Üblicherweise folgen ethische Güterabwägungen sogenannten „Vorzugsregeln“. Solche Priorisierungen können sich entweder an der Grundsätzlichkeit („Fundamentalität“) oder an der Bedeutsamkeit („Dignität“) der konkurrierenden moralischen Güter (gesundheitliche Schutzansprüche, Freizügigkeit usw.) orientieren. Die Vorzugsregel der Fundamentalität könnte beispielweise dem physischen Überleben gegenüber dem moralischen Gut der selbstbestimmten Freizügigkeit und Freizeitgestaltung innerhalb einer Pflegeeinrichtung deshalb mindestens vorübergehend den Vorzug geben, weil das physische Überleben unabweisbare Bedingung der Möglichkeit ist, die persönliche Freizügigkeit zu realisieren. Oder es mag den Schutz einer Gemeinschaftseinrichtung der individuellen Freizügigkeit ihrer Bewohnerinnen und Bewohner deshalb vorziehen, weil jede Person, die eigentlich ihre Freizügigkeit begehrt, aufgrund ihrer Lebenslage selbst auf die Funktionstüchtigkeit dieser Wohneinrichtung angewiesen ist. Umgekehrt kann die Vorzugsregel der Dignität etwa der Ausübung freier Alltagsgestaltung deshalb gegenüber dem Schutz des rein biologischen Überlebens den Vorrang einräumen, weil ein Leben ohne physische oder soziale Kontakte kein Mindestmaß an Lebensqualität ermöglicht, die für ein gelingendes Leben in Würde unerlässlich scheint.
Priorisierungsentscheidungen, die durch Güterabwägungen ihre ethische Legitimation erfahren, setzen darauf, dass selbst höchste moralische Güter im Konfliktfall gegeneinander abgewogen werden können und auch dürfen. Und tatsächlich gilt dies auch für grund- und menschenrechtliche Ansprüche, wie sie verfassungsrechtlich niedergelegt sind. Allerdings sind alle solche den Nutzen einkalkulierende Güterabwägungen begrenzt. Sie dürfen nie kategorische, also unbedingt verpflichtende moralische Schutzgüter zur Disposition stellen. Dabei sticht ein kategorisches moralisches Gut hervor: die Würde des Menschen. Sie ist – schon der Verfassung wegen – unantastbar. Ethisch gewendet: Es ist keine ethisch legitime Priorisierung denkbar, die die Würde eines der betroffenen Menschen substantiell verletzt. Die Menschenwürde ist absolut abwägungsresistent.
Menschenwürde bezeichnet das Um-seiner-selbst-willen-Dasein jedes einzelnen Menschen. Niemand darf als bloßes Mittel für andere instrumentalisiert, sondern jeder muss immer als Selbstzweck geachtet werden. Und dieser Achtungsanspruch ist strikt egalitär: Er gilt für jede und jeden – unabhängig von seiner situativen Verfassung, ihres Alters, seines Geschlechts, ihrer Herkunft usw. Würde ist nie davon abhängig, ob – und wenn ja, wie viel – ein Mensch (noch) wie lange einen Wert für sich oder für andere haben mag. Würde ist jeder Person inhärent. Sie wird keiner Person erst von anderen zugesprochen. Deshalb kann sie ihr auch niemals von anderen abgesprochen werden. Allerdings besitzt menschliche Würde gewissermaßen eine Erfahrungsdimension: Dass sie um ihrer selbst willen geachtet und anerkannt werden, müssen Menschen in zwischenmenschlichen Beziehungen konkret und leibhaftig erfahren können. Ansonsten verkümmerte die Menschenwürde zum bloß theoretischen Anspruch ohne Bezug zur Lebenswirklichkeit der betroffenen Personen. Diesen Aspekt greifen Menschenrechtskonventionen der jüngeren Zeit vermehrt auf. Die UN-Behindertenrechtskonvention spricht immer wieder von einem „starken Gefühl der Zugehörigkeit“ (UN-BRK 2006, Präambel), das durch gesellschaftliche Einbeziehung („inclusion“) und Teilhabe („participation“) bewirkt werden soll.
Das ethische Fundamentalprinzip der Achtung der Menschenwürde weist eine Komponente auf, die gerade im Kontext der Langzeitpflege besonders zum Tragen kommt: die Taktilität zwischenmenschlicher Beziehungen. Pflege besitzt eine spezifisch „leibliche Dimension, in der sich ihr besonders enger Personenbezug manifestiert: in den leiblich gebundenen Äußerungen sowohl der Gepflegten, wie der Pflegenden in Mimik, Gestik und Haptik/Taktilität ihrer jeweiligen Körpersprache“ (DER 2020a, S. 26). Was der Deutsche Ethikrat im Frühjahr 2020 nur wenige Tage vor Verhängung des Corona-bedingten Lockdowns als einen essentiellen Maßstab für den Einsatz von „Robotik für gute Pflege“ zur Geltung gebracht hat, gewinnt in Zeiten der Pandemie-Bekämpfung durch physische Distanz eine beklemmende, ja dramatische Aktualität. „Pflege“, erinnert zu Recht die Deutsche Gesellschaft für Pflegewissenschaft in ihrer S1-Leitlinie „Soziale Teilhabe und Lebensqualität in der stationären Altenhilfe unter den Bedingungen der COVID-19-Pandemie“, „ist von direktem Kontakt gekennzeichnet, in dem Berührung eine substantielle Rolle spielt: Berührung als Teil der Körperpflege sowie als Teil zur Begrüßung, Beruhigung, Stütze und Unterstützung.“ (DGPf 2020, S. 17) Und solche leiblichen Berührungen ereignen sich auch da, wo allein die körperliche Anwesenheit anderer Personen im selben Raum erspürt und somit als wenigstens aufblitzende Momente von Beistand und Zugehörigkeit erfahren wird. Deshalb sind neben den Außenkontakten nicht zuletzt die internen Kontakte in Pflegeheimen wie das gemeinsame Essen, Erzählen oder Zuhören usw. so bedeutsam.
Solche Berührungen unmittelbarer wie mittelbarer Art vermitteln soziale Nähe in einer Weise, die durch keine virtuelle Kommunikation substituiert werden können. Es gibt im Verlauf jedes Lebens immer wieder Phasen, in denen diese Bemühungen unterbleiben (müssen) und Menschen physisch alleine sind. Aber Phasen selbstgewählten oder notgedrungenen Alleinseins müssen sorgfältig von der Erfahrung der Einsamkeit unterschieden bleiben. Einsamkeit wohnt das Moment des sozialen Verlassenseins, des Verlustes leibhaft erfahrener Zugehörigkeit inne. Wo diese sich ausbreitet, gerät die Würde jedes Menschen unweigerlich unter Druck. Wo allein das Taktile zwischenmenschlicher Beziehungen solche Einsamkeit und Verlassenheit zu durchbrechen vermag – und das ist gerade in den Situationen der Pflege eher die Regel denn die Ausnahme –, da müssen leibliche Kontakte der Pflegebedürftigen über die professionellen Sorgebeziehungen hinaus mit den wichtigsten An- und Zugehörigen ermöglicht werden. Denn sie vermitteln die Erfahrung von Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft. Physische Distanz („physical distancing“) fällt in diesen Konstellationen beinahe mit sozialer Distanz („social distancing“) zusammen. Sie dürften deshalb die höchste Priorität besitzen – mindestens um der Würde der Pflegebedürftigen willen.
Das hat erhebliche Rückwirkungen auf alle Priorisierungsentscheidungen. So dürfen die legitimen Schutzinteressen aller nicht durch Maßnahmen gesichert werden, die die Substanz einer menschenwürdigen Lebensführung bei bestimmten Personen beschädigen. Das aber ist bei einer nahezu vollständigen sozialen Isolation von Bewohnerinnen und Bewohnern innerhalb einer Einrichtung der Langzeitpflege oder gegenüber Außenkontakten ersichtlich der Fall. Hier müssen andere Wege gefunden werden, die die relevanten Schutzgüter miteinander versöhnen. Solche Wege bestehen: Die Transmission des Sars-CoV-2-Erregers in die Einrichtungen erfolgt überwiegend über die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Eine konsequente Teststrategie (insbesondere durch Schnelltests) kann offensichtlich das Infektionsrisiko und in der Folge das Risiko schwerer und tödlicher Erkrankung deutlich reduzieren. Damit kann dem Schutzinteresse aller Bewohner wie Mitarbeiter von Einrichtungen ohne solche Maßnahmen Rechnung getragen werden, die für viele Bewohner schlechterdings unzumutbar sind. Hier zeigt sich, dass kleinräumlichere Priorisierungsentscheidungen oftmals untrennbar mit grundsätzlichen Priorisierungen einer Gesellschaft verbunden sind. Denn von solchen grundsätzlichen Entscheidungen hängt ab, wo die ebenfalls knappen Testkapazitäten bevorzugt eingesetzt werden; konkret: ob für die Reiserückkehrer aus Risikogebieten zwecks Vermeidung einer ansonsten anstehenden Quarantäne oder aber bevorzugt für das Pflegepersonal sowie für An- und Zugehörige, um soziale Isolierungen in der Langzeitpflege abzuwenden.