Die Viola d’amore ist, so soll in diesem Kapitel aufgezeigt werden, viel mehr als eine bloße intermediale Systemerwähnung. Das Streichinstrument zeichnet sich durch die Präsenz von Spiel- und Resonanzsaiten aus, die beim Vorspielen mitschwingen. Klanglich ähnelt es sowohl einer Bratsche als auch einer Geige: Demnach verwundert es nicht, dass die deutsche Bezeichnung, die jedoch selten verwendet wird ,,Liebesgeige“ lautet. Der erste Abschnitt des vorliegenden Kapitels informiert über das Instrument und dessen Relevanz für die Familie Mann. Im zweiten Abschnitt steht Zeitbloms Unzuverlässigkeit, die sich mit der Technik der Scordatura beim Spielen der Liebesgeige vergleichen lässt, im Vordergrund. Zeitblom manipuliert Leverkühns Biographie: Anhand verschiedener Modelle und Textindizien wird im Folgenden seine Unzuverlässigkeit auf den Prüfstand und anschließend unter Beweis gestellt. Der dritte Abschnitt befasst sich mit zwei Stücken aus Fines Four pieces from Doktor Faustus (2010) für Viola d’amore und Klavier. Auch dort wird – etwa mittels ausgeschriebener Verzierungen in der Stimme der Liebesgeige – die Manipulation von histoire und discours vonseiten der Erzählinstanz im Medium der Instrumentalmusik betont. Auf Hagens Werk To Zeitblom (2011) für Hardangerfiedel und Orchester konzentriert sich der vierte Abschnitt des vorliegenden Kapitels. Die Komposition profiliert sich als mehrdimensionale Reflexion über einige Thematiken, die auch in Doktor Faustus vorhanden sind, etwa nationale Identität, Erinnerung und subjektives, unzuverlässiges Erzählen. Darüber hinaus sieht die Partitur Autorinszenierung vor, was zu medial und konzeptuell bedingten Ähnlichkeiten und Differenzen zur Autorinszenierung in Thomas Manns Entstehung des „Doktor Faustus“ führt. Der letzte Abschnitt widmet sich der Zeitblom-Figur in Manzonis Oper: Auch dort kann er mit einer Erzählinstanz, jedoch eher mit einer extern fokalisierten, verglichen werden. Lediglich hier lässt sich die Frage aufwerfen, ob Zeitbloms Unzuverlässigkeit durch das Medium der Oper und Manzonis spezifische Adaption überwunden wird. Das vorliegende Kapitel konzentriert sich den vorigen Darlegungen entsprechend vor allem auf die Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz, die durch den Rekurs auf die Viola d’amore (oder auf die Hardangerfiedel bei Lars Petter Hagen) im Roman und in den Kompositionen verstärkt wird.

1 Die (unzuverlässige) Erzählinstanz von Doktor Faustus

Viele Beiträge über Thomas Manns Doktor Faustus haben die Figur Zeitblom ausführlich untersucht, nur wenige haben hingegen ihr Augenmerk auf das Instrument gerichtet, das er spielt.Footnote 1 Der Aufsatz von Ford B. Parkes-Perrett stellt zwar einen ersten Versuch in dieser Richtung dar, lässt aber Raum für weitere Vertiefungen des Themas.Footnote 2 Die Funktion der Viola d’amore im Text lässt sich nicht nur auf das Liebesmotiv beschränken, sondern übt, intermedial betrachtet, einen verstärkenden Effekt von narrativen Strategien aus.

Die Wahl der Viola d’amore für die Erzählinstanz Zeitblom ist kein zufälliges Textelement, was sich sowohl anhand biographischer Daten über den Autor und seinen Sohn als auch durch textuelle Indizien bestätigen lässt.Footnote 3 Bezüglich dieses letzten Aspekts gilt es auf einer Abstraktionsebene, die mediale Differenzen beachtet, Textpassagen und narratologische Strategien mit den Eigenschaften der Viola d’amore und des Viola d’amore-Spielens zu vergleichen. Ein erstes Beispiel bietet die folgende Präsentation des Erzählers auf den ersten Seiten des Romans mittels Anwendung vieler loci a persona:

Ich bin eine durchaus gemäßigte und, ich darf wohl sagen, gesunde, human temperierte, auf das Harmonische und Vernünftige gerichtete Natur, ein Gelehrter und conjuratus des „Lateinischen Heeres“, nicht ohne Beziehung zu den Schönen Künsten (ich spiele die Viola d’amore), aber ein Musensohn im akademischen Sinne des Wortes, welcher sich gern als Nachfahre der deutschen Humanisten aus der Zeit der „Briefe der Dunkelmänner“, eines Reuchlin, Crotus von Dornheim, Mutianus und Eoban Hesse betrachtet. (DF: 12; Herv. A. O.)

Zeitblom ordnet hier seine Kenntnisse hauptsächlich dem Trivium der Sieben Freien Künste zu. Jedoch ist ihm die „dämonische Sphäre“ (Ent: 82) der Musik, also eine Disziplin des Quadriviums, nicht fremd. Gleich am Anfang des Romans erweist sich seine Rhetorik als nicht frei von Widersprüchen, denn trotz seiner „auf das Harmonische und Vernünftige gerichtete[n] Natur“ (DF: 12) beschäftigt er sich gerne mit Musik, der er zugleich durch den ganzen Roman hindurch Dämonisches zuschreibt. Außerdem fühlt er sofort das Bedürfnis, in Klammern zu spezifizieren, welches Instrument er spielt. Ob er wirklich behaupten darf, eine „gesunde, human temperierteFootnote 4 […] Natur“ (DF: 12) zu sein, gewinnt im Laufe der Narration an Fragwürdigkeit, da er der Leser*innenschaft eine verzerrte, kaum wertungsfreie Darstellung der Ereignisse liefert. Die in diesem Kapitel konstatierte Unzuverlässigkeit der Erzählinstanz führt zur These, dass ihre Berichte jederzeit in Frage gestellt werden dürfen und können.Footnote 5

Durch das gespielte Instrument offenbart sich das „Geheimnis der Identität“ (DF: 549) Zeitbloms, der „alles andere als Serenus“Footnote 6 ist. Im Folgenden soll zunächst einmal die Viola d’amore vorgestellt werden, da es sich um ein Instrument handelt, das man heutzutage sehr selten in Konzertsälen hört. Das Vorwissen über Eigenschaften der Liebesgeige ist zudem fundamentale Voraussetzung für den Medienvergleich, der im zweiten Teil des vorliegenden Abschnitts durchgeführt wird und narrative Strategien mit Aufführungspraktiken vergleicht.

1.1 Die Viola d’amore und ihre Bedeutung für die Familie Mann

Dieser Unterabschnitt verfolgt nicht das Ziel eines hermeneutischen Biographismus, sondern das einer u. a. musikhistorischen Kontextualisierung des Instruments samt Erwähnung biographischer Details über die Familie Mann. Diese wurden in der Forschungsliteratur kaum berücksichtigt und dienen als Hintergrundinformationen für die darauf folgende Analyse, die sonst hauptsächlich auf textuellen Indizien basiert.

Die ersten spontanen Fragen, welche durch die Erwähnung des Instruments im Roman aufgeworfen werden, könnten die folgenden sein: Warum die Viola d’amore und nicht etwa die Violine oder die Flöte? Wieso kennt Thomas Mann das Repertoire der Liebesgeige?Footnote 7 In der Familie gab es einen Spieler der Viola d’amore, und zwar Michael Mann, den jüngsten Sohn von Katia und Thomas. Das Instrument Michael Manns, eine im Jahr 1772 von Eberle gebaute Liebesgeige, besitzt jetzt Rachel Scott, ebenfalls Spielerin des Instruments. Sie berichtet, sie habe das Instrument von einem Kollegen Michael Manns gekauft, der auch in der Pittsburgh Symphony spielte und der im Instrumentenkasten zusammen mit anderen Partituren auch Zeitbloms Repertoire gefunden habe, etwa Milandre, Ariosti und Haydn.Footnote 8

Die Hypothese, Thomas Mann wäre in der Darstellung des Instruments und seines Repertoires im Roman vom Sohn unterstützt worden, wird auch in den Tagebüchern bestätigt: „Geschrieben an […] BibiFootnote 9 wegen Viola d’Amore-Literatur“.Footnote 10 Michael fungiert während der gesamten Zeit, in der sein Vater den Roman schreibt, als Berater: „Bibi angetan von der Aktualität des Musikalischen“,Footnote 11 schreibt beispielsweise der Autor nach einer Vorlesung von Doktor Faustus. Auch ein Blick in die Literatur für die Viola d’amore des Sohnes bestätigt sein Interesse für zeitgenössische Kompositionen, worin er sich vom Vater zu unterscheiden scheint: In der Liste Scotts, die sich auf das im Geigenkasten gefundene Repertoire bezieht, kommen auch Hindemith und Casadesus vor.Footnote 12

Die Viola d’amore wird in einer der ersten Untersuchungen des 20. Jahrhunderts zum Instrument als eine „Abart der Alt-Viola da braccio mit 5 bis 7 Spielsaiten und ebenso vielen Resonanzsaiten“Footnote 13 beschrieben. Zeitbloms Viola hat sieben Saiten und stammt aus der Parochialstraße, also aus dem Instrumenten-Magazin Kaisersascherns.Footnote 14 Dieses Instrument – wie die italienische und die deutsche Bezeichnung ausdrücken – trägt Züge sowohl der Geige als auch der Bratsche. Klanglich betrachtet ist aber laut Koehler die Viola d’Amore eher mit der Bratsche zu vergleichen.Footnote 15 Außerdem meinte Leopold Mozart, der Klang der Liebesgeige eigne sich für Abendkonzerte,Footnote 16 und nicht zufällig spielt Zeitblom in Münchener Abendkreisen gern vor:

Bei Roddes sowohl wie im Schlaginhaufen’schen Säulen-Salon hörte man gern mein Viola d’amore-Spiel, das allerdings der gesellschaftliche Beitrag war, den ich, der schlichte und in der Konversation niemals sehr vive Gelehrte und Schulmann, vornehmlich zu bieten hatte. (DF: 401)Footnote 17

Leopold Mozart war auch überzeugt, die Viola d’amore sei leider oft verstimmt.Footnote 18 Harry Danks, Spezialist im Bereich der Viola d’amore, weist diese Behauptung jedoch zurück: Es sei möglich, obwohl äußerst kompliziert, das Instrument zu stimmen, „and often a suggested tuning or scordatura is added by the composer“.Footnote 19

Eine wichtige Rolle spielen die Resonanzsaiten, die zum typischen Klang beitragen:Footnote 20

These strings are not touched by the bow but vibrate sympathetically when the upper strings are played and give a resonance to the small but lovely and distinctive tone-quality that is characteristic of the viola d’amore.

Zu den berühmtesten Meistern der Viola d’amore, etwa Gagliano, Stainer und Tielke, zählt auch Eberle. Michael Mann, der eine von Eberle gebaute Liebesgeige besaß, spielte daher ein sehr bedeutendes Instrument. Anfang des 20. Jahrhunderts erfuhr die Liebesgeige ein echtes Revival – eine Folge der vielen Untersuchungen dieser Zeit im Bereich der Musikinstrumente; die zahlreichen Studien von Curt SachsFootnote 21 sowie die erwähnte Doktorarbeit Koehlers sind Beispiele dafür. Dieses Revival spiegelte sich in den Werken vieler Komponist*innen wider, die entweder ein Stück für das Instrument komponierten (z. B. Paul Hindemith) oder es in orchestrale Werke einfügten (z. B. Richard Strauss).Footnote 22 Auch die Besetzung von Pfitzners Oper Palestrina enthält die Viola d’amore: All diese biographischen und historischen Zusammenhänge scheinen in den Roman Doktor Faustus eingeflossen zu sein.Footnote 23

1.2 Zeitbloms Scordatura der Narration

Das Instrument, das Zeitblom spielt, verstärkt diverse Aspekte des discours von Thomas Manns Doktor Faustus. Die Verstärkung des Liebesmotivs lässt sich beispielsweise nicht übersehen. Dass Zeitblom Leverkühn liebt, sollte kein Geheimnis sein: „[I]ch habe ihn geliebt“ (DF: 15), stellt er im ersten Kapitel des Romans fest. „As the biography of Leverkuehn is a labor of loveFootnote 24 by Zeitblom, is it not appropriate that he plays the instrument ,of love‘?“,Footnote 25 fragt sich Troutman. Bezüglich homoerotischer Aspekte, welche die Figur Zeitblom betreffen, liegen unterschiedliche Interpretationen vor. Parkes-Perrett findet viele Indizien für Zeitbloms Liebe zu Leverkühn im Roman und interpretiert sogar seine Auffassung der Musik als eine erotische: Wenn er Leverkühn beim Üben entdeckt, halte der Erzähler dies für eine heimliche sexuelle Aktivität.Footnote 26 Hingegen meint Hans Hilgers, die Homoerotik werde bei der Charakterisierung Zeitbloms von Thomas Mann ausgespart, nicht aber bei der Leverkühns.Footnote 27 Allein das italienische mit dem Musikinstrument verbundene Substantiv ,amore‘ scheint diese These in Frage zu stellen, denn (nicht nur) im italienischen Sprachgebrauch lässt es sich kaum mit ,Freundschaft‘ verwechseln. Eine latente Homoerotik ist fast im ganzen literarischen Schaffen Thomas Manns zu bemerken; u. a. auch in der Novelle Der Tod in Venedig, deren Einfluss auf den Faustus auch vom Autor selbst anerkannt wird.Footnote 28 Darüber hinaus bedarf der Erzähler ständig der Nähe zu seinem geliebten FreundFootnote 29 und oft gewinnt man sogar den Eindruck, dass er Leverkühn überwacht. So rechtfertigt er beispielsweise seine Entscheidung, in Halle mit ihm zu studieren:

[I]ch leugne natürlich nicht, daß der persönliche Grund seiner Anwesenheit stark, ja entscheidend mitgespielt hatte bei meinem Entschluß. [...] Mein eigener Wunsch, ihm nahe zu sein, zu sehen, wie er es trieb, welche Fortschritte er machte und wie seine Gaben sich in der Luft akademischer Freiheit entfalteten; dieser Wunsch, in täglichem Austausch mit ihm zu leben, ihn zu überwachen, von nahebei ein Auge auf ihn zu haben – hätte wahrscheinlich von sich aus genügt, mich zu ihm zu führen. (DF: 129f.; Herv. A. O.)Footnote 30

Die ,explizite Systemerwähnung‘ „ich spiele die Viola d’amore“ (DF: 12) in der Selbstvorstellung des overt narratorFootnote 31 auf den ersten Seiten des Romans verstärkt als „Intermedialitätssignal“Footnote 32 auch die diegetischen Ebenen des Romans. Einerseits ist im Roman die Ebene der extradiegetischen Narration zu finden, die vergleichbar zum Resonieren einer Resonanzsaite der Viola d’amore vor allem eine kommentierende und ergänzende Funktion erfüllt, in der Zeitblom als extradiegetischer Erzähler die Biographie seines Freundes niederschreibt und seine Leser*innenschaft über den Verlauf des Zweiten Weltkriegs informiert. Andererseits besteht Thomas Manns Roman auch aus der intradiegetischen Ebene von Leverkühns Leben, die chronologisch vor der extradiegetischen zu situieren ist und in der Zeitblom eine Figur der Diegese darstellt: Dieser Ebene lässt sich aufgrund der Handlungsgewichtung keine rein kommentierende Funktion zuschreiben, weswegen sie eher mit dem Streichen einer Spielsaite der Viola d’amore in Verbindung zu bringen ist. Der Rekurs auf die Liebesgeige verschärft gleichzeitig auch den Blick auf mediale Differenzen, welche die Kategorie der Zeit betreffen. Die Gleichzeitigkeit des Streichens der Spiel- und Resonanzsaiten in der musikalischen Aufführung ist in der Situation des Erzählens – bezüglich der extra- und intradiegetischen Ebene – nicht gegeben.Footnote 33 Der Rückgriff auf die Viola d’amore verstärkt aber auch die Homodiegese selbst, also Zeitbloms doppelte Funktion als Erzähler und Figur auf der intradiegetischen Ebene von Doktor Faustus. In diesem Fall ist ein höherer Grad an Gleichzeitigkeit auch im Erzähltext möglich, da die homodiegetische Erzählinstanz wiedergibt und erlebt.

Der intermediale Bezug auf die Viola d’amore verstärkt aufgrund der möglichen Anwendung der Scordatura vor dem Spielen eine weitere narrative Strategie des Romans, nämlich die des unzuverlässigen Erzählens. Wayne C. Booth, Diskursbegründer unzuverlässigen Erzählens, verwendet die Termini „mere reflector“Footnote 34 und „flawed reflector“,Footnote 35 um sich auf zuverlässige und unzuverlässige Erzähler*innen zu beziehen. Diese optisch-physikalische Metaphorik wird in Manns „Musiker-Roman“ (Ent: 25) durch eine musikalisch-akustische ersetzt, die aber immerhin auf unzuverlässige Narration verweist. An den Details seiner Biographie zu zweifeln, scheint aus einigen Gründen durchaus angemessen: Bereits die starke Liebe Zeitbloms zu Leverkühn und die daraus resultierende Eifersucht auf weitere Bewerber*innen stellt die Objektivität seiner Berichte in Frage. Der Erzähler selbst gibt zu: „Ich vermute, daß es mir nicht gelungen ist, dem Leser eine gewisse Eifersucht auf das Verhältnis des Schlesiers [Schildknapp] zu Adrian zu verbergen“ (DF: 321).Footnote 36 Zeitblom selbst zweifelt an seinen Fähigkeiten als Biographen: „[A] reflector whose own jealousy affects the action is no longer a mere reflector“,Footnote 37 konstatiert Booth.Footnote 38 Auch in Publikationen jüngeren Datums zum unzuverlässigen Erzählen, wie etwa in einem Aufsatz Vera Nünnings, ist zu lesen:Footnote 39

Since fictional homodiegetic unreliable narrators are often deeply emotional involved, obsessed or disturbed monologists, they can frequently be recognized by features like exclamations, ellipses, rhetorical questions, any number of repetitions and the tempo of their narration. In trying to convince readers of the truth of their story, they often appeal to the reader by direct address and explanation.

Alle drei Eigenschaften, die Vera Nünning in Bezug auf unzuverlässige, homodiegetische Erzähler*innen nennt, lassen sich auf Zeitblom übertragen. Aufgrund seiner Gefühle zu Leverkühn ist er beispielsweise stark emotional beteiligt. Zudem zeigt das auf S. 216 angeführte Zitat aus dem Roman über das Überwachungsbedürfnis des Erzählers, dass er von seinem Freund besessen ist. Nicht zuletzt haben die in diesem Kapitel genannten Textindizien ergeben, dass Zeitblom als gestörter Monologist anzusehen ist, der im Laufe der Narration auf alle von Vera Nünning aufgelisteten rhetorischen Mittel zurückgreift, nämlich Ausrufe, Ellipsen, rhetorische Fragen und Wiederholungen, und sich, wie im Zitat über Schildknapp, direkt an seine Leser*innenschaft wendet, um sein Erzählen zu rechtfertigen oder zusätzliche Erklärungen zu liefern.

Ein weiteres, relevantes Detail ist, dass Zeitbloms Liebe zu Leverkühn nicht erwidert wird:

[I]ch habe ihn geliebt – mit Entsetzen und Zärtlichkeit, mit Erbarmen und hingebender Bewunderung – und wenig dabei gefragt, ob er im mindesten mir das Gefühl zurückgäbe.

Das hat er nicht getan, o nein. (DF: 15)

Die Narration scheint daher nicht nur von Eifersucht, sondern auch von einem Rachebedürfnis des abgelehnten Erzählers diktiert zu sein.

Es stellt sich nun die Frage: Aus welchen Gründen schenkt man einer Erzählinstanz das eigene Vertrauen und einer anderen, wie Zeitblom, nicht? In Anlehnung an Studien jeweils von Möllering sowie von Schweer und Thies listet Vera Nünning einige Voraussetzungen auf, die erfüllt werden müssen, um einem Menschen zu vertrauen:Footnote 40

Reliability – ,engagement‘ (the expectation that speakers will act according to their words and manifest intentions)

Sincerity – the belief that someone is giving a truthful account of his or her beliefs, knowledge, feelings and motives

Competence – the belief in the ability of the speaker to do what he or she intends.

Diese Voraussetzung müssen laut Vera Nünning um folgende Aspekte ergänzt werden, wenn unzuverlässige Erzähler*innen definiert werden: Konsistenz, Expertise, Moral und Ethik.Footnote 41 Versucht man, diese Aspekte auf die Erzählinstanz Zeitblom zu übertragen, so scheint es schwer (wenn auch nicht unmöglich) ihn mit dem Etikett des zuverlässigen Erzählers zu versehen. Diesbezüglich sei im Folgenden auf die einzelnen Punkte aus Vera Nünnings Liste sowie auf Textindizien aus Manns Roman schrittweise eingegangen.

Leser*innen werden von Zeitblom schnell enttäuscht, wenn sie erwarten, dass er nach seinen Worten und manifesten Absichten handelt. Gleich in den ersten Kapiteln des Romans will er etwa seiner Leser*innenschaft von der dämonischen Natur der Musik überzeugen, kann aber selbst nicht auf sie verzichten. Zudem hilft sein Vater Leverkühns Vater, dem „Spekulierer und Sinnierer“ (DF: 31), indem er ihm „Stoffe[] aus seinem Laboratorium“ (DF: 25) für seine Studien besorgt. Darüber hinaus verurteilt er sehr streng Leverkühns Geschlechtsverkehr mit der Prostituierten Esmeralda, leugnet aber zugleich nicht, selber eine rein sexuelle Beziehung „zu einem Mädchen aus dem Volk“ (DF: 215) unterhalten zu haben. Was Ehrlichkeit, also „sincerity“ angeht, so kann man zudem auf das vorher erwähnte Zitat über Schildknapp zurückgreifen, in dem der Erzähler bedauert, kein ehrliches und objektives Bild der Ereignisse liefern zu können.Footnote 42

Der Aspekt der Kompetenz lässt sich angesichts der Affinität der beiden Konzepte zusammen mit dem der Expertise behandeln. Selbstverständlich ist Zeitblom durch seine Bereitschaft, Leverkühns Biographie zu erzählen, vor eine große Herausforderung gestellt. Nicht nur wird von ihm verlangt, über das Leben seines geliebten Freundes, der ihn nicht liebte, zu berichten, sondern auch als Amateur-Spieler komplexe Themen wie Dodekaphonie und Denaturierung des Klanges zu beherrschen. Zeitblom löst dieses Problem durch alles andere als wertungsfreie und objektive Schilderungen der Stücke Leverkühns und Stellungnahmen zu musikalischen Themen. So beschreibt er seine Auffassung des Glissandos, indem er zugleich die Grenzen seiner Musikrezeption signalisiert:

In ihr stehengeblieben, sozusagen als ein naturalistischer Atavismus, als ein barbarisches Rudiment aus vormusikalischen Tagen, ist der Gleitklang, das Glissando, – ein aus tief kulturellen Gründen mit größter Vorsicht zu behandelndes Mittel, dem ich immer eine anti-kulturelle, ja anti-humane Dämonie abzuhören geneigt war [...]. (DF: 543)

Der emotionale und akustische Effekt eines Glissandos hängt sowohl vom persönlichen Empfinden als auch von vielen kompositorischen und musikhistorischen Faktoren ab (Tonart, Stil, Epoche, usw.), sodass keine pauschale und allgemeine Definition seiner Wirkung möglich erscheint. Außerdem könnte man sich fragen, wo denn Zeitblom gelesen oder gehört habe, das Glissando sei „aus tief kulturellen Gründen mit größter Vorsicht“ zu behandeln. Aus kulturwissenschaftlicher Perspektive könnte nun die Frage aufkommen, welche Aspekte zu Zeitbloms Kulturauffassung gehören. Hier greift er zudem nochmals auf sein Lieblingsthema zurück, die Musik als etwas Dämonisches. Er präsentiert komplexe Sachverhalte so, „als sei jedermann mit ihm einer Meinung“,Footnote 43 vereinfacht anspruchsvolle musikalische Themen, um sie durch fragwürdige kulturelle und politische Kategorien zu erläutern.

Die im obigen Zitat benutzten Wörter, etwa „Barbarei“, „anti-human[]“ und „anti-kulturell[]“ bringen uns zur Analyse der Moral und Ethik des homodiegetischen Erzählers von Doktor Faustus. Auch in diesem Fall kommt der Analyse ein Rekurs auf die Viola d’amore zugute. Die Viola d’amore eignet sich für Zeitblom, weil sie mit Konzepten wie Tradition, kulturellem Erbe und historischer Aufführungspraxis in Verbindung gebracht werden kann. Wäre es möglich gewesen, sich den „Dr. phil. Serenus Zeitblom“ (DF: 16), der sich als „Nachfahre der deutschen Humanisten“ (DF: 12) betrachtet, mit einer Geige aus dem 20. Jahrhundert in den Händen vorzustellen? Wohl eher nicht. Auch die Barockvioline wäre zu populär und banal gewesen und hätte Zeitblom nicht ausreichend charakterisieren können. Unter diesem Gesichtspunkt ist Zeitblom nicht widersprüchlich, obwohl er zugleich der Musik etwas Dämonisches zuschreibt, selber jedoch das Bedürfnis empfindet, musizieren zu wollen.

Der Erzähler repräsentiert die Tradition bzw. er versucht, seiner Leser*innenschaft davon zu überzeugen:

Ich bin ein altmodischer Mensch, stehen geblieben bei gewissen, mir lieben romantischen Anschauungen, zu denen auch der pathetisierende Gegensatz von Künstlertum und Bürgerlichkeit gehört. (DF: 42)Footnote 44

Zeitblom könnte wohl für eine „Parodie des Stils und der Haltung des bürgerlichen Humanismus“Footnote 45 gehalten werden, wie es Ilse Metzler in ihrer Dissertation zum Ausdruck bringt. Petersen bezeichnet außerdem Zeitbloms Sprachstil als „betulich[]“,Footnote 46 indem er u. a. hervorhebt, dass der Erzähler noch den alten Dativ verwendet, z. B.: „seine[] Begegnung mit Marien“ (DF: 610).Footnote 47

Dieser Aspekt lässt sich auch aus einer anderen Perspektive betrachten. Wie im ersten Abschnitt dieses Kapitels erläutert, ist der Anfang des 20. Jahrhunderts von einem Revival alter Musikinstrumente geprägt. Schon im 19. Jahrhundert waren Kompositionen aus der Vergangenheit wiederentdeckt worden, das Interesse an der historischen Aufführungspraxis aber begann mit Zeitbloms Epoche. Er ist also nicht so altmodisch, wie er vielleicht erscheinen will. Er und Leverkühn stehen sinnbildlich für ihre Epoche, die auf einer Seite von Modernität und Experimentieren, auf der anderen von historischen Interessen und Tradition gekennzeichnet war.Footnote 48 Darf demnach der Spieler der Viola d’amore Leverkühns Musik wegen ihrer „blutlosen Intellektualität“ (DF: 542) kritisieren? Auch seine Liebesgeige ist kein Masseninstrument und wird von ihm selbst vor elitären Abendsalons bzw. Studentenkreisen gespielt.Footnote 49 Dieses Revival der Barockmusik und -instrumente könnte genauer betrachtet als eine Art ,konservative Revolution‘ im musikalischen Bereich angesehen werden und auch Leverkühns Apocalipsis cum figuris kombiniert „Rückschritt und Fortschritt, das Alte und Neue, Vergangenheit und Zukunft“ (DF: 540). Dieses musikalische Revival entspricht ebenfalls dem Bedürfnis nach neuen Anlässen für die instrumentale Praxis. Es ist ebenfalls zugleich alt und neu, denn eine alte Musik darf mit denselben Klängen und Eigenschaften von damals in neuen historischen Kontexten wiederaufleben. Zeitblom und Leverkühn verkörpern also zwei Auswege aus der empfundenen Sterilität der Kunst, „das weitere Verbleiben im Konventionellen“Footnote 50 einerseits und die „revolutionäre Lösung“Footnote 51 andererseits, die im heutigen Musikbetrieb immer noch koexistieren.Footnote 52

Die vorigen Ausführungen zeigen, dass sich die Beweise für Zeitbloms Inkonsistenz häufen; mit Recht meint Booth, „[t]he reader may sympathize or deplore, but he never accepts the narrator as a reliable guide“.Footnote 53 Die Analyse des Namens des Erzählers gibt weitere, aufschlussreiche Anstöße. Hilgers weist darauf hin, dass ,Zeitblom‘ von ,Zeitblume‘ kommt.Footnote 54,Zeitblume‘ sei ein anderer Name für die ‚Herbstzeitlose‘, eine hochgiftige Pflanze. Dass der Erzähler nicht frei von Vergiftung ist, sollte nicht mehr überraschen.Footnote 55 Jacques Darmaun liefert der Doktor Faustus-Forschung eine andere, ebenfalls aufschlussreiche Interpretation. ,Zeitblom‘ bedeute zwar ,Blume der Zeit‘, aber damit impliziere man seine Verkörperung des Zeitgeistes.Footnote 56 Der Erzähler ist tatsächlich unter vielen Gesichtspunkten kein altmodischer Mensch, sondern ein „Kind seiner Zeit“,Footnote 57 etwa bezüglich der Judenfrage.Footnote 58 Seine Gefühle gegenüber den Juden „schwanken […] zwischen Hochachtung und Antipathie“.Footnote 59 Zum einen sagt er:

Es mag mit an dieser Jugenderfahrung liegen, aber auch an der spürsinnigen Aufgeschlossenheit jüdischer Kreise für das Schaffen Leverkühns, daß ich gerade in der Judenfrage und ihrer Behandlung unserem Führer und seinen Paladinen niemals voll habe zustimmen können, was nicht ohne Einfluß auf meine Resignation vom Lehramte war. (DF: 17)

Zum anderen ergänzt er gleich danach:

Freilich haben auch Exemplare jenes Geblütes meinen Weg gekreuzt – ich brauche nur an den Privatgelehrten Breisacher in München zu denken –, auf deren verwirrend antipathisches Gepräge ich an gehörigem Ort einiges Licht zu werfen mir vornehme. (DF: 17; Herv. A. O.)

Zeitbloms Rhetorik verzichtet nicht auf eine rassistische Konnotation wie „Exemplare jenes Geblütes“, die alles andere als Toleranz zeigt. Nicht nur hier kann man den Einfluss der nationalsozialistischen Propaganda auf die Schreibweise des Erzählers bemerken. Er spricht beispielsweise an anderer Stelle auch von der „glorreichen Kultur des deutschen Kunstliedes“ (DF: 117) sowie von der „Invasion unseres schönen Siziliens“ (DF: 255; Herv. A. O.): Das Adjektiv ,unser‘ könnte darauf hinweisen, dass Zeitblom die Insel dem deutschen Reich zuordnet oder sich auf die Allianz der faschistischen Länder bezieht.Footnote 60

Die hier erwähnten Zitate aus dem Roman sind aber nicht ausschließlich auf die Nazi-Propaganda, sondern auch auf ältere Diskurse und rhetorische Stilmittel zurückzuführen: um einige exemplarisch zu nennen, sei hier auf den George-Kreis,Footnote 61 auf Goethes Italienische Reise und auf den pluralis modestiae der Gelehrten und der antiken Rhetorik verwiesen. Der Erzähler kann hauptsächlich für einen sehr passiven inneren Emigranten gehalten werden.Footnote 62 Er lehnt die Sprachmanipulation des Dritten Reiches ab:

Ich liebe es nicht, wenn Einer Alles haben will, dem Gegner das Wort aus dem Munde nimmt, es umdreht und Begriffsverwirrung damit treibt. Das geschieht heute mit größter Kühnheit, und es ist die Hauptursache meiner Zurückgezogenheit. (DF: 150f.)Footnote 63

Seine Stellungnahme gegenüber dem Zweiten Weltkrieg ist jedoch sehr vage:

Ich wage kaum, mich zu fragen, zu welcher dieser beiden KategorienFootnote 64 ich gehöre. Vielleicht zu einer dritten, in der man die Niederlage zwar dauernd und klaren Bewußtseins, aber auch eben unter dauernden Gewissensqualen ersehnt. (DF: 50)

Zeitbloms Passivität zeigt sich durch seine stille Teilnahme am präfaschistischen Kridwiß-Kreis.Footnote 65 Außerdem kann er nicht vermeiden, dass seine Söhne im Krieg auf Seiten der Deutschen kämpfen.Footnote 66 Osman Durrani betont, dass der Erzähler genau dann, wenn sein Humanismus nutzen könnte, nicht mehr unterrichtet.Footnote 67 Sein Widerstand ist also viel zu schwach und beschränkt sich fast nur auf das letzte GebetFootnote 68 sowie auf das Verfassen des Romans. Auch moralisch und ethisch gesehen, ist Zeitblom also keine vorbildliche Figur. In seinen Stellungnahmen, Meinungen und in seinem narrativen Verfahren ist er zudem höchst inkonsistent. Verschiedene ModelleFootnote 69 wurden entworfen, um Unzuverlässigkeitsarten zu erfassen: Bezüglich Manns Romans lässt sich konstatieren, dass die Erzählinstanz Zeitblom den Leser*innen eine verzerrte und äußerst subjektive Version der Biographie Leverkühns samt falschen Einschätzungen und fragwürdigen moralisch-ethischen Stellungnahmen liefert.Footnote 70 Ein Gegenentwurf zur Darstellung Zeitbloms lässt sich in den meisten Fällen rekonstruieren und stellt ein Ziel dieser Studie dar; die Bereitwilligkeit der Leser*innenschaft, zur Interpretation des Textes beizutragen,Footnote 71 spielt zugleich eine wichtige und herausfordernde Rolle. So Petersen:Footnote 72

Der Leser sieht sich also vom Erzähler vor die Aufgabe gestellt, selbst zu entscheiden, was es mit dem Dämonischen in dieser Welt, was es mit dem Teufel, mit dem Ursprünglich Elementaren in der Politik, der Kunst, der musikalischen Sphäre auf sich hat, denn der Narrator ist eine schillernde Figur mit wechselnden Darstellungen, Bewertungen, Einordnungen und wirkt daher unzuverlässig: Er führt den Leser weniger, als dass er ihn verunsichert und ins Schwanken bringt. Diese Unzuverlässigkeit des Figuren-ErzählersFootnote 73 kommt schließlich dadurch auf ihren Höhepunkt, dass er von Begebenheiten, Szenen, Dialogen berichtet, die er gar nicht kennen kann.

Petersen betrachtet allerdings Zeitblom als „erzählinkompetentes Medium“,Footnote 74 was indirekt auf Olsons Unterscheidung zwischen „fallible“ und „untrustworthy narrators“Footnote 75 verweist. Im Fall der Erzählinstanz von Doktor Faustus scheint die Trennlinie zwischen dem einen und dem anderen Typ nicht besonders scharf zu sein, da man wohl die Auffassung vertreten könnte, der Amateur-Spieler Zeitblom sei einfach nicht in der Lage, das Leben eines Komponisten höchstkomplexer Musik wiederzugeben. Es gibt aber viele textuelle Indizien, die eher dafür sprechen, dass Zeitblom kein „fallible“, also erzählinkompetenter, sondern ein „untrustworthy narrator“ ist, also ein unzuverlässiger Erzähler ist. Es scheint schwer zu behaupten, ein Doktor der Philosophie habe überhaupt kein erzählerisches Talent bzw. keine erzählerische Kompetenz und liefere den Leser*innen eine solche verzerrte Darstellung, weil er nicht in der Lage sei, das zu begreifen, wovon er erzählt. Die Satire von Swift aus Gulliver’s Travels über die Vereinfachung komplexer Konzepte eben durch Gelehrte, die von Zeitblom im Apocalipsis-Kapitel erwähnt wird,Footnote 76 um den Ansatz einiger Mitglieder des präfaschistischen Kridwiß-Kreises zu beschreiben, lässt sich auch auf sein Verhalten etwa der Musik gegenüber übertragen, da er komplexe musikalische Themen durch den gesamten Roman hindurch wesentlich vereinfacht und voreilige Schlussfolgerungen zieht. Außerdem spielt Zeitblom ein Instrument, das bestimmte Kenntnisse voraussetzt, auch wenn es auf einem Amateur-Niveau gespielt wird. Darüber hinaus ist die Scordatura, die ein Spieler der Viola d’amore anwendet oder die von einer Komponistin bzw. von einem Komponisten für die Aufführung eines bestimmten Stückes vorgeschrieben wird, ein vor dem Spielen bewusst eingesetztes Mittel. Als unzuverlässiger, aber nicht inkompetenter Erzähler entscheidet sich Zeitblom dafür, absichtlich unzuverlässig zu erzählen. Würde man dieses Verfahren aus Sicht der Intermedialitätsforschung bezeichnen, so könnte diese Verstimmung der Narration als Simulation einer instrumentalen Aufführungspraxis eingestuft werden, die eine verstärkende Funktion narrativer Strategien aufweist.Footnote 77 Die Viola d’amore und das Spielen der Viola d’amore werden im Text nicht nur thematisiert, sondern auch inszeniert.Footnote 78

Zeitbloms Charakterisierung ist nicht frei von Ironie: Ilse Metzler betrachtet den Erzähler von Doktor Faustus als „Parodie des Stils und der Haltung des bürgerlichen Humanismus“Footnote 79 und Börnchen macht darauf aufmerksam, dass Zeitblom den Ironiebegriff von Cicero „in seiner Erzählweise bewahrt“.Footnote 80 Dies wäre ein weiterer Beweis für die Unzuverlässigkeit des Erzählers: Booths Thesen zufolge ist Unzuverlässigkeit eine Funktion von Ironie.Footnote 81 Innerhalb von Booths Auffassung spielt die Kategorie der impliziten Autorin bzw. des impliziten Autors eine große Rolle, wird sogar zum Maßstab für die Unzuverlässigkeit einer Erzählinstanz. Wenn deren Wahrnehmungen und Werte zu stark von denen der impliziten Autorin bzw. des impliziten Autors abweichen, liegt Unzuverlässigkeit vor.Footnote 82 Spätere Studien kritisieren Booths Definition des implied author. Ansgar Nünning hebt beispielsweise hervor: „the implied author provides a terminologically acceptable way of talking about the author and his or her intention, under the guise of talking about textual phenomena“.Footnote 83 Dem Terminus liegt dem Zitat entsprechend der Versuch zugrunde, indirekt auf die Autor*innenintention einzugehen. Die Inkohärenz des Begriffs macht ihn folglich zu einer unangemessenen Grundlage zur Erschließung von Unzuverlässigkeit: Aus diesem Grund wird in diesem Abschnitt der Rückgriff auf textuelle Indizien bevorzugt und lediglich undifferenziert von Autor bzw. Autorin geredet.

Gerade Thomas Mann ist der Auffassung, Zeitblom stehe „in einem fast komischen Gegensatz“Footnote 84 zu Leverkühn. Unzuverlässigkeit lässt sich in der Charakterisierung Zeitbloms durch Booths Modell, das sich auf die drei Instanzen der Erzählinstanz, der Leser*innenschaft und des*r implied author stützt, wohl nachweisen. Noch aussagekräftiger, da man nicht Gefahr läuft, wegen Booths kontroverser Definition des*r implied author in eine hermeneutische Rekonstruktion von Autor*innenintention zu geraten, bietet Ansgar Nünnings Modell, das der implizite Autor bzw. die implizite Autorin durch textuelle Indizien ersetzt, einen anwendbaren Orientierungsrahmen für die Analyse.Footnote 85 In diesem Abschnitt lag der Fokus eher auf Thomas Manns Text, aber gerade das u. a. von Claudia Albert konstatierte „Mißverhältnis[] von Textgestalt und behaupteter ästhetischer Intention“Footnote 86 weist auf Booths Modell hin: „I have called a narrator reliable when he speaks for or acts in accordance with the norms of the work (which is to say, the implied author’s norms), unreliable when he does not“.Footnote 87 Booths Spezifizierung in Klammern reduziert die Normen eines Werkes auf diejenigen der impliziten Autorin bzw. des impliziten Autors: Eine Faust-Adaption orientiert sich aber auch an den Normen des Faust-Stoffes und eben die Zuordnung des Werkes zur Faust-Tradition wurde in der Forschungsliteratur in Frage gestellt.Footnote 88 Diese Inkonsistenz wird schon durch den Verweis auf paratextuelle HinweiseFootnote 89 deutlich: Bereits im Untertitel muss Zeitblom seinen Leser*innen mitteilen, dass er derjenige ist, der über das Leben seines Freundes berichtet. Dadurch wird deutlich, dass er für das Geschriebene verantwortlich ist. Aus diesem Grund ist es nicht verwunderlich, dass die Textgestalt mit dem Titel und dem entsprechenden literarischen Stoff wenig übereinstimmt.

Im Laufe der Narration wird Zeitblom als „the pathetic perfectionist, the platonic adulterer, the weeping schoolmaster“Footnote 90 enttarnt, also als extrem widersprüchliche und inkonsistente Erzählinstanz, der man kein Vertrauen schenken möchte. Es handelt sich im Fall des Erzählers von Doktor Faustus um keine „bonding“,Footnote 91 sondern um eine „estranging unreliability“.Footnote 92 Zeitblom erregt kein Mitleid, Leser*innen, darunter auch die in dieser Studie betrachteten Komponist*innen, bleiben seiner Wiedergabe gegenüber skeptisch, nehmen ihm gegenüber eine eher ablehnende Haltung ein.Footnote 93 Als Konsequenz sympathisieren die meisten Komponist*innen dieser Studie mit Adrian Leverkühn: Laut Jens Ewen geschieht das, weil Zeitblom Sympathie für seinen Freund hegt.Footnote 94 Dieser These scheint schwer zuzustimmen, angesichts dessen, dass er der Leser*innenschaft eine höchst manipulierte Version der Biographie Leverkühns liefert, indem er etwa alles dämonisiert und von Eifersucht getrieben berichtet. Es ist eher diese estranging unreliability, die die Leser*innen dazu ermutigt, sich von Zeitbloms Scordatura der Narration zu distanzieren. Der intermediale Bezug auf die Viola d’amore, zum Teil in Form einer expliziten, zum größeren Teil aber als simulierende Systemerwähnung, verstärkt die discours-spezifischen Eigenschaften des Romans.

Die Unzuverlässigkeit Zeitbloms im Roman konnte durch verschiedene Mittel der narratologischen und intermedialen Analyse nachgewiesen werden, z. B. durch die Modelle Booths und Nünnings, durch die Stilmittelanalyse sowie durch den Medienvergleich, und zwar mit den Eigenschaften der Viola d’amore und der Aufführungspraxis des Instruments. Wie lässt sich aber diese narrative Strategie im Medium der Musik realisieren? Ist das die Mikroform aus dem Roman, die Komponist*innen in das neue Medium transferieren? Diesen Fragen widmet sich u. a. der darauf folgende Abschnitt zu den Kompositionen.

2 Vom Roman zur Musik

Im Folgenden sollen drei Kompositionen analysiert werden. Die ersten beiden Werke, nämlich Four pieces from „Doktor Faustus“ für Viola d’amore und Klavier von Elaine Fine (2010) und Lars Petter Hagens To Zeitblom (2011), gehören sozusagen zur letzten Phase der Rezeption von Thomas Manns Doktor Faustus und sind hauptsächlich instrumental. Abschließend wird die Rolle Zeitbloms in Manzonis Oper untersucht, die in dieser Studie einen roten Faden darstellt und die für die relativ breite kompositorische Rezeption des Romans in den 1980er Jahren, welche etwa auch die Werke von Boehmer, Kurz und Searle beweisen, steht.

2.1 Zeitbloms musikalisches Talent: Elaine Fines Four pieces from „Doktor Faustus“: „Abendmusik“ und „Interlude“

Four pieces from „Doktor Faustus“ for Viola d’amore and Piano entstanden im Jahr 2010 nach der Teilnahme der Komponistin und Viola d’amore-Spielerin Elaine Fine (*1959) an einer internationalen Tagung von Spezialist*innen in Illinois.Footnote 95 Die Komposition ist Carlos Maria Solare gewidmet, der dieses Instrument ebenfalls spielt, und dauert ungefähr zwölf Minuten. Sie besteht aus vier Stücken:

1. Abendmusik (Moderato)

2. Hetaere [sic] Esmeralda (Waltz tempo)

3. Interlude (Moderato)

4. Echo (Moderato).

Es handelt sich hier aufgrund der materiellen Präsenz eines einzigen Mediums um verdeckte Intermedialität, aber aufgrund der paratextuellen Hinweise und der Verwendung der Viola d’amore ist der Bezug zu Thomas Manns Roman deutlich, sodass sich die Komposition – trotz der Vagheit instrumentaler Musik – immer noch der Kategorie der intermedialen Transposition zuordnen lässt. Da das Werk außerdem speziell für die Viola d’amore gedacht wurde, ist die Hommage an Zeitblom ebenfalls deutlich. Zwei Stücke sind zwar Esmeralda und Echo gewidmet, aber das Ganze wird durch den narrativen Faden des Erzählers miteinander verbunden. In Abendmusik und Interlude ist die Simulation einer Erzählstimme so auffällig, dass sie in diesem Kapitel analysiert werden: Im Zentrum der beiden Stücke steht also eher das Wie der Darstellung als die Geschichte selbst.Footnote 96

Zwar betont Fine, dass es nicht ihre Intention gewesen sei, durch die Musik eine Stellungnahme zu kontroversen Thematiken des Romans zu nehmen, etwa zur Unzuverlässigkeit Zeitbloms,Footnote 97 aber der musikalische Text spricht für sich selbst: Die Viola d’amore übernimmt im Stück nicht nur eine Begleitfunktion, sondern sie ist im ganzen Stück durchgängig zu hören. Sie steht wie das Klavier für Leverkühn innerhalb des Stückes stellvertretend für Zeitblom. Das Klavier eignet sich für Leverkühn aus vielen Gründen. Erstens, weil sein erstes heimliches Musizieren mit dem Harmonium beginnt, also ebenfalls mit einem Tasteninstrument.Footnote 98 Bei dieser Aktivität wird er nicht nur vom Onkel, der ihm empfiehlt, „Klavierstunden [zu] nehmen“ (DF: 75), sondern auch von Zeitblom entdeckt, der sich ständig in das Leben des Freundes einmischt. Ein zweiter Grund ist der, dass gerade Leverkühns Musiklehrer die Wichtigkeit des Instruments für Komponist*innen präzisiert:

Es gebe aber ein Instrument, das heißt: ein musikalisches Verwirklichungsmittel, durch das die Musik zwar hörbar, aber auf eine halb unsinnliche, fast abstrakte und darum ihrer geistigen Natur eigentümlich gemäße Weise hörbar werde, und das sei das Klavier [...]. (DF: 95)

Das Klavier erlaubt in der Tat, sich beispielsweise in Abwesenheit eines echten Orchesters ein orchestrales Werk grob vorzustellen, und ist noch heutzutage oft wichtiges Nebenfach (nicht nur) eines Kompositionsstudiums. Der dritte Grund, warum sich das Klavier für Leverkühn eignet, ist, dass das Zusammenspiel eines historischen Instruments mit einem modernen mit der vorherigen These der zwei musikalischen Seiten einer Epoche in Verbindung gebracht werden kann. Fine hätte das Cembalo wählen können, was im Vergleich zum Klavier aus der Perspektive der historischen Aufführungspraxis ein kohärenteres Pendant zur Viola d’amore darstellt. Leverkühn und Zeitblom werden folglich in der Komposition wie im Roman in ihrer Komplementarität widergespiegelt.

Das erste Stück, Abendmusik, „is kind of a fantasy on,Oh how lovely is the evening‘, a piece that Zeitblom identifies as an early influence on Leverkuehn“,Footnote 99 so die Komponistin. O, wie wohl ist mir am Abend wird im Roman unter den Kanons erwähnt, welche die Stallmagd Hanne die Kinder lehrt.Footnote 100 Zeitblom erinnert sich an diese Gesangsübungen so:

[D]ie Erinnerung daran hat später eine erhöhte Bedeutung angenommen, weil sie es waren, die, soweit meine Zeugenschaft reicht, meinen Freund zuerst mit einer „Musik“ von etwas künstlicherer Bewegungs-Organisation in Berührung brachten, als das bloße einhellige Absingen von Liedern sie aufweist. (DF: 47)Footnote 101

Fines Stück ist jedoch kein Kanon, obwohl man einen Imitationsprozess erkennen kann. Ohne Zweifel passt allerdings die Viola d’amore hervorragend zu einer Abendmusik.Footnote 102 Der Titel des Stückes verweist auf Zeitbloms Musizieren in den Münchener Abendkreisen: Somit wird einerseits durch die Wahl der Besetzung und die musikalische Gestalt auf Leverkühns erste Auseinandersetzung mit kontrapunktischer Musik, andererseits mittels paratextueller Hinweise auf Zeitbloms Vorspielen Bezug genommen. Die Komposition folgt einer ordo naturalisFootnote 103 und beginnt mit der musikalischen Wiedergabe durch „das Medium,des Freundes‘“ (Ent: 27) der Jugendzeit Leverkühns bzw. seines ersten Kontakts mit kontrapunktischer Musik. Zeitblom drückt sich musikalisch durch Pizzicati aus. Am folgenden Notenbeispiel ist außerdem abzulesen, dass die Viola d’amore, alias Zeitblom, den harmonischen Verlauf eben mittels Pizzicati stört, denn auf jeden Ton des Klaviers, alias Leverkühn, folgt ein gezupfter Ton der Viola. Des Weiteren muss der Tempoaufgabe (Moderato) Aufmerksamkeit geschenkt werden, die zur „durchaus gemäßigte[n]“ (DF: 12) Figur Zeitbloms sehr gut past (Abbildung 7.1).

Abbildung 7.1
figure 1

Der Anfang von „Abendmusik“

Ab Takt 22 hört man zum ersten Mal das Thema bzw. den Refrain: Die Viola d’amore zupft und interagiert aktiv mit der Klavierstimme und trägt zum gesamten, melancholischen Charakter des Stückes bei. Musikalisch gesehen, ist dies auf Tonalität und Intervallsprünge zurückzuführen; intermedial betrachtet, spielt das auf Zeitbloms aktive Rolle in der Wiedergabe von Leverkühns Leben an, dem er eine eigene Interpretation verleiht (Abbildung 7.2).

Abbildung 7.2
figure 2

Das Thema von „Abendmusik“ (T. 22–29)

Dann wird das Thema mittels eines nichtaufgelösten Tritonus und einer kleinen Coda leicht variiert: Hier ist aber das Klavier das Instrument, welches das letzte Wort hat, indem es das Thema beendet. Da Zeitblom vielen zentralen Ereignissen im Leben des Freundes nicht beigewohnt hat, kann er sie – wenn überhaupt – nur partiell wiedergeben.Footnote 104 Anders als Leverkühn im Roman erlaubt sich aber hier die Klavierstimme den musikalischen Satz zu beenden: Konstante fast aller in dieser Studie betrachteten Kompositionen ist, dass Leverkühn eine Stimme gegeben wird, deren er sich bedient, um – mehr oder weniger – einen Widerstand gegen Zeitbloms Manipulation zu leisten (Abbildung 7.3).

Abbildung 7.3
figure 3

Variation des Themas (T. 58–63)

Was den musikalischen Stil von „Abendmusik“ angeht, so meint Fine: „I made it kind of Mahlerian to reflect the feeling of the time and the place, and used some Stravinsky-like fourths (since that’s how the viola d’amore is built)“.Footnote 105 Zwar passt der Bezug auf Gustav Mahler zum Zeitpunkt der Geschichte, auf den das Stück zurückgeführt werden kann, aber nicht wirklich zum Ort, denn die Gesangsübungen finden im Roman „im Herzen der Luther-Gegend“ (DF: 18) und das abendliche Musizieren Zeitbloms in München statt. Strawinskys Musik stellt zweifellos ein Vorbild in Leverkühns musikalischer Ausbildung und in seinem Schaffen dar, aber eher zu einem späteren Zeitpunkt der histoire.Footnote 106

Das dritte Stück von Four pieces,Footnote 107 Interlude, handelt von „Leverkuehn’s encounter with whatever it is that he encounters, as reported by the viola d’amore-playing Zeitblom“.Footnote 108 Fine scheint also keine Lösung zur Kontroverse über das Teufelsgespräch vorschlagen zu wollen. Vielmehr wiederholt sie in ihren E-Mails ihre Absicht, nämlich „keeping that determination in the abstract“.Footnote 109 Darüber hinaus lässt sich Fines Präzisierung, „as reported by the viola d’amore-playing Zeitblom“, mit dem Untertitel von Doktor Faustus gut verknüpfen: „Das Leben des deutschen Tonsetzers Adrian Leverkühn, erzählt von einem Freunde“. Beide Sätze rücken die Anwesenheit einer Erzählinstanz in den Vordergrund, wobei Fines Aussage dem musikalischen Talent des Erzählers Aufmerksamkeit schenkt, indem sie sogar das von ihm gespielte Instrument spezifiziert.

Das Klavier spielt im ersten Teil des Stückes (T. 1–34) eine bedeutende Rolle: Sein musikalischer Verlauf erweist sich als stark chromatisch. Im Gegensatz zum Klavier ist der Viola d’amore eine untergeordnete Rolle zugewiesen: Ihr Verlauf besteht aus langen Noten (Abbildung 7.4). Die Begegnung mit dem Teufel entnimmt Zeitblom im Roman einem Dokument Leverkühns, das er nach seinem Tod findet und in seiner fiktiven Biographie vollständig wiedergibt. Dies spiegelt sich in Fines Stück wider.

Abbildung 7.4
figure 4

Der Anfang von „Interlude“ (T. 1–4)

Ab Takt 35 sind viele Arpeggien der Viola d’amore zu finden, die metaphorisch als die Schnörkel von Zeitbloms unzuverlässiger Wiedergabe des Ereignisses aufgefasst werden könnten. Hilgers weist darauf hin, dass die Lebensaufgabe dieser Figur die „Entfaltung […] [ihres] schriftstellerischen Talents“Footnote 110 sei. In diesen Takten scheint es, dass er sein virtuoses Talent als Viola d’amore-Spieler zeigen möchte: In Fines Komposition besteht Zeitbloms Aufgabe darin, sein musikalisches Talent zu entfalten. Nicht zufällig sagt Fine: „The arpeggios […] represent the way I feel Zeitblom would have musically expressed whatever it is that Leverkuehn encountered“.Footnote 111 Auch im Roman schreibt Zeitblom Leverkühns fiktives Dokument nicht einfach ab, sondern man findet vor und nach der autobiographischen Schrift seine gewöhnlichen sprachlichen Verzierungen und Kommentare. Des Weiteren erinnert diese Passage an Musikübungen, was gut zum Gymnasialdozenten Zeitblom passt (Abbildung 7.5) :

Abbildung 7.5
figure 5

Die Arpeggien in „Interlude“ (T. 35 ff.)

Die Komponistin beabsichtigt, die Eigenschaften des Instruments bewusst auszunutzen: „The arpeggios here are singular to the viola d’amore. No other instrument can make the other-worldly strange resonance that draws you in that particular way“.Footnote 112 In Fines Komposition wird anders als im Roman eher eine bindende UnzuverlässigkeitFootnote 113 erreicht: Zwar darf sich Leverkühn ausdrücken, aber weder durch eine imposante Begleitung noch ein wenig bekanntes Instrument, sodass Hörer*innen aus Neugierde dazu geneigt sind, mit der virtuosen und merkwürdig widerhallenden Viola d’amore zu sympathisieren. Es ist eher Zeitblom, dem großes musikalisches Talent zugeschrieben wird.

Wie im Roman wird in den beiden betrachteten Stücken aus Fines Four pieces die Manipulation der Biographie durch Zeitblom betont, die jedoch eher eine bindende Wirkung auf die Hörer*innenschaft hat. Zeitblom wird nicht nur als Erzähler, sondern auch als musikalisch interessierte Romanfigur porträtiert, die sogar größeres Talent als Leverkühn besitzt. Was außerdem ein Unikum darstellt, ist die Transposition von Leverkühns und Zeitbloms Jugendzeit, denn das kommt in den Kompositionen dieser Studie kaum vor.

2.2 Simulierte Gleichzeitigkeit, Archivkunst und Autorinszenierung: Lars Petter Hagens To Zeitblom

Nachdem nun ein Stück für genau das Instrument besprochen wurde, das Zeitblom im Roman spielt, wird im Folgenden ein Werk für die Hardangerfiedel, die in mancherlei Hinsicht mit der Viola d’amore verwandt ist, vorgestellt. To Zeitblom für Hardangerfiedel und Orchester vom norwegischen Komponisten Lars Petter Hagen (*1975) war eine Auftragskomposition des Südwestrundfunks, die 2011 anlässlich der Donaueschinger Musiktage uraufgeführt wurde. Die Besetzung umfasst neben der Solo-Hardangerfiedel zwei Flöten, eine Piccoloflöte, zwei Klarinetten in B, ein Fagott, drei Trompeten, vier Hörner, drei Posaunen, Schlagzeug (Vibraphon, Crotales, Choir Chimes, Röhrenglocken), zwei Harfen und Streicher. Der Komponist, so die Partitur, ist „on stage (operating ghettoblaster and giving lecture)“.Footnote 114

To Zeitblom charakterisiert sich durch lange Noten und eine vorherrschende Pianissimo-Dynamik: Die Stille und die Unbeweglichkeit der Zeit im Sinne einer Simulation unendlicher Gleichzeitigkeit stellen die kompositorischen Hauptmerkmale von To Zeitblom dar, was als Versuch aufgefasst werden kann, im Medium der Musik das Tempo norwegischer Landschaften zu reproduzieren.Footnote 115 Eine weitere Eigenschaft dieses Stückes liegt in der direkten Konfrontation des Komponisten mit dem Publikum. Auf Seite 16 der Partitur liest man: „The composer, who has been sitting on stage all the time in a helpless attempt to write himself into the tradition, gives a lecture on the Hardanger fiddle. Illustrated by the soloist“. Für ca. drei Minuten stellt der Komponist mithilfe eines Moderators bzw. eines Übersetzers das solistische Instrument vor. Der Moderator führt außerdem einige Konzepte von Adornos Musikphilosophie ein. Man sollte dabei jedoch nicht wirklich von Zitaten sprechen, wie der Komponist präzisiert:Footnote 116

Der Text ist kein Zitat. Wieland Hoban [Übersetzer und Moderator] ist so ein guter Übersetzer, dass wir Adornosche Texte geschrieben haben, die Adornos Ansichten zusammenfassen, aber auch weiterentwickeln.

Laut Aussage des Komponisten sei das Stück nur sehr lose mit dem Roman Doktor Faustus verbunden.Footnote 117 Jedoch ist dessen intermedialer Charakter bereits an der Werkoberfläche abzulesen: Der Titel erfüllt nicht nur eine Titel-, sondern auch eine Widmungsfunktion, die paratextuellen Elemente des Werkes verweisen eindeutig auf den Erzähler des Romans. Zeitblom wird wie bei Fine durch das solistische Instrument musikalisch dargestellt: „Hardanger fiddle solo part is a close collaboration with the soloist and entirely in oral tradition“ (S. 2), liest man im Autograf. Was also To Zeitblom thematisiert, ist das subjektive Erzählen mündlicher oder tönender Natur, was sich gut mit dem Roman verknüpfen lässt, denn Zeitblom berichtet auf sehr subjektive Art und Weise und ähnelt somit einer mündlichen Erzählinstanz. Vergleichbar mit der Wiedergabe der Ereignisse durch Zeitblom im Roman, der als „obsessed or disturbed monologist[]“Footnote 118 an einen schriftlich inszenierten oralen Erzähler denken lässt,Footnote 119 kann die mündlich überlieferte Musiktradition für unzuverlässig, inkohärent und subjektiv gehalten werden. Darüber hinaus nimmt auch die Komposition To Zeitblom wie der Roman Doktor Faustus Bezug auf Adornos Schriften, die bei Hagen nicht in das Medium der fiktionalen Schrift, sondern in eine Medienkombination integriert und wie bei Thomas Mann dort auch weiterentwickelt werden. Es handelt sich also in diesem Fall um die direct or ,overt‘ intermediality, die sich durch die Präsenz mehrerer Medien auszeichnet. Diese Form von Intermedialität ist allerdings als partiell einzustufen, da der Fokus auf einer Figur liegt.

Die Hardangerfiedel, auf Norwegisch hardingfela/hardingfele genannt, ist eine Volksgeige aus Westnorwegen, die in der Regel vier Spielsaiten über dem Fingerbrett und vier oder fünf Resonanzsaiten unter dem Fingerbrett sowie typische nationale Dekorationen besitzt.Footnote 120 Das Instrument hat darüber hinaus Resonanzsaiten wie die Viola d’amore; zudem weisen die Liebesgeige und die Hardangerfiedel eine parallele Herkunft auf, die an Volkstraditionen und mündlich-improvisierte musikliterarische Praktiken gebunden ist.Footnote 121 Während sich aber das Repertoire der Viola d’amore bereits im 17. Jahrhundert stark ausdifferenzierte und sich zum großen Teil von der Volksmusik verabschiedete, besteht das Repertoire der Hardangerfiedel hauptsächlich aus Volksliedern und -tänzen, die in der ersten Lage gespielt werden.Footnote 122

Auch der Klang der hardingfele, der als „whispery and nasal“Footnote 123 beschrieben wird, erinnert an den der Liebesgeige. Bereits die Dekorationen auf dem Instrument verweisen auf die enge Verbindung des Instruments mit nationaler Identität: Die Hardangerfiedel ist seit der Unabhängigkeit Norwegens zu einem Nationalsymbol geworden, noch heutzutage werden regelmäßig Wettbewerbe für das Instrument organisiert. Goertzen bezeichnet die Anhänger*innen der Volksmusik, die in den 1940er und 1950er Jahren über sie schrieben, als „ardent romantic nationalists“.Footnote 124

In Hagens Komposition erfolgt daher eine doppelte Adaption. Die erste betrifft die Vorlage, d. h. Thomas Manns Roman, der durch ein plurimediales Kunstprodukt zu Wort kommt. Der zweiten liegt eine Neuinterpretation des Instruments zugrunde. Nicht nur, weil statt der Viola d’amore die Hardangerfiedel gewählt wird, sondern auch, weil 2011 das norwegische Instrument an andere Praktiken der Musik angepasst wird. To Zeitblom wird weder in Norwegen noch bei einem Volksfest uraufgeführt, die Komposition wird im Rahmen eines Festivals präsentiert, das als das erste weltweit gilt, das sich vollständig der zeitgenössischen Musik widmete.Footnote 125

Hagens Schaffen beschäftigt sich intensiv mit der Frage: „Woher komme ich, historisch, traditionell als Komponist und Mensch?“,Footnote 126 also mit der Frage nach der eigenen und kollektiven Identität einer Generation, die „mit amerikanischem Fernsehen aufgewachsen“Footnote 127 ist. Auf der Suche nach seiner nationalen Identität verbringt Hagen, der klassisch ausgebildete Komponist, viel Zeit an den Orten, wo Volksmusik produziert und gelehrt wird. Orte also, die jenseits von globalisierten Städten liegen.Footnote 128

Buene definiert Hagens Kompositionen als „Archivkunst“: „Einzelne Elemente werden aus den Tiefenschichten des persönlichen Gedächtnisses, aus dem Archiv, das wir alle mit uns herumtragen, ausgegraben“.Footnote 129 Diese Metapher verweist auf den Erinnerungsraum des Archivs nach Aleida Assmann. In Hagens Schaffen fungiert also die musikalische Schrift als „kollektiver Wissensspeicher“.Footnote 130 Dieser dient im Fall von To Zeitblom der Konservierung einer kulturellen, nationalen Tradition und wird etwa durch Aufführungen und Aufnahmen zugänglich gemacht; darüber hinaus liegt diesem Wissensspeicher nach persönlicher Auseinandersetzung mit der norwegischen Musikpraxis eine Auswahl zugrunde, die beispielsweise bereits an der Wahl des Instruments sichtbar wird.Footnote 131

To Zeitblom möchte als Archivkomposition diese musikalische Tradition auch der jungen Generation zugänglich machen. Bei einem ersten Blick in die Partitur fällt die Widmung des Stückes auf: „Dedicated to my children Petra, Anton und Agnes and all their friends in Oslo“ (S. 1). Zunächst lässt sich dies mit dem Roman verknüpfen, und zwar wieder mit der Figur Zeitbloms, der drei Kinder hat (obwohl dieser Aspekt im Roman spiegelbildlich erscheint, da der Erzähler von Doktor Faustus zwei Söhne und eine Tochter hat).Footnote 132 Das mag die Frage aufwerfen, warum eine Komposition, die „speziell für das Donaueschinger Publikum“Footnote 133 entstand und stilistisch schwer mit einigen Kinderkompositionen aus dem 20. Jahrhundert verglichen werden kann, etwa die Hans Werner Henzes, um auf einen in dieser Studie behandelten Komponisten Bezug zu nehmen,Footnote 134 ausgerechnet einem Kinderpublikum gewidmet wird.

Es gilt, wieder auf die Metapher des Archivs zurückzugreifen, um diese Frage zu beantworten. Die Vorarbeiten an To Zeitblom lassen sich mittels Buenes Zitats beschreiben: Ein Element der norwegischen, nationalen Identität, d. h. das Spielen der Hardangerfiedel, wird „ausgegraben“.Footnote 135 Hier rekurriert Buene erneut auf eine Erinnerungsmetapher, die auch in Freuds Schriften zu finden ist und die dort mit dem psychoanalytischen Erraten und Rekonstruieren des Vergessenen in Verbindung gebracht wird.Footnote 136 Wird außerdem das Gedächtnis wie bei Walter Benjamin als Medium „für die Erkundung des Vergangnen“Footnote 137 aufgefasst, so ist Hagens Medienkombination noch plurimedialer als anfänglich gedacht. Die Komposition als plurimediales Medium fungiert als Archiv dieses Ausgrabens: „Kontrolle des Archivs ist Kontrolle des Gedächtnisses“,Footnote 138 erörtert Aleida Assmann. Diese Kontrolle wird in Hagens Werk weitergegeben: Zum einen – auf einer fiktionalen Ebene – dem Erzähler von Doktor Faustus durch den Titel, der gleichzeitig eine Widmungsfunktion erfüllt, zum anderen – auf einer nicht-fiktionalen Ebene – der jungen Generation durch die Widmung, damit sie eine Tradition nicht vergisst und eventuell fortsetzt.

Auch Zeitbloms fiktives Verfassen der Biographie Leverkühns ist eine fiktive Archivarbeit, die der Konservierung biographischer Daten dient, eine Auswahl impliziert und durch das fiktive Buch zugänglich gemacht wird. Zeitblom hat als nullfokalisierter Erzähler die komplette Kontrolle über das Archiv, wovon er in seiner Unzuverlässigkeit profitiert. Des Weiteren denkt auch der Erzähler von Doktor Faustus mehrfach über die Zukunft seiner Kinder und der seines Landes nach: Im Prozess der Archivarbeit wird durch die simultane Betrachtung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Gleichzeitigkeit simuliert.Footnote 139

Nicht nur reflektiert To Zeitblom über die Subjektivität des Erzählens und über Erinnerung, es kombiniert auch ein modernes Orchester mit einem Instrument der Volksmusik. So werden in der Komposition wie in Doktor Faustus die zwei musikalischen Seiten einer Epoche dargestellt: Die Hardangerfiedel symbolisiert zugleich das Revival alter Instrumente und der Volkstraditionen.Footnote 140 Sie passt hervorragend zu Zeitblom, der sich als „altmodischer Mensch“ definiert, der „bei gewissen, […] [ihm] lieben romantischen Anschauungen“ (DF: 42) stehen geblieben ist. Die Kombination eines Instruments, das keinen Noten, sondern Improvisationsparametern folgt, mit einem Orchester ist – kompositorisch betrachtet – eine schwierige Aufgabe. Zuhörer*innen nehmen aber diese Schwierigkeit nicht wahr, weil sich die Gegenpole integrieren.

Hagens Komposition ist nicht nur vom Vorhandensein improvisierter und nicht-improvisierter Musik, sondern auch von der Autorinszenierung gekennzeichnet. Franzen definiert sie als die „öffentliche Handlung[] eines Autors“,Footnote 141 „die ein kulturell vorgeprägtes Rollenmuster vermitteln“Footnote 142 soll. Der*Die Autor*in, der*die somit zum Subjekt der Kommunikation werde, mische sich „in den Vermittlungsprozess seiner [*ihrer] Werke“Footnote 143 ein. Um dies zu veranschaulichen, gilt es nun, auf die bereits erwähnte Anweisung auf Seite 16 der Partitur einzugehen, also auf den Teil, in welchem der Komponist mithilfe eines*einer Moderator*in bzw. Übersetzer*in dem Donaueschinger Publikum die Hardangerfiedel und eine eigene Interpretation von Zitaten aus Adornos Schriften vorstellt.Footnote 144

Dieser Moment der Komposition zielt durch eine Illusionsbrechung zum einen auf eine Annäherung der Musik an das Theater, zum anderen auf eine direkte Konfrontation mit dem Publikum ab.Footnote 145 So Hagen:Footnote 146

[I]ch versuche, die Barriere zwischen Publikum und Bühne aufzuheben oder zumindest eine dynamische, direkte Beziehung zum Hörer oder zum Publikum aufzubauen.

Die direkte Beziehung zum Publikum widerlegt Adornos Betrachtung der Neuen Musik als eine, die „auf dem Papier ausgerechnet“ (PhnM: 20) ist. Gleichwohl scheint der experimentelle Charakter des Werkes und seiner Aufführung hingegen Adornos Auffassung zu bestätigen, dass „[d]ie einzigen Werke heute, die zählen, […] die [sind], welche keine Werke mehr sind“ (PhnM: 37). Die Form dieses Werkes lässt sich nämlich kaum definieren. Rajewsky zufolge würde man Hagens Komposition dem Phänomen der Medienkombination zuordnen, dass die Forscherin als „die Kombination bzw. das Resultat der Kombination mindestens zweier, konventionell als distinkt wahrgenommener Medien“Footnote 147 definiert, die „in ihrer Materialität präsent sind und jeweils auf ihre eigene, medienspezifische Weise zur (Bedeutungs-)Konstitution des Gesamtprodukts beitragen“.Footnote 148 Was die Verwirrung beim Versuch einer Formbezeichnung des Werkes betrifft, so hebt Rajewsky hervor, dassFootnote 149

eine Kombination unterschiedlicher Medien häufig zur Herausbildung eigenständiger Kunst- oder Mediengattungen führt oder führen kann, bei denen dann die plurimediale Grundstruktur zu einem Spezifikum des neu entstandenen (Einzel-) Mediums wird.

Es scheint durchaus berechtigt, sich zu fragen, ob tatsächlich eine Konfrontation mit dem Publikum stattfindet oder ob man eher von unidirektionaler Kommunikation sprechen sollte. Zwar könnte das Publikum zu diesem Punkt der Aufführung lachen, wer jedoch wirklich zu Wort kommt, ist der Komponist, „who has been sitting on stage all the time in a helpless attempt to write himself into the tradition“.Footnote 150 Es handelt sich – betrachtet man u. a. dieses Zitat – eher um Autorinszenierung: Im Zentrum der Kommunikation steht ein klassisch ausgebildeter Komponist, der versucht, sich mit einer nationalen Tradition identifizieren zu lassen. In dieser Hinsicht unterscheidet sich Hagens Verhalten nicht zu stark von dem Thomas Manns, der sich knapp zwei Jahre nach Veröffentlichung von Doktor Faustus durch Die Entstehung des „Doktor Faustus“ ebenfalls in den Vermittlungsprozess seines Romans öffentlich einmischt. Bei Hagen ist aber dieser Moment von Autorinszenierung im Rahmen dieser Medienkombination fester Bestandteil seines Werkes, dem Interpret*innen und Rezipient*innen kaum entgehen können.Footnote 151

2.3 Fokalisierungswechsel und Überwindung der Unzuverlässigkeit? – Serenus Zeitblom in Manzonis Oper

Nachdem zwei Werke vorgestellt wurden, die Zeitblom überwiegend durch instrumentale Musik darstellen, soll nun auf die (Teil-)reproduktion der Erzählinstanz von Doktor Faustus durch die vielfältigen Mittel der Oper eingegangen werden. Serenus Zeitblom ist bei Manzoni an drei Stellen zu finden. Zunächst im Teufelsgespräch (im sechsten Bild des ersten Aktes): Dort betritt er die Bühne, nachdem Lui I das Liebesverbot zum ersten Mal erwähnt hat (M-DF: 94, T. 705). Er beobachtet die Szene, ohne etwas zu sagen. Dadurch wird die Verbindung Zeitbloms mit dem Liebesmotiv hervorgehoben. Dann ist er im vierten Bild des zweiten Aktes zu finden, wenn Adrian kurz nach Echos Tod von der Zurücknahme der Neunten Symphonie spricht. Auch im Roman erfährt nur Zeitblom von der Absicht des Freundes, Beethovens letztes symphonisches Werk zurückzunehmen. Wie im Roman sagt ihm Adrian danach (die Anweisung für den Sänger lautet „parlato, lentamente“, also gesprochen und langsam: M-DF: 191, T. 660): „Then to the elements. Be free, and fare thou well!“Footnote 152 Für einen Augenblick scheint es, dass der fiktive Komponist Zeitbloms Präsenz wahrnimmt. Letztendlich betritt Zeitblom im „Epilogo“ die Bühne (M-DF: 285–288). Da erzählt er wie der Kommentator am Ende eines Films von den letzten Tagen Leverkühns und vom letzten, strengen Blick, den der sterbende Adrian auf ihn richtete.

Ursprünglich wollte Giacomo Manzoni die Figur Zeitbloms auslassen, wie man dem Aufsatz Il lungo cammino del „Doktor Faustus“ entnehmen kann, um dadurch die extradiegetische Ebene der Narration, d. h. die des Erzählens und des zweiten Weltkriegs, drastisch zu reduzieren.Footnote 153 Seine ersten Pläne beschreibt Manzoni wie folgt:Footnote 154

Il professore rimarrà nel „libretto“Footnote 155 appunto come ombra muta, presenza austera, talora di impotente conforto, non più narratore ma per così dire osservatore a futura memoria; cadenza alcuni passaggi essenziali della vicenda di Adrian ma non gli è dato parlare; delinea acutamente aspetti e caratteri della personalità dell’amico compositore, ma non gli è dato penetrarne realmente il mondo fantastico.

Aus dieser Aussage geht die Absicht hervor, Zeitblom am Rande der Oper zu lassen, insofern es im Roman fast niemals so scheint, als dass Leverkühn seine Präsenz explizit will. Die Endfassung der Oper weist aber einige Veränderung der ursprünglichen Zeitblom-Konzeption auf, denn der ErzählerFootnote 156 darf im Epilogo sprechen. Seine Stimme ist gefühllos; bei Manzoni wirkt er wie ein Reporter oder ein Journalist, der das Leben Leverkühns still beobachtet und am Ende von dessen Verfall und Tod berichtet.Footnote 157 Dort erfahren die Zuhörer*innen wie in einem Krimiroman, dass die Figur, die sonst die ganze Oper lang alles lediglich beobachtet, Leverkühn kennengelernt hat. Auch das Kostüm, das er bei der Uraufführung trägt, kann sowohl an einen Journalisten als auch an einen Detektiv denken lassen (Abbildung 7.6) :

Abbildung 7.6
figure 6

Mit freundlicher Genehmigung der Fondazione Teatro alla Scala, Mailand

Die Skizze Versaces für Serenus Zeitblom (Programmheft: 62).

Daher könnte man sagen, dass erst am Ende der Versuch sichtbar wird, die zwei Ebenen der Extra- und Intradiegese – wenn auch in reduzierter Form – in der Oper zu reproduzieren. In der intermedialen Transposition herrscht aber – will man Thomas Manns Roman und Manzonis Oper unter dem Aspekt der Fokalisierung vergleichen – keine Nullfokalisierung wie im Roman, sondern eine externe Fokalisierung. Introspektion wird Zeitblom verboten, er ist auf ein eingeschränktes showing angewiesen.Footnote 158

Auch in der Endfassung erweist sich Zeitblom – bis zum Epilogo – als „Beobachter für die künftigen Generationen“.Footnote 159 Aleida Assmann macht darauf aufmerksam, dass „Beobachten […] Distanz und Entkörperung [impliziert]. Der Ertrag solcher Disziplin ist kognitive Sicherheit und rationale Kontrolle“.Footnote 160 Manzonis Zeitblom wirkt distanziert und entkörpert; man könnte sich fragen, ob er im Libretto an rationaler Kontrolle gewinnt und dementsprechend als zuverlässiger Erzähler eingestuft werden kann. Zwar wird er mit dem Liebesmotiv assoziiert, aber er betritt nie die Bühne mit seiner Viola d’amore, die als verstärkendes Element seines inkongruenten Erzählens zu bewerten ist. Darüber hinaus erfüllt Zeitblom – Manzonis Worten zufolge – auch eine Erinnerungsfunktion, indem er für künftige Generationen beobachtet. Dass sich seine Rolle aber nicht nur auf eine Beobachtungsfunktion reduzieren lässt, wird auch dadurch bestätigt, dass er – im Vergleich zu allen anderen Figuren der Oper – nicht singt, sondern rezitiert. Insofern lässt sich die Funktion von Zeitblom in der Oper auch durch Pfisters epische Kommunikationsstrukturen veranschaulichen: Diesen zufolge handelt es sich um eine sprachliche, figurenbezogene epische Kommunikationsstruktur, die auf eine spielexterne Figur (eine Erzähl- bzw. Spielleiterfigur) zurückgreift.Footnote 161

Anlässlich der Uraufführungen im Teatro alla Scala spielte Robert Wilson die Rolle des Serenus Zeitblom. Vergleichbar mit Hagens Autorinszenierung liegt hier eine Art Regisseurinszenierung vor, was darauf hinweisen könnte, dass Zeitblom trotz der Absenz der Liebesgeige und der Simulation einer externen Fokalisierung als Regisseur von Leverkühns Lebensgeschichte immerhin die absolute Kontrolle über die Biographie seines Freundes hat. Dies ist jedoch eine interpretatorische Entscheidung anlässlich einer Inszenierung und keine explizite Anweisung in der Partitur. Versucht man außerdem die Zeitblom-Figur bei Manzoni sowohl mit narratologischen als auch mit dramentheoretischen Kategorien zu vergleichen, so wird deutlich, dass die Fiktion, er sei für das Dargestellte verantwortlich, trotzdem hervorgerufen wird.

3 Fazit

Das vorliegende Kapitel widmete sich vor allem der Frage nach den Realisierungsmöglichkeiten von Unzuverlässigkeit im Medium der fiktionalen Schrift und im Medium der Musik. Der erste Teil untersuchte die Indizien, die dafür sprechen, dass Zeitblom ein unzuverlässiger Erzähler ist, was durch die Viola d’amore aus intermedialer Sicht verstärkt wird. Der zweite Teil hat gezeigt, dass alle drei Kompositionen auf das unzuverlässige Erzählen Zeitbloms eingehen und, grundsätzlich, wie sich Unzuverlässigkeit im Medium der Musik realisieren lässt: z. B. durch Verzierungen bei Fine, die Einbeziehung der mündlichen Musiktradition bei Hagen und die vorwiegend beobachtende Funktion Zeitbloms bei Manzoni, die darauf abzielen könnte, seine Unzuverlässigkeit zu überwinden, aber auch darauf, diese in einem indirekten, weniger expliziten Modus zu realisieren. Resümierend lässt sich sagen, dass dieses Kapitel gezeigt hat, dass der Medienvergleich noch mehr ins Detail gehen kann, wenn stets ein doppelter Blick, in diesem Fall: ein literatur- und einen musikwissenschaftlicher, angewandt wird. Ausgangspunkt der Analyse war in den vorigen Ausführungen sowie in vielen intermedial angelegten Untersuchungen eine einzige Textstelle, wo das Instrument Zeitbloms Erwähnung findet. In der Intermedialitätsforschung wird dieser Beleg als explizite Systemerwähnung bezeichnet: Bereits dort wird betont, dass sie eine wichtige Rolle spielt, indem sie intermediale Analysen in Gang setzt.Footnote 162 Das konnte dieses Kapitel beweisen und somit die in Einleitung und Kapitel eins beabsichtigte Anwendung der Theorie auf konkrete Beispiele umsetzen.

In Bezug auf die Forschungsfragen dieser Arbeit hob das vorliegende Kapitel zudem hervor, dass eine gründliche intermediale und narratologische Analyse des Vorlagetextes, also die werkinterne Intermedialität, eine ergiebige Grundlage für die Untersuchung von kompositorischen Reaktionen auf die Vorlage, also von werkexterner Intermedialität, bietet. Vor allem Manzonis Oper zwang daneben auch zu einem Blick auf den Roman zurück, denn sie provoziert die Frage – die wohl auch Erzähltexte betrifft – nach dem Grad an unzuverlässigem Erzählen je nach Darstellungsmodus. Im folgenden Kapitel wird die Erzählinstanz von Doktor Faustus erneut eine wichtige Rolle spielen, weil es primär darum geht, wie Hetaera Esmeralda durch Zeitblom charakterisiert wird.