Im Rahmen dieser Studie wurde Schwerdtfeger schon beiläufig erwähnt. Im vorigen Kapitel wurde z. B. angedeutet, dass er eine sexualisierte Figur von Doktor Faustus ist.Footnote 1 Viele Indizien sprechen dafür: Seine Neigung zum Flirten, seine ehebrecherische Liaison mit Ines Rodde und seine intime Beziehung zu Leverkühn. Schwerdtfeger ist jedoch nicht nur ein anziehender Mann, sondern auch ein talentierter Geigenvirtuose. Der erste Teil des vorliegenden Kapitels beschäftigt sich mit Schwerdtfegers Darstellung im Roman, die dem Mythos des dämonischen Geigers entspricht. Sowohl dieser Mythos, der vor allem in der Form des Paganini-Mythos auftaucht, als auch seine Relevanz in der deutschsprachigen Literatur werden parallel zur Analyse der Figurencharakterisierung des fiktiven Geigers von Doktor Faustus beleuchtet; die Analyse umrahmen Roland Barthes’ theoretische Darlegungen zum Mythos und zur Mythenlektüre. Der zweite Teil des Kapitels widmet sich dem dritten Satz von Henzes Violinkonzert, der den Titel „Rudi S.“ trägt. Eher als das Violinkonzert selbst, stehen hier inhaltliche Mikroformen des Romans und die Figurencharakterisierung Schwerdtfegers im Vordergrund: Das Verhältnis der Transposition zur Vorlage lässt sich hier als dezidiert verstärkend definieren. Beide Abschnitte zeigen, um mit Barthes zu argumentieren, dass der Mythos des dämonischen Geigers in vielen Medien immer noch präsent ist, wo er stets neuen Deformationen unterzogen wird.

1 Schwerdtfeger in Doktor Faustus

Die Figur Rudolf Schwerdtfeger ist Teil vieler Kapitel von Doktor FaustusFootnote 2 und ist eine der allerersten Figuren, die Thomas Mann zu Beginn seines Schaffensprozesses am Roman skizziert haben soll: „Figur des Rud. Schwerdtfeger, Geigers aus dem Münchener Zapfenstösser-Orchester“Footnote 3 heißt es in den Tagebüchern. Die Leser*innenschaft begegnet dem Musiker erst im 23. Kapitel, als Leverkühn nach München umzieht und Schwerdtfeger als Gast des gesellschaftlichen Kreises um die Familie Rodde kennenlernt. Er sei

ein begabter junger Geiger, Mitglied des Zapfenstößer-Orchesters, das neben der Hofkapelle eine bedeutende Rolle im musikalischen Leben der Stadt spielte, und in welchem er unter den ersten Violinen arbeitete. (DF: 290)Footnote 4

In der Forschungsliteratur zum Roman bleibt diese Romanfigur, bis auf wenige Ausnahmen, jedoch relativ unbeachtet.Footnote 5 Seit Beginn seiner Freundschaft zu Adrian Leverkühn möchte der talentierte Geiger, der nicht nur dem Musizieren, sondern auch – so Zeitblom – „dem Flirt mit dem schönen Geschlecht, jungen Mädchen sowohl wie reiferen Frauen, selig hingegeben“ (DF: 290) ist, dass der Komponist für ihn ein Violinkonzert schreibt, „mit dem er sich in der Provinz hören lassen kann“ (DF: 298). Dieses Konzert, das laut der Erzählinstanz „nicht zu Leverkühns höchsten und stolzesten“ (DF: 573) gehört, wird der Komponist für ihn schließlich komponieren; nicht nur das, Leverkühn wird auch bei allen seinen Aufführungen anders als sonst anwesend sein.Footnote 6 Im Laufe der Arbeit an dem Konzert nimmt die Intimität zwischen Schwerdtfeger und Leverkühn zu: Die beiden umarmen sich,Footnote 7 nennen „einander Du“ (DF: 603) und nach einer schweizerischen Aufführung des Konzerts erscheinen sie „Hand in Hand“ (DF: 604). Nach der Uraufführung in Wien hatten Geiger und Komponist einige Tage im Schloss Tolna zusammen verbracht, weswegen die Forschungsliteratur unter anderen textuellen Indizien zwischen der Auffassung einer homosexuellen und der einer platonischen Liebe oszilliert – Letzteres scheint u. a. Schwerdtfegers Bezeichnung des Violinkonzerts als „platonisches Kind“ (DF: 510) zu bestätigen.Footnote 8 Zweifelsohne sind die Romankapitel, die vom Komponieren und der Aufführung des Konzerts handeln, reich an homoerotisch-konnotierten textuellen Hinweisen. Schwerdtfeger ist eine höchst sexualisierte Figur in Doktor Faustus: Mit ihm begeht Ines Rodde – eine der beiden Töchter der Senatorin, bei der Leverkühn in München Schwerdtfeger kennenlernt – kurz nach der Eheschließung mit Dr. Helmut Institoris, „Ästhetiker und Kunsthistoriker [sowie] Privatdozent an der Technischen Hochschule“ (DF: 417), einen langjährigen Ehebruch.Footnote 9 Ines Institoris soll aber nach Schwerdtfegers Meinung, der dem Komponisten die ehebrecherische Beziehung folgendermaßen schildert, alleine die Schuld tragen:

„Ich kann nichts dafür, Adrian, glaube – glauben Sie mir! Ich habe sie nicht verführt, sondern sie mich, und die Hörner des kleinen Institoris, um diesen dummen Ausdruck zu gebrauchen, sind ausschließlich ihr Werk, nicht meines“. (DF: 508)Footnote 10

Von Anfang an ahnt Leverkühn die möglichen, fatalen Konsequenzen einer solchen Beziehung.Footnote 11 Schwerdtfeger findet den Mut, Frau Institoris zu verlassen. Diese kann anfänglich dank des Morphiums, das sie sehr wahrscheinlich von Natalie Knöterich bekommt, das Leben wieder ertragen.Footnote 12

Das Violinkonzert stellt zweifelsohne den Höhepunkt der Beziehung zwischen Leverkühn und Schwerdtfeger dar.Footnote 13 Diese Beziehung findet jedoch gleich nach der Aufführung des Stückes in der Schweiz ihr Ende, da die beiden Marie Godeau kennenlernen. Diese „französische Schweizerin“ (DF: 606) hat „die schönsten schwarzen Augen von der Welt“ (DF: 607), teilt Zeitblom seinen Leser*innen mit. Sie sei Zeichnerin und arbeite „für kleinere Pariser Opern- und Singspielbühnen“ (DF: 608). Schwerdtfeger und Leverkühn verlieben sich auf den ersten Blick in sie und Leverkühn will sie nach kurzer Zeit heiraten.Footnote 14 Daher die Idee, den Geiger zu ihr zu schicken, um sie von seinen Gefühlen in Kenntnis zu setzen. Es handelt sich demnach um einen Vorheiratsantrag:

Bringst du mir soviel zurück, daß der Gedanke, mein Leben mit mir zu teilen, ihr nicht ganz und gar zuwider, nicht ungeheuerlich ist, – dann kommt meine Stunde, dann will ich selber mit ihr und ihrem Tantchen reden. (DF: 635 f.)Footnote 15

Leverkühns exzentrischer Plan, den Zeitblom heftig kritisiert,Footnote 16 ist zum Scheitern verurteilt und führt nicht zur Verlobung Leverkühns mit Godeau, sondern zu ihrer Verlobung mit Schwerdtfeger. Nach dem letzten Konzert für das Münchner Orchester – der Geiger will nämlich mit seiner Verlobten nach Paris ziehen, wo er die Stelle des Konzertmeisters im „Orchestre Symphonique“ (DF: 646) antreten soll – wird er von einer rachsüchtigen Frau Institoris in einer Tram erschossen.Footnote 17

In diesem Kapitel steht diese Musikerfigur von Doktor Faustus, die mit dem Mythos des dämonischen Geigers in Verbindung gebracht wird, im Zentrum. Als theoretische Untermauerung der folgenden Analyse dienen die Ausführungen von Roland Barthes in Mythen des Alltags.

1.1 Der (alltägliche) Mythos des dämonischen Geigers

Der Mythos des dämonischen Geigers lässt sich als Modifikation oder mit Barthes als Deformation des ursprünglichen Mythos der Geige als dämonisches Instrument verstehen. Zu den ersten literarischen und künstlerischen Zeugnissen der Assoziation von Geige und Teufel bzw. auch von Geige und Tod zählen Texte und Manuskriptabbildungen zum Todestanz, die von einem Geige spielenden Tod erzählen oder ihn direkt abbilden sowie Zitate aus Shakespeares Dramen.Footnote 18 Dass dieser Mythos, der vor Paganini in der Barockepoche bereits mit den real existierenden Violinisten Tartini und Strunck in Verbindung gebracht wurde, sehr geeignet für die Rezeption im Medium der literarischen Schrift zu sein scheint, mag schon die Beobachtung bestätigen, dass ein aktueller Sammelband zur Violine überraschenderweise nicht mit ihrer Geschichte oder mit Informationen zum Geigenbau, sondern mit dem im Titel einer rhetorischen Frage tragenden Teil „An Instrument oder a Metaphor?“ beginnt.Footnote 19 In diesem Teil des Buches wird zunächst die Verbindung von Geige und Tod bzw. von Geige und Teufel in künstlerischen und literarischen Werken ausgelotet, danach wird der Fokus auf Violinist*innen und das Instrument in der Literatur gelegt, wobei die meisten Geiger*innenfiguren dämonische Züge tragen und so auch Schwerdtfeger aus Thomas Manns Roman selbstverständlich nicht fehlt.Footnote 20 In der vorliegenden Studie wird nicht wie bei Riggs von Metaphern, sondern von Mythen gesprochen, denn speziell die Verflechtung mit real existierten Musikern wie Paganini oder Tartini macht dieses zweite semiologische System sichtbar, das auf einem Signifikanten beruht, der zugleich Sinn und Form ist. Nicht zufällig weist Barthes darauf hin, dass ein Mythos wohl deformieren kann, jedoch nichts verbirgt:Footnote 21 Obwohl real existierte Musiker vom Mythos deformiert werden können, bleiben die Vorlagen erkennbar. Die Bezeichnung ,Metapher‘ scheint daher für ein Phänomen, das Fakten und Persönlichkeiten des Musiklebens sowie u. a. literarische und anekdotische Texte über die Epochen hinweg einschließt und deformiert, unzureichend.

Laut Riggs ist Schwerdtfeger „a demonic character“Footnote 22 und auch Zeitblom spricht im Roman von seiner „kindischen Dämonie“ (DF: 604): Sein Talent für den Flirt und das Geigenspiel verbindet sich mit einer gewissen Naivität, was der Erzähler einem dämonischen Ursprung zuschreibt. Inwieweit sich Schwerdtfeger, der wohl auch für eine Opferfigur von Doktor Faustus gehalten werden kann, als Verkörperung des Mythos des dämonischen Geigers auffassen lässt, sei im Folgenden aufgezeigt. Bei der Erwähnung seines Repertoires taucht Paganini nie auf, Tartini wird jedoch explizit benannt.Footnote 23 Des Weiteren spielt Schwerdtfeger das typische Repertoire eines Geigenvirtuosen, etwa Bachs Partita in E-Dur, Vivaldi, Spohr, Vieuxtemps, Grieg, Beethovens Kreutzer-Sonate und Dvořáks Humoreske.Footnote 24 Dass auf Tartini explizit verwiesen wird, spricht auch wieder für jene Kontamination des Romans durch das System der Barockmusik, mit dem sich der Viola d’amore-Spieler Zeitblom gut auskennt;Footnote 25 dass hingegen Paganini namentlich nicht erwähnt wird, ist in Bezug auf Doktor Faustus, wo etwa die Namen Schönberg oder Nietzsche nie auftauchen, kein Beweis dafür, dass der Mythos des dämonischen Geigers hier ausnahmsweise nicht auf den Paganini-Mythos zurückgreift.Footnote 26 Einzelheiten aus Anekdoten über den italienischen Violinisten, Autor der Ventiquattro Capricci für Violine solo, die als Meilenstein des Geigenvirtuosentums gelten, finden im 19. Jahrhundert Eingang u. a. in Texte von Grillparzer und Heine. In vielen literarischen und nicht-literarischen Texten stellt Paganini aufgrund seiner Biographie, die im Folgenden dargelegt wird und seines meisterhaften, virtuosen Geigenspiels die Verkörperung par excellence des Mythos des dämonischen Geigers dar.Footnote 27

Auch die folgende Analyse stützt sich vor allem auf den Paganini-Mythos, um die Darstellung von Schwerdtfeger als Paganini von Doktor Faustus zu beleuchten. Der italienische Geiger sei Anekdoten der Zeit zufolge nicht nur für sein unerreichbar virtuoses Geigenspiel, sondern auch für seine Fähigkeit berühmt gewesen, Tiergeräusche, das Seufzen und Stöhnen von Liebenden und das Weinen alter Frauen zu imitieren.Footnote 28 Schwerdtfeger kann ebenfalls das traditionelle Violinrepertoire meisterhaft spielen und zudem hervorragend pfeifen:

Ich [Zeitblom] habe das später auch bei Roddes und Schlaginhaufens gehört und mir von ihm erzählen lassen, wie er schon als ganz kleiner Junge, bevor er Violinunterricht bekam, diese Technik auszubilden begonnen und sich im reinen Nachpfeifen vernommener Musikstücke, fast wo er ging und stand, geübt, auch später an dem Erworbenen immer fortentwickelt hatte. Es war glänzend, – eine kabarettreife Fertigkeit, die fast mehr imponierte als sein Geigenspiel, und für die er organisch besonders glücklich angelegt sein mußte. (DF: 380)

Dieses Talent von Schwerdtfeger ist so ausgeprägt, dass Zeitblom ihn nach dieser ersten Erwähnung immer häufiger als „Geiger und Pfeifer“ (DF: 401) anredet. Auch das Pfeifen lässt sich mit Paganini in Verbindung bringen, und zwar mit seinem Imitationstalent, denn durch das Pfeifen ahmt der Geiger musikalische Kompositionen, die ursprünglich etwa für Violine, Flöte und Harfe geschrieben wurden, nach.Footnote 29

Verschiedene Skandalgeschichten verknüpfen sich außerdem mit Paganini: Manche Anekdoten und literarische Texte, z. B. von Grillparzer und Heine, erzählen von einem Mord an einer Liebhaberin, manche von der Vergewaltigung einer Minderjährigen; darüber hinaus soll Paganini in einem Friedhof konzertiert haben, was ihm später verboten wurde. Nach seinem Tod in Nizza soll dort aufgrund des Vergewaltigungsskandals seine kirchliche Bestattung nicht erlaubt gewesen sein.Footnote 30 Die Assoziation mit dem Teufel lässt sich u. a. einer Anekdote der Zeit entnehmen, von der Paganini selbst in der Revue Musicale berichtet: Ein Zuschauer soll bei einer Aufführung den Teufel gesehen haben, der seinen Bogen leitete.Footnote 31 Dies lässt zugleich an die Anekdote über Tartinis Sonate Le trille du diable, da der Teufel dem Geiger im Traum die Sonate diktiert haben soll,Footnote 32 und an Shakespeare denken: Hier diktiert der Teufel keine Sonate, leitet aber selbst Paganinis Bogen. Dies alles sind Adaptionen ein und desselben Mythos, der speziell den Bogen als Teufelswaffe ansieht. Schenkt man dem Nachnamen der Geigerfigur von Doktor Faustus Aufmerksamkeit, so wird man feststellen, dass dieser aus zwei Wörtern besteht: Das erste Wort, ,Schwerdt‘, bezeichnet eine Waffe, die optisch nicht zuletzt auch aufgrund der Präsenz eines Handgriffs einem Bogen ähnelt. Das zweite Wort, ,Feger‘, kann auf einen – so im Duden – „freche[n] Bursche[n]“Footnote 33 bzw. auf einen – so im Schweizerischen Idiotikon – „tüchtige[n] Kämpfer“Footnote 34 bzw. „starke[n] Mann“Footnote 35 hinweisen, was Schwerdtfeger zweifelsohne ist. Zeitblom beschreibt ihn als „eifrige[n] Salonbesucher, der jeden freien Abend in mindestens einer, meistens aber zwei bis drei Gesellschaften verbrachte“ (DF: 290) und sich „dem Flirt mit dem schönen Geschlecht, jungen Mädchen sowohl wie reiferen Frauen, selig hingegeben“ (ebd.) hatte. Nicht nur, Schwerdtfeger macht auch Leverkühn den Hof und ist vergleichbar zur Darstellung Paganinis in diversen Texten sowohl bei Frauen als auch bei Männern beliebt.Footnote 36 Was Schwerdtfegers Skandalgeschichten angeht, so seien hier nochmals – um nur einige Beispiele zu nennen – die ehebrecherische Liaison mit Ines Institoris und die homosexuelle Beziehung zu Leverkühn erwähnt. Wichtige Modifikation des Mythos stellt die Tatsache dar, dass Schwerdtfeger selbst ermordet wird, was sich als umgekehrte Version des Paganini-Mythos lesen lässt. Die Verbindung von Geige und Tod ist aber somit gegeben; nicht zufällig erwähnt Zeitblom, dass Schwerdtfeger in der Tram „seinen Geigenkasten aufgestellt zwischen den Knien“ (DF: 649) sitzt.

Erstaunlicherweise wird in Anekdoten und sonstigen Texten zu Paganini eher als das Spielen das Aussehen des Geigers detailliert beschrieben, weswegen Cersowsky von einem „Vorrang des Optischen“Footnote 37 spricht.Footnote 38 Zeitbloms Darstellung lässt sich zwar in dieser Hinsicht als ausgewogener werten, da auch sein Spielen und Pfeifen ausführlich geschildert werden. Er verzichtet jedoch auch nicht darauf, seine Leser*innenschaft wiederholt über die Kleidung des Geigers zu informieren: So erscheint Schwerdtfeger in jenen Münchner Abendkreisen „als Bauernbursch gekleidet oder in der Tracht des florentinischen 15. Jahrhunderts, die seinen hübschen Beinen zustatten kam und ihn Botticellis Jünglingsportrait mit der roten Mütze nicht unähnlich machte“ (DF: 296).Footnote 39

Hinsichtlich eines Vergleichs der Umstände des Todes der beiden Geiger sei Folgendes erwähnt: Paganini stirbt in Nizza und soll nach seinem letzten Konzert in München mit Lorbeer gekrönt worden sein;Footnote 40 Schwerdtfeger will ebenfalls nach seinem letzten Konzert in München nach Frankreich, und zwar nach Paris umziehen, wird jedoch kurz nach dem Konzert von Ines Institoris ermordet.

Der bisher geschilderte Vergleich zwischen Schwerdtfeger und Paganini verfolgt keine hermeneutisch-positivistischen Zwecke, sondern nimmt auf den durch Texte und Bilder verschiedener Art verbreiteten Paganini-Mythos Bezug, der als Subkategorie des Mythos des dämonischen Geigers gilt, der selbst der Assoziation von Geige und Teufel entspringt. Roland Barthes zufolge kann „alles Mythos werden, was in einen Diskurs eingeht […], denn das Universum ist unendlich suggestiv“.Footnote 41 Gleichzeitig gebe es aber keine ewigen Mythen, denn die Geschichte allein „bestimmt über Leben und Tod der mythischen Sprache“.Footnote 42 Der Mythos umfasse außerdem „zwei semiologische Systeme, von denen das eine gegenüber dem anderen ausschert“:Footnote 43 eine ,Objektsprache‘, „deren sich der Mythos bemächtigt, um sein eigenes System zu konstruieren“Footnote 44 und eine ,Metasprache‘, „in der man von der ersten spricht“.Footnote 45 Grundlegendes Merkmal des mythischen Begriffs besteht für Barthes darin, „angepaßt zu sein“:Footnote 46 „Ihm steht eine unbegrenzte Menge von Signifikanten zur Verfügung“.Footnote 47 Dies bestätigt die Beobachtung der vielen Signifikanten des Mythos des dämonischen Geigers (Tartini, Paganini, Schwerdtfeger): Auch hier bemächtigt sich die mythische Sprache durch „eine vorübergehende kleine Dieberei“Footnote 48 der Objektsprache, z. B. der Biographien von real existierten Geigern, um sie dann in nicht identischer Form beispielsweise durch Anekdoten, Gedichte und Romane zurückzugeben.Footnote 49 Nichtsdestotrotz verbirgt aber der Mythos, wie bereits antizipiert, nichts und lässt etwa in Bezug auf Doktor Faustus Anekdoten über Tartini, Strunck, Paganini sowie auch ihre Biographien hinter Zeitbloms Darstellung der Figur Schwerdtfeger erscheinen; zu Recht ist Christine Lubkoll der Auffassung, dass die Thematisierung von Musiker*innen in der Literatur „als Projektionsfläche“Footnote 50 dienen und „zum Mythos narrativiert“Footnote 51 werden könne. Dass der Mythos des dämonischen Geigers immer noch aktuell ist, bestätigen etwa journalistische Darstellungen von heutigen Geigenvirtuos*innen, die von Teufelsgeigern reden und deren Aussehen ins Zentrum rücken.Footnote 52

2 Vom Roman zur Musik

Der vorliegende Abschnitt widmet sich dem letzten Satz von Henzes Violinkonzert, der sich zugleich als partielle intermediale Transposition des fiktiven Konzerts und als Darstellung mit musikalischen Mitteln einer Romanfigur und der mit ihr verbundenen Kapitel begreifen lässt. Auch Henzes Violinkonzert setzt sich mit dem Mythos des dämonischen Geigers auseinander.

2.1 Möglichkeiten der Verstärkung einer literarischen Vorlage: Henzes Rudi S.

Der dritte Satz des im vorigen Kapitel bereits betrachteten Violinkonzerts von H. W. Henze ist dem Geiger Rudolf Schwerdtfeger gewidmet. Die erste Frage, die spontan in Bezug auf den Titel gestellt werden könnte, ist: Warum verwendet Henze den abgekürzten Namen als Titel des Satzes? Timo Sorg behauptet, die Identität Schwerdtfegers werde auf diese Weise geschützt, „wie etwa in einem Zeitungsbericht“.Footnote 53 Die Musik behält tatsächlich die Spannung sowie den Krimi-Charakter der Schwerdtfeger-Kapitel von Doktor Faustus bei. „Ein anderer Grund“,Footnote 54 fügt der Musikwissenschaftler hinzu, „könnte im vertrauten Verhältnis zwischen Rudi und Leverkühn liegen“.Footnote 55 Die Komposition spricht aus diesem Grund direkt im Titel Leverkühns enges Verhältnis zu Schwerdtfeger an, darauf weist auch die anfängliche Angabe auf den Noten der Violine solo – „canto dolcissimo“ (VK: 45, T. 2), „sehr süßer Gesang“ – hin.Footnote 56 Diese Angabe verdeutlicht zudem, dass sich hier die Instrumentalkomposition dem Gesang annähern möchte.

Die zweite Frage, die sich die Leser*innen von Doktor Faustus stellen könnten, hat mit der Reihenfolge der Konzertsätze zu tun: Der zweite Satz ist Echo gewidmet, aber sein Ankommen in Pfeiffering findet nach dem Tod des Geigers statt. Schmierer begründet diese Entscheidung so: „Er [der dritte Satz] ist jedoch als nochmals übersteigerter Schicksalsschlag in doppeltem Sinne auskomponiert und steht deshalb am Schluss“.Footnote 57

In Bezug auf die Vorlage folgt daher die intermediale Transposition einer anderen „Anordnung der Ereignisse oder zeitlichen Segmente“.Footnote 58 Henzes dritter Satz stellt nicht nur einen Versuch dar, im Medium der instrumentalen Musik die Figur Schwerdtfegers zu charakterisieren, sondern lässt sich auch als Transposition des Violinkonzerts begreifen und hätte wohl auch dem zweiten Teil der vorliegenden Studie, der sich mit einigen fiktiven Kompositionen Leverkühns befasst, zugeordnet werden können. Zeitbloms Darstellung des Musikstils des Werkes scheint mit dem Gesamtstil von Henzes Kompositionen, den der Autor als musica impura bezeichnet,Footnote 59 gut vereinbar zu sein: Die Erzählinstanz beschreibt Leverkühns Komposition als eine, die „durch eine gewisse verbindliche virtuos-konzertante Willfährigkeit der musikalischen Haltung ein wenig aus dem Rahmen von Leverkühns unerbittlich radikalem und zugeständnislosem Gesamtwerk“ (DF: 592 f.) fällt. Leverkühn selbst erkennt eine gewisse, in seinem Schaffen selten vorhandene „Menschlichkeit“ in seinem Violinkonzert, das er einer Person gewidmet habe, bei der er „zum erstenmal in [s]einem Leben menschliche Wärme fand“ (DF: 633). Diese durch das Violinkonzert vermittelte „Menschlichkeit“ spricht Henzes Satz im paratextuellen Hinweis des Titels sofort an, der zudem darauf aufmerksam macht, dass Schwerdtfeger Leverkühn „zum Du bekehrte“ (ebd.). Im Medium der instrumentalen Musik, wo eine gewisse Vagheit des Erzählens herrscht, lässt sich die Frage, wie die Art der Beziehung zwischen Leverkühn und Schwerdtfeger dargestellt wird, anhand viel weniger Indizien als in einem Erzähltext beantworten. Der Titel und die Angabe „canto dolcissimo“, welche die intime Beziehung zwischen Leverkühn und Schwerdtfeger in den Mittelpunkt rücken, deuten auf ein mehr als professionelles Verhältnis hin, das also weit über die Zusammenarbeit für die Entstehung des Violinkonzerts geht.Footnote 60

Der Satz (teil-)reproduziert zwei Mikroformen: Zum einen Schwerdtfegers Darstellung im Roman durch Zeitblom, sprich: die Figurencharakterisierung durch telling und showing der Erzählinstanz, und zum anderen seine Beschreibung des fiktiven Violinkonzerts, sprich: das dieses Musikwerk betreffende intermediale telling. Zum einen bietet der Satz der Violine solo „große Gelegenheit zum ,Flirt‘“ (DF: 594) wie das Konzert Leverkühns:Footnote 61 Es gibt viele virtuose Passagen, die wie ein „canto dolcissimo“ (VK: 45), „con grazia“ (VK: 49 und 51), also „anmutig“, oder „con bravura“ (VK: 57), also „mit Bravur“ zu spielen sind sowie eine Kadenz, die etwa zwei Minuten dauert und daher einen wichtigen Teil der Komposition darstellt.Footnote 62 Nicht nur an dem Virtuosentum à la Paganini, sondern auch an der „an der Grenze des Spottes gehaltenen Süße und Zärtlichkeit“ (DF: 593) von Leverkühns Werk scheint sich Henzes Satz zu orientieren. Die Kadenz, der Inbegriff des Virtuosentums, beinhaltet auch melancholische Töne. Andere Passagen des Satzes wirken zugleich spielerisch und bedrohlich, lassen das dramatische Schicksal Schwerdtfegers erahnen. Henzes dritter Satz versucht, Zeitbloms Erzählweise zu simulieren, die immer wieder den Tod des Geigers antizipiert.Footnote 63 So Schmierer:Footnote 64

Die Tragik kündigt sich [...] bereits nach den ersten Takten an: Der ,Canto dolcissimo‘ auf sattem Streicherklang wird durch pochende, hintergründige Holzbläserakkorde gestört, die kantable Linie zerfällt, die Schläge der großen Trommel und der Blechbläserklang kündigten den schicksalhaften Schlag an, der am Schluss des Satzes durch knallende Peitschenklänge unterstrichen wird – die Schüsse aus dem Revolver wiedergebend.

Die Musik wird tatsächlich immer erregter und der Peitschenklang bringt die Sologeige zum Schweigen, was innerhalb der Handlungslogik der instrumentalen Komposition zu bedeuten scheint, dass Schwerdtfeger an dieser Stelle seine Seele aushaucht (Abbildung 9.1) :

Abbildung 9.1
figure 1

Der Tod Rudis (VK: 62) (Das Zeichen (…) bedeutet, dass nur eine Auswahl der Orchesterbesetzung wiedergegeben wird.)

Die Violine solo ist nach den kurzen, geseufzten Noten im Sforzato, die man in der Abbildung sieht, nicht mehr zu hören, jedoch zwei Mal noch die Peitsche, die für die wiederholten Schüsse durch Ines steht.Footnote 65 Und dann das Tamtam, das laut Sorg „idiofone[] Klangsymbol des Todes“.Footnote 66

Der Satz schließt mit einer kurzen, akzentuierten Note im ffff des ganzen Orchesters (Abbildung 9.2) :

Abbildung 9.2
figure 2

Das Ende des Satzes (VK: 63 f.)

Die instrumentale Komposition ist in der Lage sowohl die Spannung als auch die inhaltlichen Aspekte der Schwerdtfeger-Kapitel partiell zu reproduzieren, indem sie etwa Erzählstrategien und sonstige Mittel durch bestimmte Musikinstrumente, Rhythmen und Dynamiken ersetzt, die gewisse Klangeffekte erzielen. Diese Elemente rufen zusammen mit den paratextuellen Angaben die Episode in Erinnerung; die Spannung bleibt bis zum letzten, im vierfachen Forte zu spielenden Ton aufrecht erhalten, nur der Applaus des Publikums kann hier die Illusion durchbrechen.

Was die Transposition von Leverkühns Violinkonzert angeht, lässt sich sagen, dass Henzes dritter Satz zum großen Teil einen eigenen Weg geht: Er versucht nicht, die dreiteilige Struktur des fiktiven Werkes zu reproduzieren, das sich aus einem „Andante amoroso“ (DF: 593), einem virtuosen, „ein Zitat aus Tartinis Teufelstriller-Sonate“ (DF: 594) enthaltenden Scherzo und einem dritten Satz mit Variationen zusammensetzt, obwohl sich vereinzelte Eigenschaften wiederfinden lassen. Anders als die anderen Sätzen gibt es hier nur ein Andante (abgesehen selbstverständlich von der frei zu spielenden Kadenz).Footnote 67 Dementsprechend ist die Einordnung von Henzes Satz in dieses Kapitel durchaus angemessen, weil das, was er vor allem (teil-)reproduziert, inhaltliche Substrate des Romans sind, z. B. Eigenschaften von Schwerdtfeger oder seinem Geigenspiel, seine Aufführung von Leverkühns Violinkonzert, seine Beziehung zu ihm sowie seine Ermordung in München. Das ausgeprägte Virtuosentum des Satzes ermöglicht ebenfalls eine Zuordnung Schwerdtfegers zum Paganini-Mythos, nicht zuletzt, weil der Musikstil auch auf den von Paganinis Violinkonzerten verweist.

Die Betrachtung des dritten Satzes von Henzes Violinkonzert macht außerdem den Nutzen einer Studie, die auch mit werkexterner Intermedialität arbeitet, sichtbar: Eine in der Forschungsliteratur sonst relativ vernachlässigte Romanfigur gewinnt in der Transposition an Bedeutung und bietet den Anlass zu neuen Interpretationen eines bereits weit rezipierten literarischen Werkes. Dass Henzes Konzert auf diesen letzten Satz abzielt, mag sowohl die Position des Schwerdtfeger gewidmeten Satzes als auch die Form des Werkes und die Wahl des solistischen Instruments bestätigen, das eben ein Violinkonzert wie das für Schwerdtfeger von Leverkühn geschriebene ist. Um im Forschungsparadigma der Intermedialität einen Schritt weiter zu gehen und zugleich ein Fazit aus dieser Analyse zu ziehen, lässt sich sagen, dass der intermediale Effekt der Verstärkung einer skalaren Auffassung bedarf. Geht man dementsprechend von Graden der Verstärkung von Mikroformen einer literarischen Vorlage durch Medienwechsel bzw. Medientransformation aus, sprich: untersucht man, wie schwach oder wie stark etwa bestimmte Passagen des Romans im sekundären intermedialen Produkt hervorgehoben werden können, so ist dieser dritte Satz aus Henzes Konzert einem hohen Grad zuzuordnen.

3 Fazit

Dieses Kapitel hat im kleinen Rahmen noch einmal gezeigt, was dieser gesamte dritte Teil zu den Figuren aus dem Roman herausstellen sollte: Der Fokus der Untersuchung ist leicht unterschiedlich, wenn man sich auf den Transfer von Romanfiguren in das Medium der Musik konzentriert. Anhand des Satzes von Henze konnte über viele Untersuchungsobjekte dieser Studie reflektiert werden, da der hier behandelte dritte Satz sowohl die Schwerdtfeger-Kapitel und folglich seine Charakterisierung im Roman als auch Leverkühns Violinkonzert transferiert. Im ersten Fall handelt es sich um die Evokation, Simulation oder (Teil-)reproduktion von handlungsbezogenen Passagen oder Figurencharakteristika, die in einem Erzähltext vorwiegend durch telling und/oder showing vonseiten der Erzählinstanz zum Tragen kommen. Im zweiten Fall wird im neuen Medium versucht, das intermediale telling des Romans, also die Beschreibung von Faktur und Wirkung fiktiver Musikstücke, umzusetzen. Die Gegenstände der Untersuchung und folglich die erzähltheoretischen sowie intermedialen Kategorien, mit denen sich die Analyse auseinandersetzt, sind nicht komplett miteinander vergleichbar.

Ebenfalls konnte dieses Kapitel zeigen, dass der Effekt der Verstärkung, den Gess einführt,Footnote 68 analytisch vertieft und erweitert werden kann, indem man ihn qualitativ ausdifferenziert und dementsprechend skalar auffasst. Henze beispielsweise rückt eine Figur aus dem Roman, auf die sonst wenige Beiträge zu Doktor Faustus eingehen, ins Zentrum und erreicht somit einen hohen Verstärkungsgrad. Daran wird noch einmal deutlich, was bereits in der Einleitung dieser Studie angesprochen wurde: Die Auseinandersetzung mit den kompositorischen Reaktionen auf Thomas Manns Roman bewirkt eine neue Lektüre des Werkes, in diesem Fall z. B. wird einer Figur und ihrer Mythisierung mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Im nächsten Kapitel soll sich die Untersuchung auf eine*n Akteur*in im Musikbereich, nämlich den Impresario bzw. die Impresaria, konzentrieren, was durch die Analyse des jüdischen Musikagenten Saul Fitelberg möglich ist.