht in Verbindung mit einem – etwa aufgrund wahrgenommener Belastungseinschränkungen – vorzeitigen, aber dennoch aktiv gestalteten Ausstieg aus der Erwerbsarbeit, der gewissermaßen den Weg frei macht für ein ohnehin bestehendes Interesse an sozialem Engagement. Dass man sich dieses allerdings, auch ganz konkret ökonomisch, leisten können muss, ist aus der Ehrenamtsforschung hinlänglich bekannt, und auch bei unseren Befragten ruhte die Orientierung an einem hochgradig aktiven, sozialdienlichen Zeithandeln im Alter auf einem gesicherten Haushaltseinkommen.

Letztlich zeigen sich in allen drei Handlungsmustern sozialstrukturell grundierte, erwerbs- bzw. berufsbiographische Prägeeffekte, beginnend mit der Zeit des täglichen Aufstehens: Wer ein Leben lang sehr früh aus dem Bett musste, ‚hängt‘ auch nach dem Ende des Erwerbsarbeitszwangs an dieser Gewohnheit – so er (oder sie) sich nicht, gewissermaßen geschult durch ein hohes Maß an Selbstbestimmtheit auch schon des damaligen Arbeitsbeginns, die kleine Freiheit nimmt, den Wecker zu ignorieren und sich einfach noch einmal im Bett umzudrehen. Und die mehr oder weniger ausgeprägte, biographisch vorgeprägte Autonomie im individuellen Zeithandeln setzt sich im Tages-, Wochen- und Jahresverlauf fort. Je nachdem, ob der Übergang von der Arbeit in die Rente stärker als Freiheitsgewinn oder eher als Sicherheitsberaubung wahrgenommen wurde, ist der persönliche Umgang mit der Erfahrung einer ungewohnt unterbestimmten, weitgehend ungebundenen Alltagszeit mehr oder weniger ‚souverän‘. Soziologisch gesehen reproduzieren sich damit soziale Ungleichheiten im Alter auf doppelte Weise: Individualbiographisch verlängern sich mehr oder weniger stark ausgeprägte Handlungsbefähigungen von der mittleren Lebensphase ins höhere Alter hinein, sozialstrukturell fallen Autonomiegewinne im Alter eher dort an, wo auch schon zuvor tendenziell eine größere Selbstbestimmungsfähigkeit gegeben war.

Neben den drei genannten Mustern des Alltagszeithandelns im engeren Sinne konnten wir in unserem empirischen Material ebenfalls drei – genau genommen sogar vier – Varianten der sozialen Zeitorientierung unter älteren Menschen identifizieren. Die im Hintergrund dieses Teilergebnisses stehende Frage lautete, mit wem ältere Menschen alltäglich ihre Zeit verbringen, wer also die Partner(innen) ihrer ‚Frei-Zeit‘-Gestaltung sind. Interessanterweise war dieser inhaltliche Fokus unserer qualitativen Forschung ganz der interkulturell vergleichenden Anlage derselben geschuldet, denn die Besonderheiten des sozialen Lebens im Alter an den unterschiedlichen nationalen Standorten unseres Projekts sprangen nicht den jeweils vor Ort Forschenden ins Auge. Vielmehr waren es die Kollegen und Kolleginnen aus den anderen Ländern, die mit den kulturell verankerten Selbstverständlichkeiten der Lebensführung außerhalb ihres eigenen Heimatlands nicht gleichermaßen vertraut waren, denen jeweils das (für sie) Ungewöhnliche der andernorts gängigen sozialen Zeitgestaltung im Alter auffiel (vgl. Lessenich et al., 2018).

Unsere diesbezüglichen Befunde schließen an die Überlegungen von Gergen und Gergen (2003) an, die drei maßgebliche Sozialdimensionen des Alterslebens unterscheiden, nämlich die Beziehung(en) älterer Menschen zu sich selbst, zu anderen Personen sowie zur gesellschaftlichen Gemeinschaft. Entsprechend lassen sich in unserem empirischen Material – und in unserer Terminologie ausgedrückt – individualistische, interpersonelle und kommunitaristische Sozialorientierungen des Zeithandelns finden, wobei sich die interpersonelle Orientierung nochmals in eine familialistische und eine altersgruppenspezifische ausdifferenziert. Wie schon bei den zuvor diskutierten Zeitstilen kommen auch hier die genannten Muster in der Realität kaum jemals in Reinform vor: Die konkrete soziale Praxis, mit wem ältere Menschen im Alltag ihre Zeit verbringen, ist immer eine spezifische Mischung unterschiedlicher Orientierungen. Und doch lassen sich über die Einzelfälle und ihre Besonderheiten hinweg bestimmte verbreitete Prioritätensetzungen feststellen. So finden sich neben stark individualistischen, egozentrierten Zeitverwendungsweisen, die subjektiv häufig mit dem Wunsch begründet werden, nach Beendigung der Erwerbs- und/oder der Familienphase des Lebens ‚endlich mal was für sich selbst‘ tun zu können, systematisch auch stark kommunitaristische, gemeinorientierte Zeitpraktiken, bei denen unterschiedlichste Formen des sozialen Engagements für mehr oder weniger entfernte Andere den wesentlichen Alltagslebensinhalt bilden.

Eine dritte Spielart des sozialen Zeithandelns im Alter ist interpersoneller Natur, wobei diese wiederum in zwei Formen auftritt. Entweder wird der Alltag vorrangig mit dem Partner (der Partnerin) bzw. mit Mitgliedern der eigenen Familie (klassisch: den Enkelkindern) oder/und der Verwandtschaft geteilt. Von dieser familialistischen Orientierung ist jene zu unterscheiden, bei der die Zeit hauptsächlich mit Personen aus der eigenen Altersgruppe bzw. Peer-Group verbracht wird, also etwa mit dem engsten Freundeskreis, einer altershomogenen Gruppe von Freizeitpartnerinnen und -partnern oder in institutionellen Kontexten z. B. der Seniorenbildung. Der interkulturelle Vergleich sozialer Zeitorientierungen förderte dabei interessante Differenzen der subjektiven Bedeutungszuschreibung auf ein und dieselbe Zeitverwendungspraxis zutage. Denn während etwa die kommunitaristische Zeitorientierung im US-amerikanischen Kontext völlig selbstverständlich und geradezu ‚nicht der Rede wert‘ schien, wurden entsprechende Orientierungen von deutschen Befragten – im Einklang mit der hierzulande offensiven politischen Bewerbung ehrenamtlicher Tätigkeiten gerade im Alter (vgl. Neumann, 2016) – tendenziell hervorgehoben und normativ ausgewiesen. In Hongkong wiederum schien eine Praxis der hauptsächlichen aktiven Vergemeinschaftung mit anderen älteren Menschen ‚normal‘ und nicht weiter erklärungsbedürftig zu sein, die von deutschen Befragten nicht selten mit der Bekundung des Bedauerns versehen wurde, keinen Zugang (mehr) zu jüngeren Freizeitpartnern zu finden.

Über all dieser Vielgestaltigkeit des individuellen Alltags(er)lebens, sei es in sozialer oder organisatorischer Hinsicht, ‚schwebt‘ freilich ein letzten Endes allen Älteren gemeinsam entgegentretendes gesellschaftliches Erfordernis: Die subjektiv wahrgenommene Notwendigkeit nämlich, den eigenen Modus des Alltagszeithandelns zu rechtfertigen. In gewisser Weise besteht ein solcher Legitimationsbedarf – nach der frühen Kindheit – in jeder Lebensphase und für jede Altersgruppe. Im höheren Alter ist dies jedoch in erhöhtem Maße der Fall, und zwar gerade aufgrund des in der Selbst- wie auch mindestens ebenso sehr in der Fremdwahrnehmung gegebenen ‚Zeitwohlstands‘. Bei vielen älteren Menschen, zum Teil selbst noch bei denen, die erklärtermaßen im ‚Genießer‘-Modus unterwegs sind, nimmt dieser subjektiv empfundene Rechtfertigungszwang die Form einer Disposition an, die vom „Ethos des Beschäftigtseins“ (vgl. Ekerdt, 2009) durchdrungen ist. Diese „busy ethic“ stellt, funktional gesehen, die Lösung eines individuell wie gesellschaftlich bedeutsamen Problems dar: Eine Lösung für das Problem der Herstellung von Kontinuität zwischen Erwerbsarbeits- und Ruhestandsleben, einer Kontinuität zumindest im Sinne der symbolischen Fortgeltung normativer Handlungsbezüge. Denn obwohl Ruheständler und Ruheständlerinnen als solche ja gerade von den Anforderungen und Zwängen der Erwerbsarbeit befreit sind, orientieren sie ihre Lebensführung nach wie vor an den Normen und Wertmaßstäben des Arbeitslebens (vgl. Ekerdt & Koss, 2016). Demnach ist auch im Nacherwerbsleben Aktivität (‚Betriebsamkeit‘) gut, Passivität (‚Faulheit‘) schlecht, ist ein geregelter Tagesablauf auch im höheren Alter durchaus angesagt, ein sich Hängen- oder gar Gehen-Lassen hingegen streng untersagt. Das Altersleben vieler älterer Menschen ist durch eine Logik des ‚Als-ob‘ geprägt – als ob sie noch erwerbstätig wären. Entsprechend muss der Tag dann im Ruhestand anderweitig ‚gefüllt‘ werden, nehmen ‚investive‘ Tätigkeiten, insbesondere sogenannte heteroproduktive (also anderen Menschen zugutekommende) Aktivitäten, von ihrem Umfang her manchmal quasi-erwerbsförmigen Charakter an. Und selbst noch das ‚Genießen‘ der Zeit bemisst sich im Zweifel nicht nur ex negativo an früheren, erwerbsbedingten Entbehrungen, sondern bezieht seinen Wert – im Sinne der Deutung als verlängerter, ja endloser ‚Urlaub‘ – auch positiv aus der Konformität mit arbeitsgesellschaftlichen Normen und Normalitäten.

All diese Befunde verweisen letztlich auf die Schwierigkeit, genaugenommen sogar Unzulässigkeit, von ‚Zeitsouveränität‘ im Alter zu sprechen. Schon gar nicht ist dies als generalisierte Zuschreibung zutreffend: Wenn überhaupt, dann ist die Möglichkeit eines wahrhaft souveränen, also uneingeschränkten, weder durch materielle oder soziale noch durch institutionelle oder normative Faktoren beeinträchtigten Alltagszeithandelns nur ganz bestimmten, durchaus singulären Soziallagen vorbehalten. Im eigentlichen Sinne zeitsouverän ist, im Alter wie auch in anderen Lebensphasen, kaum jemand in dieser Gesellschaft; denn zur ‚Beherrschung‘ der eigenen Zeit, zur Errichtung und Aufrechterhaltung eines autonomen Zeitregiments, bedarf es äußerst umfangreicher Zeitressourcen gepaart mit außergewöhnlich ausgeprägten Zeitkompetenzen. Die mit der Rede von ‚Zeitsouveränität‘, aber auch schon von ‚Zeitwohlstand‘, verbundene und im Allgemeinen falsche Suggestion, dass ältere Menschen Herr im Hause des eigenen Alltagslebens seien, sollte im Lichte unserer Forschung ausdrücklich vermieden werden. Die Existenz ‚freier Zeit‘ muss auch im Alter, ungeachtet der Diskursformel vom ‚verdienten Ruhestand‘, legitimiert werden, mit der Entpflichtung der Altersrentner und -rentnerinnen ist es, jedenfalls im Sinne einer moralischen Entlastung von Rechtfertigungszwängen, subjektiv nicht allzu weit her. Vor diesem Hintergrund erscheint es ebenso wenig angemessen, die praktischen Umgangsweisen Älterer mit dem (in diesem Sinne) Problem freier Zeit als ‚Strategien‘ zu bezeichnen. Das Planhafte, Zielgerichtete, Kalkulatorische dieses Begriffs wird den real existierenden Praktiken des Alltagszeithandelns älterer Menschen und deren subjektiven Deutungen nicht gerecht. Denn Freiheit im Alter ist, ausweislich unserer qualitativen Interviews, nur in sozial begrenzter Weise die individuelle Freiheit des Andershandelns: „one is free but not free to do nothing“ (Ekerdt & Koss, 2016, S. 1297).

5.4.2 Lebenszeithandeln

Wie gesehen, ist das alltagsbezogene Zeithandeln im Alter auf der einen Seite gewissermaßen nichts Besonderes, sondern ein Abbild von Verhältnissen, die grundsätzlich alle vergesellschafteten Individuen betreffen: Wie jeder andere Mensch auch, müssen ältere Menschen ihr Leben organisieren und ihre Alltagszeit strukturieren. Auch sie müssen das Vorhandensein von ‚freier Zeit‘ in einer durch die Arbeitslogik durchdrungenen Gesellschaft gegenüber sich selbst und vor allem gegenüber anderen begründen, auch für sie sind die Möglichkeiten wirklich ‚freier‘ Verfügung über die eigene Zeitgestaltung begrenzt, und auch unter ihnen sind die alltäglichen Handlungsspielräume je nach Ressourcenausstattung ungleich verteilt.

Und doch gilt andererseits, dass das Alltagszeithandeln älterer Menschen durchaus seine besonderen Momente und Motive hat, die der spezifischen Verortung des höheren, ‚fortgeschrittenen‘ Alters im je individuellen Lebenslauf älterer Menschen geschuldet sind. Anders als für jüngere Menschen gibt es für die älteren eben ein vergleichsweise langes ‚Davor‘: Ein zwar auf je unterschiedliche Weise abgelaufenes, in jedem Fall aber ereignisreiches und erfahrungsgesättigtes Vorleben, dessen Prägungen das Altersleben und -erleben von 60-, 70- oder 80-Jährigen unvermeidlich mitbestimmen. Alltagszeithandeln im Alter ist somit grundsätzlich nur als ein vom bereits gelebten Leben durchwirktes, lebenszeitgeprägtes Handeln zu verstehen. Und als solches bleibt es, so der darüber hinausgehende Befund unserer qualitativen Forschungen, nicht unbeeinflusst durch die je konkreten, lebenszeitbezogenen Wahrnehmungen und Orientierungen der Älteren. Wie die Alltagszeit im Alter gestaltet wird, hängt mithin – keineswegs nur, aber doch auch – davon ab, wie ältere Menschen ihre eigene Lebenszeit konzipieren, und zwar im Rückblick auf ihre Lebensgeschichte wie im Ausblick auf die Zukunft, also auf das, was sie in und von ihrem Leben noch erwarten.

In diesem Sinne konnten wir empirisch zwei deutlich voneinander unterschiedene, in gewisser Weise konträre Lebenszeitstile im Alter feststellen. Diese beiden Umgangsweisen älterer Menschen mit ihrer subjektiv verbleibenden Lebenszeit sind als typische bzw. typisierbare Kombinationen aus biographischer Retrospektion und Prospektion zu verstehen, die von unmittelbarer Bedeutung für die Gestaltung der Alltagszeit sind. Wir haben sie als die „Logik des Nachholens“ einerseits, ein „Leben im Schwebezustand“ andererseits bezeichnet (Münch, 2016) – womit das Möglichkeitsspektrum des individuellen Lebenszeithandelns allerdings sicher nicht erschöpfend beschrieben ist.

Die Logik des Nachholens findet sich bei älteren Personen, die biographisch auf einen strukturellen Zeitmangel und das jahre-, häufig jahrzehntelange Zurückstellen eigener Interessen zurückblicken. Es sind insbesondere Frauen bzw. Mütter, die in unseren Interviews die Lebenserfahrung kundtun, zwischen den multiplen Anforderungen von Kindererziehung, Haushaltsarbeit und eigener Erwerbstätigkeit eigentlich nie Zeit für sich selbst gehabt zu haben (Beck-Gernsheim, 1983). Die Zeit des Alters erscheint diesen Befragten dann als eine Gelegenheitsstruktur, um endlich all das tun zu können, was sie immer schon einmal machen wollten und wozu sie früher aber nicht gekommen sind – oder wenigstens einen Teil des Unerledigten in Angriff zu nehmen. „Ich hab also dann einfach das Gefühl gehabt, ich muss ganz ganz viel nachholen“: So lautet die typische Umschreibung dieses Lebenszeitstils, der sich alltagstechnisch in eine Vielzahl (bisweilen auch ein subjektiv empfundenes Übermaß) an Aktivitäten übersetzt, von der Erfüllung lange gehegter Wünsche wie dem Erlernen von Sprachen oder eines Musikinstruments bis hin zum Reisen auf eigene Faust und der Pflege alter, vernachlässigter Freundschaften. In der Regel steht diese selbstgewählte (Hyper-)Aktivität, in deren Lichte besehen nicht etwa das junge und mittlere Erwachsenenalter (Panova et al., 2017), sondern paradoxerweise der sogenannte Ruhestand als „Rushhour des Lebens“ erscheint, im Zusammenhang mit einer wahrgenommenen biographischen Zeitknappheit: ‚Jetzt oder nie‘ heißt die Parole – denn wer weiß schon, wie lange man noch zu leben hat. Oder mehr noch, das Dringliche und Drängende des Nachholbedarfs erscheint bisweilen als geboten, weil etwa der frühe Tod eines Elternteils oder aber die statistische Lebenserwartung eine als quasi-objektiv empfundene Grenze des biographischen Zeitbudgets markieren. Den latenten Zeitdruck, der mit der lebenszeitlichen Logik des Nachholens verbunden ist, fasst einer unserer Interviewpartner, die Alltagskommunikation mit seinen gleichaltrigen Bekannten wiedergebend, in folgenden Appell: „Denkt dran, Ihr habt wahrscheinlich noch so 7000 Tage zu leben.“

Der diesem aktivistischen Alterslebensentwurf tendenziell entgegengesetzte Lebenszeitstil, den wir als einen biographischen Schwebezustand zwischen Leben und Tod begreifen, ist dadurch charakterisiert, dass ältere Menschen in Erwartung ihres Ablebens dauerhaft innehalten und den Rückzug aus Sozialbeziehungen antreten, sich damit gleichsam in einen passivischen Wartestand begeben. Mit Blick auf die Zeitwahrnehmung und das Alltagszeithandeln führt diese Disposition zu einem ausgeprägten Präsentismus: Nichts Größeres wird mehr in Angriff genommen, nichts Neues angefangen, längerfristige Planungen verbieten sich von selbst. Das Leben geht auf im Hier und Jetzt. Unsere Projektpartner in Hongkong und den USA sprechen in diesem Sinne bildhaft von „time freeze“ (Ho et al., 2019), dem regelrechten Einfrieren der Zeit also, bei dem die Zukunft sich subjektiv weniger verkürzt als vielmehr zu einer bloßen Verlängerung der Gegenwart wird. Das Altershandeln erfolgt bei Befragten, die sich diesem Lebenszeitstil zuordnen lassen, im Modus der Suspension: Der Lebensrhythmus wird zurückgefahren, der Alltag allmählich stillgestellt, das Leben auf Sparflamme geführt. Den Hintergrund einer solchen Handlungsorientierung auf das Nicht-Handeln bilden häufig kritische Lebensereignisse: ein überlebter Herzinfarkt, der Tod nahestehender Menschen, insbesondere des Lebenspartners bzw. der Lebenspartnerin. In all diesen Fällen rückt damit gefühlt auch das eigene Lebensende näher, kommt der früher oder später – wer weiß das schon? – bevorstehende Tod in den Blick: „Jeden Moment könnte ich tot umfallen.“ Aus dieser Perspektive erscheint dann Zurückhaltung in allen Lebenslagen und -belangen als eine Form der Vorsorge, denn weder wird man im Todesfall selbst aus etwas Wichtigem herausgerissen noch bereitet man anderen Verlusterfahrungen, wenn man sich vorher schon von allem und allen verabschiedet hat. Die subjektive Verschränkung von Lebenszeitorientierung und Alltagspraxis wird auch in diesem Fall offenkundig: Jederzeit mit dem Tod rechnend, wird das Leben zum Wartesaal, in dem die Zeit zwar vergeht, aber effektiv stillgestellt ist. Und in dem Unauffälligkeit die erste Bürgerpflicht ist: Das Gefühl eines unserer Befragten, „nur noch vorübergehend anwesend“ zu sein, veranlasste ihn dazu, seine Abwesenheit zu simulieren, sich regelrecht unsichtbar zu machen. In diesem Sinne ging er dazu über, ehedem selbstverständliche und wertgeschätzte Aktivitäten, namentlich das Autofahren, seltener, vorsichtiger und nachgerade heimlich zu praktizieren – also so, dass niemand auf ihn aufmerksam wird. Dass die Wertidee der ‚Autonomie im Alter‘ in Deutschland, zumal von Männern, wörtlich genommen und mit der fortgesetzten Nutzung des eigenen Automobils in eins gesetzt wird, ist ein – gerade auch im internationalen Vergleich – interessanter Befund unserer qualitativen Studien, der an dieser Stelle nicht weiter vertieft werden kann.

Im einen wie im anderen Fall, beim aktivischen Nachholen von Versäumtem ebenso wie beim passivischen Innehalten vor dem Tode, sollte deutlich geworden sein, dass ‚individuelle Lebenszeitstile‘ nie nur individuell und nie allein auf die Lebenszeit bezogen sind. Immer haben Lebenszeitstile auch erkennbare Auswirkungen auf die Organisation des Alltags bzw. auf entsprechende Muster des Alltagszeithandelns (siehe oben). Und niemals sind sie zu verstehen ohne die konkreten Lebensführungsmuster signifikanter Anderer: Ältere Frauen im Modus des Nachholens handeln z. B. vor dem Erfahrungshintergrund eines Familienlebens, bei dem sie systematisch eigene Wünsche zugunsten ihrer Ehemänner und Kinder zurückgestellt haben; ältere Männer im selbstgewählten Schwebezustand wiederum suchen Rücksicht zu nehmen auf die vermeintlichen oder tatsächlichen Lebenspläne ihrer Kinder oder jüngeren Partnerinnen. So beschließt einer unserer hochaltrigen Interviewten mit Erreichen seines 90. Geburtstages, sein Sozialleben regelrecht zu suspendieren, weil die eigene Lebenserwartung und die Zeithorizonte der bevorzugten Interaktionspartner und -partnerinnen seiner Wahrnehmung nach zunehmend auseinanderfallen: „Die können sich nicht nur um mich kümmern. Ich stehe ja nur kurzzeitig zur Verfügung, und die Jüngeren werden ja länger leben, also müssen sie mit den Anderen weiterleben.“

„Ich stehe ja nur kurzzeitig zur Verfügung“: Dieses sich altersbedingt einstellende, mit zunehmendem Alter sich aufdrängende Lebensgefühl kann nun offenkundig als Motiv ganz unterschiedlicher – nämlich eher aktivischer oder aber stärker passivischer – Gestaltungsweisen des Alltagslebens fungieren. Ähnlich gelagerte subjektive Lebenszeitwahrnehmungen können somit, anders ausgedrückt, in einem durchaus unterschiedlichen Zeitwohlbefinden älterer Menschen münden. Wir ziehen auf Grundlage unserer empirischen Forschungen die Kategorie des Zeitwohlbefindens der etablierten soziologischen Rede von „Zeitreichtum“ und „Zeitwohlstand“ einerseits, „Zeitautonomie“ bzw. „Zeitsouveränität“ (siehe oben) andererseits vor, weil unseren Befunden zufolge nicht etwa das wahrgenommene Quantum zur Verfügung stehender Zeit entscheidend ist für die subjektive Lebensqualität im Alter – und weil wirkliche Eigenständigkeit in der Verfügung über die Zeit sich als ein stark milieugebundenes, tendenziell den ressourcenmäßig bessergestellten Älteren vorbehaltenes Lebensgefühl erweist. Zeitwohlbefinden hingegen – als das je individuelle Wohlbefinden in und mit der Zeit – ist eine komplexe Wahrnehmungskonstellation, die sich aus einer Vielzahl von Quellen speist und weder in objektivem Zeitreichtum noch in individualistisch gedachten Kontrollpraktiken aufgeht. Zeitwohlbefinden im Alter ist eine zugleich subjektive wie soziale Kategorie, in der sich Faktoren wie persönliche Ressourcenausstattung, Gesundheitszustand, räumliche Mobilität, die Einbindung in soziale Beziehungen und Verantwortlichkeiten, kritische Lebensereignisse, chronologisches Alter sowie das herrschende gesellschaftliche Zeitregime kreuzen und verschränken. In seiner ganzen Komplexität, und auch inneren Widersprüchlichkeit, lässt es sich nicht auf einen einzigen Nenner bringen und letztlich nur in intensiven qualitativen Befragungen älterer Menschen – als vergesellschafteten Individuen – selbst ergründen.

In diesem Zusammenhang und vor diesem Hintergrund ist dann auch eine wichtige, unseres Erachtens überfällige Problematisierung des Konzepts des ‚Ruhestandes‘ vorzunehmen – sowie, gewissermaßen als Problematisierung zweiter Ordnung, der gängigen Formen seiner Problematisierung. Als politische Kategorie entstanden, in der nationalsozialistischen Semantik des „Lebensfeierabends“ wurzelnd und mit der bundesdeutschen Rentenreform des Jahres 1957 zu einer sozialpolitisch institutionalisierten Figur geworden, hat sich der Begriff des Ruhestands (wie auch jener des Ruheständlers, im Maskulinum) seither fest in der deutschen Alltagssprache etabliert. In der sozialen Diskurswelt ist er faktisch zu einem Synonym für die Nacherwerbsphase, ja für die Lebensphase Alter schlechthin geworden (Denninger et al., 2014; Göckenjan, 2000). Die doppelte Problematik der um dieses Konzept kreisenden Begriffspolitik liegt nun darin, dass einerseits die gesellschaftlichen Vorstellungen vom Alter als spezifischer Lebensphase nachhaltig präformiert werden, und zwar in tendenziell abwertender und ausschließender Weise. Das Alter als Ruhestand begriffen signalisiert, dass Menschen, einmal ‚alt‘ geworden, sich in den Stand der Ruhe begeben: In eine Statusposition, in der sie ihre Ruhe haben, mithin in Ruhe gelassen werden – in der sie aber auch Ruhe geben, von der aus sie die anderen, nicht bzw. noch nicht Alten, tunlichst in Ruhe lassen sollen. Alter als Ruhestand bezeichnet ein wohlfahrtsstaatlich eingerichtetes soziales Abstellgleis, auf dem die materielle Wertschätzung des gelebten Lebens einhergeht mit der symbolischen Entwertung des noch zu lebenden Lebens: Hier ist schon einmal für Ruhe im Diesseits gesorgt, bevor die Alten dann irgendwann die ‚ewige Ruhe‘ im Jenseits finden. Wohlgemerkt, und wie bereits angedeutet: Dieser Rückzug – im Englischen retirement – der erwerbsgesellschaftlich Entpflichteten auf ihr nunmehr sozialversicherungsförmig gewährleistetes Altenteil war lange Zeit, und ist teilweise auch bis heute noch, eine reale Option allenfalls für die männlichen unter den Alten. Für viele Frauen, zumal für die nur kurzzeitig, unterbrochen oder geringfügig Erwerbstätigen unter ihnen, war und ist die Idee des Ruhestands, auch angesichts der bei alternden Paaren sich fortschreibenden geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung, nichts anderes als eben dies: eine Idee, eine institutionelle Fiktion.

Nicht minder problematisch als die symbolische (und teilweise eben auch materielle) Abwertung des „Lebensabends“ zum Ruhestand ist allerdings andererseits die in jüngerer Zeit sich offenbarende, gegenläufige Tendenz zur Problematisierung eines ruheständischen Lebenswandels (van Dyk et al., 2013; Hasmanová Marhánkova, 2011). Unter dem diskursiven Dach einer „Aktivierung“ des Alters dient das Bild vom Ruhestand mittlerweile als Inbegriff einer historisch überkommenen, gesellschaftlich zu überwindenden Existenzweise. In dem Maße, wie angesichts des demografischen Wandels die versorgungsstaatliche Idee einer öffentlich-kollektiven Absicherung des Alters als finanzpolitische Altlast diskutiert wird, geraten die Alten selbst zur sozialen Alterslast, die sich die gesellschaftliche Solidargemeinschaft nicht mehr leisten kann (bzw. leisten mag). Zwecks Lösung des so konstruierten Problems wird immer häufiger zur Delegitimierung des Ruhestands als Lebensstil gegriffen – wobei die soeben aufgeworfene Frage, inwieweit die als ruheständisch inkriminierten Soziallagen überhaupt Fakt oder nicht doch eher Fiktion sind, in der öffentlichen Debatte kaum mehr gestellt wird. Ältere Menschen sind so oder so aufgerufen, sich nicht zurückzulehnen, sondern am Ball zu bleiben. Allenthalben werden die „Potenziale des Alters“ erkannt (Bundeszentrale für politische Bildung, 2008) und die Ressourcen der Älteren zu mobilisieren gesucht. Eine zumindest sozial produktive Lebensführung, etwa durch gemeinwohlorientierte Praktiken des bürgerschaftlichen Engagements, wird zum Synonym „erfolgreichen“ Alterns schlechthin, und dies nicht nur im alterspolitischen, sondern auch – und historisch zuerst – im gerontologischen Diskurs (Baltes & Baltes, 1990; Schroeter, 2004). Wer im Alter hingegen rastet, der und die rostet dem neuen wissenschaftlich-politischen Altersbild zufolge nicht bloß langsam vor sich hin, sondern streut, gewollt oder ungewollt, Sand ins Getriebe der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Dynamik – auch dies in gewissem Sinne eine Altersaktivität, allerdings eine, die in der „alternden Gesellschaft“ herzlich unerwünscht ist.

Gerät der Ruhestand als soziale Konstruktion der letzten Lebensphase also mittlerweile in öffentlichen Altersdiskursen zunehmend in Misskredit, so ist die Vorstellung, im höheren Alter nur mehr eine ‚ruhige Kugel‘ zu schieben, in den Lebensentwürfen älterer Menschen selbst – darauf weisen auch frühere Erkenntnisse unserer qualitativen Forschungen hin – durchaus noch verankert (Denninger et al., 2014; vgl. auch das Konzept des „tranquil life“ unserer taiwanesischen Kollegen, Liou, 2016). Allerdings steht dieses Bild eines gelungenen Alterns, wie die subjektiven Zukunftsbilder von Lebensqualität im Alter überhaupt, unter einem großen, von praktisch allen in unserem Teilprojekt befragten Personen geteilten Vorbehalt: Gesund muss man sein bzw. bleiben. „So lange ich gesund bin, alles selber kann, ist das ja ok“: Diese Aussage eines zum Interviewzeitpunkt über 90-jährigen Rentners könnte so oder so ähnlich fast jede unserer Interviewpartnerinnen und -partner geäußert haben. Es gibt unseren Befunden zufolge nur selten einen absoluten, uneingeschränkten Wunsch älterer Menschen nach einem möglichst langen Leben. Das Ideal der Langlebigkeit ist vielmehr häufig ein qualifiziertes, das als solches von den Befragten – und zwar in allen in die Untersuchung einbezogenen Ländern – zumeist eng an Gesundheitskriterien gebunden wird (Ekerdt et al., 2017; Lang & Rupprecht, 2019a). ‚Steinalt‘ werden, womöglich gar in den erlauchten Kreis der Hundertjährigen vordringen? Im Prinzip gerne – aber eben nicht unbedingt, sondern nur, wenn und solange Körper und Geist mitmachen. Diese ‚Gesundheitsfixierung‘ von Alternsidealen wird in den westlichen von uns untersuchten Alterskulturen ergänzt durch eine analoge Autonomiefokussierung von Lebensentwürfen: Gutes Alter(n) findet demnach in Selbstständigkeit statt. Abhängigkeit von Dritten hingegen, wiewohl faktisch für jede Person und in jedem Lebensalter unvermeidlich soziale Normalität, ist auf die letzte Lebensphase bezogen für viele Menschen ein Schreckensbild, das durchweg starke Abwehrreaktionen hervorruft. Das abhängige – wahlweise übersetzt als krankes, bettlägeriges, unterstützungs- oder pflegebedürftiges, immer häufiger auch dementes – Alter gilt es tunlichst zu vermeiden, es ist das ungewollte, verworfene Andere eines gelingenden Lebens zum Ende hin. ‚Lieber tot als scheintot‘: Diese das „vierte Alter“ (Higgs & Gilleard, 2015) entwertende Grundeinstellung ist uns im europäisch-nordamerikanischen Forschungskontext immer wieder begegnet, moderiert allenfalls durch religiös grundierte Motive der klaglosen Hinnahme oder ausdrücklichen Akzeptanz eines unbeeinflussbaren Lebensschicksals.

Die verbreitete Furcht vor Kontrollverlust, im Sinne einer letztlich fremdbestimmten Lebensführung im hohen oder höchsten Lebensalter, stellt schließlich den Hintergrund dar für einen letzten hier zu dokumentierenden Befund unserer qualitativen Forschungen. Gemeint ist der – wie so Vieles im Alter: individuell ganz unterschiedliche – alltagspraktische Umgang alternder Menschen mit dem Wissen um die Endlichkeit ihres Daseins. Unter der Formel des Doing finitude, die sprachlich zu fassen versucht, dass Endlichkeit im Prozess des Alterns eben kein abstrakter Wissensbestand bleibt, sondern gewissermaßen zu einer ‚praktischen Vorstellung‘ gerät, die als solche aktiv prozessiert wird, haben wir das Endlichkeitshandeln älterer Menschen eigens untersucht. Dabei haben wir zwei zentrale Einsichten zutage gefördert. Zum einen lässt sich ein Kontinuum der Handlungsweisen feststellen, das zwischen den Polen der Offenheit und der Kontrolle verläuft: Während manche Ältere das Ende und dessen konkrete Gestalt auf sich zukommen lassen („Weil das kommt garantiert anders, als ich mir das vorstelle. Und da brauche ich mir gar keine Gedanken mehr machen.“), verwenden andere umgekehrt viel Energie auf dessen eigentätige Gestaltung. Einen Eckfall in diesem letzteren Sinne bildete im deutschen Sample ein zum Interviewzeitpunkt 79-Jähriger, der die Umstände seines Ablebens vorsorglich so weit wie möglich selbst in die Hand zu nehmen versuchte: Er erstellt eine Patientenverfügung, wird Mitglied in einem Verein für selbstbestimmtes Sterben, setzt sich mit den für ihn persönlich in Frage kommenden Möglichkeiten des Alterssuizids auseinander und rundet seine Planungen den Tag X betreffend mit der Anschaffung eines Notfallhandys ab, das er so programmiert, dass es im Falle seines Freitodes einen Notruf absetzt und damit die Eventualität eines unentdeckten Verwesens ausschließt. Innere Ruhe, und damit auch die Bereitschaft weiterzuleben, findet dieser Befragte nur in seinen intensiven Vorkehrungen für das Lebensende – in dem Gefühl, „alles das getan“ zu haben, „was man meint, überhaupt tun zu können“.

Selbstverständlich gibt es auch weniger strikt finalitätsbezogene Praktiken, die gleichwohl schon das Faktum der Begrenztheit des Lebens im Blick haben – der oben dargestellte Lebenszeitstil des Nachholens von ‚im vorherigen Leben‘ Versäumtem und Verpasstem wäre in diesem Sinne zu nennen, aber auch etwa das frühzeitige „down-sizing“ des Wohnraums und materieller Besitztümer (Ekerdt, 2020). Letztere Form des Alter(n)shandelns ist insofern besonders interessant, als sie eine Brücke bildet zwischen Endlichkeitspraktiken, die eher im Selbstbezug operieren, und solchen, die sich stärker im Fremdbezug vollziehen. Denn auf eigenen Entschluss z. B. aus dem zu groß gewordenen Haus aus- und in eine kleinere Wohnung oder aber in eine Einrichtung des betreuten Wohnens umzuziehen, und sich dabei notgedrungen auch eines Gutteils des manchmal über Jahrzehnte hinweg angewachsenen Hausrats zu entledigen, lässt sich als eine Form selbstbestimmter Altersvorsorge verstehen, die zugleich auch darauf zielt, andere Menschen, typischerweise die eigenen Kinder, von der Pflicht einer späteren Haushaltsauflösung zu befreien. Derartige Formen des zukunftsbezogenen Handelns, die nicht nur das eigene Leben, sondern auch – und vielleicht maßgeblich – das Leben der (signifikanten) Anderen im Blick haben, sind uns in unseren Interviews immer wieder begegnet. In ihrer am stärksten ausgeprägten Variante gehen sie im Fremdbezug vollständig auf, tritt das eigene Leben hinter dem der nachwachsenden Generation(en) zurück, die dann zum Inbegriff von Altern als Zukunft werden. Generativität als ein in die Zukunft weisender Sinngebungsprozess (Erikson, 1959) wird hier gleichsam zur Lösung des Problems eigener Endlichkeit: „Kinder und Enkel, das ist Zukunft. Das ist die Idee, das geht weiter, selbst wenn es für mich nicht weiter geht, aber da geht was weiter. Im Grunde genommen geht auch von mir etwas weiter.“

5.5 Fazit: Die Ambivalenzen des Alter(n)s

Was es im Ergebnis unserer forschungsbasierten Betrachtungen festzuhalten gilt, ist letztlich vor allem eines: Der Prozess des Alterns oder, wenn man so will, der Prozesszustand des Alters ist aus der Sicht und in der Erfahrung älterer – und weiter alternder – Menschen selbst ein durch und durch doppeldeutiges, ja zwiespältiges Phänomen. ‚Das Alter‘ ist eine Lebenskonstellation, die individuell gelebt wird – und gelebt werden muss –, aber doch stets sozial strukturiert ist. Wie wir deutlich gemacht zu haben hoffen, sind Alltagszeit und Lebenszeit in ihrem komplexen Zusammenspiel zutiefst gesellschaftlich geprägt, sodass sich trotz der Tatsache, dass niemand einem (oder einer) das eigene Leben abnehmen kann, zweifelsohne sagen lässt, dass es in einem strengen Sinne keine ‚individuellen‘ Alltags- und Lebenszeitstile im Alter gibt. Zwar unterscheiden sich schon typologisch Single-, Partner- und Familienhaushalte, und zumal Haushalte mit und ohne Pflegeverpflichtungen, stark hinsichtlich der Formen mittelbarer und unmittelbarer sozialer Abhängigkeit, die für die in ihnen lebenden Personen gegeben sind. Letztlich aber führen sie – und wir – alle, und zwar in jeder Lebensphase, in den verschiedensten Hinsichten „linked lives“ (Moen & Hernandez, 2009).

Das Spezifikum des höheren Lebensalters im Sinne des Nacherwerbslebens besteht dabei darin, dass es eine institutionell vergleichsweise un- oder jedenfalls unterbestimmte Lebensphase ist. Ein Gutteil der Lebenspraxis älterer Menschen verweist vor diesem Hintergrund auf das existenzielle Anliegen, das Unverfügbare der Lebenszeit alltagszeitlich verfügbar zu machen – und damit auf die soziale Relevanz des Endlichkeitswissens für die individuelle Lebensgestaltung, und dies unabhängig von den gegebenenfalls geübten, fallweise mehr oder weniger erfolgreichen Praktiken der Verdrängung des Todes selbst. Aber nicht nur der Umgang mit der Begrenztheit des Lebens ist allen Alternden als Altersaufgabe gegeben. Auch die Doppelcodierung des Alters im Sinne seiner Entpflichtung und seiner Abwertung gehört in der einen oder anderen Weise zum Erfahrungshaushalt älterer Menschen. „… [A]ll retirees face the same two challenges of retirement: to manage its threat of marginality and to utilize its promise of freedom“ (Weiss, 2005, S. 14) – aber es ist keineswegs so, dass alle Älteren dasselbe daraus machen würden oder auch nur machen könnten. Es gälte daher, die allzu häufig zur wissenschaftlich-politischen Floskel verkommende Anrufung der „Vielfalt des Alters“ tatsächlich ernst zu nehmen.

Ein Ziel, dem letztlich allerdings, dies gilt es abschließend selbstkritisch zu konstatieren, auch unsere eigenen qualitativen Forschungen nicht gerecht werden konnten. Denn an allen Forschungsstandorten weist unser Sample ein sozialstrukturelles Ungleichgewicht zugunsten von (oberen) Mittelschichtshaushalten auf – eine Überrepräsentation, die zwangsläufig auch die hier präsentierten Forschungsergebnisse bestimmt und diese in gewisser Weise verzerrt. Zukünftige Alter(n)sforschung ist dringend gehalten, die damit gegebene forschungspraktische Reproduktion gesellschaftlicher Ungleichheitsverhältnisse zu vermeiden.