Mit diesem Kapitel beginnt der dritte Teil der vorliegenden Untersuchung, der sich primär mit der Darstellung ausgewählter Figuren in Doktor Faustus und in darauf bezogenen Kompositionen befasst. Die folgenden Ausführungen widmen sich einem interpretatorischen Aspekt von Thomas Manns Doktor Faustus, mit dem sich die Forschungsliteratur zum Roman seit seiner Publikation immer wieder beschäftigt und der kontrovers diskutiert wird, nämlich der Einordnung des Dämonischen und dementsprechend der Einordnung des Romans. Der erste Teil des Kapitels wendet sich jenen hier in Anlehnung an Thomas Manns Definition des modernen Romans sogenannten Teufelsevocations zu, also jenen Symbolen, Motiven, Figuren und Orten des Romans, die das Dämonische im Text hervorrufen. Anschließend wird dem Teufelsgespräch, darunter den drei Gestalten des Teufels und der Wahl des Ortes, besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Schließlich werden einige Positionen aus der Forschungsliteratur vorgestellt, die sich – allgemein gefasst – den beiden Interpretationspolen des Faust-Romans und des Nicht-Faust-Romans zuordnen lassen. Im ersten aber auch im zweiten Teil des Kapitels zeichnet sich Zweideutigkeit als zentrales Merkmal sowohl der in Palestrina angesiedelten Kapitel als auch der Teufelsproblematik selbst aus. Der zweite Teil des Kapitels befasst sich mit Giacomo Manzonis Vertonung des Teufelsgesprächs, die keine eindeutige Antwort auf die Frage liefert, ob man von einer Teufelsfigur im Roman ausgehen oder das Teufelsgespräch eher als Leverkühns Delirium auffassen sollte, und daher die Ambiguität der Vorlage im Medium der Oper – besonders in Anbetracht der Partitur, weniger bei einer Analyse der Uraufführung – beibehält. Zugleich werden einige Aspekte des Romans verstärkt, etwa die Bezüge auf Shakespeare und der musikalische Raum Italiens, der im Teatro alla Scala „hörbar“ wird. Dieser Raum greift allerdings im Gegensatz zum Roman nicht auf Palestrinas geistige Musik, sondern auf Stimmtypen und Konventionen der italienischen opera buffa zurück und bringt somit den parodistischen Charakter der Palestrina-Kapitel aber auch des Romans selbst deutlich zum Ausdruck.

1 Der „Teufel“ in Doktor Faustus

Die Figur des Teufels sowie die Rolle des Dämonischen in Doktor Faustus sind einige der wahrscheinlich am stärksten kontrovers diskutierten Aspekte in der Forschungsliteratur zu Thomas Manns Roman: Der vorliegende Teil dieses Kapitels versucht einen kurzen Überblick über die bestehenden Positionen zu geben, was wiederum eine Positionierung des Kapitels selbst impliziert. Es handelt sich dabei um keine Festlegung, sondern eher um das Aufzeigen einiger Interpretationswege, indem das Augenmerk einerseits auf bestimmte textuelle Elemente und andererseits auf intra- und intermediale Bezüge gerichtet wird. Dies bietet einen guten Ausgangspunkt für die spätere Analyse einiger Bilder aus Manzonis Oper und trägt dem Roman selbst Rechnung. Die Darlegung des Teufels und des Dämonischen führt zur Auseinandersetzung mit einigen Kernfragen, welche die Doktor Faustus-Forschung seit jeher beschäftigen, z. B.: „Ist Thomas Manns ,Doktor Faustus‘ ein Faustroman?“Footnote 1 (so etwa Käte Hamburger 1969); oder: Kann Adrian Leverkühn als eine Verkörperung Fausts gesehen werden?; oder grundsätzlich: Gibt es überhaupt einen Teufel in Doktor Faustus?

Doktor Faustus erweist sich als ein offener Roman im Sinne Ecos.Footnote 2 Der Autor selbst kann das Werk nicht der Gattung ,Roman‘ zuordnen und schreibt es daher – zusammen eben mit Joyces Ulysses, dem Ecos Ausführungen gewidmet sind – in eine Tradition von ,Nicht-Romanen‘ ein. Deren wichtigste Eigenschaft sei, – und hier beruft sich Mann auf Levin – dass sie auf „evocation[s]“ (Ent: 73), also auf Evokationsakten, die Reminiszenzen entspringen, beruhen. Bemerkenswert ist hier, dass sich Thomas Mann eines Begriffs bedient, des Begriffs der Evokation, der gerade in der Intermedialitätsforschung eine wichtige Rolle spielt: Auch der Teufel und das Dämonische werden in Doktor Faustus durch eine vielschichtige Symbolik evoziert, denn im Gegensatz etwa zu Goethes Faust oder Eislers Johann Faustus findet man keine Figur (außer vielleicht im sogenannten ,Teufelsgespräch‘), die beispielsweise Mephistopheles heißt und an mehreren Stellen des Romans auftritt. Folglich ist im vorliegenden Kapitel in Bezug auf dieses ursprünglich transmediale Motiv des Dämonischen, das aber mit den Mitteln des jeweiligen Mediums (teil-)reproduziert wird, was bei Manzoni besonders deutlich wird, von ,Teufelsevocations‘ die Rede. Durch die Verwendung des sprachlich gemischten Kompositums soll auch die Einordnung des „Nietzsche-Roman[s]“ (Ent: 30) in die europäische Tradition des Romans seit Flaubert und James betont werden.Footnote 3

Mit den oben vorgestellten evocations befasst sich der erste Teil des vorliegenden Abschnitts, während der zweite Teil eine Analyse des Teufelsgesprächs im Roman ist und einige Positionen aus der Forschungsliteratur zur Einordnung oder Nicht-Einordnung von Thomas Manns Roman in die Bearbeitungen des Faust-Stoffes berücksichtigt. Sowohl durch die Untersuchung der Teufelsevocations als auch durch die Auswahl einiger Thesen aus der Forschungsliteratur zum Roman werden produktive Ambiguitäten sichtbar, die unter dem Terminus ,Zweideutigkeit(- en)‘ im zweiten Teil dieses Abschnitts subsumiert werden. Jene Zweideutigkeit der Musik „als System“ (DF: 74), die Leverkühn im Gespräch mit Zeitblom u. a. in Bezug auf die Enharmonik anspricht und die zu den am häufigsten erwähnten Zitaten aus dem Roman zählt, wird in der Narration (teil-)reproduziert: Dies wird so weit geführt, dass sich die Rezeption selbst als zweideutig definieren lässt, was mindestens zweidimensionale Interpretationen vieler der Teufelsproblematik zugehörigen Aspekte ermöglicht.

1.1 Teufelsevocations

In diesem Abschnitt soll zunächst einmal auf einige Aspekte der sogenannten ,Teufelssymbolik‘ eingegangen werden, welche Hamburger als „psychologisch-atmosphärische[] Verkörperung“Footnote 4 versteht. Die Zweideutigkeit solcher Aspekte – vergleichbar der Zweideutigkeit eines Tons im temperierten System, die sich z. B. in der möglichen Benennung eines Tons als cis oder des je nach Tonart äußert – wird in den Fokus gerückt. Hamburger kritisiert vor allem die Auffassung, nach der das Künstler*innenleben etwas Unnatürliches sei, und stellt viele Aspekte des Romans in Frage, die laut Zeitbloms Wiedergabe sowie einigen Beiträgen aus der Forschungsliteratur, auf die im Folgenden eingegangen wird, als dämonisch gelten: „Eine Künstlerexistenz“ sei „wohl erlesener und innerlich schwieriger, doch nicht unnatürlicher, nach außen hin nicht extremistischer Art“.Footnote 5

Eines der ersten Symptome von Adrian Leverkühns Neigung zum Dämonischen sei seine „Kälte“, – die sich metaphorisch als „Lebenskälte“ (DF: 364) interpretieren und sich auf einige seiner Charaktereigenschaften wie Einsamkeit, IndifferenzFootnote 6 und Hochmut übertragen lässt –Footnote 7 und die der Kälte des TeufelsFootnote 8 und der Hölle entspricht.Footnote 9 Diese Kälte ist vom Beginn des Romans an festzustellen: „Um ihn [Leverkühn] war Kälte“ (DF: 15; Herv. i. O.).Footnote 10 Prosopoietisch finden sich hier einige Konzepte von Adornos Musikphilosophie wieder: z. B. jenes gesellschaftliche „Geheimnis der Einsamkeit“ (PhnM: 48), auf das Schönberg gestoßen sei sowie die „gesellschaftliche Isolierung“ (PhnM: 24) der Kunst und die „Arroganz des ästhetischen Subjekts“ (PhnM: 26). Doch diese vermeintliche Teufelssymbolik lässt sich auch anders interpretieren, weil gerade diese Eigenschaft Leverkühn bestimmten politisch-ideologischen Auffassungen der damaligen Zeit gegenüber „kalt lässt“. Bei einer Diskussion innerhalb des studentischen Winfriedskreises wehrt er sich gegen die nationalistischen Stellungnahmen seines Kommilitonen Deutschlin, der z. B. deutsche Bürger*innen als „d[ie] ewig Strebende[n] unter den Völkern“ (DF: 174) ansieht.Footnote 11 Leverkühn demonstriert durch seine Argumentationen, welche die europäische Dimension des Kulturguts betonen, dass bestimmte Begriffe oder Tugenden nicht ausschließlich dem deutschen Volk zugeordnet werden können:

„Ist das so deutsch?“ fragte Adrian. „Wiedergeburt hieß einmal rinascimento und ging in Italien vor sich. Und ,Zurück zur Natur‘, das wurde zuerst auf französisch empfohlen“. (DF: 175)

Und:

„Hältst du Religiosität für eine auszeichnend deutsche Gabe?“ (ebd.)Footnote 12

Die Figur des deutschen Tonsetzers lässt sich den vorigen Zitaten entsprechend eher mit einem Kosmopolitismus verbinden. Auch Figuren aus seinem Umfeld tragen zu dieser Sicht bei und beeinflussen ihn, wie etwa sein Musiklehrer Wendell Kretzschmar. Dieser eröffnet „ihm die Reiche der Weltliteratur“ (DF: 108), verlockt „ihn durch Neugier erwekkende Vorberichte in die ungeheueren Gebreite des russischen, englischen, französischen Romans“ (ebd.), regt ihn „zur Beschäftigung mit der Lyrik von Keats, Hölderlin und Novalis“ (ebd.) an und gibt ihm „Manzoni und Goethe, Schopenhauer und Meister Ekkehart zu lesen“ (ebd.). Auch im musikalischen Bereich fördert Kretzschmar eine internationale Kenntnis der musikalischen Produktion:

Es freute ihn, und stundenlang hielt er sich dabei auf, seinem Schüler sinnfällig zu machen, wie Franzosen auf Russen, Italiener auf Deutsche, Deutsche auf Franzosen gewirkt. Er ließ ihn hören, was Gounod von Schumann hatte, was César Franck von Liszt, wie Debussy sich auf Mussorgsky stützte, und wo D’Indy und Chabrier wagnerisierten. (DF: 115)

Leverkühns „Weltscheu“ (DF: 194) besteht nach den Worten Zeitbloms aus „dem altdeutschen Provinzialismus von Kaisersaschern“ (DF: 240) und „einem ausgesprochenen Gesinnungskosmopolitismus“ (ebd.). Seine „Abneigung gegen das Deutschtum“ (ebd.), die er mit Rüdiger Schildknapp teilt, ist sowohl mit einer Art GleichgültigkeitFootnote 13 gegenüber der Welt als auch mit einem Bedürfnis nach „Welt und Weite“ (DF: 241) verbunden und führt ihn zur Wahl fremdsprachiger Texte für seine Kompositionen. Auch nach dem Teufelsgespräch verliert Leverkühn seinen Kosmopolitismus nicht: Er lässt später seine Apocalipsis „bei dem Fest der ,Internationalen Gesellschaft für neue Musik‘“ (DF: 547) aufführen und rückt von dem Weg zum Nationalsozialismus durch seine Isolierung in Pfeiffering ab. Außerdem zeigt er in seiner Musik die Einflüsse einer kosmopolitischen Musikausbildung, etwa in der apokalyptischen Komposition, die Jazz und französischen Impressionismus kombiniertFootnote 14 und in der Weheklag, die sich u. a. auf die Musik Monteverdis stützt.Footnote 15

Aus dieser Sicht bedeutet Leverkühns Kälte nicht nur einen Mangel an Empathie oder übertriebenen Intellektualismus, sondern weist auch auf ein kritisches Verhalten hin: Diese Tendenz, Dinge zu hinterfragen, erlaubt Leverkühn, sich von den Ideologien seiner Zeit zu distanzieren und ihnen eine kosmopolitische Vision der europäischen Kultur und Zivilisation entgegenzuhalten. Rohrmoser äußert einen ähnlichen Gedanken, allerdings über Leverkühns Krankheit:Footnote 16

Der Kranke gewinnt gegenüber der modernen Gesellschaft eine privilegierte Erkenntnissituation, weil er durch die Krankheit aus ihren Zwängen und Funktionen ausgesondert und zu ihr in Distanz gebracht wird.

Die Vorteile einer Krankheit werden vom „Teufel“ im Teufelsgespräch direkt angesprochen:

Krankheit, und nun gar anstößige, diskrete, geheime Krankheit, schafft einen gewissen kritischen Gegensatz zur Welt, zum Lebensdurchschnitt, stimmt aufsässig und ironisch gegen die bürgerliche Ordnung und läßt ihren Mann Schutz suchen beim freien Geist, bei Büchern, bei Gedanken. (DF: 339)

Diese Distanz, die eine Konsequenz seiner Kälte sowie seiner Krankheit ist, stellt daher „kein schweres ihn benachteiligendes Schicksal, sondern ein großes Privileg“Footnote 17 dar und macht folglich Leverkühn zu jenem Apokalyptiker,Footnote 18 zu jenem (teuflischen?) „Initiierten“ (DF: 188), der – so nochmals der „Teufel“ – „der Zukunft den Marsch“ (DF: 355) schlägt.

Genauer betrachtet, ist jedoch Leverkühns „Mangel[] an Wärme, an Sympathie, an Liebe“ (DF: 194) nicht total. Er mag eine bestimmte Art von Musik, etwa die kontrapunktische,Footnote 19 und wird später Esmeralda, wenn auch nicht lieben, so doch ihr nicht völlig gleichgültig gegenüberstehen. Im Laufe dieser Studie wird sich diese Charaktereigenschaft Leverkühns immer mehr als inkongruentes Element der Narration profilieren.

Ein weiteres teuflisches Element wäre außerdem die Musik, die als Ursache von Leverkühns Migräne, einem weiteren Teufelsindiz, betrachtet wird. Der Erzähler verweist bereits auf den ersten Seiten des Romans auf die enge Verquickung von Musik und Dämonischem:

Und doch ist nicht zu leugnen und ist nie geleugnet worden, daß an dieser strahlenden Sphäre das Dämonische und Widervernünftige einen beunruhigenden Anteil hat [...]. (DF: 13)

Gleichzeitig fehlt Leverkühn jedoch – so der Erzähler – „das Zigeunerblut des konzertierenden Künstlers“ (DF: 193), sodass der Komponist nicht einer dämonischen Tradition von teuflischen Musikern wie etwa Paganini oder Tartini zugeordnet werden kann.Footnote 20

Darüber hinaus nennt Zeitblom Augustinus als Beispiel für eine jüdisch-christliche Tradition, die das Lachen mit dem Teufel assoziiert und ebenfalls zu den Teufelsevocations des Romans zählt.Footnote 21 Gerade derselbe Augustinus hatte jedoch der Musik eine wichtige Rolle attestiert: Sie wird in De musica als ein Weg zum Göttlichen beschrieben. Die Musik lässt sich dementsprechend nicht nur aufgrund technischer Eigenschaften wie der Enharmonik, sondern auch aufgrund ihrer doppelten Einordnung in die Sphäre des Dämonischen und des Göttlichen als zweideutig bezeichnen.Footnote 22

Es existieren zahlreiche Beiträge, welche die Neigung der Hauptfigur zum Lachen als teuflische Symbolik interpretieren. Für Werner Röcke beispielsweise ist das Lachen „teuflischer Herkunft. Es ist ein Lachen der Überlegenheit und des Hochmuts, aber auch ein Lachen der sozialen Kälte und Isolation“.Footnote 23 Somit macht Röcke auch auf die interdependente Verflechtung einzelner Teufelsevocations aufmerksam, in diesem Fall: von Lachen, Kälte, Isolation und Hochmut; des Weiteren hebt er hervor, dass sich auch Hölle und Teufel „durch ihr satanisch-höhnisches Gelächter“Footnote 24 auszeichnen, das sich im „Pandämonium des Lachens“ (DF: 548) der apokalyptischen Komposition niederschlägt. Auch für Rosemarie Puschmann ist es als Zeichen von Zwiespältigkeit (daher ist auch das Lachen zweideutig) mit dem Satanismus verbunden.Footnote 25 Bei Kaiser wird das Lachen, das nicht nur mit der Kälte, sondern auch mit der Migräne verknüpft wird, als Leitmotiv der Narration betrachtet,Footnote 26 das im Laufe der fiktiven Biographie intensiviert werde: Seinen teuflischen Ursprung bestätige auch der „Teufel“ selbst.Footnote 27 Gerade auch Kaisers Auffassung vom Lachen als „Über-den-Dingen-Stehen[]“Footnote 28 ermöglicht eine Verknüpfung mit Leverkühns kritischem Verhalten der Gesellschaft gegenüber und öffnet daher die Tür zu einer anderen Interpretation dieser vermeintlichen Teufelssymbolik. Durch das Lachen, zu dem auch die parodistisch gefärbten Werke Leverkühns anregen, ist kritische Distanz und Reflexion möglich.

Leverkühn habe seine Neigung zum Dämonischen vom Vater, „ein[em] Spekulierer und Sinnierer“ (DF: 31), geerbt und Zeitblom behauptet, dieses Spekulieren habe „mit Hexerei zu tun“ (DF: 32). Diese Überzeugung wird vom Teufel bestätigt:

O, dein Vater ist in meinem Maule gar nicht so fehl am Ort. Er hatt es hinter den Ohren, mochte immer gern die elementa spekulieren. Das Hauptwee [...] hast du doch auch von ihm... (DF: 343)Footnote 29

Nicht nur die Migräne hat der Protagonist von Jonathan Leverkühn. Sein Vater zeigt daneben eine Tendenz zum „Lächeln“ (DF: 24); bei Adrian Leverkühn handelt es sich aber um echtes Lachen und die Migräne ist viel ausgeprägter.

Laut Piccolo wird im Gegensatz zum Vater Leverkühns Mutter als positive Figur im Roman dargestellt:Footnote 30 Nicht zufällig ist sie diejenige, die Leverkühn bis zum Tode nahe bleibt und daher innerhalb der Christus-Metaphorik des Romans, die u. a. durch die intermedialen Bezüge auf Marienklagen und Stabat Mater verstärkt wird, für Maria steht.Footnote 31 Zeitblom beschreibt sie als eine gut aussehende FrauFootnote 32 und betont ihr Misstrauen gegenüber der Musik und dem Musiklehrer ihres Sohnes.Footnote 33 Dennoch sei gerade Leverkühns Musikalität von der Mutter geerbt:

[I]ch [Zeitblom] spreche von ihrer schlichten, intellektuell durchaus anspruchslosen Person mit der Ehrerbietung, die die Überzeugung mir einflößt, daß das Genie des Sohnes der vitalen Wohlschaffenheit dieser Mutter viel zu danken hatte. (DF: 36)Footnote 34

In Buchel, wo Leverkühns Eltern wohnen, gibt es außerdem zwei weitere Figuren, die „mephistophelische“ Züge tragen. Eine ist die „Stallmagd namens Hanne“ (DF: 39), die gern mit den Kindern singt und sie Kanons lehrt. Sie ist dafür verantwortlich, Leverkühn „mit einer ,Musik‘ von etwas künstlicherer Bewegungs-Organisation in Berührung“ (DF: 47) zu bringen. Die andere Figur ist der „Hofhund Suso“ (DF: 40), der genau wie der Hund Kaschperl in Pfeiffering lachen kann.Footnote 35 Auch in Goethes Faust findet sich die Assoziation eines Hundes mit dem Teufel, da Mephistopheles zum ersten Mal in der Gestalt eines Hundes erscheint.Footnote 36

Unter den Dozenten des deutschen Komponisten gibt es ebenfalls einige, die dämonische Züge zeigen oder sogar für Teufelsemissäre gehalten werden könnten. Einer davon ist der bereits zitierte Musiklehrer und Organist Wendell Kretzschmar, ein Mann von „deutsch-amerikanischen Eltern“ (DF: 75), „mit Rundschädel, einem gestutzten Schnurrbärtchen und gern lachenden braunen Augen“ (DF: 76). Züge, die teuflisch anmuten, sind also der Schnurrbart und die lachenden Augen.Footnote 37 Die Vorträge des Dozenten erweisen sich als komisch-grotesk, was – so der Erzähler – sowohl an den ausgewählten Themen als auch an seinem ausgeprägten Stottern liegt. Außerdem hat Kretzschmar Leverkühns Musikstudium zu verantworten und thematisiert in seinen Vorträgen das Versagen der traditionellen Kompositionsformen, das daher die Dringlichkeit einer revolutionären Lösung in den Vordergrund rückt. Ein Beispiel dafür ist der Vortrag über die Frage, „,warum Beethoven zu der Klaviersonate opus 111 keinen dritten Satz geschrieben habe‘“ (DF: 79), der zudem wie im Fall der Zurücknahme der Neunten Symphonie erneut auf die Bedeutung der intramedialen Referenz auf Beethoven hinweist:Footnote 38

„Die Sonate“, so meine er [Kretzschmar] nicht diese nur, in c-moll, sondern er meine die Sonate überhaupt, als Gattung, als überlieferte Kunstform: sie selber sei hier zu Ende, ans Ende geführt, sie habe ihr Schicksal erfüllt [...]. (DF: 85)

Diese Beobachtung ist wieder ein Bezug auf Adornos Schriften;Footnote 39 die Figur Kretzschmar selbst kann für eine Karikatur des Philosophen gehalten werden.Footnote 40 So Thomas Mann in der Entstehung:

Dann spielte mir Adorno, während ich zuschauend bei ihm am Flügel stand, die Sonate opus 111 vollständig und auf höchst instruktive Art. Ich war nie aufmerksamer gewesen, stand am nächsten Morgen früh auf und widmete drei Tage einer eingreifenden Um- und Ausarbeitung des Sonatenvortrags, die eine bedeutende Bereicherung und Verschönerung des Kapitels, ja des Buches selbst bedeutete. In die poetisierenden Wort-Unterlegungen, mit denen ich das Arietta-Thema in seiner ursprünglichen und seiner volleren Schluß-Gestalt versah, gravierte ich, als versteckte Dankbarkeitsdemonstration, den Namen „Wiesengrund“, Adornos Vaternamen, mit ein. (Ent: 40)

Ob sich das wirklich für eine Dankbarkeitsdemonstration halten lässt, sei hier aufgrund des karikaturistischen und grotesken Charakters des Erzählens dieser Musikvorträge in Frage gestellt.

Dämonische Züge tragen auch zwei Dozenten an der Universität in Halle, wo Leverkühn einige Semester Theologie studiert. Die Entscheidung der Hauptfigur, sich dem Theologiestudium zu widmen, kommt für Zeitblom und die Leser*innenschaft unerwartet, insbesondere nach seiner intensiven Beschäftigung mit der Musik in Kaisersaschern.Footnote 41 Diese Wahl, die Leverkühn vielleicht aus Hochmut trifft, wie der Erzähler vermutet,Footnote 42 erweist sich bald als prekär. Denn Leverkühn teilt den theologischen und politischen Radikalismus seiner Kommilitonen nicht: Kurz nach der Beschreibung der bereits erwähnten Diskussionen innerhalb des Winfriedskreises ahnt Zeitblom, dass sein Freund „das theologische Studium noch vor dem ersten Examen“ (DF: 186) abbrechen wird. Der „Teufel“ wird später diese Entscheidung loben:

[A]ber du wolltest dich bald keinen Theologum mehr nennen, sondern legtest die Hl. Geschrift unter die Bank und hieltest es ganz hinfort mit den figuris, characteribus und incantationibus der Musik, das gefiel uns nicht wenig. (DF: 362)

Darüber hinaus trägt wahrscheinlich auch die Begegnung mit zwei seltsamen Dozenten zu dieser Entscheidung bei. Einer ist „der Systematik lesende Professor, Ehrenfried Kumpf“ (DF: 141), der einen „pittoresk-altertümlichen Sprachstil[]“ (DF: 142) hat und „Vertreter jenes Vermittlungs-Konservativismus mit kritisch-liberalen Einschlägen“ (ebd.) ist, der für den Erzähler Gefahr läuft, „zur Dämonologie zu werden“ (DF: 135). Zwar sind die Argumentationen des Professors eher progressiv, da er den Dogmatismus als die „intellektuelle Form des Pharisäertums“ (DF: 143) betrachtet, doch auch nationalistisch: Der Professor ist tatsächlich „ein Bejaher der Kultur, – besonders der deutschen, denn bei jeder Gelegenheit entpuppte er sich als ein massiver Nationalist lutherischer Prägung“ (ebd.).Footnote 43 Außerdem stehe er „mit dem Teufel auf sehr vertrautem, wenn auch natürlich gespanntem, Fuße“ (DF: 144).

Der andere noch „dämonischere“ Dozent ist Eberhard Schleppfuß, „eine kaum mittelgroße, leibarme Erscheinung, gehüllt in einen schwarzen Umhang, dessen er sich statt eines Mantels bediente“ (DF: 146). Schleppfuß ist laut Zeitblom eine weitere Verkörperung jener Art von Theologie, die dazu neigt, zur Dämonologie zu werden. Er kennt sich mit der Manipulation von Begriffen sehr gut aus und spricht gern „von der Macht der Dämonen über das Menschenleben“ (DF: 154). Die Versuchung ist für den Privatdozenten „keine Sünde, sondern […] eine Prüfung der Tugend“ (DF: 155), und ihr instrumentumFootnote 44 die Frau. Die Antizipationen der späteren Ereignisse im Leben der Hauptfigur sind hier offensichtlich; darüber hinaus bezeichnet sich der Dozent als „Diener“ (DF: 164) Leverkühns und/oder Zeitbloms,Footnote 45 was ein weiteres Indiz für die Betrachtung von Schleppfuß als Teufelsemissär sein könnte. Durch diese beiden Figuren soll Thomas Mann seinen Worten nach den Teufel „mehr und mehr Gestalt und Gegenwart“ (Ent: 58) gegeben haben. Jedoch flieht Leverkühn aus dieser nationalistischen, zum Dämonischen neigenden Theologie, um „sich ganz der Musik in die Arme zu werfen“ (DF: 190). Diese Flucht lässt vermuten, dass er mit diesem Bereich nichts mehr zu tun haben will. In diesem Kontext erscheint die Betrachtung der beiden Dozenten als Teufelsemissäre plausibler als die Leverkühns als Verkörperung Fausts: Sowohl bei Goethe als auch in der Historia interessiert sich Faust für diese Bereiche, um den Teufel beschwören zu können, was bei Thomas Mann nicht der Fall ist. Leverkühn widersteht folglich der Versuchung dieser beiden Dozenten und seiner Theologie-Kommilitonen.

Um die Liste der Teufelsemissäre zu vervollständigen, muss man auch vom Leipziger Dienstmann sprechen, der Leverkühn statt zu einem Gasthaus in ein Bordell führt, wo der Komponist Esmeralda begegnet.Footnote 46 Er sei

so ein Kerl, einen Strick um den Leib, mit roter Mütze und Messingschild, im Wetterumhang, teuflisch redend wie alle Welt dahier mit gesträubtem Unterkiefer, sah meiner [Leverkühns] Meinung nach entfernt unserem Schleppfuß ähnlich von wegen des Bärtchens. (DF: 207)Footnote 47

Darüber hinaus kann auch Leverkühns Freund Rüdiger Schildknapp der Figurenkonstellation zugeordnet werden, die den Komponisten zum Bösen führt. Schildknapps Augen haben die gleiche Farbe wie die LeverkühnsFootnote 48 und trotz des scheinbar gesunden Aussehens neigt er zur Tuberkulose.Footnote 49 Auch Schildknapp mag lachen: „Nie habe ich [Zeitblom] ihn so viel lachen, und zwar Tränen lachen, sehen, wie beim Zusammensein mit Rüdiger Schildknapp“ (DF: 249).Footnote 50 Als letzte „teuflische“ Figur sei hier kurz Baptist Spengler erwähnt, den Leverkühn in München im Hause Rodde kennenlernt und mit dem er sich trotz Warnungen von Ines Rodde, die ihm gegenüber ihr Misstrauen hinsichtlich Spengler offen anspricht, gern unterhält. Spengler, „aus Mitteldeutschland gebürtig, mit sehr starkem blonden Schnurrbart“ (DF: 290), sei „ein skeptischer Weltmann, vermögend, wenig arbeitend, hypochondrisch, belesen, stets lächelnd im Gespräch und rasch mit den Augen blinzelnd“ (ebd.). Bereits dieses Zitat reicht aus, um einige teuflische Züge identifizieren zu können, nämlich den Bart, das Lachen und in diesem Fall auch die „blinzelnd[en]“ (ebd.) Augen: Es wundert nicht, dass er in Palestrina vom „Teufel“ selbst als „Esmeraldus“ (DF: 339) und demnach als sein Emissär bezeichnet wird.

Neben der Auflistung von möglichen Teufelsemissären im Roman, die einige in die Sphäre des Dämonischen einordbare Motive und äußerliche Figurenmerkmale wie das Lachen, die Krankheit, den Schnurrbart, den Mantel aufweisen, gibt es eine zweite Auflistung, nämlich die von Städten: Ihre Beschreibung lässt ebenfalls dämonische Motive sichtbar werden. Zunächst sei die Stadt Leipzig erwähnt, wo Leverkühn vom „teuflischen“ Dienstmann zu Esmeraldas Bordell gebracht wird.Footnote 51 In Leipzig, „[c]entrum musicae, centrum des Druckwesens und der Buchgremplerei“ (DF: 205), „reden die Leute überaus teuflisch gemein“ (ebd.). In der Luft von Kaisersaschern sei dann auch „etwas hängengeblieben von der Verfassung des Menschengemütes in den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts, Hysterie des ausgehenden Mittelalters, etwas von latenter seelischer Epidemie“ (DF: 57 f.): An sie erinnert die Apocalipsis cum figurisFootnote 52 und auf sie verweist der „Teufel“ im Teufelsgespräch („Wenn du den Mut hättest, dir zu sagen: ,Wo ich bin, da ist Kaisersaschern‘“, DF: 330). Der „Teufel“ macht somit deutlich, dass Kaisersaschern nicht nur eine fiktive Stadt in der Narration, sondern auch Bestandteil von Leverkühns Identität und ein metaphorisch aufgeladener Raum ist. Hier intensiviert Leverkühn die Auseinandersetzung mit der Musik. Auch in München, dem Gründungsort der NSDAP, äußern sich die Teufelsevocations in Form einer „Gemütskrankheit“, die politisch und musikalisch in der Konvention verharrt und so auf die Sterilität der KunstFootnote 53 verweisen:

Wovon ich [Zeitblom] spreche, ist das München der späten Regentschaft, nur vier Jahre noch vom Kriege entfernt, dessen Folgen seine Gemütlichkeit in Gemütskrankheit verwandeln und eine trübe Groteske nach der anderen darin zeitigen sollten, – diese perspektivenschöne Hauptstadt, deren politische Problematik sich auf den launigen Gegensatz zwischen einem halb separatistischen Volkskatholizismus und einem lebfrischen Liberalismus reichsfrommer Observanz beschränkte [...]; München mit seiner stehengebliebenen Wagnerei [...]. (DF: 295 f.)

Was die Räume angeht, so muss auch das Lexem ,ungarisch‘ erwähnt werden: Kaiser weist darauf hin, dass es aufgrund der ungarischen Frau von Tolna und weiterer textueller Indizien, z. B. des Geschlechtsverkehrs von Leverkühn mit Esmeralda (also des „Teufelspaktes“) in der damals zum Königreich Ungarn gehörenden Stadt Pressburg (heute: Bratislava), mit dem Dämonischen verknüpft ist.Footnote 54

Ein weiterer, wichtiger Raum des Romans, der häufig im Werk Thomas Manns auftaucht, ist zweifelsohne der italienische. Dass dieser in Doktor Faustus mit dem Dämonischen verknüpft ist, scheint alleine von der Feststellung bestätigt zu sein, dass das Teufelsgespräch nahe Rom, und zwar in Palestrina, stattfindet. Die Analyse dieses Raumes ermöglicht, auf weitere Teufelsevocations sowie auf das Teufelsgespräch und auf die Darstellung des „Teufels“ selbst einzugehen. Auffällig scheint zunächst die Wahl des Ortes, wo Leverkühns Gespräch mit dem Teufel stattfindet. Palestrina ist in der italienischen Kultur dank des Musikers Giovanni Pierluigi da Palestrina bekannt, jedoch generell ein ungewöhnliches Urlaubsziel. Innerhalb des Schaffens der Gebrüder Mann spielt die Stadt aber eine bedeutende Rolle, da Heinrich an diesem Ort den Roman Die Kleine Stadt ansiedelt:Footnote 55 Dies kann auf die biographische Reminiszenz zurückgeführt werden, dass die beiden Brüder 1895–1897 lange Sommermonate in Palestrina verbrachten.Footnote 56

Im Gegensatz zum Roman seines Bruders scheint Palestrina und im Allgemeinen Italien im Gesamtwerk Thomas Manns eine ambivalente Konnotation zu erhalten: Das Land wird nicht wie bei Goethe als Mythos dargestellt, sondern dämonisiert, denn – so Erwin Koppen – „nicht selten zeigt sich der Tod (oder ist er der Teufel?) auch italienisch gewandet“.Footnote 57 Koppen weist zudem darauf hin, dass Thomas Mann oft eine ikonoklastische Technik der literarischen Darstellung anwendet, die auf der Zerstörung von Klischees, Stereotypen und Mythen basiert.Footnote 58 In Doktor Faustus wird diese Verknüpfung von Palestrina mit dem Dämonischen von einer intramedialen Referenz des Erzählers bekräftigt, dass die Stadt „von Dante im 27. Gesange des Inferno erwähnt“ (DF: 308) wird und zwar in Verbindung mit der Geschichte von Guido da Montefeltro.Footnote 59 Zudem berichtet Zeitblom von den im Zentrum und Süden Italiens nicht unüblichen schwarzen Schweinen, die in Palestrina herumlaufen und ebenfalls mit dem Dämonischen verknüpft sind.Footnote 60 Während der erneute Bezug auf Dante – ohne Zweifel ein Hypotext von Doktor Faustus – die Teufelsevocations verstärkt, verlieren diese durch die intermediale Einzelreferenz auf den Komponisten Palestrina an Bedeutung. Zur Zeit der Gegenreformation bewies er, etwa durch die Missa Papae Marcelli, dass die kontrapunktische Musik das Verständnis von heiligen Texten nicht verhinderte.Footnote 61 Einerseits betont diese Referenz noch einmal die zweideutige Verbindung der Musik nicht nur mit dem Dämonischen, sondern auch mit dem Himmlischen, andererseits verweist dies erneut auf Leverkühns Faszination für den Kontrapunkt und stellt daher die Auffassung in Frage, er sei allem gegenüber gleichgültig.Footnote 62 Durch die impliziten Referenzen auf die katholische Kirche, auf die sowohl der intermediale Bezug auf Palestrina (siehe eben die Missa Papae Marcelli) als auch der intramediale auf DanteFootnote 63 verweisen, wird der Raum auch religiös konnotiert: Hier spielt der Katholizismus und nicht mehr der Lutheranismus die Hauptrolle. Dieser zeichnet sich ebenfalls durch seine Zweideutigkeit aus, zum einen als Mäzen der Kunst, der allerdings keineswegs alles akzeptiert, und daher Konkurrent des „Teufels“, zum anderen als (bei Dante) Institution nicht ohne korrupte Oberhäupter. Die Nähe zu Rom konnotiert den Raum jedoch auch politisch: Auf der Deutungsebene der – so Thomas Mann in einem Brief an Oppenheimer – „faschistische[n] Intoxikation der Völker“Footnote 64 wird hier auf die ,Achse Berlin-Rom‘ angespielt, die zwischen den im Roman nie namentlich erwähnten Diktatoren Italiens und Deutschlands geschlossen wurde. So wird durch den indirekten Bezug auf den Papst und an anderen Textstellen des Romans durch den Bezug auf Luther die Schuld beider Konfessionen bezüglich ihrer Einstellung zum Faschismus betont.Footnote 65 Es ist eine komplexe Verflechtung von Religion, Politik und Musik, die sich unter dem Namen der Stadt subsumieren lässt und die zugleich jener deutschen Sehnsucht nach Italien seit Goethe ebenfalls eine gewisse Zweideutigkeit verleiht: Der „Teufel“, der Leverkühn dazu auffordert, nur auf Deutsch zu reden, der allerdings gleich danach ursprünglich aus anderen Sprachen stammenden Wörter wie „Paletot“, „Plaid“ und „Gentleman“ (DF: 326) verwendet,Footnote 66 will auf das „schöne[] Lande Italia“ (DF: 331), wo er „schöne Geschäfte“ (ebd.) hat, nicht verzichten.

Bereits in Dantes Canto ist die Rede von „teuflischen Gestalten“:Footnote 67 Im Teufelsgespräch hat man es nicht nur mit einem Teufel, sondern mit drei teuflischen Gestalten zu tun. Die erste Gestalt beschreibt Leverkühn – Zeitblom soll hier ein nachgelassenes Dokument von ihm abgeschrieben haben – wie folgt:

Ist ein Mann, eher spillerig von Figur, längst nicht so groß wie Sch.,Footnote 68 aber auch kleiner als ich – eine Sportmütze übers Ohr gezogen, und auf der andern Seite steht darunter rötlich Haar von der Schläfe hinauf; rötliche Wimpern auch an geröteten Augen, käsig das Gesicht, mit etwas schief abgebogener Nasenspitze [...]. Ein Strizzi. Ein Ludewig. Und mit der Stimme, der Artikulation eines Schauspielers. (DF: 327)

Leverkühn erwähnt hier als Erstes das Geschlecht des „ersten Teufels“, der eine Mütze wie der Leipziger Dienstmann, allerdings in diesem Fall eine Sportmütze, trägt. Das „teuflische“ Lexem ,rot‘ tritt mehrfach auf; des Weiteren redet und sieht der Teufel wie ein Schauspieler aus,Footnote 69 der vor allem über Zeit spricht und Leverkühn Zeit verkaufen will.Footnote 70 Die zweite Gestalt des Teufels als „Intelligenzler, der über Kunst, über Musik, für die gemeinen Zeitungen schreibt, ein Theoretiker und Kritiker, der selbst komponiert“ (DF: 347), lässt sofort an Theodor Wiesengrund Adorno denken. Der „zweite Teufel“ hat „einen weißen Kragen um und einen Schleifenschlips, auf der gebogenen Nase eine Brille mit Hornrahmen“ (ebd.) und „feucht-dunkle, etwas gerötete Augen“ (ebd.), zitiert offensichtlich aus der Philosophie der Neuen MusikFootnote 71 und spricht gerne von Beethoven.Footnote 72 Die Bezüge auf Adornos Werk und Biographie sind schwer zu übersehen; es scheint ein ironischer Zufall zu sein, dass gerade die Texte von Adorno, der laut Manzoni in seinen Schriften einen Teufel sucht,Footnote 73 in der Rede des zweiten Teufels zitiert werden.Footnote 74 Den „dritten Teufel“ beschreibt Leverkühn folgendermaßen:

Ein geteiltes Bärtchen am Kinn ging ihm beim Reden auf und ab, und überm offenen Munde, drin kleine scharfe Zähne sich sehen ließen, stand ihm das spitzgedrehte Schnurrbärtchen strack dahin.

Mußt ich doch lachen in meiner Frostvermummung ob seiner Metamorphose ins Altvertraute.

„Ganz ergebener Diener!“ sag ich. (DF: 327)

Die dritte Gestalt des Teufels erinnert Leverkühn an Schleppfuß; der Komponist redet ihn auch mit seinem typischen Gruß an. Es wundert daher nicht, dass diese teuflische Gestalt theologische Fragen nach dem Aussehen der Hölle und den Auswegen aus der Verdammnis mittels der contritio anspricht.Footnote 75 Kurz bevor Leverkühn fast ohnmächtig wird und dann auf dem Sofa den Freund Schildknapp sitzen sieht, erscheint wieder „das Mannsluder, der käsige Ludewig in der Kappe, mit roten Augen“ (DF: 362), also der erste, pragmatische Teufel, der die Bedingungen des durch den Geschlechtsverkehr mit Esmeralda unterschriebenen Paktes, darunter das Liebesverbot, bespricht.

Die vorigen Ausführungen konnten zeigen, dass sich Teufelsevocations auf verschiedenen Ebenen der Analysen identifizieren lassen, z. B. in Bezug auf Figuren, Motive und Städte. Diese Indizien sprechen zugleich für und gegen die Präsenz eines Teufels im Roman und sind folglich zweideutig. Solche Zweideutigkeiten soll der folgende Teil näher beleuchten.

1.2 Zweideutigkeit(-en)

Zunächst einmal sei hier der Beobachtung Aufmerksamkeit geschenkt, dass in den in Palestrina angesiedelten Kapiteln die Zahl zwei dominiert. Lexikalisch-rhetorisch lässt sich das an geminationes wie „endlich, endlich“ (DF: 324) oder an den Ausrufen von Mitgliedern der Familie Manardi, etwa „Bevi, bevi!“ (DF: 325), feststellen. Auch in Zeitbloms Beschreibung von Leverkühns Dokument taucht die Zahl zwei mehrfach auf. Es handele sich um ein „Zwiegespräch“ (DF: 323), das Leverkühn auf ein Stück Notenpapier niedergeschrieben haben soll, das wie folgt aussieht: „Es fallen immer zwei Zeilen auf das obere Fünfliniensystem und zwei auf das Baß-System; aber auch der weiße Raum dazwischen ist durchweg mit je zwei Schreibzeilen ausgefüllt“ (DF: 324). Weiters wird die Zahl in Leverkühns Beschreibung des Raumes, wo mit großer Wahrscheinlichkeit das Teufelsgespräch stattfand, genannt: dies sei ein „zweifenstrige[r] Wohnraum“ (DF: 308).Footnote 76 Darüber hinaus kristallisieren sich im Roman und in den Ausführungen der vorliegenden Studie verschiedene Binäroppositionen, etwa die Kälte des Teufels und der Hölle vs. die Wärme der Hölle und der „Flammen der Produktion“ (DF: 335) sowie die himmlische vs. die teuflische Musik. Man könnte denken, die herrschenden Zweideutigkeiten der in Palestrina angesiedelten Kapitel (Walter Benjamin verbindet Zweideutigkeiten mit dem Dämonischen)Footnote 77 seien in der Gestalt des Teufels nicht berücksichtigt worden, da sich dieser durch seine drei Gestalten auszeichnet. Dennoch kehrt am Ende des Gesprächs die erste Gestalt zurück und stellt folglich die Zahl vier, das Vielfache von zwei, in den Vordergrund; allerdings interagiert Leverkühn im Kapitel insgesamt mit vier Figuren bzw. mit vier unterschiedlichen Stimmen, da am Ende des Gesprächs Schildknapp auf dem Sofa sitzt und mit Leverkühn redet. Auf vielen Ebenen der narratologischen Analyse versucht das Medium der fiktionalen Schrift, die Zweideutigkeit des temperierten musiktonalen Systems zu reproduzieren.

Aufgrund dieser Zweideutigkeiten lässt sich das Teufelsgespräch und Thomas Manns Roman im Allgemeinen keineswegs eindeutig interpretieren. Wie ist der „Teufel“, der aus diesem Grund in dieser Studie oft in Anführungszeichen angegeben wird, zu klassifizieren: Als Figur? Als Symbolik? Als beides? Weder als Figur noch als Symbolik? Diese Fragen verknüpfen sich mit Fragen nach der Klassifikation des Romans selbst. Sieht man den Teufel nicht als Romanfigur, dann wird die Definition des Werkes als Bearbeitung des Faust-Stoffes in Frage gestellt; im umgekehrten Fall kann Manns Roman unproblematisch der Faust-Tradition zugeordnet werden. Auch in den Interpretationen des Werkes zeigt sich eine gewisse Zweideutigkeit, obwohl besonders in puncto Teufelsproblematik zahlreiche Auslegungen vorliegen, die sich nicht so dichotomisch etikettieren lassen. Im Folgenden sei auf einige Positionen eingegangen. Hannum, die Doktor Faustus als den letzten Faust-Roman betrachtet, stellt 1974 die These ins Zentrum ihrer Analyse, der Teufelspakt stelle die Selbst-Opferung Leverkühns dar.Footnote 78 Impliziert sei dies im Befehl des Teufels „Du darfst nicht lieben“ (DF: 363); Leverkühn erscheine auf verschiedenen Ebenen als ein Selbstopfer, da er seine psychische und physische Gesundheit sowie sein Glück opfert.Footnote 79 Hannum verbindet diese Selbstopferung mit Nietzsches Konzept vom Übermenschen, denn Leverkühn, der gegenwärtige Mensch, mache Platz für den zukünftigen.Footnote 80 Diese Position könnte man auch mit Deleuzes und Guattaris Auffassung, der Teufelspaktes sei ein masochistischer Vertrag, in Verbindung bringen.Footnote 81 Auch Rohrmoser interpretiert 2005 die Figur Leverkühns als Opfer: „Das Schicksal Adrian Leverkühns ist ein Stellvertreterschicksal. Er steht für die Not und das Leiden der Zeit“;Footnote 82 zudem ist Corbineau-Hoffmann zufolge (1995) Leverkühn nicht Urheber seiner Werke, sondern ihr Opfer.Footnote 83 Diese Interpretationen verweisen auf die Deutungsperspektive der imitatio Christi.Footnote 84

Gegen diese Perspektive spricht aber die Tatsache, dass sich Leverkühn „mit voller Absicht“Footnote 85 infiziert. Dies kommt etwa in der Oper Giacomo Manzonis durch Esmeraldas insistente Wiederholung der Worte „Guardati dal mio corpo“Footnote 86 – „Hüte dich vor meinem Körper“ –Footnote 87 deutlich zum Ausdruck. Die Versuchung Satans sei also im Roman nicht gescheitert und die Begegnung mit dem Bösen die Konsequenz einer „Wunschdisposition“Footnote 88 Leverkühns – so Röcke 2000 im in Unterabschnitt 6.1.1 erwähnten Aufsatz zum Lach-Motiv in Doktor Faustus.

Del Caro untersucht 1988 die Wichtigkeit der Rolle des Teufels: „[W]hat makes the devil useful to an author is the impunity with which the devil is allowed to speak“.Footnote 89 Da Del Caro den Satan für einen Advokaten hält, könne der Autor – eine gewisse biographical fallacy der Untersuchung lässt sich hier nicht übersehen – durch diese Figur auch die von ihm nicht geteilten Ansichten verteidigen.Footnote 90 Die Originalität dieser These besteht aber darin, dass der Satan als ein dialektisches Mittel angesehen und dementsprechend die alternative Bezeichnung des Teufelsgesprächs als Teufelsprozess vorgeschlagen wird.

Die bisher vorgestellten Positionen gehen von der Annahme aus, der Teufel sei eine Figur von Doktor Faustus. Auch Thomas Mann leugnet dies in seinen Schriften nicht: In den Tagebüchern bezieht er sich beispielsweise explizit auf diese FigurFootnote 91 und betont die Bedeutung der Motive aus der Faustsage für die Montage-Technik des Werkes.Footnote 92

Es gibt einige Argumente, die für eine gewisse Skepsis gegenüber der möglichen Definition als Faust-Roman sprechen. Das erste ist, dass die Art von Syphilis, an der die Hauptfigur leidet, zur Demenz führen kann. Thomas Mann hatte sich über die Spirochaeta pallida informiert: „Gelesen in ,Syphilis des Zentralnervensystems‘“,Footnote 93 liest man in den Tagebüchern. Infolgedessen könnte Satans Vision in Palestrina eine Konsequenz des mit der Krankheit verbundenen Deliriums sein, da die Ansteckung schon stattgefunden hat. Dies vermutet Adrian Leverkühn selbst im Teufelsgespräch:

Viel wahrscheinlicher ist es, daß eine Krankheit bei mir im Ausbruch ist und ich den Fieberfrost, gegen den ich mich einhülle, in meiner Benommenheit hinausverlege auf eure Person und euch sehe, nur um in euch seine Quelle zu sehen. (DF: 328)Footnote 94

Viele weitere textuelle Indizien weisen auf eine Art Rollenspiel hin, bei dem am Ende die Person „nicht mehr weiß, wer oder was das Ich ist“Footnote 95 und das Vietta unter dem Begriff der „Subjektdissoziation“Footnote 96 subsumiert.Footnote 97 Auch in Leverkühns Abschiedsrede, die ihn ebenfalls mit der Figur Fausts assoziieren soll, häufen sich die textuellen Indizien für ein psychisches Delirium.Footnote 98 Maar plädiert 1989 wie Vietta für die Idee eines Rollenspiels im Teufelsgespräch und definiert den Teufel wie folgt:Footnote 99

Reflektierte Präsenz, wie wir annehmen dürfen, wenn wir nicht daran, daß Thomas Mann im Ernst an den Leibhaftigen glaubte, unsererseits ernsthaft glauben wollen, sondern eher überlegen: ob er nicht im fünfundzwanzigsten Kapitel einen dreiteiligen Spiegel aufklappt, der Leverkühn wenig schmeichelhafte Aspekte seiner Person entgegenwirft, in dessen Mittelfeld der Gespiegelte sich aber noch am wenigsten entstellt finden wird?

Das zweite Argument verknüpft die Forschungsliteratur mit der säkularisierten Perspektive von Doktor FaustusFootnote 100 und mit der Religiosität Thomas Manns: In Piccolos Monographie, L’onnipotenza imperfetta (2010), wird Thomas Mann für den laizistischen Humanisten par excellenceFootnote 101 gehalten; auch Crawford ist in ihrem Aufsatz (2003) der Auffassung, der Schriftsteller überwinde in Doktor Faustus die Mythen und Symbole der literarischen Vergangenheit dank eines „secular modernism“.Footnote 102 Dies scheint auch Manns Auffassung von Nietzsches Religiosität zu entsprechen, auf die sich der Nietzsche-Roman beziehen könnte:Footnote 103

Die überkonfessionelle Religiosität, von der er spricht, kann ich mir nicht anders vorstellen als gebunden an die Idee des Menschen, als einen religiös fundierten und getönten Humanismus, der vielerfahren, durch vieles hindurchgegangen, alles Wissen ums Untere und Dämonische hineinnähme in seine Ehrung des menschlichen Geheimnisses.

Auch der Begriff der Zweideutigkeit könnte wohl ein intramedialer Bezug auf Nietzsche sein, der in seinem Werk – so Vietta – „den Begriff der ,Zweideutigkeit‘ der Moderne exponiert“.Footnote 104

Diese Säkularisierung des Faust-Stoffes werde in Doktor Faustus so weit geführt, dass es sich für Crawford überhaupt nicht lohnt, einen Teufel hineinzudeuten: „[I]t is time we exorcise the devil from Mann’s Doktor Faustus because there is no devil in the novel“,Footnote 105 stellt sie lapidar fest. Pfleger war bereits 1957 der gleichen Auffassung: „Der Teufel und sein metaphysisches Korrelat“Footnote 106 glänze im Roman „durch vollkommene Abwesenheit“.Footnote 107 Käte Hamburger versucht, eine Erklärung zu liefern, wieso es so schwierig sei, den Roman als eine Bearbeitung des Faust-Stoffes zu lesen:Footnote 108

In der Tat bietet der Roman das eigentümliche Phänomen dar, daß wir den modernen Komponisten Adrian Leverkühn keineswegs als einen Faust erleben, seine menschliche Existenz und künstlerische Situation durchaus unabhängig von einem Faustmuster verstehen können.

Die Leser*innenschaft neigt Hamburger zufolge nicht nur dazu, einen Gegenentwurf zu Zeitbloms unzuverlässiger Darstellung der Ereignisse zu erstellen, sondern stellt auch Paratexte des Romans (vor allem den Titel selbst) und Kommentare des Autors automatisch in Frage.

Wie aber soll man das Teufelsgespräch interpretieren, wenn man es mit keinem Faust-Roman zu tun hat? Laut Hamburger als eine „dichterische Produktion Leverkühns“;Footnote 109 Crawford stimmt dieser Interpretation zu und glaubt, das Teufelsgespräch sei in der Tat ein Fragment für die Weheklag:Footnote 110 Im Kapitel vor dem Teufelsgespräch erfährt die Leser*innenschaft durch Zeitblom, dass Leverkühn an der Vertonung von Shakespeares Komödie Love’s Labour’s Lost in Palestrina arbeitet. Dabei werden nicht nur inhaltliche Entsprechungen zum Teufelsgespräch sichtbar, etwa die Präsenz eines Königs und dreier Gefährten, die sich mit den drei Teufelsgestalten vergleichen lassen, oder der Verzicht auf die Liebe, bei Shakespeare zugunsten der intensiven Beschäftigung mit der Philosophie, in Doktor Faustus hingegen mit der Musik.Footnote 111 Vielmehr ähnelt das Teufelsgespräch auch dem komisch-grotesken Charakter von Shakespeares Stück, der in Manns Roman ebenfalls erkennbar wird, z. B. an der Tatsache, dass der eine Sportmütze (!) tragende Teufel seinem Gegenüber dazu auffordert, auf Deutsch zu reden, obwohl er selbst ständig die Sprache wechselt. Gleichwohl könnte das Teufelsgespräch eine reine Erfindung des unzuverlässigen Erzählers sein: Beispiele seiner Unzuverlässigkeit sind allemal zu finden, man braucht nur daran zu denken, dass Zeitblom wieder nicht anwesend war und dass er das Dokument mit zitternder Hand aus einem undatierten Notenpapier abschreibt.Footnote 112 Börnchen spricht 2006 sogar von einer „geheime[n] Identität“Footnote 113 zwischen Zeitblom und Leverkühn, was – zusammen mit Kinzels Betrachtung von Zeitblom als Agenten des Teufels – die Tür zu folgenden Fragen öffnet: Sind denn Zeitblom und Leverkühn etwa dieselbe Figur? Erzählt Zeitblom doch von sich selbst? Ist Zeitblom der eigentliche Faust des Romans?

Börnchen weist in seiner Monographie mehrfach darauf hin, dass das Schreiben einer Biographie die Bewältigung eines Paradoxons impliziere, nämlich das des Erzählens vom Leben im toten Zeichenkörper der Buchstaben, was in Doktor Faustus durch die „musikalische“ Faktur des Textes, der durch das Vorlesen neue Interpretationen ermögliche, aufgehoben wird.Footnote 114 Dieses Schwingen der Sprache ist, genau gesehen, im Fall von Thomas Manns „Musiker-Roman“ (Ent: 25) ein (verstimmtes) Mit-Schwingen vergleichbar zur Aufführungspraxis des Instruments, das der Erzähler spielt und das sich ebenfalls kraft der Präsenz von Spiel- und Resonanzsaiten, der möglichen Anwendung der Scordatura und, nicht zuletzt, der Praxis der Verzierung durch Zweideutigkeit auszeichnet: Der Roman muss vorgelesen und – wie (nicht nur) in der Aufführungspraxis barocker Musik – mehrfach wiedergelesen werden, denn jedes Vorlesen und Wiederlesen verleiht der Interpretation neue Konnotationen.Footnote 115

Doktor Faustus ist nicht nur von Teufelsevocations geprägt, sondern auch (vergleichbar zum oben erwähnten Stück Shakespeares) von Komik und Humor nicht selten grotesker Natur: Börnchen betont unter Bezug auf Thomas Manns Selbstkommentare, Paul de Man und Friedrich Schlegel eben diese Eigenschaft des Textes, indem er zugleich darauf hinweist, dass es sich „um eine Entscheidung [handle], Komik oder Humor und Allegorizität zu sehen“.Footnote 116 Das komische Potenzial von Doktor Faustus tritt auch in den in Palestrina angesiedelten Kapiteln zutage, etwa in der Charakterisierung der Familie Manardi. Signora Manardi beispielsweise, „von den Ihren Nella genannt – ich glaube, sie hieß Peronella“ (DF: 309), sei „eine stattliche Matrone römischen Typs“ (ebd.). Nicht weniger grotesk wirkt daneben die Figur Amelias,

ein leicht zum Närrischen geneigtes Kind, das die Gewohnheit hatte, bei Tische den Löffel oder die Gabel vor ihren Augen hin und her zu bewegen und dabei irgend ein Wort, das ihr im Sinn hängen geblieben, mit fragender Betonung wiederholt vor sich hin zu sprechen. (ebd.)

So wiederholte sie nach dem Aufenthalt eines Gespenstersehers „Spiriti? Spiriti?“ und nach dem eines deutschen Touristen, der „nach deutschem Muster“ das Wort melone „als weiblich behandelt hatte“, „La melona? La melona?“ (DF: 310). Auch bei der Charakterisierung der männlichen Familienmitglieder wird nicht auf Komik verzichtet: der Advokat Ercolano wird „meist kurz und mit Genugtuung l’avvocato genannt“ (ebd.), während Sor Alfonso, „der Jüngere, etwa Mitte vierzig, von den Seinen vertraulich ,Alfo‘ angeredet“ wird, da er ein einfacher „Landmann“ (ebd.) ist. Der Advokat darf den nicht nur damaligen und nicht ausschließlich italienischen Höflichkeitsvorschriften gemäß, welche die gesellschaftlichen Verhältnisse widerspiegeln, nicht mit einem liebevollen Spitznamen angesprochen werden. An erster Stelle muss immer sein prestigevoller Beruf stehen. Nichts ist ihm verboten:

Der Advokat übte allem Anschein nach seinen Beruf nicht mehr aus, sondern las nur noch die Zeitung, – dies allerdings unausgesetzt, wobei er sich an heißen Tagen erlaubte, in seinem Zimmer bei offener Tür in Unterhosen zu sitzen. (DF: 310 f.)

Der einzige, der sich über dieses Verhalten beschwert, ist der Landmann Alfo, wobei Privilegien, die vom sozialen Status abhängig sind, erneut durch die Komik der Narration zutage treten.

Eine Schilderung der opulenten Mahlzeiten darf natürlich nicht fehlen: „eine gehaltvolle Minestra, Singvögelchen mit Polenta, Scaloppini in Marsala, ein Hammelgericht oder Wildschwein mit süßer Zukost, auch viel Salat, Käse und Früchte“ (DF: 312) werden aufgezählt und am Ende gibt es Kaffee und Zigaretten. Signora Manardi kann selbst nach einer solchen Mahlzeit fragen, ob die Gäste satt sind und ob sie vielleicht noch ein bisschen Fisch essen möchten. Wichtig für sie ist, dass die Gäste viel Wein trinken, denn „[f]a sangue il vino“ (ebd.). In diesem falsch zitierten Sprichwort finden sich die zwei koexistierenden Deutungsperspektiven. Erstens verweist das Blut auf den Teufel, und speziell auf den Teufelspakt – es handelt sich zudem in diesem Fall um kein gutes Blut, da das Sprichwort in der Regel: Il vino fa buon sangue lautet. Zweitens wird dies von einer komisch-grotesken Figur geäußert und verweist auch auf eine gewisse Genussfähigkeit sowie zugleich auf einen gewissen italienischen Aberglauben, was zu den wiederkehrenden Topoi in den Narrationen über Italien zählt.Footnote 117 Der intramediale Bezug auf Heinrich Manns Die kleine Stadt wird hier deutlich, da bestimmte Mikroformen des Romans erwähnt und reproduziert werden;Footnote 118 darüber hinaus profiliert sich auch in der literarischen Narration über Italien eine signifikante Zweideutigkeit: Italien als Land der KulturFootnote 119 vs. Italien als Land des Aberglauben, der Genussfähigkeit und der Volkstümlichkeit.Footnote 120

Coincidentiae oppositorum lassen sich im gesamten Roman indizieren: Auch die Weheklag ist beispielsweise zugleich expressiv und streng in der Form.Footnote 121 Diese coincidentiae finden sich auch in der Zwölftontechnik, nämlich in jener „,Indifferenz‘ von Harmonik und Melodik“ (PhnM: 64), die Leverkühn prosopoietisch verkörpert und Adorno so erörtert:

In einfachen Fällen wird die Reihe zwischen Vertikale und Horizontale verteilt und, sobald die zwölf Töne vollständig sind, wiederholt oder durch eines der Derivate ersetzt [...]. (PhnM: 64)

In diesem Kontext verwundert kaum, dass die in der Dodekaphonie zentrale Zahl zwölf ebenfalls ein Vielfaches von zwei ist und somit wieder auf die Zweideutigkeit hinweist: Die vorliegenden Ausführungen begannen mit der lexikalischen Bedeutung der Zahl zwei und wurden dann auf weiteren Ebenen der literaturwissenschaftlichen Analyse fortgeführt. Darüber hinaus findet sich das Wesen der Neuen Musik Adorno zufolge „einzig in den Extremen“ (PhnM: 14) ausgeprägt, was mit sich bringt, dass er diese Werke nicht einmal als ,Werk‘ bezeichnen würde.Footnote 122 Ein verwandtes Konzept drückt Thomas Mann in Bezug auf die Literatur, und speziell auf den Roman seiner Zeit, in der Entstehung aus:

Mein Vorurteil war, daß neben Joyces exzentrischem Avantgardismus mein Werk wie flauer Traditionalismus wirken müsse. Daran ist wahr, daß traditionelle Gebundenheit, sei sie selbst schon parodistisch gefärbt, leichtere Zugänglichkeit bewirkt, die Möglichkeit einer gewissen Popularität in sich trägt. Doch ist sie mehr eine Sache der Haltung als des Wesens. „As his subject-matter reveals the decomposition of the middle class“, schreibt Levin, „Joyce’s technique passes beyond the limit of realistic fiction. Neither the Portrait of the Artist nor Finnegan’s Wake is a novel, strictly speaking, and Ulysses is a novel to end all novels.“ Das trifft wohl auf den Zauberberg, den Joseph und Doktor Faustus nicht weniger zu, und T. S. Eliots Frage „whether the novel had not outlived its function since Flaubert and James [...]“ korrespondiert genau mit meiner eigenen Frage, ob es nicht aussähe, als käme auf dem Gebiet des Romans heute nur noch das in Betracht, was kein Roman mehr sei. (Ent: 73; Herv. i. O.)

Der Autor selbst betrachtet einige seiner Werke, darunter auch Doktor Faustus, zusammen mit Werken von Joyce als „Nicht-Romane“, weil sie mit Konventionen der vorigen Epochen gebrochen haben – mit der reservatio, dass Thomas Mann dem obigen Zitat entsprechend Joyces Romanen Avantgardismus und seinen eher Traditionalismus zuschreibt.Footnote 123 Die Kategorie des Romans selbst sei seiner Meinung nach in der Moderne zweideutig geworden und bedürfe einer Infragestellung, die also nicht nur die Einordnung von Doktor Faustus in die Bearbeitungen des Faust-Stoffes, sondern im Allgemeinen die Gattung ,Roman‘ selbst betrifft. Durch jene evocations und Zweideutigkeiten verweise der Roman der Moderne im Endeffekt auf sich selbst, ähnlich der Neuen Musik, die zugleich von Selbstreferentialität und Zweideutigkeit geprägt ist.Footnote 124

Umberto Eco definiert die ästhetische Botschaft sui generis als zweideutig und autoreflexiv:Footnote 125

Die Botschaft hat eine ästhetische Funktion, wenn sie sich als zweideutig strukturiert darstellt und wenn sie als sich auf sich selbst beziehend (autoreflexiv) erscheint, d. h. wenn sie die Aufmerksamkeit des Empfängers vor allem auf ihre eigene Form lenken will. [...]

Eine völlig zweideutige Botschaft erscheint als äußerst informativ, weil sie mich auf zahlreiche interpretative Wahlen einstellt, aber sie kann an das Geräusch angrenzen, d. h. sie kann sich auf bloßes Geräusch reduzieren. Eine produktive Ambiguität ist die, welche meine Aufmerksamkeit erregt und mich zu einer Interpretationsanstrengung anspornt. [...]

[E]ine Botschaft, die mich in der Schwebe zwischen Information und Redundanz hält, die mich zu der Frage treibt, was das denn heißen soll, während ich im Nebel der Ambiguität etwas erblicke, was auf dem Grunde meiner Decodierung leitet, eine solche Botschaft beginne ich zu beobachten, um zu sehen, wie sie gemacht ist.

Auch Thomas Manns Roman stellt die Leser*innenschaft, wie dies auch das vorliegende Kapitel belegt, auf zahlreiche interpretative Optionen ein und erzeugt viele produktive Ambiguitäten. Er kann, um mit Eco weiter zu argumentieren, im Deutungsprozess jedoch auch nur auf die Oberfläche des Textes reduziert werden und daher die Aufmerksamkeit lediglich auf seine Form lenken. Als Vorbild für dieses Phänomen von gleichzeitiger Autoreflexivität und Zweideutigkeit dient in Doktor Faustus die Zweideutigkeit der Musik: Der Thomas Mann zufolge hybride, schwer definierbare Nicht-Roman, der sich mit dem Adorno zufolge hybriden, schwer definierbaren Nicht-Werk der Neuen Musik vergleichen lässt, versucht diese Zweideutigkeit der Musik zu reproduzieren.

Obwohl lediglich der zweite Teil des vorliegenden Abschnitts den Titel „Zweideutigkeit(-en)“ trägt, gibt es auch im ersten Teil Doppeldeutigkeiten, die folglich als roter Faden der präsentierten Argumentationen dienen: Die Frage nach der Präsenz eines Teufels bzw. einer Teufelssymbolik im Roman lässt sich aufgrund der vielen Ambiguitäten des Textes nicht pauschal beantworten. Dies ergibt sich aus einer Analyse, die sich von der Untersuchung der Motive bis hin zur Berücksichtigung von Stoff und Form erstreckte. Doktor Faustus versucht eher, die im Text erwähnte Zweideutigkeit der Musik im Medium der fiktionalen Schrift zu reproduzieren. Im folgenden Abschnitt wird untersucht, ob und wie in Manzonis Oper dieser Eigenschaft des Textes und folglich diesen produktiven Ambiguitäten Rechnung getragen wird und wie grundsätzlich der Transfer des Teufelsgesprächs in das neue Medium geschieht.

2 Vom Roman zur Musik

In diesem letzten Abschnitt wird auf die Rezeption der Teufelsproblematik, vor allem durch die Analyse von Manzonis Teufelsgespräch in der Doktor Faustus-Oper eingegangen. Mit der Teufelsproblematik beschäftigt sich mehr oder weniger die Mehrheit der in dieser Studie behandelten Kompositionen: Die Komponistin Fine, deren Werk im nächsten Kapitel behandelt wird, macht etwa darauf aufmerksam, dass die Auseinandersetzung mit bestimmten interpretatorischen Fragen, z. B. mit Zeitbloms Zuverlässigkeit und eben mit dem Teufel, fundamentale Voraussetzung für das Transferieren/Transformieren von Mikroformen der Vorlage ist.Footnote 126 Jedoch zählt Manzonis Oper zu den wenigen existierenden Transpositionen des Romans, die nicht nur eine Antwort auf die Frage, ob es einen Teufel in Doktor Faustus gebe, zu liefern versuchen, sondern auch das Teufelsgespräch selbst vertonen.

2.1 Gender troubles der italienischen Operntradition: Giacomo Manzonis Teufelsgespräch

Im Folgenden soll die Aufmerksamkeit auf das sechste Bild aus Manzonis Oper, deren Entstehung und Eigenschaften im fünften Kapitel dieser Arbeit bereits thematisiert wurden,Footnote 127 gerichtet werden. Das Teufelsgespräch im sechsten Bild stellt den wichtigsten und längsten Teil des ersten Aktes von Manzonis Oper dar (M-DF: 59–106). Die Anweisung für das Bühnenbild ist erneut vage: „Un luogo o più luoghi“ (M-DF: 59), also „ein Ort oder mehrere“.Footnote 128 Das Bühnenbild ist schlicht und dunkel. Bei Thomas Mann ruft Leverkühn, als er eine Person im Zimmer fühlt: „Chi è costà!“ (DF: 326), in der italienischen Übersetzung ergänzt Pocar „grido in italiano“ (I-DF: 259), „Ich rufe auf Italienisch“, um den Sprachwechsel zu verdeutlichen. Da dies im Medium der Oper nur im Libretto, und zwar im Nebentext, möglich wäre, wird hier die Entscheidung getroffen, den Sprachwechsel auch bei der Aufführung beizubehalten, daher die Übersetzung ins Englische: „Who’s there?“ (M-DF: 59, T. 486 f.). Durch diese auf den ersten Blick wenig bedeutende Beobachtung tauchen einige relevante Aspekte der Veroperung auf: Manzoni hätte das Zitat auch etwa ins Französische übertragen können. Die Verwendung der englischen Sprache erlaubt der Oper, sich indirekt auf die bei der Auswahl der Figur ausgelassene Figur Schildknapp zu beziehen, der sich zum Zeitpunkt der histoire ebenfalls in Palestrina befand und beruflich eben Texte ins Englische übersetzte.Footnote 129 Auch antizipiert das die spätere Vertonung von Shakespeares The Tempest bei der Echo-Episode, da bei Manzoni die fiktive Vertonung Leverkühns wie die Weheklag transponiert wirdFootnote 130 sowie den späteren, im vorigen Kapitel bereits erwähnten intermedialen Bezug noch einmal auf Shakespeares The Tempest gleich nach der Entscheidung, die Neunte Symphonie zurückzunehmen („Then to the elements. Be free, and fare thou well!“, DF: 694, M-DF: 191, T. 660). Zugleich wird somit indirekt auf eine weitere Vertonung verwiesen, mit der sich Leverkühn zum Zeitpunkt des Teufelsgesprächs in Palestrina beschäftigt, nämlich die von Love’s Labour’s Lost, also ebenfalls eine Vertonung nach Shakespeare. Die Bezüge des Romans auf Shakespeare werden in der intermedialen Transposition hervorgehoben, indem sie gleichzeitig das Augenmerk auf Leverkühns Kosmopolitismus und sein Interesse nicht nur an deutschsprachigen Vorlagen richten.

Der Teufel fordert Adrian auf, in seiner Sprache zu sprechen, die in diesem Fall nicht Deutsch ist, da das Gespräch auf Italienisch geführt wird. Er sei da, „per trattare d’affari“ (M-DF: 59, T. 493), also „um die Geschäfte mit […] [ihm] zu besprechen“ (DF: 327). Nachdem Adrian wegen der Kälte des Teufels Mantel und Hut angezogen hat, sagt er: „Siete qui ancora? Mi assale il sospetto che non ci siate affatto“ (M-DF: 60, T. 498 f.; „Ihr seid noch da […]. Das wundert mich. Denn nach meiner starken Vermutung seid ihr nicht da“, DF: 328). So werden bei Manzoni wie auch in Manns Roman sofort die Zweifel Adrians thematisiert, was er sieht und fühlt. Manzoni interpretiert in seinen Schriften den Teufel als eine bloße Projektion des kranken Leverkühn: Die venerische Ansteckung, deren Opfer Adrian geworden ist, verursache Veränderungen in der Zellstruktur des Gehirns, was Auswirkungen auf die mentalen Prozesse des Protagonisten hätte.Footnote 131 Im Interview, welches im Zuge dieser Arbeit geführt wurde, sagt Manzoni, dass ein Komponist doch nicht auf die Figur des Teufels verzichten könne.Footnote 132 Abgesehen von den Widersprüchlichkeiten, die oft in den Selbstäußerungen eines Autors auftauchen, steht tatsächlich die gesamte Oper – wie auch Thomas Manns Roman – im Zeichen eines zwiespältigen Verhältnisses zwischen der Deutungsebene des Faust-Romans und dem Eindruck eines Deliriums, wie im Folgenden aufgezeigt wird.

Leverkühn wiederholt mehrmals „Taci, taci!“ (z. B. M-DF: 66, T. 533 f.),Footnote 133 als ob er diese Visionen stoppen wolle. Durch diese Aufforderung zum Schweigen tritt auch in der intermedialen Transposition das Motiv des Schweigens in den Vordergrund, das etwa Frau Schweigestill prosopoietisch verkörpert, die nicht zufällig mit ihren bayerischen Worten Leverkühns Abschiedsrede zum Schweigen bringt.Footnote 134 Darüber hinaus personifiziert der Teufel jenen Ausweg aus der Sterilität der Kunst durch eine revolutionäre Lösung, der im fünften Kapitel der vorliegenden Studie angesprochen wurde: Diese Lösung setzt sich der anderen Möglichkeit, der des Verstummens, also des Schweigens, entgegen.Footnote 135 Zwar erscheint im Roman die Aufforderung zum Schweigen nicht als rhetorische geminatio,Footnote 136 das Motiv taucht jedoch an exponierter Stelle auf, und zwar gleich in den ersten Zeilen von Leverkühns Schrift: „,Weistu was so schweig. Werde schon schweigen‘“ (DF: 324). Weiters wird es in Verbindung mit der Musik genannt, und zwar wieder durch einen Vergleich zwischen dem Schreiben eines sprachlich fixierten Textes und dem Schreiben einer musikalischen Komposition: „Schweige es alles hier aufs Musikpapier nieder“ (DF: 325). Manzonis Oper, die nur aus Zitaten in direkter Rede aus dem Roman besteht, rückt das Motiv des Schweigens durch die geminatio in den Vordergrund, was in der Komposition auch mit dem dort zentralen Motiv der Sprachkrise verknüpft ist.Footnote 137

Die Worte „Taci, taci!“ begleiten die Erklärungen des ersten Aussehens des Teufels, als „Lui I“, „Er I“ in der Partitur benannt: In diesem Fall präzisiert der Satan die Dauer des Paktes. Der erste Teil dieses Bildes konzentriert sich hauptsächlich auf das Gespräch zwischen Adrian und Lui I, der mit einer Bassstimme singt. Dem Orchester wird eine Begleitfunktion zugewiesen (Abbildung 6.1):

Abbildung 6.1
figure 1

Lui I spricht mit Adrian. M-DF: S. 65 f., T. 530–535. Vgl. DF: 332

An dem obigen Notenbeispiel wird ein weiteres Motiv sichtbar, das auch in dem Teufelsgespräch von Doktor Faustus eine zentrale Rolle spielt, nämlich das der Zeit.Footnote 138 Das Erste, was der Teufel Leverkühn anbietet, ist eben Zeit: Im Vergleich zu Gott kann der Teufel keine Unendlichkeit anbieten, dementsprechend wird hier – darauf weist auch Kinzel hin – „befristete Zeit und ein gesetztes Ende“Footnote 139 angeboten. Das Ende wird bei Manzoni im Gegensatz zum Roman sofort erwähnt: „ventiquattr’anni“, also vierundzwanzig Jahre. Diese Zeit ist ebenfalls zweideutig, denn die Disziplinierung der Frist – so Kinzel – ermögliche die Produktion. Die Zeit ist daher Ausdruck der Enge und Breite zugleich und erfülle eine doppelte Funktion als „Medium der Produktion“Footnote 140 einerseits und „als Maß des Tauschs“Footnote 141 andererseits. Dieses Konzept findet sich in den Worten des ersten Teufels wieder, der im Roman feststellt: „und […] so eine Zeit [ist] auch eine Ewigkeit“ (DF: 363), sprich: begrenzte Zeit erlaube unbegrenzte Produktion.

In den Paratexten der Oper wird der Teufel nicht einmal als solcher bezeichnet: Auch im fiktiven Dialog des Romans werden die Äußerungen des Teufels durch die Angabe „Er:“ (z. B. DF: 361; Herv. i. O.) angekündigt. Im Medium der Oper wird der dialogische Charakter des Textes verstärkt, der kraft dessen für einen Entwurf einer vokalen Komposition Leverkühns gehalten werden könnte. Bei Manzoni wird zudem jedes Mal spezifiziert, um welche Gestalt des Teufels es sich handelt (Lui I, Lui II und Lui III): Die Oper zielt auf eine größere Präzision und Klarheit in einigen Details der histoire ab, was auch durch die unmittelbar explizit genannte Frist (24 Jahre) zum Ausdruck kommt und darüber hinaus durch die Auslassung von Zeitbloms ständigen Digressionen möglich ist.Footnote 142 Die präzisen Angaben zur jeweils singenden Gestalt des Teufels, dem auch jeweils eine unterschiedliche Stimmlage gegeben wird (Bass, tenore leggero und Sopran), erweckt wie in der Abschiedsrede den Eindruck einer Persönlichkeitsspaltung, die in Manzonis Oper mit der Präzision eines Arztberichts erfasst wird. Adrian befindet sich aber noch in diesem Schwebezustand zwischen Wahnsinn und Rationalität und begreift nicht, dass die Stimmen bzw. Projektionen aus ihm selbst kommen: Deswegen werden sie in der Oper als ,Lui‘ bezeichnet und nicht etwa als ,Io‘, ,Ich‘ oder ,Adrian‘, was auch dafür sprechen könnte, dass es sich doch nicht um eine Form von Persönlichkeitsspaltung handelt, denn Manzoni hätte sie auch als Adrian I, II und III bezeichnen können. Bei der Uraufführung wird Leverkühns Entfremdung und infolgedessen die Deutungsebene des Deliriums noch deutlicher als in der Partitur betont, indem Adrian nie auf Lui schaut.

Das Wort „patto“, „Pakt“, das die Deutungsebene des Faust-Romans sowie das zeitgebundene Motiv der Endlichkeit erneut in den Mittelpunkt rückt, wird durch ein Crescendo, die Forte-Dynamik und eine darauf folgende Fermate besonders hervorgehoben (Abbildung 6.2):

Abbildung 6.2
figure 2

„Der Pakt“. M-DF: 67, T. 541 f.

Dank der Verwendung der italienischen Sprache bewirkt Manzonis Oper anders als der Roman eine noch explizitere Anspielung auf Dantes Commedia: „Ma intanto si scende in basso, fra nausee e dolori“ (M-DF: 69, T. 550 ff.).Footnote 143 Im Roman liest man:

Und entsprechend tief, ehrenvoll tief, geht’s zwischendurch denn auch hinab, – nicht nur in Leere und Öde und unvermögende Traurigkeit, sondern auch in Schmerzen und Übelkeiten. (DF: 337)

Die Verwandlung von Lui I in Lui II ist, auch im Fall der nächsten Verwandlung in Lui III, von erregter Orchestermusik gekennzeichnet. Wenn Lui II singt, übernimmt das Orchester im Allgemeinen eine deutlichere kommentierende Funktion im Vergleich zum Part von Lui I: Besonders dramatisch wirkt die orchestrale Begleitung bei der Erklärung der Krankheit Adrians durch Lui II (M-DF: 74–77). Dies kann einerseits daran liegen, dass das Gespräch mehr ins Detail geht, da Leverkühns Art von Krankheit und seine musikalische Inspiration thematisiert werden. Andererseits könnte es auch sein, dass der zweite Teufel mit dem „Musikintelligenzler“ (DF: 327) korrespondiert. Dementsprechend wird ihm auch eine besondere Stimme, die des tenore leggero, gegeben und der musikalische Verlauf erweist sich, wenn er mit dem von Lui I verglichen wird, als deutlich virtuoser (Abbildung 6.3):

Abbildung 6.3
figure 3

Virtuoser Verlauf von Lui II. M-DF: 77, T. 594 ff.

Wenn Lui II „Dovrà ben il diavolo intendersi di musica“Footnote 144 singt, lautet die Anweisung „liberamente“, „frei“, als ob er sein musikalisches Talent durch eine Art kleiner Improvisation beweisen wollte (Abbildung 6.4):

Abbildung 6.4
figure 4

Lui II als Musikintelligenzler. M-DF: 80, T. 627 f.

Der zweite Lui spielt mit der Musik; darüber hinaus wäre der Stimmtypus des tenore leggeroFootnote 145 für eine Oper mit tragischer Handlung, besonders im Teatro alla Scala, ungeeignet:Footnote 146 Manzonis Oper zeigt hier ihr komisches Potenzial und spielt mit der Oper selbst, und zwar speziell mit der italienischen, in einem der wahrscheinlich renommiertesten Opernhäuser der Welt.Footnote 147

Noch merkwürdiger könnte auf den ersten Blick die Wahl einer Sopranstimme für Lui III erscheinen: Warum wurde diese Teufelin nicht als ,Lei I‘ bezeichnet? Die weibliche Darstellung des Bösen unter einem männlichen Namen führt in der Oper zu einer Zweideutigkeit, welche die Kategorie des Geschlechts betrifft. Auch scheint sich hier ein gender trouble zu profilieren, der die traditionellen Geschlechterklassifikationen (selbst die grammatikalischen) in Frage stellt und subvertiert.Footnote 148 Solche gender troubles kennt allerdings die italienische Oper seit jeher, da in ihrem Rahmen Kastraten und die Interpretation männlicher Rollen durch weibliche Sängerinnen nicht unüblich sind: Manzonis Oper erweist sich als sekundäres intermediales Produkt, das sich der italienischen Sprache statt der deutschen bedient und auf die musikalische Tradition Italiens zurückgreift. Der Vagheit in den Raumangaben – es mag beispielsweise erstaunen, dass ausgerechnet Manzonis Oper nicht Palestrina als Ort im Nebentext angibt – wird eine größere Präzision in der musikalischen Faktur entgegengestellt, die sich dem musikalischen Raum der italienischen Oper zuordnet und somit indirekt auf den Raum der Vorlage, Palestrina, verweist.

Zentrale Stellung nehmen die Worte von Lui III ein, da sie vom Orchester nicht begleitet werden und folglich die Aufmerksamkeit der Zuhörer*innen auf sich lenken: „[Q]uesti estremi devono piacerti“ (M-DF: 88, T. 673), „Das Extreme daran muß dir gefallen“.Footnote 149 Damit hebt Lui hervor, dass der fehlende Mittelweg ein Merkmal der Persönlichkeit Adrians schon vor dem Teufelspakt und -gespräch war. Er kann von Beginn der Romanhandlung an für eine exzentrische Figur gehalten werden, auch ohne die Hilfe des Teufels. Dementsprechend betont der Teufel im Roman, dass die Hölle für Leverkühn „nichts wahrhaft Neues, […] im Grunde nur eine Fortsetzung des extravaganten Daseins“ (DF: 360) sein wird.

Ab Takt 676 singt nochmals Lui I; im Takt 704 werden die Worte „a te non è lecito amare“ (M-DF: 94, T. 704), „Du darfst nicht lieben“,Footnote 150 wesentlich betont. Für Manzoni handelt es sich in Doktor Faustus um eine doppelte Strafe: Leverkühn muss nicht nur seine Seele dem Teufel geben, sondern darf auch keinen Menschen lieben.Footnote 151 Der Komponist scheint also der Deutungsperspektive zuzustimmen, die Leverkühn als Opfer sieht. Er sei verpflichtet, die Bedingungen eines ungewollten Teufelspaktes zu akzeptieren; zugleich – wie im vorigen Kapitel angesprochenFootnote 152 – hebt Manzoni mehrfach in seinen Selbstkommentaren hervor, dass durch den Teufelspakt Leverkühns Komponieren enorm an Kreativität und Innovationspotenzial gewinnt: Die Bedingungen des Teufelspakts selbst kristallisieren sich in Manzonis Schriften als zweideutig heraus, da sie Selbstopferung aber auch Belohnung implizieren.

Während Adrian, Ungläubigkeit ausdrückend, „Non amare!“ (M-DF: 94, T. 705), „Nicht lieben!“,Footnote 153 im Forte und dramatisch singt, betritt Serenus Zeitblom die Bühne, der dank seiner Viola d’amore und seiner Zuneigung für Leverkühn mit dem Liebesmotiv assoziiert ist und die Szene still beobachtet. Es scheint jedoch, dass Adrian seine Präsenz nicht wahrnimmt. Am Ende des Bildes betreten auch andere Figuren die Bühne: Sind sie andere Teufel? Symbolisieren sie die Verwirrung im Kopf Adrians, da nun die drei Lui-Projektionen bzw. Figuren begonnen haben, gleichzeitig zu singen? Man gewinnt den Eindruck, sich in Adrians Unterbewusstsein zu befinden, in dem das Chaos des Wahnsinns herrscht. Die Lui singen nun zu zweit, dann singt nur ein Lui solo, danach alle drei zusammen; ihre Worte können kaum verstanden werden, da ihnen verschiedene Textstellen aus dem Teufelsgespräch des Romans anvertraut sind.Footnote 154 Vielleicht hängt die Wahl der gleichzeitigen Präsenz der drei Teufel davon ab, dass viele Sätze die erste Person Plural verwenden, etwa „Freddo ti vogliamo“ (M-DF: 103, T. 738 f.), „Kalt wollen wir dich“.Footnote 155

Dieses Chaos führt zu einem schallenden Gelächter, das die Illusion durchbricht und nach dem die Teufel verschwinden und Adrian ohnmächtig wird. In Doktor Faustus sieht Leverkühn danach Rüdiger Schildknapp, der auf dem Sofa sitzt: Dieser Teil fehlt bei Manzoni, da Schildknapp wie auch Schwerdtfeger bei der Auswahl der Figuren ausgelassen wurde.Footnote 156 Während und nach dem Bewusstseinsverlust Adrians hört man einen off-stage singenden Chor, der einige als semantisches Feld der Hölle und der Verdammnis klassifizierbare Wörter singt („inferno, carcer, exitium, pernicies, condemnatio“, M-DF: 104 f., T. 743–747) und daher die Deutungsperspektive des Faust-Romans wieder in den Vordergrund rückt. Dieser Chor setzt sich aus männlichen Stimmen (Bariton und Bass) zusammen und soll laut der Partituranweisung mit einem leicht metallischen Klang verstärkt werden:Footnote 157 Der Teufel firmiert bei Manzoni vor allem unter männlichem Namen. Diese geschlechtliche Markierung überwindet nur die Inszenierung, die kein genderneutrales Kostüm für die weiblichen Teufelinnen vorsieht und zugleich der Tatsache Rechnung trägt, dass in Doktor Faustus die Kleidung des Teufels eine wichtige Rolle spielt, da sie detailliert wiedergegeben wird (Abbildung 6.5):

Abbildung 6.5
figure 5

Mit freundlicher Genehmigung der Fondazione Teatro alla Scala, Mailand

Die Skizze Versaces für eine Teufelin. Programmheft Teatro alla Scala, S. 57

Die diesbezüglichen Entscheidungen werden folgendermaßen erläutert: „I diavoli con la coda non mi piacciono, i diavoli vestiti da diavoli non mi interessano, perché il diavolo è dentro di noi“.Footnote 158 Bei der Uraufführung wird also die interpretatorische Entscheidung getroffen, Teufelsgestalten zu zeigen, die wie Menschen aussehen, auf die Adrian jedoch niemals schaut: Einerseits wird die „Normalität“ des Teufels hervorgehoben, andererseits das Spannungsverhältnis zwischen der Deutungsperspektive des Faust-Romans und der des Nicht-Faust-Romans ein wenig ins Schwanken gebracht, indem der Aspekt des Deliriums mit verschiedenen Mitteln der Oper realisiert wird.Footnote 159 Wer also in Manzonis Oper eine deutliche Antwort auf die Kontroverse um den Teufel im Roman sucht, mag – besonders in Anbetracht der Partitur – enttäuscht sein, da dort viele kontroverse und interpretatorisch ambivalente Aspekte kaum an Klarheit gewinnen und lediglich in das plurimediale Medium der Oper transferiert und mit seinen Mitteln wiedergegeben werden. Es sind weitere Aspekte, die bei Manzoni verstärkt werden und die das Medium Oper durch die nötige Reduktion des Ursprungstextes besonders hervorhebt: Zu diesen zählen die Bezüge auf Shakespeare und der musikalische Raum Italiens. Diesen letzten Punkt betreffend, wird jedoch in der Oper auf Palestrinas geistige Musik verzichtet und die Entscheidung getroffen, ganz im Bereich der profanen Musik, auch in dem der opera buffa, zu bleiben, was den parodistischen Charakter der Vorlage verstärkt.

3 Fazit

Im vorliegenden Kapitel wurden insbesondere die Zweideutigkeiten, also die produktiven Ambiguitäten, die zutage treten, wenn man sich mit der Teufelsproblematik in Doktor Faustus aus verschiedenen Blickwinkeln, etwa durch eine textimmanente Analyse oder ein Resümee bestehender Forschungspositionen, befasst, in den Blick genommen. Manzonis Werk behält diese Ambiguitäten, die im Medium der Oper zusätzlich auch durch Ambiguitäten, die die Kategorie des Geschlechts betreffen, ergänzt werden. Aus intermedialer Sicht ist anzumerken, dass ein Teil der kompositorischen Rezeptionsgeschichte von Doktor Faustus darauf aufmerksam macht, dass Zweideutigkeit bei der Darstellung der faustischen Elemente des Romans so wichtig ist, dass sie auch im neuen Medium beibehalten werden muss. Die Oper ist in der Lage, Ambiguität auf die Bühne zu bringen, indem sie mit Stimmtypen aber auch mit typischen nationalbedingten Traditionen und Anspielungen spielt. Für den Zweck einer Analyse sowohl des Romans als auch der intermedialen Transpositionen gilt es demnach diese Zweideutigkeiten aufrechtzuerhalten, ohne sie auflösen zu wollen.

Die Betrachtung der Teufelsproblematik ist mit diesem Kapitel keineswegs beendet: Alle Werke der vorliegenden Studie konfrontieren sich mit dieser zentralen Deutungsfrage, auch wenn sie die Mikroform des Teufelsgesprächs doch nicht in das neue Medium transferieren. Daher werden die im ersten Teil des vorliegenden Kapitels dargelegten Positionen aus der Forschungsliteratur, die sich primär mit der Frage nach der Präsenz eines Teufels und folglich mit der Einordnung des Romans auseinandersetzten, die Analyse in den nächsten Kapiteln weiter begleiten. Die dort geschilderten Auffassungen, z. B. bezüglich der Selbstopferung Leverkühns oder der Infragestellung der Definition des Faust-Romans, scheinen sich nämlich in vielen Kompositionen niederzuschlagen und verbinden so die wissenschaftliche mit der kompositorischen Rezeption von Thomas Manns Werk.