Das vorliegende Kapitel setzt sich aus intra-, inter- und transmedialer Perspektive nicht nur mit Leverkühns letzter Komposition, wie der Titel verspricht, sondern darüber hinaus auch mit den letzten Kapiteln des Romans auseinander. Ein erster Grund für diese Entscheidung ist, dass sich die Kompositionen, die im zweiten Teil dieses Kapitels behandelt werden, sowohl der Kantate Dr. Fausti Weheklag als auch dem Ende von Doktor Faustus zuwenden: Dementsprechend scheint eine Kontextualisierung aller erwähnten Kapitel aus dem Roman für die spätere Analyse erforderlich.Footnote 1 Ein zweiter Grund besteht darin, dass die Beschreibung von Leverkühns Komposition im Medium der Schrift ohne Rückgriff auf Notenzitate es verunmöglicht, ihre Grenzen zu erkennen, da u. a. auf einer zeichentheoretischen Ebene kein musikalisches Endzeichen zu sehen ist. Das „Pathos der Klage“Footnote 2 setzt vor der Weheklag ein, zumindest mit Echos Tod und erstreckt sich über alle darauf folgenden Seiten bis zum Endzeichen, dem Wort „Ende“ (DF: 658), das die Nachschrift und den Roman selbst beschließt.

Infolgedessen wird im ersten Teil des Kapitels auf das Klage-Motiv in Doktor Faustus und in der Musikgeschichte eingegangen: Der Ausdruck kristallisiert sich in Leverkühns Dr. Fausti Weheklag, in der zum ersten Mal die Dodekaphonie Anwendung findet, als religiös konnotierter Klage-Ausdruck wie im Fall der Marienklage oder des Stabat Mater heraus. Neben dem Klage-Motiv beschäftigt sich der erste Teil des Kapitels vor der Analyse der Kompositionen auch mit einigen intra- und intermedialen Bezügen der letzten Kapitel des Romans. Zu diesen zählen die Referenzen auf Adornos Musikphilosophie, vor allem was die Mythisierung Beethovens, die Auffassung einer Sterilität der Kunst und mögliche Auswege aus ihr sowie die Ausdrucksfähigkeit der Neuen Musik angeht. Die Idee einer Rekonstruktion des Ausdrucks innerhalb der strengen Form spielt in T. W. Adornos Philosophie der neuen Musik eine wichtige Rolle. Des Weiteren stellen die letzten Kapitel von Doktor Faustus einige Akteure der Musikgeschichte, die auch in Adornos Schriften wiederholt erwähnt werden, prominent in den Vordergrund: z. B. Beethoven, dessen Neunte Symphonie Leverkühn zurücknehmen will und auf den die im zweiten Teil des Kapitels behandelten Kompositionen ebenfalls Bezug nehmen. Mit der Untersuchung der Funktion der vielen intermedialen Einzel- und Systemreferenzen des Textes geht die Absicht einher, die Analyse des apokalyptischen Diskurses in Thomas Manns Doktor Faustus, die im Zentrum von Kapitel vier stand, zu vervollständigen: Es wird versucht, eine Antwort auf die Frage zu geben, wo und mit welchen Mitteln das Stadium B der Transzendenz bezüglich des musikalisch deklinierten apokalyptischen Diskurses im Roman erreicht werden könnte. Mit den Mitteln der Musik, und speziell der Neuen Musik, scheint eine Überwindung der Sterilität der Kunst, also des apokalyptischen Zustandes der Musik, laut Zeitbloms Darstellung kaum möglich: Die Anwendung der Zwölftontechnik – die intramedialen Bezüge auf Adorno verstärken diese Auffassung – scheitert im Roman, was sich aber schon durch das Vorlesen des Textes und noch stärker durch den Transfer in das Medium der Musik überwinden lässt. Die hier genannten Aspekte verweisen alle auf den übergeordneten Diskurs der Sterilität der Kunst, auf den die Kompositionen ebenfalls reagieren. Die Anzahl der Musikwerke, die sich mit den letzten Kapiteln des Romans auseinandergesetzt haben und die im zweiten Teil des vorliegenden Kapitels behandelt werden, scheint dafür zu sprechen, dass sich diese letzten (kontroversen) Kapitel des Romans besonders gut dafür eignen, in das Medium der Musik oder in die Plurimedialität der Medienkombination transferiert zu werden: Dadurch werden sie ergänzt, revidiert oder auch in Frage gestellt.

Der zweite Teil des Kapitels beginnt mit einer Kontextualisierung der Oper Manzonis (1989) und schildert einige Akte und Bilder, die sich der Weheklag, der Abschiedsrede und dem Tod Leverkühns widmen. Besonders intensiv geht Manzonis Werk der Frage nach, wie sich Wahnsinn im Medium der Oper realisieren lässt. Mit dieser Frage beschäftigt sich auch Ránkis Stück Leverkühns Abschied (1979), das allerdings ein Monodrama ist. Diese intermediale Transposition stellt die Dimension des Faust-Romans in den Vordergrund und erhebt Leverkühn zum absoluten Protagonisten sowie zur autodiegetischen Erzählinstanz (im weiteren Sinne des Wortes). Ruzickas „…ZURÜCKNEHMEN…“ (2009) stellt in dieser Studie als verdeckte Form von Intermedialität eine Ausnahme dar. Die rein instrumentale Komposition setzt sich aus einer dreifachen Erinnerung zusammen und verstärkt im Medium der Musik das Spannungsverhältnis der Vorlage zwischen Vergessen bzw. Zurücknehmen und Erinnern. Die letzte in diesem Kapitel betrachtete Komposition ist Searles Lamentation aus der im Kapitel vier bereits vorgestellten BBC Radiosendung, die parodistische Elemente von Zeitbloms Beschreibung der fiktiven Kantate verstärkt und den Text des Volksbuches durch den aus Marlowes Faust ersetzt.

1 Leverkühns Abschied

Den vorigen Darlegungen entsprechend wird im Folgenden zunächst auf das Klage-Motiv im Roman und in Leverkühns Weheklag eingegangen, wobei insbesondere die Quellen für dieses Motiv und die damit verbundene Art des Klagens beleuchtet werden. Dann werden weitere Merkmale von Leverkühns fiktiver Kantate angesprochen und es wird der Frage nach der möglichen Überwindung der Sterilität der Kunst nachgegangen. Der Titel des vorliegenden Abschnitts wurde der später geschilderten Komposition von Ránki entlehnt, um nicht nur eine Brücke zum zweiten Teil des Kapitels zu schlagen, sondern auch erneut in den Vordergrund zu stellen, dass die folgenden Ausführungen sowohl von der Kantate als auch vom Ende des Romans handeln. Demnach wird Leverkühns Abschied vom musikalischen Schaffen sowie vom Leben selbst thematisiert.

1.1 (Marien-)klagen

Der Komposition der Apocalipsis cum figuris und deren Uraufführung in Frankfurt am Main, an der Adrian Leverkühn nicht teilnimmt,Footnote 3 – was auf Adornos Ausführungen zur „gesellschaftliche[n] Isolierung“ (PhnM: 24) der Kunst und speziell der Neuen Musik verweist – folgt eine Reihe von Katastrophen.Footnote 4 Zu diesen zählen z. B. Clarissa Roddes Suizid, Schwerdtfegers Ermordung in München und Echos Tod.Footnote 5 Der apokalyptische Zustand der Immanenz, der in der Komposition geschildert wird, beschränkt sich nicht nur auf die metadiegetische histoire von Leverkühns Komposition selbst, sondern wird diskursiv und in der darauf folgenden intra- und extradiegetischen histoire bis zu den letzten Seiten des Romans aufrechterhalten. „In der zweiten Hälfte des Romans“, so Gunilla Bergsten, „widmet Mann mehrere Kapitel der Darstellung von Schicksalen […], [denen von] Ines und Clarissa Rodde und Rudi Schwerdtfeger z. B. Sie alle gehen unter und werden damit zu Figuren der grossen Apokalypse des Romans“.Footnote 6 Zudem unterbricht der Erzähler immer öfter die intradiegetische Narration, um auf der extradiegetischen Ebene über den Verlauf des Zweiten Weltkriegs zu berichten, etwa die Befreiung des Konzentrationslagers Buchenwald.Footnote 7

Auch Leverkühns Leben nähert sich dem Untergang, d. h. dem Voranschreiten des WahnsinnsFootnote 8 und der Rückkehr ins Elternhaus. Sowohl sein Aussehen als auch sein Verhalten verdeutlichen diesen Prozess durch verschiedene Indizien: die starren blicklosen Augen, die auf Michelangelos Verdammten anspielen und die er manchmal rollt,Footnote 9 die merkwürdige Redensart, die reich an mittelhochdeutschen Worten ist, das „Ecce homo-Antlitz“ (DF: 736), das sowohl imitatio Christi als auch imitatio Fausti bzw. diaboli sein könnte.Footnote 10

Auf der lexikalischen Ebene ist auffallend, dass sich Wörter und Ausdrücke häufen, die zum semantischen Feld der Klage bzw. des Klagens gehören. In diese Kategorie können etwa die Worte von Echo „O Hauptwehe!“ (DF: 687), die vielen Achs,Footnote 11 z. B. „Ach, es soll nicht sein“ (DF: 709) im Text der Weheklag und „Ach, man glaubte das nicht lange“ (DF: 722) im Kommentar des Erzählers eingeordnet werden. Zudem findet sich die aus dem Latein stammende Version des Verbs ,klagen‘: „Lamentieren“ (DF: 688), die darüber hinaus auch direkt auf Italienisch genannt wird, um u. a. auf Monteverdi Bezug zu nehmen: „Dies riesenhafte, Lamento‘“ (DF: 705). Schließlich wird das Substantiv ,Klage‘, z. B. als Reduplikation und exclamatio: „Klage, Klage!“ (DF: 703), als Kompositum: „Klage-Ausbruch“ (DF: 708) und in Verbindung mit einem Genitiv: „die Klage des Höllensohns“ (DF: 702), mehrfach erwähnt.

Die in den letzten Romankapiteln thematisierte Klage stützt sich auf zahlreiche intermediale Einzelreferenzen, die zum Teil auch explizit erwähnt werden. Wie die Apocalipsis nimmt auch die Weheklag auf eine sehr alte musikalische Tradition Bezug, und zwar auf die der Madrigale und der ersten Opern, wie Claudio Monteverdis L’Orfeo. Monteverdi steht hier stellvertretend für den Anfang der modernen Musik, die Zeitbloms Meinung nach mit der „Klage der Ariadne“ (DF: 703), also mit dem Lamento d’Arianna und eben in Form einer Klage beginnt. Diese wird mithilfe der typischen Echo-Wirkung (nicht nur) der Barockmusik in intensivierter und stilisierter Form vermittelt. Bergsten, die sich auf Kreneks Music here and now beruft,Footnote 12 schreibt Monteverdi dieselbe historische Bedeutung wie Schönberg bezüglich seiner harmonischen Errungenschaften zu. Beide Komponisten seien als „Portalgestalten“Footnote 13 zu beiden Seiten der tonalen Musik aufzufassen: Einer linearen und nach Autor*innen angeordneten Darstellung der Musikgeschichte entsprechend sieht die Forscherin Monteverdi und Schönberg jeweils als Anfang und Ende der tonalen Musik.Footnote 14 Eine weitere von Thomas Mann verwendete Quelle, die in der Forschungsliteratur wiederholt erwähnt wird, ist Benjamins Ursprung des deutschen Trauerspiels: Auch dort wird Barock mit Modernität assoziiert.Footnote 15

Zeitbloms These, die Musik sei der Klage entsprungen, als Verzweiflungsausdruck vor dem Tod einer Person, ist nicht ohne Fundament.Footnote 16 Sie findet Bestätigung – werkextern – sowohl in der Produktion Monteverdis als auch in der musikalischen Produktion älterer Zivilisationen: emblematisch seien hier die griechische KlageFootnote 17 und, im deutschen Raum, die Marienklage genannt.Footnote 18 Diese letzte Klageform tritt im Roman nicht in Form einer expliziten Erwähnung, sondern in Form einer associative quotation (W. Wolf) auf: Durch das Erwähnen von Wörtern und Ausdrücken, die für diese musikalischen Formen typisch sind sowie durch weitere textuelle Hinweise, die im Folgenden aufgezeigt werden, verbindet die Leser*innenschaft mit den vorher genannten, im Text zitierten und reproduzierten Elementen auch „die fehlenden medienspezifischen Komponenten des aufgerufenen Produkts“.Footnote 19

Gerade in Deutschland übernimmt die Marienklage eine wichtige Funktion im musikhistorischen Prozess. Sie stellt die Klage Marias unter dem Kreuz Christi dar und wurde im Mittelalter am Karfreitag in vielen deutschen und italienischen Kirchen inszeniert. In ihrer einfachsten Form ist sie ein gesungener Monolog, der von Musik, die dabei eine vordergründige Rolle spielt, begleitet wird. Die Marienklage war eine extra-liturgische Veranstaltung, jedoch selbstverständlich religiöser Natur, die in Deutschland in ihrer frühen Phase Texte auf Latein, später auf Deutsch verwendet. Da sie Musik, Text und Inszenierung miteinander kombiniert, kann sie als erste Opernform im deutschen Raum betrachtet werden oder sogar als erstes Gesamtkunstwerk angesichts der gleichwertigen Rolle aller Komponenten.Footnote 20 Tief verwandt ist die Marienklage mit dem Stabat Mater. Inspirationsquelle für die Klage auf den letzten Seiten des Romans könnte daher nicht nur das „Lasciatemi morire“ (DF: 703) der mythischen Ariadne sein, sondern auch die deutsche Form der Marienklage, eine weitere Anspielung auf die mittelalterliche Musik einerseits und die Verwandtschaft mit der Apocalipsis cum figuris andererseits.Footnote 21 Darüber hinaus ist bekanntlich Monteverdis Oper über die mythische Ariadne angesichts der Form und des Sujets keine religiöse Komposition, während Leverkühns Kantate hingegen als „religiöses Werk“ (DF: 710) bezeichnet wird, auch wenn es sich um eine „Negativität des Religiösen“ handelt.

Des Weiteren findet sich in den letzten Kapiteln des Romans wiederholt das Motiv des Faltens der Hände: Echo betet abends, „auf dem Rücken liegend, die flachen Händchen vor der Brust zusammengefügt“ (DF: 682), faltet dann krank „die bebenden Händchen […] und stammelt: ‚Echo will herzig sein, Echo will herzig sein!‘“ (DF: 688), Leverkühn sitzt vor der Abschiedsrede „mit gefalteten Händen“ (DF: 717) und „ein einsamer Mann“ (Zeitblom bezieht sich hier höchstwahrscheinlich auf sich selbst) „faltet seine Hände und spricht: Gott sei euerer armen Seele gnädig, mein Freund, mein Vaterland“ (DF: 738).Footnote 22 Diese letzten Worte schließen den Roman und verleihen daher dem Klagen ebenfalls eine religiöse Konnotation: Im vorigen Zitat ist es der Erzähler, der klagend betet, kurz davor versammeln sich die Frauen, die Leverkühn bis zum Tode nah geblieben sind, vor seinem Grab. Diese sind Jeanette Scheurl, Meta Nackedey, Kunigunde Rosenstiel und, nicht zuletzt, Leverkühns Mutter, die echte „Maria“ in Doktor Faustus, da u. a. Leverkühn die letzten Jahre seines Lebens in ihrem Haus verbringt.Footnote 23 Maria steht auch in vielen Kunstwerken mit gefalteten Händen unter dem Kreuz Christi: Viele textuelle Indizien, etwa die Gesten der Figuren und die Beschreibung der Eigenschaften der Kantate Dr. Fausti Weheklag verweisen auf religiöse Klagen und speziell auf die Marienklage. Leverkühns Abschiedsrede, bei der Bezüge auf das letzte Abendmahl Christi nicht fehlen, findet in der gleichen religiösen Periode wie die Marienklage statt, d. h. in der Fastenzeit. Ähnlich dem Stabat Mater bzw. der Marienklage weist auch Leverkühns Weheklag den „Charakter eines musikalischen Testaments“Footnote 24 auf und drückt laut Zeitblom Leverkühns Verzweiflung über den Tod des Neffen aus.Footnote 25 Nicht nur nimmt die Christus-Metaphorik zu, es häufen sich auch die textuellen Hinweise auf ein Klagen musik-religiöser Natur, das auf das Stabat Mater oder auf die Marienklage zurückgeführt werden kann.Footnote 26

1.2 Ausdruck in der Strenge, Sterilität der Kunst und Transzendenz

Die vorher geschilderte Art des Klagens in der Musik entspringt in Leverkühns Kantate laut Zeitblom der Absicht einer „Rekonstruktion des Ausdrucks“ (DF: 707), sodass Klage und Ausdruck identisch werden. Ein scheinbares Paradoxon der Kantate Leverkühns ist, dass sie als ein Werk „äußerster Kalkulation“, zugleich aber „rein expressiv“ beschrieben wird (DF: 707). Zeitblom nennt dieses Phänomen „Rekonstruktion des Ausdrucks“ (ebd.): Entweder „innerhalb ihrer vollkommensten Strenge“ (DF: 706) oder „jenseits des Konstruktiven“ (ebd.) – hier ist der Erzähler unsicher – wird der Ausdruck wiedergewonnen.Footnote 27

Wie im ersten Kapitel dieser Arbeit bereits erläutert, ist es nicht Ziel dieser Untersuchung festzustellen, ob Adorno als Koautor von Doktor Faustus anzusehen ist oder nicht.Footnote 28 Allerdings gilt es nun – intramedial und zwar im Medium der Schrift bleibend, aber nicht mehr der fiktionalen – auf Adornos Philosophie der neuen Musik zurückzugreifen:

Die dramatische Musik, als die wahre musica ficta, bot von Monteverdi bis Verdi den Ausdruck als stilisiert-vermittelten, den Schein der Passionen.[...]. Ganz anders bei Schönberg. Das eigentlich umstürzende Moment an ihm ist der Funktionswechsel des musikalischen Ausdrucks. Es sind nicht Leidenschaften mehr fingiert, sondern im Medium der Musik unverstellt leibhafte Regungen des Unbewußten, Schocks, Traumata registriert. (PhnM: 44)Footnote 29

In Schönbergs Musik geht es Adorno zufolge nicht um den Versuch, menschliche Gefühle durch die Anpassung an das Medium der Musik und den Rückgriff auf vorgefertigte Stilmittel zu reproduzieren, sondern um eine möglichst totale mimesis der Passionen: Emotionen sollten mit dem größtmöglichen Realitätsanspruch nachgeahmt werden. Diesem Versuch setzt sich – so Adorno – die Strenge der Neuen Musik entgegen, in der „die ,Indifferenz‘ von Harmonik und Melodik“ (PhnM: 64) herrsche und in der „keine Note erscheine, die nicht in der Konstruktion des Ganzen ihre motivische Funktion erfüllt“ (PhnM: 69): In der Neuen Musik komme es folglich zu „Eintönigkeit“ (PhnM: 79), also zu einer Art von Musik, der Adorno eine gewisse Eindimensionalität in der Konzeption und Faktur vorwirft.

Leverkühns einziges eindeutig zwölftöniges StückFootnote 30 entwickelt laut Zeitbloms Beschreibung „seine Idee eines ,strengen Satzes‘“ (DF: 704) und hat „keine freie Note mehr“ (ebd.). „Dies riesenhafte ,Lamento‘“ (DF: 705) ist außerdem „recht eigentlich undynamisch, entwicklungslos, ohne Drama“ (ebd.). Ausdruck reproduzieren könne – so die Auffassung des Erzählers – diese Musik nicht. In der Abschiedsrede wird dieses Konzept prosopoietisch dargestellt, indem Leverkühn, der seine Komposition aufführen will, einfach einen einzigen Klagelaut produziert und dann zwölf Stunden lang wie die zwölf Töne der Zwölftontechnik bewusstlos ist.Footnote 31 Zeitblom schildert seinen Freund als Opfer des von ihm entwickelten Kompositionssystems, was zugleich eine gewisse Komik in die Narration hineinbringt.Footnote 32 Gleich nachdem Leverkühn vor allen Gästen ohnmächtig geworden ist, findet sich die Klage oder, genauer gesagt, die Anklage von Frau Schweigestill auf Bairisch, die das letzte Kapitel vor der Nachschrift schließt und ebenfalls zur Komik der Narration beiträgt:

Macht’s, daß’ weiter kommt’s alle miteinand! Ihr habt’s ja ka Verständnis net, ihr Stadtleut, und da k’hert a Verständnis her! Viel hat er von der ewigen Gnaden g’redt, der arme Mann, und i weißt net, ob die langt. Aber a recht’s a menschlich’s Verständnis, glaubt’s mir, des langt für all’s! (DF: 729)

Das Streben nach Ausdrucksfähigkeit ist in der Neuen Musik zum Scheitern verurteilt: In Doktor Faustus wird laut Heimann Adornos wissenschaftliche Erkenntnis übernommen und symbolisch (und prosopoietisch, da Leverkühns Ohnmacht eben dieses Scheitern verkörpert) wiedergegeben.Footnote 33 Im Medium der fiktionalen Schrift wäre demzufolge das möglich, was im Medium der philosophischen Schrift nicht erreicht werden kann, und zwar ein Gewinn „an symbolische[r] Prägnanz und Freiheit durch mehrdeutige Bezüge“.Footnote 34 Dies verknüpft sich mit einem zentralen Konzept von Adornos Musikphilosophie und einem tragenden Thema von Doktor Faustus: nämlich mit dem der Sterilität der Kunst und den Möglichkeiten ihrer Überwindung. Sich auf Adorno stützend, schildert Heimann die historische Begründung der Zwölftonmusik, die einer Unzufriedenheit mit der Tonalität und der konventionellen Musik entspringt und eine nicht mehr durchzuhaltende Erweiterung des „Kanon[] des Verbotenen“Footnote 35 produziert habe.Footnote 36 In zusammengefasster Form stellt er drei mögliche Antworten auf diese Situation vor: „das Verstummen“,Footnote 37 „das weitere Verbleiben im Konventionellen“Footnote 38 oder „eine revolutionäre Lösung“.Footnote 39 Die revolutionäre Lösung lässt sich als die transzendentale begreifen, da sie die einzige ist, die den immanenten Zustand zu überwinden vermag. Im Roman korrespondiert sie mit der Entwicklung der Zwölftontechnik und dem Komponieren der Weheklag.

Der Sprung zur Transzendenz bedarf in der Narration einer Epiphanie, also eines Augenblicks „geistiger Offenbarung“.Footnote 40 Diesen Augenblick stellt die Zurücknahme der Neunten Symphonie dar:

„Ich habe gefunden“, sagte er, „es soll nicht sein.“

„Was Adrian, soll nicht sein?“

„Das Gute und Edle“, antwortete er mir, „was man das Menschliche nennt, obwohl es gut ist und edel. Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt, und was die Erfüllten jubelnd verkündigt haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen. Ich will es zurücknehmen.“

„Ich verstehe dich, Lieber, nicht ganz. Was willst du zurücknehmen?“

„Die Neunte Symphonie“, erwiderte er. (DF: 692 f.; Herv. i. O.)

Leverkühn identifiziert für seine Absicht einer Zurücknahme und Subversion kompositorischer Konventionen einen präzisen Zeitpunkt in der (Musik-)geschichte und ein präzises Werk: Beide sollen nicht sein und beide will er zurücknehmen. Die Verflechtung von (zumindest) Musik, Politik, Geschichte und Religion wird an dem Beispiel noch einmal sichtbar; die Frage von Angelika Corbineau-Hoffmann scheint mehr als berechtigt: „Wäre Doktor Faustus nicht nur ein Geschichtsroman, sondern eine Reflexion auf Historizität?“Footnote 41 Diese Reflexion auf Historizität, vom Spätwerk Beethovens ausgehend, findet sich auch in Adornos Beethoven-Schriften wieder: Lubkoll zufolge werde die letzte Kompositionsphase dort mythisiert, der späte Beethoven sei „Überwinder des Klassizismus“,Footnote 42 indem er zugleich eine sehr heterogene Musik produziert, die Barockes, Klassizistisches und Romantisches zusammenfügt und eine Gattungsmischung betreibt. Diesbezüglich sei hier exemplarisch eben die Neunte Symphonie mit ihrer Einführung eines Chores in einer vorher reinen Instrumentalform erwähnt.Footnote 43 Diese Lösung Beethovens scheint Leverkühn in seiner Epoche ebenso wenig tragfähig zu sein wie die Ideen der bürgerlichen Revolution, die er zusammen mit Beethovens Spätwerk folglich zurücknimmt.Footnote 44 Auch in Doktor Faustus wird Beethovens Spätwerk einer Mythisierung unterzogen.Footnote 45 Das Mittel der Zurücknahme ist die „rationale[] Durchorganisation des gesamten musikalischen Materials“ (PhnM: 56): Wie Zeitblom zugespitzt formuliert, soll Leverkühns Weheklag „keine freie Note mehr“ (DF: 704) haben, weil das ganze Stück von der zwölftönigen Reihe abgeleitet wird, die vor dessen Verschriftlichung festgelegt wird. Zwar enthält auch die Weheklag heterogene Elemente, aber diese Heterogenität findet – so in der Darstellung Zeitbloms – in der Gebundenheit einen Platz, sprich: in der Vorherbestimmung der Reihe.Footnote 46 Durch intermediales telling, worauf in Kapitel eins bereits eingehend Bezug genommen wurde,Footnote 47 werden im Roman die Kontinuitäten und Differenzen zwischen Leverkühns fiktiver Kantate und Beethovens Neunter Symphonie hervorgehoben, etwa dieselbe DauerFootnote 48 und die Variationen der Klage anstatt des Jubels, weswegen Zeitblom von negativer Verwandtschaft mit Beethovens Werk spricht.Footnote 49

Im vorigen Kapitel über die Apocalipsis cum figuris wurde bereits kurz die Frage erläutert, wo im Rahmen der musikalischen Deklination des apokalyptischen Diskurses des Romans Transzendenz erreicht werde, wo also der Neubeginn der Musik aus ihrer Krise zu situieren sei.Footnote 50 Die erste logische Antwort wäre, wie im vorliegenden Kapitel herausgearbeitet wurde, dass die Sterilität der Musik durch die Zwölftontechnik repräsentiert wird. Was diese Argumentation jedoch ins Schwanken bringt, sind die zahlreichen intramedialen Bezüge auf Adornos Musikphilosophie. Diese heben vor allem das Scheitern von Leverkühns Vorhaben einer größeren Ausdrucksfähigkeit der Musik hervor: Seine Kantate kann sich von der strengen Form nicht befreien und vermag im Endeffekt nichts Anderes als Klage auszudrücken.Footnote 51 Über den fiktiven Autor dieses Vorhabens macht sich der Erzähler lustig, da auch die Aufführung des Stückes scheitert und von der Weheklag im Folgenden nicht mehr die Rede ist. Auf die Frage, ob sie irgendwo aufgeführt oder publiziert werde, schweigt der Erzähler. Stattdessen wird die Leser*innenschaft darüber informiert, dass der (unzuverlässige) Erzähler nun doch die Entscheidung getroffen hat, seine fiktive Biographie über Adrian Leverkühn veröffentlichen zu lassen, und zwar bei einem amerikanischen Verlag.Footnote 52 Die intramedialen Bezüge auf Adornos Texte dienen also dazu, das Scheitern hervorzuheben und einen Kontrast zu den mythisierten und als gelungen dargestellten Versuchen Beethovens zu bilden.

Die Möglichkeit eines Neubeginns, was für die Präsenz einer transzendentalen Ebene des apokalyptischen Diskurses sprechen würde, räumt Zeitblom vielleicht nur bezüglich des Endes des Stückes ein:Footnote 53

Hier, finde ich, gegen das Ende, sind die äußersten Akzente der Trauer erreicht, ist die letzte Verzweiflung Ausdruck geworden, und – ich will’s nicht sagen, es hieße die Zugeständnislosigkeit des Werkes, seinen unheilbaren Schmerz verletzten, wenn man sagen wollte, es biete bis zu seiner letzten Note irgend einen anderen Trost, als den, der im Ausdruck selbst und im Lautwerden, – also darin liegt, daß der Kreatur für ihr Weh überhaupt eine Stimme gegeben ist. Nein, dies dunkle Tongedicht läßt bis zuletzt keine Vertröstung, Versöhnung, Verklärung zu. Aber wie, wenn der künstlerischen Paradoxie, daß aus der totalen Konstruktion sich der Ausdruck – der Ausdruck als Klage – gebiert, das religiöse Paradoxon entspräche, daß aus tiefster Heillosigkeit, wenn auch als leiseste Frage nur, die Hoffnung keimte? Es wäre die Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit, die Transzendenz der Verzweiflung, – nicht der Verrat an ihr, sondern das Wunder, das über den Glauben geht. Hört nun den Schluß, hört ihn mit mir: Eine Instrumentengruppe nach der anderen tritt zurück, und was übrigbleibt, womit das Werk verklingt, ist das hohe g eines Cello, das letzte Wort, der letzte verschwebende Laut, in pianissimo-Fermate langsam vergehend. Dann ist nichts mehr. – Schweigen und Nacht. Aber der nachschwingend im Schweigen hängende Ton, der nicht mehr ist, dem nur die Seele noch nachlauscht, und der Ausklang der Trauer war, ist es nicht mehr, wandelt den Sinn, steht als ein Licht in der Nacht. (DF: 647 f.; Herv. A. O.)

Das Zitat zeigt, dass Zeitblom in Leverkühns Kantate keine Möglichkeit der Überwindung des krisenhaften Zustands der Musik sieht, obwohl am Anfang ein gegensätzlicher Eindruck erweckt wird. Die dort vertretene Idee verneint er aber schon im zweiten Satz. Mit den Mitteln der totalen Konstruktion ist nur der Ausdruck der Klage möglich. Die Musik kommt zum Verstummen und dann ist nichts mehr. Wegen des Versagens der musikalischen Mittel ist die einzige Transzendenz kraft des religiösen Paradoxons ein Neubeginn aus der Verzweiflung:Footnote 54 Nicht durch Musik erreichbar, sondern durch die Wandlung des letzten Tons ins Licht („visuelle Metapher“).Footnote 55 Da jenes Licht zudem einen intramedialen Bezug auf Dante darstellt,Footnote 56 ist vielleicht das Stadium B der Transzendenz nur im Medium der Literatur möglich. Dieses Verstummen der dort beschriebenen Musik lässt sich dennoch laut Börnchen durch die Lektüre des Textes und die „,Achs‘ mit der eigenen Stimme“Footnote 57 überwinden:Footnote 58

So, und nur so, ist es möglich, daß durch das ,Schweigen‘ […] des Textes hindurch tatsächlich ein ,Klang der Trauer‘ zu hören ist: Die Elegie, die man vernimmt, ist das Echo des eigenen ,Achs‘.

Der Text in seiner „Aufführungsdimension“ des Vorlesens wehrt sich gegen den Erzähler und seine Darstellung; auch die Unzuverlässigkeit des Erzählers lässt sich – wie im siebten Kapitel der vorliegenden Studie konstatiert – nur durch die Lektüre und die Leser*innenschaft überwinden.Footnote 59 Zu Recht meint Börnchen, dass „[m]it der Beschreibung der ,Weheklag‘ […] der Doktor-Faustus-Roman selbst zum Klagetext“Footnote 60 werde: Etwa durch die Echo-Wirkung der verwendeten Wörter sowie durch die sprachlich-lexikalischen Affinitäten simuliert und (teil-)reproduziert der Text eine (Marien-)Klage.Footnote 61

Die letzten Kapitel des Romans beinhalten und führen zu vielen metamedialen Reflexionen, die entweder vom Erzähler selbst explizit formuliert werden oder durch zahlreiche intermediale Einzel- und Systemreferenzen angeregt werden.Footnote 62 Die vorigen Ausführungen gingen beispielsweise auf Adornos Musikphilosophie, Beethovens Neunte Symphonie, Monteverdi und die Marienklage ein, um die Merkmale der Dr. Fausti Weheklag zu veranschaulichen. Zu diesen zählen die Subversion von musikalischen Konventionen durch eine Art von Musik, die um eine vordeterminierte, zwölftönige Reihe kreist und dementsprechend Zeitblom zufolge den Ausdruck nur als Klage vermitteln kann. Im Roman dient die Zwölftontechnik als Paradebeispiel für die Sterilität der Kunst: Dieser Auffassung lässt sich vor allem auf der interpretatorischen Ebene der Rezeptions- und Wirkungsästhetik widersprechen, also vonseiten der Leser*innenschaft. Wie die Leser*innenschaft auf diese Darstellung der Dodekaphonie reagiert, wenn sich diese aus Komponist*innen der Neuen Musik zusammensetzt, soll im folgenden Teil beleuchtet werden.

2 Vom Roman zur Musik

Im Folgenden wird auf die Kompositionen eingegangen, die auf die letzten Kapitel des Romans oder nur auf die Weheklag Bezug nehmen. Diese sind: Giacomo Manzonis Oper Doktor Faustus, von der einige Bilder behandelt werden, György Ránkis Leverkühns Abschied, Peter Ruzickas „…ZURÜCKNEHMEN…“ und Humphrey Searles The Lamentation of Dr. Faustus. Es soll untersucht werden, wie die vorher beschriebenen Merkmale von Leverkühns Kantate, etwa Ausdruck als Klage und durchorganisierte Form vom Medium der fiktionalen Schrift in das Medium der Musik transferiert werden. Daneben liegt der Fokus der Analyse darauf, wie diese letzte Phase im kompositorischen Werdegang Leverkühns in Werken der Neuen Musik dargestellt wird.

2.1 Giacomo Manzonis Oper Doktor Faustus

Das erste Werk, das in diesem zweiten Teil des vorliegenden Kapitels näher vorgestellt wird, ist vom italienischen Komponisten Giacomo Manzoni (*1932) und in Opernform. Im Folgenden wird zunächst einmal geschildert, wie Manzoni den Roman und Adornos Musikphilosophie in seinen Schriften rezipiert. Auch wird darauf eingegangen, wie das Projekt, eine Oper nach Doktor Faustus zu schreiben, entstanden ist. Schlussendlich werden einige Szenen, die bei Manzoni allerdings als Bilder bezeichnet werden, in den Fokus gerückt: Diese setzen sich mit den Kapiteln aus dem Roman, die im ersten Teil dargelegt wurden, auseinander. Die Analyse der Bilder folgt der Reihenfolge von Roman und Oper.

2.1.1 Entstehung der Oper und Rezeption des Romans sowie der Texte Adornos in Manzonis Selbstkommentaren

Da Manzonis Oper Eingang in mehrere Kapitel der vorliegenden Studie findet, bedarf sie zunächst einmal einer Kontextualisierung. Manzonis autobiographische Schriften dienen dabei lediglich als Hintergrundinformationen für die spätere Analyse, die wie sonst die Komposition, oder in diesem Fall – genauer gefasst – die Veroperung, auf der Suche nach Kontinuitäten und Differenzen mit der Vorlage vergleicht. Ein weiterer Grund für diese Kontextualisierung von Autor und Werk liegt darin, dass die meisten Texte von Manzoni, der sein Schaffen und sein Œuvre beinahe ebenso häufig wie Thomas Mann kommentiert, nie ins Deutsche übersetzt wurden. Aus diesem Grund möchte die vorliegende Studie einige Auffassungen des Komponisten, insbesondere bezüglich der Oper Doktor Faustus, in kondensierter Form der deutschsprachigen Öffentlichkeit zugänglich machen.Footnote 63

Giacomo Manzonis Oper Doktor Faustus war eine Auftragskomposition des Teatro alla Scala in Mailand, in die das berühmte Opernhaus viel investierte: Für die Uraufführung im Mai 1989 wurden Gary Bertini als Dirigent, Robert Wilson als Regisseur und Bühnenbildner und Gianni Versace als Kostümbildner engagiert. Trotz seiner sehr guten Kenntnis der deutschen Sprache – besonders interessant in der Biographie von Giacomo Manzoni ist neben dem Studium der Germanistik die intensive Auseinandersetzung mit den Texten Schönbergs und Adornos, die er ins Italienische übersetzte –Footnote 64 entschied sich Manzoni, seine Oper in italienischer Sprache zu verfassen. Diese basiert primär auf der italienischen Übertragung von Doktor Faustus von Ervino Pocar.Footnote 65 Für diese Entscheidung hatte Manzoni verschiedene Gründe, die er in seinen Schriften erläutert. Erstens spricht er von einer bewussten und absichtlichen Distanz zum ursprünglichen Text: „un teatro proprio così obbligato a non confondersi con la propria fonte letteraria“.Footnote 66 Zweitens hebt er hervor, dass eine Übersetzung einen größeren Grad an Freiheit mit sich bringe, denn sogar eine wörtliche Übersetzung biete die Möglichkeit, zwischen unterschiedlichen Ausdrücken zu wählen.Footnote 67 Drittens spricht er von einer sogenannten „sgermanizzazione“Footnote 68 des Romans, wörtlich übersetzt: eine Entgermanisierung, die er folgendermaßen begründet:Footnote 69

Dall’altra parte forse c’era anche una voglia istintiva antifilologica, perché non da oggi l'idea di affrontare un testo che non sia nella lingua originale è sempre considerata poco seria, non giusta, addirittura scorretta: da questo ho voluto in qualche modo prendere le distanze, forse anche togliermi di dosso, sempre sul piano del subconscio, questa etichetta del germanista, del tedescomane, che avevo addosso da sempre, dai tempi universitari, dai tempi delle mie traduzioni.

Dieses Konzept der Italienisierung bzw. Internationalisierung des Romans – insofern Manzoni Faust nicht nur als typisch deutsche Figur, sondern auch als europäische und universelle interpretiert –Footnote 70 bringt ihn bei der notwendigen Auswahl von Textpassagen und Figuren zur Reduktion der zwei Zeitebenen des Romans auf die einzige Zeitebene des Lebens von Leverkühn, wodurch die Ebene des Zweiten Weltkriegs annähernd eliminiert wird. Der Untertitel „Scene dal romanzo di Thomas Mann“Footnote 71 verdeutlicht, dass nicht die ganze Handlung von Manns Roman berücksichtigt wurde und dass es sich aus Sicht der Intermedialitätsforschung um ein partielles intermediales Produkt handelt. Die historische Zeit der extradiegetischen Narration wird ausgelassen und zur Aufgabe des Szenographen: In der Mailänder Premiere zeigte das Bühnenbild den Brand des Reichstags und zwei Landkarten. Wie begründet Manzoni diese Entscheidung? „Perché non è mio, non è nostro: si ritorna alla questione della lingua“.Footnote 72 Der Komponist ist der Auffassung, Italiener*innen könnten gewisse Themen des Romans schwer nachvollziehen, etwa die lutheranische Religion oder Aspekte des deutschen Wesens: Manzonis Lektüre von Thomas Manns Doktor Faustus ist interkulturell determiniert, insofern sie auf kulturell bedingte Grenzen aufmerksam macht, was die Rezeption des Romans vonseiten des italienischen Publikums angeht.Footnote 73 Die Problematik der Sprache und der Kultur spielt in seinem Werk eine zentrale Rolle. In einem Aufsatz über den italienischen Komponisten Bruno Maderna, der ebenfalls der Neuen Musik zugeordnet werden kann, führt er aus, warum er die jeweilige Kultur so stark in den Blick nimmt: „Denn der Mensch […] kann in keinem Fall außerhalb seiner unmittelbaren Erfahrung, also seines Landes und seiner Kultur, gedacht werden“.Footnote 74 Diese Position ist auch mit dem in mehreren Schriften geäußerten Wunsch Manzonis nach mehr Verständnis für die zeitgenössische Musik verbunden. Folgerichtig verzichtet Manzonis Doktor Faustus auf die deutsche Sprache und den Rekurs auf vom ihm als zu deutsch empfundene Motive und Diskurse.

Worauf Manzoni im Gegensatz zu anderen zeitgenössischen Komponist*innen nicht verzichtet, ist auf die Form der Oper.Footnote 75 Oft stellen Manzonis Opern ein Resümee von Tendenzen dar, die in vereinzelter Form in vorigen Kompositionen sichtbar werden: Doktor Faustus definiert er beispielsweise als einen „Ankunftspunkt“.Footnote 76 Die Konzeption von Leverkühns letzter Kantate ist Manzonis Schaffen nicht fremd. Der Komponist beschreibt beispielsweise sein Gesamtwerk in seinen Schriften ebenfalls als „ein Werk äußerster Kalkulation, zugleich rein expressiv“ (DF: 707):Footnote 77

Non esiste uno stato di natura in cui il musicista ingenuo e puro crei capolavori dando la stura ai sentimenti. I laboratori dei compositori di tutti i tempi rigurgitano di fogli che contengono appunti, studi, correzioni, integrazioni, rifacimenti: dall’ idea primigenia – che non è un sentimento! – germina a poco a poco, con lavoro, con fatica una composizione che è una struttura mentale tradotta in musica. Essa esprime solo se stessa, e forse così facendo provoca quel sentire, quei „sentimenti“ che crediamo stiano alla radice della composizione stessa.

Ausgangspunkt des Komponierens sei also nicht ein Gefühl, sondern eine präzise Konzeption: Auch hier taucht Adornos Idee einer rationalen Organisation des musikalischen Materials auf. Eine weitere Auffassung, die sichtbar wird, ist die der Selbstreferentialität der Musik, d. h. von solchen – Eco zufolge – „rein syntaktisch[en]“ Systemen „ohne offensichtliche semantische Dichte“:Footnote 78 Eine Komposition verweise dem obigen Zitat entsprechend nur auf sich selbst und nicht auf Konzepte oder Gegenstände, die außerhalb ihrer selbst liegen. Laut Manzoni konstruiert außerdem ein Komponist Emotionen:Footnote 79 An erster Stelle stehe, weil das Komponieren eng mit der Architektur verbunden sei, immer die Struktur. Ohne eine Skizze, einen Plan oder ein Projekt könne der Komponist mit keinem Werk anfangen.Footnote 80 Joachim Noller bezeichnet dies als „Vereinbarkeit von Rationalität und Intuition“.Footnote 81

Giacomo Manzoni schwebte schon lange Zeit eine Oper über Doktor Faustus vor: Er kannte das Werk Thomas Manns sehr gut, da er bereits während seiner Zeit an der Universität Die Buddenbrooks gelesen und am Ende seines Germanistikstudiums eine Arbeit über „Die Rolle der Musik im Werk Thomas Manns“ verfasst hatte. Wie konnte man aber eine solche Herausforderung annehmen und ca. 700 Seiten vertonen? Die logischste Lösung, so der Komponist, wäre eine Art Kinoversion mit verschiedenen Figuren und Episoden gewesen, wobei jedoch auf diese Weise Leverkühns Geschichte eine untergeordnete Rolle gespielt hätte.Footnote 82 Eine andere Möglichkeit wäre das Verfassen eines selbstständigen Librettos gewesen. Dafür hätte er jedoch einen guten Librettisten suchen müssen, der den Text für die Musikbühne adaptiert: Dies hätte eine vergleichsweise stärkere Bearbeitung des Textes sowie die Zusammenarbeit mit einer anderen Person von Beginn des Projektes an implizieren können. Letztendlich traf der Komponist die Entscheidung, dem Originaltext zu folgen und gewisse Episoden, etwa die Begegnung mit Esmeralda, das Teufelsgespräch, die Fitelberg- und die Echo-Episode, Leverkühns Abschiedsgespräch und Tod, auszuwählen. Da die wichtigsten Stellen des Romans in direkter Rede, entweder als Dialog oder als Selbstgespräch, verfasst sind, mussten diese Romanstellen für sein Opernprojekt lediglich ausgewählt und nur minimal bearbeitet werden.Footnote 83 Manzonis Oper konzentriert sich ganz und gar auf Leverkühn, insbesondere auf den zweiten Teil des Romans, von der Bordellszene bis zum Tod Leverküns und dem Epilog Zeitbloms.Footnote 84 Es handelt sich um eine – so Sorg – „bewusste episodische Dramaturgie“,Footnote 85 also um eine Dramaturgie, die auf dem Nebeneinander von Bildern basiert.Footnote 86 Aus dieser Auswahl von Passagen und Figuren ergibt sich eine Gesamtdauer von zwei Stunden.

Wodurch aber zeichnet sich Manzonis Lektüre von Thomas Manns Roman anhand einiger von ihm verfassten Kommentare aus? Keineswegs liest der Komponist das Werk als Hoffnungsroman: Doktor Faustus trage „von Anfang an das Mal der Katastrophe“.Footnote 87 Mehr noch, der Roman sei „quasi die Rache, die der Autor der Buddenbrooks, der bedeutende Interpret der bürgerlichen Dekadenz und des Endes einer Geschichts-, Kultur- und Kunstepoche an dem nimmt, was zu seinem Bedauern eintreten MUSS“,Footnote 88 nämlich eine neue musikalische Ära. Gegen seinen Willen habe Thomas Mann eine Kunst geschildert, die noch avantgardistischer als die seiner oder der postwagnerischen Epoche Leverkühns ist, denn

[d]ie musikalische Vision […], die er dann am Ende der sinfonischen Kantate über Faust gibt, enthält viele avantgardistische Anstöße, beinhaltet eine musikalische Konzeption, die ganz von den Bedingungen des Materials ausgeht. Auf eigentümliche Weise scheinen sie zuweilen direkt mit den experimentellen Werken der späteren Generation verbunden zu sein.Footnote 89

In der Definition des strengen Satzes könne man „die Antizipation technischer und kompositorischer Alternativen“Footnote 90 erkennen, „die die europäischen Komponisten zu Beginn der 1950er Jahre bei den Ferienkursen in Darmstadt anstrebten“.Footnote 91 Zusammengefasst: Laut Manzoni antizipiert Doktor Faustus die musikalischen Konzeptionen Nonos, Stockhausens und Madernas, um einige Komponisten der Neuen Musik zu nennen, die in den 1950er Jahren Kurse in Darmstadt angeboten haben. Zusammen mit den Donaueschinger Musiktagen galten diese Kurse als eine der wichtigsten Adressen für die zeitgenössische Musik.Footnote 92

Manzoni zufolge skizziert der Roman mögliche Lösungswege gegen die Sterilität der Kunst bei gleichzeitiger Klage über ihren hoffnungslosen Zustand. Dies aber in seiner intermedialen Transposition umzusetzen, erscheint dem Komponisten kaum möglich:Footnote 93

Es ist sicher nicht leicht, diesen ganzen kulturhistorischen Kontext zu ignorieren, der sich dem Roman angelagert hat; und es ist noch schwieriger, geradezu abenteuerlich, die Meinungen des Autors über sein Werk gewissermaßen in Parenthese zu setzen und auszuprobieren, ob das Werk vielleicht eine andere Leseart erlaubt, zumal ja bekanntlich der Inhalt eines Kunstwerks genau dort beginnt, wo die Absicht des Autors aufhört, denn diese wird im Inhalt ausgelöscht.

Manzoni zufolge ist es schwierig, sich von einer hermeneutischen Lesart zu distanzieren und bei einer intermedialen Transposition die Selbstkommentare des Autors und den Entstehungskontext vollkommen zu ignorieren; zugleich spricht er zu Recht eine Interpretationsproblematik an, die zwar nicht ausschließlich Thomas Manns Roman betrifft, im Fall dieses Werkes jedoch aufgrund der Überfülle an Selbstkommentaren des Autors besonders akut erscheint, nämlich die Deutung dieser Überfülle an Selbstkommentaren. Manzoni kritisiert in seinen Schriften eine gewisse Tendenz zum Negativen bei Mann und Adorno,Footnote 94 erklärt sich aber nicht bereit, in seiner Oper im Namen einer von ihm für übergeordnet erklärten Autorintention eine andere Interpretation zu offerieren. In der folgenden Analyse von Manzonis Oper lohnt es sich aber zu untersuchen, ob sich diese tatsächlich ohne zu hinterfragen an Zeitbloms Kulturpessimismus hält, denn laut Noller wäre dies für Manzoni atypisch: „Dem […] negativen Denken hält er die Möglichkeit einer ,positiven‘ Kultur entgegen, die u. a. auch der notwendigen Vermittlerfunktion zwischen Hörer und neuer Musik gerecht werden kann“.Footnote 95

Nicht nur rücken seine Schriften vom Kulturpessimismus Adornos ab, sie nehmen auch Abstand von der Idee eines übertriebenen Drangs zur Konstruktion, von Überdetermination der Neuen Musik verglichen mit anderen musikalischen Epochen bzw. Strömungen:Footnote 96

[L]a musica del Medioevo europeo non è per certi aspetti meno complessa della dodecafonia dell’inizio del secolo scorso, quella di Bach o Mozart non richiede diversa applicazione e approfondimento rispetto a quella di ricerca più avanzata. Non si conosce insomma nelle civiltà del pianeta – salvo qualche fenomeno affatto marginale e ininfluente – una musica che si produca al di fuori di qualsiasi conoscenza teorica e artigianale.

In diesem Sinne muss also die Hoffnung auf zukünftige Musik nicht in Doktor Faustus, sondern im Werk der Komponist*innen der Nachkriegsjahre sowie der heutigen Zeit gesucht werden. Diese seien von der Möglichkeit eines Kulturoptimismus bzw. eines Kulturpositiven überzeugt und betrachteten diese als Grundlage ihrer Arbeit:Footnote 97

Dieses Neue, an das Thomas Mann nicht glauben konnte, hat ihm quasi gegen den eigenen Willen die Botschaft einer authentischen Erlösung der Musik der Zukunft eingegeben. Es ist die Musik derer, die heute trotz der neueren Tragödien der Menschheit das Vertrauen nicht verloren haben, sich mit der Stimme der Kunst ausdrücken zu können.

Diesen Kulturoptimismus verbindet Manzoni nicht selten mit einem gesellschaftlichen Optimismus. Dies betrifft auch seine Interpretation von Doktor Faustus: Dort werde eine Utopie geschildert, „die zu ihrer Verwirklichung das Entstehen einer anderen Gesellschaft brauch[e]“.Footnote 98 Manzonis Gesamtwerk ist von politischen Sujets geprägt. Exemplarisch sei hier auf die Kompositionen Atomtod (1965), Ombre (alla memoria di Che Guevara) (1968) und Per Massimiliano Robespierre (1974) verwiesen, die sich auf die politische Geschichte des Kalten Krieges sowie die Geschichte von Kuba und Frankreich stützen.Footnote 99 Nicht selten offenbart Manzoni in seinen Schriften seine Hoffnung auf eine sozialistische Gesellschaft: Wie das untere Zitat zeigt, glaubte Manzoni an eine radikale Verbesserung des Menschen durch den Kommunismus. Jedoch ändert sich ungefähr um die Zeit, in der er Doktor Faustus komponiert, seine Meinung diesbezüglich: In Parole per musica, wo Manzoni sein Werk, seine kompositorische Entwicklung und sein Leben reflektiert, folgt der Schilderung der Opernentstehung das Kapitel „Una svolta?“.Footnote 100 In diesem erklärt Manzoni, dass um das Jahr 1989 – als Konsequenz des Scheiterns des europäischen Kommunismus – politisches Engagement keine zentrale Funktion mehr in seinen Werken einnehme.

So blickt Manzoni nach vielen Jahren auf sein politisches Engagement vor dem Fall der Berliner Mauer zurück:Footnote 101

Come tanti miei coetanei vedevo il comunismo come una rigenerazione radicale dell’uomo, che gli permettesse di superare istinti, pulsioni, concezioni negative, e di sviluppare soltanto le caratteristiche più positive della sua natura […]. Non tenevamo nel dovuto conto elementi psichici, ancestrali, predisposizioni mentali che persino la società più perfetta – e i Paesi del socialismo reale tali non erano – non avrebbe avuto la possibilità di superare o addirittura annullare.

2.1.2 „Quarto quadro“: Die Teilung des Raumes, die Integration der Neunten Symphonie und das klagende Beten

Nachdem die Entstehung von Manzonis Doktor Faustus kurz angerissen wurde, beginnt die folgende Analyse der Chronologie von Roman und Oper entsprechend mit der Episode der Zurücknahme der Neunten Symphonie. Dieser Episode widmet sich das vierte Bild des zweiten Aktes, in dem Leverkühn den Teufel wegen Echos Tod beschimpft und die Zurücknahme der Neunten Symphonie anspricht.Footnote 102 Bei Manzoni werden die Szenen lediglich im Untertitel als scene bezeichnet: In der Partitur tragen sie die Bezeichnung quadri, also Bilder. Obwohl im Italienischen das Wort ,Szene‘ üblicher ist, wird in der vorliegenden Studie in Anlehnung an die Partitur von Bildern gesprochen. Diese Bezeichnung sowie die vagen Raumangaben und weitere textuelle Hinweise zielen darauf ab, der Oper einen statischen Charakter zu verleihen, was sich im Italienischen durch das unübliche Wort quadro effektiver vermitteln lässt. Im Italienischen Sprachgebrauch tritt nämlich das Wort scene in Verbindung mit Medien wie dem Theater oder der Filmkunst auf, die in der Regel größere Dynamik und die Darstellung bzw. das Erzählen von größeren Zeitspannen erlauben. Das Wort quadro tritt dagegen in Verbindung mit dem Medium Kunst auf. Bei Manzoni geht es also um Momentaufnahmen aus dem Roman: Das Wort quadro unterstützt die vorher präsentierte Zuordnung der Oper zur episodischen Dramaturgie, die sich eher durch die Nebeneinanderreihung von Bildern und weniger durch den roten Faden einer vorangetriebenen Handlung realisieren lässt.

Das hier analysierte vierte Bild soll, so die Partitur, „an einem anderen Ort“Footnote 103 stattfinden: An welchem genau, wird nicht näher erläutert. Timo Sorg hebt hervor, die einzelnen Orte werden in der Partitur nie konkret benannt.Footnote 104 Im Fall der Mailänder Uraufführung wurde das Szenenbild von Echos Tod beibehalten: Die Vagheit in den Anweisungen wird durch einen geteilten Raum gelöst. Wilson, der Regisseur der Uraufführung, beschreibt diese Art von Bühnenbild, das aus mehreren Orten besteht, so:Footnote 105

L’opera di Manzoni è costituita da scene ricavate da un lungo romanzo, talvolta sono addirittura quasi dei flash. Ho seguito questa struttura. In passato ho sovente distrutto il tempo dilatandolo interminabilmente, e contraendo lo spazio. Qui faccio sovente l’opposto. E l’occhio è talvolta libero di scegliere una scena intera, talaltra, come nella regìa cinematografica, è „zoomato“ su un dettaglio, ossia su una scelta che ho fatto io.

Nicht nur ist aufgrund der vagen und knappen Anweisungen zum Bühnenbild Manzonis Oper von einer großen Freiheit bezüglich der Inszenierung geprägt, auch die Uraufführung erlaubt den Zuschauer*innen die Freiheit, sich eine der parallelisierten Szenen auszusuchen und dieser ihre Aufmerksamkeit zu schenken. Eine Haupthandlung lässt sich zwar erkennen, der Ort der Nebenhandlung kommentiert bzw. ergänzt diese jedoch. Die Haupthandlung wird somit auch ständig gestört und die Illusion, das Make-Believe permanent durchbrochen. Die Inszenierung gleicht – wie bereits die Verwendung des Wortes quadro statt scena im Libretto und in der Partitur verdeutlicht – einer Ausstellung von Momentaufnahmen: Zwar spricht der Regisseur im obigen Zitat immerhin von Szenen und nicht von Bildern, aber diese Szenen beschreibt er als Flashs, als extrem kleine Einheiten, die ausgewählte Stellen des Romans in kondensierter Form wiederzugeben versuchen.

Nach dem instrumentalen Teil zu Beginn des Bildes, der von lauter Dynamik über ein Glissando zu einem Piano kommt, ist die Stimme Adrians zu hören.Footnote 106 Sie wird immer von der off-stage-Stimme von Echo bzw. von Adrians Echo-Projektion begleitet: Adrian singt „Prendilo, mostro!“, „Nimm ihn, Scheusal!“ (DF: 691), Echo entweder „Aiuto!“, „Hilfe!“ oder „Oh!“ (Abbildung 5.1).

Abbildung 5.1
figure 1

M-DF 166, T. 441–449: Adrian und die Projektion Echos

In der Uraufführung wird Echos Tod nicht on-stage inszeniert: Vielmehr erklingt seine Stimme off-stage und die Zuschauer*innen können lediglich den Ort sehen, an dem er stirbt. Das Wechselspiel der beiden Klangräume, des on-stage und des off-stage, mit ihren je entsprechenden Handlungen wird durch das geteilte Bühnenbild, also den geteilten visuellen Raum, erweitert. So Timo Sorg zu den off-stage- und on-stage-Stimmen:Footnote 107

Die off-stage erklingenden Stimmen […] könnten als innere Stimmen Leverkühns verstanden werden, die aufgrund der Schuld, die er sich aufgeladen hat, und der schrecklichen Konsequenzen, die daraus entstanden sind, nicht zur Ruhe kommen.

Im Medium der Oper werden hier folglich Schuldgefühle realisiert, die zu einer Form von Wahnsinn zu führen scheinen. Wenn Adrian „Prendi il suo corpo!“ (M-DF: 173, T. 485–490), „Nimm seinen Leib“ (DF: 691), singt, betritt auch Serenus Zeitblom – in der Uraufführung spielt Robert Wilson seine Rolle – die Bühne, der die Handlung bis zum „Epilogo“ beobachtet: Die Ebene der Extradiegese des Romans wird in der Uraufführung angedeutet, was ein weiteres Detail, dem die Zuschauer*innen ihre Aufmerksamkeit schenken könnten oder nicht, ist.Footnote 108

Die lapidaren Worte Adrians: „Ho trovato: non deve essere“ (M-DF: 188 f., T. 633–637), „Ich habe gefunden […] es soll nicht sein“ (DF: 692; Herv. i. O.), fordern durch den Sprechgesang und die kommentierende Funktion des Orchesters ein klares Textverständnis und lenken die Aufmerksamkeit auf sich.Footnote 109 Nach einer Generalpause singt Adrian allein „Io lo voglio revocare“ (M-DF: 189 f., T. 650 ff.), „Ich will es zurücknehmen“ (DF: 692): Die Wiederholung derselben Note und die absolute Fokussierung auf die Hauptfigur betonen die Irreversibilität der Entscheidung und erlauben den Zuschauer*innen in diesem Fall nicht, sich auf andere Details zu konzentrieren (Abbildung 5.2).

Abbildung 5.2
figure 2

M-DF: 189 f., T. 650 ff. „Ich will es zurücknehmen“

Die Worte „La Nona Sinfonia“ (M-DF: 190, T. 654 f.), „Die Neunte Symphonie“ (DF: 693) sollten piano und im Falsett gesungen werden, in der Mailänder Uraufführung werden sie aber aus vollem Hals gesungen, sodass die feste Entscheidung noch stärker betont wird (Abbildung 5.3).Footnote 110 Auch hier handelt es sich um die Wiederholung derselben Noten, die nicht nur die Irreversibilität der Entscheidung, sondern auch das Voranschreiten des Wahnsinns ausdrückt: Es kommt also zur Eintönigkeit, die in der Musik durch das Singen eines einzigen Tons konkretisiert wird. Wie im ersten Teil dieses Kapitels dargestellt, spricht auch Adorno von der Eintönigkeit der Neuen Musik, welche die Vielfalt der Musik, für die die Neunte Symphonie im Roman steht, annulliert habe.Footnote 111

Abbildung 5.3
figure 3

M-DF: 190, T. 654 f. „Die Neunte Symphonie“

In die Musik wird hier als intramedialer Bezug der berühmte dissonante Akkord von Beethovens Neunter Symphonie eingefügt, der eine Mischung aus einem verminderten Septakkord und einem d-Moll-Dreiklang ist, was auch als Schichtung von Terzen aufgefasst werden könnte und dazu führt, dass sich das Zitat aus der Neunten nicht als ein der Komposition externes Element einstufen lässt. Noller zufolge handelt es sich hier um keinen Antagonismus zu Beethovens Symphonie.Footnote 112 Die Neunte Symphonie wird infolgedessen bei Manzoni nicht wirklich zurückgenommen. Vielmehr wird sie in die Musik integriert: Beethovens symphonisches Werk und die Neue Musik bilden also keine positiv oder negativ konnotierten Gegenpole, sondern einen einzigen neutralen Pol.Footnote 113

Nachdem Adrian seine Absicht geäußert hat, die Neunte Symphonie zurückzunehmen, sagt er leise zu Zeitblom („parlato“, laut der Anweisung für die Stimme): „Then to the elements. Be free and fare thou well“ (M-DF: 191, T. 660).Footnote 114 Diese Worte werden von keiner Musik begleitet: Das Shakespeare-Zitat wird durch die Simulation einer theatralischen Situation, in der das gesprochene Wort die Hauptrolle spielt, verstärkt. Das Motiv des Abschieds und des Sich-Verabschiedens, das das Shakespeares-Zitat ausdrückt und in der Abschiedsrede noch einmal sowie generell in den letzten Kapiteln des Romans wiederholt auftaucht, kommt sowohl in der Oper als auch im Roman an exponierter Stelle vor, und zwar am Ende des Bildes bzw. des Kapitels.Footnote 115 Wie von Sorg unterstrichen, bedeutet die Zurücknahme auch Leverkühns Abschiednehmen vom „Leben an sich“.Footnote 116

Nach diesen Worten beginnt das Orchester „impetuos[a]“ (M-DF: 191, T. 662), „heftig“. Nach einigen rein orchestralen Takten singt Adrian „Vegliate meco“ (M-DF: 193, T. 667 f.), „Wachet mit mir“ (DF: 711) und antizipiert so die spätere Abschiedsrede: Diese Antizipation ist im Roman an dieser Stelle nicht zu finden, sondern erst später, nachdem Zeitblom Leverkühns Kantate beschrieben hat.Footnote 117 Das betrifft auch die darauf folgenden Worte von Adrian: „Statemi vicini quando sarà giunta la mia ora“ (M-DF: 195 f.), „Verlaßt mich nicht! Seid um mich zu meiner Stunde!“ (DF: 712) und „Pregate per la mia povera anima“ (M-DF: 196 ff.), „Bete für meine arme Seele“ (DF: 658). Das Klagen beginnt daher bei Manzoni bereits hier, indem durch die Antizipationen eine Kohärenz geschaffen wird. Der Rhythmus der Pauke sowie die Imperative in den vorher genannten Zitaten verweisen sowohl auf die Texte musikalischer Klagen (Monteverdi, Stabat Mater, usw.) als auch auf den apokalyptischen Ton selbst und lassen Adrian daher als Apokalyptiker erscheinen, der auf die letzte Stunde hinweist und die hier undefinierten Rezipient*innen seiner Worte bittet, mit ihm zu warten und für ihn zu beten: Auch hier handelt es sich um eine klagende Ankündigung religiöser Natur, in der Klagen und Beten eins werden. Das Orchester schließt das vierte Bild, „tutti accel. molto gli impulsi“ (M-DF: 199, T. 699), „alle, beschleunigend mit deutlich betonten Impulsen“, und unterstützt daher den emotional aufgeladenen, klagenden Charakter des Bildendes. Erst nach einer langen Note fast aller Instrumente fällt der Vorhang über der Szene.

2.1.3 Die „Weheklag“: das Volksbuch und die kollektive Dimension der Schuld

Nachdem Leverkühn die Entscheidung getroffen hat, die Neunte Symphonie zurückzunehmen, schreibt er die Dr. Fausti Weheklag und wendet somit für sie das dodekaphonische System an. Die Kantate befindet sich im Interludium der Oper und basiert auf zwei Vorlagen: was den Text angeht, orientiert sich das Werk an dem Volksbuch und dessen Kapitel „Doctor Fausti Weheklag von der Höllen und ihrer unaussprechlichen Pein und Qual“,Footnote 118 was die Besetzung betrifft, hingegen an Thomas Manns Roman.Footnote 119 Der intramediale Bezug auf das Volksbuch in Zeitbloms Beschreibung der fiktiven Kantate Leverkühns wird somit in die Oper, also in eine Medienkombination, transferiert und, weil der Bezug eine zentrale Stellung einnimmt, da er die Vorlage für den Text bildet, verstärkt. Auffällig ist außerdem, dass der Text in diesem Fall nicht übersetzt wird: Dies ruft die Fiktion hervor, dass tatsächlich Leverkühns Werk aufgeführt wird. Auch die Bezeichnung dieses Moments der Oper als Interludium trägt dazu bei, den Unterschied zu ihren restlichen Teilen zu markieren: Leverkühns Komposition fungiert als eine Art Gastkomposition im Rahmen der gesamten Oper, was zugleich ihre Einordnung in die Gattung,Oper‘ und speziell der italienischen Oper mit ihren Intermezzi und sonstigen Digressionen bestätigt.Footnote 120

Adrian komponiert vor geschlossenem Vorhang an seinem Schreibtisch, der oft auf der Bühne ist und der den Fokus der Oper auf die Hauptfigur und sein Komponieren unterstreicht. Die lange orchestrale Einleitung (M-DF: 200 ff., T. 1–19), etwa zwanzig Takte, erzeugt Spannung durch die sehr langen Noten mit Trillern, kommt dann zu einem Fortissimo „tenuto“ (M-DF: 202, T. 18), von einem heftigen Schlag der Harfe gekennzeichnet.Footnote 121 Plötzlich geht das Fortissimo zurück und der Chor beginnt mit einer Piano-Dynamik: eine typische Behandlung des Orchesters am Anfang oder am Ende der Szenen bzw. auch vor der ersten oder nach der letzten Note des Sängers, die der gesamten Oper zugleich Kohärenz verleiht, die die Spannung vorantreibt und den apokalyptischen Ton des Romans, speziell der zweiten Hälfte, unterstützt. Somit wird an den vorher aufgelisteten, exponierten Stellen der Vagheit in den Raumangaben ein präziser klanglicher, und zwar rein instrumentaler Raum entgegengesetzt. Der am Anfang fünfstimmige, später sechsstimmige Chor kann den Angaben in der Partitur zufolge entweder im Orchestergraben oder hinter dem Vorhang oder auch auf der Bühne singen: Die Möglichkeiten der Positionierung des Chors sind noch einmal ein Hinweis auf die Freiheit in der Inszenierung; selbstverständlich werden durch die Wahl einer bestimmten Positionierung unterschiedliche Effekte erreicht und unterschiedliche Aspekte der literarischen Vorlage hervorgehoben. Singt etwa der Chor im Orchestergraben, so wird in der Medienkombination die „Identität des Vielförmigsten“ (DF: 706), die Rigorosität und Gebundenheit des Werkes unterstrichen, da Orchester und Chor – klanglich und räumlich – eins werden. Befindet sich hingegen der Chor hinter dem Vorhang, so wird der Eindruck erweckt, dass es sich um eine Erinnerung handelt. Folglich wird in der Medienkombination betont, dass Leverkühns Kantate als Erinnerung an das Volksbuch aufzufassen ist: Die verschiedenen Transfers und Transformationen von einem Medium in ein anderes werden ins Zentrum gestellt. Singt schließlich der Chor auf der Bühne, so lässt sich der Gesang keineswegs ignorieren und der Fokus liegt auf dem Klagen.

Das mehrmals wiederholte „Warum“, das später auch das Interludium schließt, drückt das verzweifelte Fragen nach einer Erklärung aus und lässt selbst Manzonis intermediale Transposition der Weheklag zu einem „riesenhafte[n] Lamento“ (DF: 705) werden. Seit Takt 29 (M-DF: 204), entweder schneller oder heftiger zu spielen, überwältigt die Partitur mit verschiedenen Schlagzeugen: ein „Begleitsystem, das, zusammengesetzt aus zwei Harfen, Cembalo, Klavier, Celesta, Glockenspiel und Schlagzeug, als eine Art von ,Continuo‘ immer wieder auftretend das Werk durchzieht“ (DF: 709), wie man auch im Roman liest. Bei Manzoni gibt es nur eine Harfe: Cembalo, Klavier und Celesta sind nicht zu finden. Stattdessen werden in der Oper die Ondes Martenot gewählt, ein monophones elektronisches Instrument, das Magie evoziert, vielleicht eine musikalische Hommage an „de[n] weitbeschreyten Zauberer und Schwarzkünstler“Footnote 122 des Volksbuches und gleichzeitig eine Anspielung auf die „Echo-Wirkung“ (DF: 703) der Klage. Xylofon und Piccoloflöte tragen zum hohen Register bei (ab T. 35).

Ab Takt 47 singt der Chor allein. Die Fermate im Takt 57, der ein langes Glissando folgt, bietet eine musikalische Realisierung der Bedeutung des Wortes „Aufenthalt“ (M-DF: 207): Nach dem schreienden Klagen, worauf die musikalischen Paratexte „urlato“, „geschrien“ und die Forte-Dynamik hinweisen, erreicht die Musik allmählich eine vorläufige Pause (Abbildung 5.4).Footnote 123

Abbildung 5.4
figure 4

M-DF: 207, T. 52–57. Musikalische Realisation des Wortes „Aufenthalt“

Der Chor singt 35 Takte lang ohne orchestrale Begleitung, dann kommentiert das Orchester ab Takt 86 (M-DF: 210) und führt die Musik zu einem Fortissimo von höchster Kraft, das auf das Wort „Ach“ (T. 86) fällt, also auf eine der kleinsten Ausdrucksmöglichkeiten des Klagens in der deutschen Sprache.Footnote 124 Das Fortissimo dauert aber nur einen Augenblick und das letzte kaum hörbare Wort wird nicht einem Cello, sondern dem Chor gegeben: Es ist wieder jenes „[W]arum?“ (T. 88 f.), das im Vergleich zum g des Cello noch eine sprachliche Bedeutung mit sich trägt. Bemerkenswert ist auch, dass der letzte Ton nicht nur ein g ist: Der Schluss ist bei Manzoni polyphonisch. Wenn es eine Schuld sowohl in Bezug auf die Sterilität der Kunst als auch auf der politisch-historischen Deutungsebene des Romans gibt – das wiederholte „Warum“ drückt eben dieses Nicht-Verständnis aus – dann ist sie kollektiv zu tragen (Abbildung 5.5).

Abbildung 5.5
figure 5

M-DF: 210, T. 84–89. Das Finale von Manzonis „Weheklag“

2.1.4 Dritter Akt (die Abschiedsrede): die Realisierung des Wahnsinns im Medium der Oper

Kurz nach der Fertigstellung der Weheklag, lädt Leverkühn Freunde und Bekannte nach Pfeiffering ein, um vor ihnen eine Rede zu halten und die neue Komposition am Klavier aufzuführen. Diese Episode befindet sich bei Manzoni im dritten Akt: Dieser besteht „nur aus einem einzigen Bild, der Abschiedsrede Leverkühns, dem sich der Epilog Zeitbloms anschließt“.Footnote 125 Die Anweisung für das Bühnenbild lautet: „Un interno. Adrian, Serenus Zeitblom. Un gruppo di persone sta in attesa, formando capannelli“ (M-DF: 211), „Ein Innenraum. Adrian, Serenus Zeitblom. Eine Gruppe von Personen wartet auf etwas und bildet kleine Gruppen“. Im Gegensatz zum Roman verlassen die Gäste, die in der Oper von Statist*innen dargestellt werden, nicht definitiv den Raum, sondern treten immerzu in bestimmten Momenten der Handlung der Szene ab- und wieder auf. Adrian zeigt genau wie im Roman eine merkwürdige Sprechweise, die in der italienischen Sprache durch einen altertümlichen, auf die Sprache der Opernlibretti des 19. Jahrhunderts anspielenden Wortschatz, realisiert wird und so im Medium der Oper einen intramedialen Bezug darstellt. Diese Sprache bringt die Gäste zum Lachen (M-DF: 211) und verhindert die Erzeugung von Illusion: Sie weicht von der restlichen Sprache der Oper ab und lenkt infolgedessen die Aufmerksamkeit der Zuschauenden auf Kosten der dargestellten Geschichte auf sich. Die Gäste können Adrian, genau wie im Roman, nicht erkennen:

Von Anfang an machte ich [Serenus Zeitblom] die Beobachtung, daß viele gar nicht bemerkten, daß Adrian längst im Zimmer war, und so sprachen, als ob sie ihn noch erwarteten, einfach weil sie ihn nicht erkannten. (DF: 715)

Auch Manzonis Adrian sitzt am Tisch und schaut nicht auf die Personen, an die seine Rede adressiert ist: Dargestellt wird hier durch die Körpersprache des Sängers sowohl der Wahnsinn als auch das Scheitern der Neuen Musik in der Kommunikation mit dem Publikum sowie in der Vermittlung von Ausdruck, wie im Roman und in Adornos Musikphilosophie wiederholt hervorgehoben wird.

Das Orchester lässt Adrian sein Geständnis singen und übernimmt eine kommentierende Funktion. Musikalisch ist Adrians Wahnsinn als Duett der Hauptfigur mit sich selbst realisiert (Abbildung 5.6):

Abbildung 5.6
figure 6

M-DF: 216, T. 22 ff. Adrians Duett mit sich selbst

Adrian erzählt vom bunten Schmetterling (M-DF: 224);Footnote 126 danach singt auch eine in der Partitur sogenannte „Sopranfigur“ mit, Esmeralda, die später „Guardati dal mio corpo!“ (M-DF: 231), „Hüte dich vor meinem Körper“Footnote 127 singt:Footnote 128 Bei Manzoni wird daher nicht ausschließlich von ihr erzählt, ihre Stimme ist materiell präsent, verstärkt und stört gleichzeitig die Narration, indem sie noch einmal das Motiv der Warnung vor dem eigenen Körper auftauchen lässt, das in der Darstellung Esmeraldas zentral ist. Zugleich verdichtet sich der Eindruck einer schizophrenen Störung: Der Raum ist nicht nur der Saal in Pfeiffering, wo im Roman die Abschiedsrede stattfindet, sondern auch Leverkühns Gehirn.Footnote 129

Die gesprochenen Worte der Gruppe, „E’ bello!“ (M-DF: 234), „Es ist schön“ (DF: 721), die im Roman nur von Daniel Zur Höhe gesprochen werden, lenken zusammen mit dem Gelächter und Ausrufen, die im Laufe der Szene immer lauter werden, die Aufmerksamkeit von Adrians Narration weg, setzten sich dem die Narration unterstützenden Orchester entgegen und durchbrechen ständig die Illusion.Footnote 130 Auch hier liegt der Fokus auf der Kollektivität: Es sind nicht mehr einzelne, identifizierbare Figuren, sondern eine relativ homogene Masse, die Leverkühns Rede kommentiert.

Nachdem die Hauptfigur „Egli l’uccise senza pietà“ (M-DF: 239), „[S]o bracht Er es um“ (DF: 725) gesungen hat, kommt das Orchester zu einem plötzlichen Fortissimo, das innerhalb eines Taktes von einer früheren Piano-Dynamik erzeugt wird und Adrians Verzweiflung vor dem Tod Echos mit musikalischen Mitteln darstellt. Das Kind ist sofort danach zu hören, seine Stimme markiert mit ihrer Transparenz einen Kontrast zur allgemeinen, finsteren Atmosphäre. Adrians Sprechweise ist, wie im Roman, ein wenig stockend, was im Gesang durch Pausen, Akzente und kurze Töne vermittelt wird (Abbildung 5.7):Footnote 131

Abbildung 5.7
figure 7

M-DF: 250, T. 415–418. Adrians stockende Sprechweise

Einer Analyse der Textauswahl von Manzonis Kompositionen kann man entnehmen, dass diese Erkundung der musikalischen Realisierungsmöglichkeiten des Wahnsinns kein Unikum der Doktor Faustus-Oper ist.Footnote 132 Nicht selten wird in Manzonis Œuvre der Wahnsinn durch eine „Phonemisierung der Sprache“Footnote 133 realisiert: Noller bestimmt diesen Begriff als eine enorme Ausdehnung von Phonemen, fast eine Reduktion des Textes auf einzelne Vokale und Konsonanten, die als musikalisches Material genutzt werden.Footnote 134

Nach Adrians Erwähnung der Kinder, die ihm Motetten sangen,Footnote 135 ist ein Knabenchor zu hören, wahrschlich eine weitere Projektion Leverkühns (M-DF: 257–260). Das Kommen und Gehen der Gäste geschieht nicht zufällig, sondern korrespondiert mit starken und skandalösen Äußerungen Leverkühns, z. B. der oben erwähnten, wo er über die surrealen Besuche der Kinder spricht (M-DF: 260, T. 470). So wird das zwiespältige Verhalten der Gäste gezeigt, die auf der einen Seite schockiert sind und auf der anderen im Gegensatz zum Roman nicht weggehen können: Das Reden über den Teufel und teuflische Emissäre ist in einem Spannungsverhältnis zwischen Tabu und Faszination verortet; Manzonis Faust-Oper reflektiert hier über das Potenzial des Fauststoffes selbst.

Wenn Adrian von seiner Sünde spricht, kann man auch die Stimme des Teufels hören. Bei Manzoni zeichnet sich dieser, wie in Kapitel sechs erläutert, durch seine drei Verkörperungen aus: zwei männliche und eine weibliche Stimme.Footnote 136 Hier lautet die Anweisung für die drei Teufel: „Von hinter der Bühne mit Verstärkung in den Saal. Mit metallischem Klang (kann auf Band sein)“ (M-DF: 263). Die Stimmen kommen „[v]on rechts“, „[v]on hinten“ und „[v]on links“ (ebd.). Der letzte Akt ist ein Resümee aller Figuren, die bis dato auftraten.Footnote 137

Nach dem lauten Gelächter der Teufelsstimmen wird die Musik äußerst finster (M-DF: 264). Gegen Takt 540 ist die Stimme Adrians, der in seiner Rede immer mehr den Faden verliert, durch einen ständigen Wechsel von Piano und Forte realisiert. Hier wird deutlich, dass er erneut mit sich selbst spricht: Eine Stimme ist sehr statisch und singt unerschütterlich dieselbe Note weiter, die andere ist dagegen sehr dynamisch und bewegt. Erneut erkundet die Oper die Realisierungsmöglichkeiten des Wahnsinns (Abbildung 5.8):

Abbildung 5.8
figure 8

M-DF: 268, T. 540–544. Zweites Gespräch Adrians mit sich selbst

Den Worten „La mia ora“ (M-DF: 271, T. 551), „Meine Stunde“ folgt ein großes Chaos, das sich aus einer Mischung von Ausrufen der Gäste und plötzlichen Dynamikwechseln im Orchester zusammensetzt. Adrian spielt einige Akkorde am Klavier: „Dabei öffnete er den Mund, wie um zu singen, aber nur ein Klagelaut […] brach zwischen seinen Lippen hervor; er […] fiel plötzlich, wie gestoßen, seitlich vom Sessel hinab zu Boden“ (DF: 728 f.), heißt es im Roman. Manzoni ergänzt diese Beschreibung Zeitbloms durch das gewaltsame Zuschlagen des Klavierdeckels. Dies korrespondiert mit dem Vorspielen eines Zitats aus der letzten Klaviersonate Beethovens op. 111, was noch einmal auf die Mythisierung Beethovens in Doktor Faustus hinweist und an die Esmeralda-Episode erinnert, wo Leverkühn ebenfalls einige Akkorde am Klavier spielt und dann rasch weggeht.Footnote 138 Frau Schweigestill schließt die Szene wie im Roman, indem sie die Gäste bittet, bei Manzoni allerdings nicht auf Bayrisch, den Raum zu verlassen.

Das Auffälligste an diesem Akt ist die intensive Erkundung der Realisierungsmöglichkeiten des Wahnsinns im Medium der Oper, was durch unterschiedliche Mittel realisiert wird: durch die Phonemisierung der Sprache, die Duette Adrians mit sich selbst und den Stimmen, welche die Projektionen Adrians verkörpern und somit die Zuhörer*innenschaft in einen weiteren Raum transportieren, nämlich in den Raum seiner Vorstellungen. Kraft der hier geschilderten Mittel wird die Präsenz eines Teufels in der literarischen Vorlage in Frage gestellt, da eher die Symptome einer geistigen Krankheit als die Konsequenzen eines Teufelspaktes hervorgehoben werden.

2.1.5 Epilogo: Leverkühns Tod und der Widerstand der Musik

Im Folgenden werden die letzten Seiten des Romans in den Blick genommen, nämlich die Darstellung der letzten Tage und des Todes Leverkühns in Manzonis Oper. Unmittelbar nach der letzten Note des Finales des dritten Aktes beginnt der Epilog (M-DF: 274–291). Hier spielt Serenus Zeitblom, der zum ersten Mal nicht nur die Szene beobachtet, sondern spricht und seiner Zuhörer*innenschaft von Adrians Tod erzählt, die Hauptrolle. Zeitblom/Robert Wilson rezitierte in der Premiere gut skandiert, mit fester, gefühlloser Stimme: Der Einfluss des epischen Theaters von Brecht, der sonst auch in anderen Werken des Komponisten eine Rolle spielt, wird hier wie an anderen Stellen der Oper, z. B. selbst an der episodischen Dramaturgie und der ständigen Illusionsbrechung, sichtbar. In einem Interview beschreibt Giacomo Manzoni die Wirkung des Brecht’schen Theaters auf die Komponist*innen der Nachkriegszeit, besonders im italienischen Raum:Footnote 139

Brecht ci aiutava ad uscire fuori dall’idea di teatro denso, vischioso, sentimentale, di una certa tradizione, da Strindberg fino a Pirandello […]. Ci faceva credere nell’idea di un’arte impegnata in modo didascalico. […] [L]e opere di Brecht, totalmente diverse dal teatro tradizionale a cui eravamo abituati, erano […] per noi un bagno purificatore in ogni senso.

Das Bühnenbild, das in der ganzen Uraufführung relativ schmucklos ist, zeigt wie im Roman einen Lindenbaum,Footnote 140 der sich nicht lediglich als Symbol für den Tod interpretieren lässt, sondern auch für das Leben bzw. die Hoffnung steht, da im Libretto und im Roman zu lesen ist, dass er blüht:Footnote 141 Inszeniert wird bei der Uraufführung das von Zeitblom im Roman angesprochene religiöse Paradoxon einer „Hoffnung jenseits der Hoffnungslosigkeit“ (DF: 711), der Möglichkeit einer „Transzendenz der Verzweiflung“ (ebd.), was durch den religiösen Charakter der Musik unterstützt wird. Die Christus-Metaphorik und ganz allgemein die religiösen Motive des Romanendes werden durch die Präsenz von Elsbeth Leverkühn, Adrians Mutter, die gleich Maria am Kreuz um den Tod ihres Kindes weint, verstärkt.Footnote 142

Nicht nur Elsbeth Leverkühn verabschiedet sich von ihrem Sohn, sondern auch viele Figuren, denen die Zuhörer*innen im Laufe der Oper begegnet sind, tun es ihr gleich. In den Noten des Orchesters sind verschiedene Soli zu finden, als ob sich die einzelnen Instrumente von dem Komponisten Leverkühn verabschieden würden: u. a. auch die Geige, das Instrument Rudi Schwerdtfegers (M-DF: 276), der in Manzonis Oper nicht vorkommt, aber vielleicht hier Erwähnung findet. Die lange Begleitung der Bratschen betont, dass sich der Freund und Viola d’amore-Spieler Serenus Zeitblom von Leverkühn verabschiedet (M-DF: 280 ff.); da weiters in der Musik ein Imitationsprozess bemerkt werden kann, könnte die Passage auf die ersten Musikübungen Leverkühns und Zeitbloms mit der Stallmagd Hanne Bezug nehmen (Abbildung 5.9):Footnote 143

Abbildung 5.9
figure 9

M-DF: 283, T. 660–666. Die Bratschen im Epilogo

Am Anfang des Epilogs ist außerdem das Thema der letzten Klaviersonate Beethovens zu finden, das in der Partitur dank des paratextuellen Hinweises „Arietta“ leicht zu erkennen ist: Auch das Spätwerk Beethovens „verabschiedet sich“ daher von Leverkühn (M-DF: 274, T. 588 ff.). Die oben geschilderte Bewegung der Bratschen bereitet Zeitbloms Bericht von Adrians Tod (M-DF: 285), der visuell vom Erscheinen weiterer Figuren unterstützt wird, vor. Dann hört man einen Frauenchor off-stage, der „arialior“ singt, eine Erinnerung an Esmeralda, die gleich danach dasselbe Wort zu singen beginnt (M-DF: 286–289) und an das weibliche Klagen und Trauern am Ende des Romans. Die Figur wird nicht als „Esmeralda“, sondern als „verschleierte Frau“ bezeichnet: Wie im Roman bleibt ihre Interpretation offen. Der Text ist erneut, wie auch in der vorher analysierten Abschiedsrede, auf einzelne Vokale bzw. Konsonanten reduziert.Footnote 144

In den letzten Takten sind nur das Schlagzeug, die Klarinette und die Frau zu hören (M- DF: 291). Die Anweisung über der letzten Note, gesungen von der verschleierten Frau, lautet: „lunghissima“, „estinguendosi“, „sehr lang“, „erlöschend“: „Die Stimme ist es also, die über das Alte, Vergangene hinaus in eine neu musikalische Zukunft weist“, kommentiert Sorg.Footnote 145 Der Vorhang fällt „lentamente“ (ebd.), „langsam“ über der letzten Szene und unterstützt das extrem langsame Tempo des Endes. Die Oper endet daher nicht wie im Roman mit Zeitbloms Gebet, sondern mit der immer leiseren Frauenstimme und ihrem Echo. Trotz des anfänglichen Eindrucks, die Musik habe versagt und die Oper kehre aus diesem Grund zur Rezitation zurück, taucht der Gesang erneut auf – wenn auch wieder auf minimale Elemente reduziert – und überlässt die letzten Worte nicht Zeitblom, sondern eben der Musik. Erwähnenswert ist im musikalischen Paratext auch die Verwendung des Wortes „estinguendosi“, also „sich erlöschend“, anstatt des üblicheren und logischeren „morendo“, „sterbend“, das auf das Licht in der Nacht am Ende der Beschreibung der Weheklag verweist und Visuelles und Klangliches miteinander vereint: Die Musik „stirbt“ nicht, sie „erlischt“ gleich einer Kerze.

2.2 György Ránkis Leverkühns Abschied: Leverkühn als absoluter Protagonist und die Geige des Teufels

György Ránkis (1907–1992) Komposition ist ein weiteres Beispiel für die Rezeption von Doktor Faustus außerhalb Deutschlands. In seinem Monodrama nimmt der Roman trotz der Beibehaltung der deutschen Sprache eine leicht volkstümliche, ungarische Konnotation an.Footnote 146

Das Stück trägt den Titel „Leverkühns Abschied (Monodrama). Nach dem Roman: ,Doktor Faustus‘ von Thomas Mann (für Tenorstimme und Kammerensemble)“ und wurde im August 1979 fertiggestellt. Das Kammerensemble besteht aus einer Flöte und einer Piccoloflöte, einem Englischhorn, einer Bassklarinette, einer Harfe, dem Schlagzeug und einem Streichquintett; Leverkühn singt mit Tenorstimme. Laut Partituranweisung soll das Stück zwischen zwölf und fünfzehn Minuten dauern. Bei der Aufnahme jedoch haben sich die Musiker*innen für ein schnelleres Tempo entschieden, denn dort ist das Stück nur ca. elf Minuten lang.Footnote 147

Leverkühns Abschied besteht aus acht Episoden:

  1. 1.

    Fromme Brüder und Schwestern…

  2. 2.

    Es war nur ein Schmetterling…

  3. 3.

    Was zum Teufel will…

  4. 4.

    Ach, Spirochaetae Pallidae!..

  5. 5.

    Eine kleine Seejungfrau…

  6. 6.

    Hatt ich einst gedacht…

  7. 7.

    Nun hört mein Abschiedslied…

  8. 8.

    Tramda, tramdaratta…

Intermedial betrachtet, ist auch Ránkis Monodrama ein Beispiel für ein partielles intermediales Produkt, das sich nur der Abschiedsrede Leverkühns widmet. Auch handelt es sich bei dem Stück erneut um eine Medienkombination, die nicht nur aus den Medien Text und Musik besteht, sondern auch aus dem Medium der Inszenierung: Die Bezeichnung ,Monodrama‘ macht deutlich, dass das Stück kein Lied für Stimme und Instrumente, sondern eben ein kurzes aus Monologen einer einzigen Figur bestehendes Drama ist, das als solches einer Inszenierung bedarf.Footnote 148 Des Weiteren lässt sich Ránkis Leverkühns Abschied der Form der offenen Intermedialität zuordnen, da es, auch wenn das Monodrama nicht tatsächlich inszeniert wird, immerhin Text und Musik enthält. Der paratextuelle Hinweis des Titels erlaubt sofort eine Zuordnung zu den intermedialen Transpositionen von Doktor Faustus.

Der Text, der verschiedene Stellen aus dem Ende des Romans Doktor Faustus kombiniertFootnote 149 und manchmal auch leicht verändert, präsentiert Leverkühn als absoluten Protagonisten: Leverkühn kann bei Ránki mit einer autodiegetischen Erzählinstanz, die mit den Musikinstrumenten kommuniziert, verglichen werden. Die Abschiedsrede, die schon im Roman „im Zeichen einer doppelten Abwesenheit“Footnote 150 steht, d. h. der Kantate und der Verbindung Schöpfer – Werk, steht hier im Zeichen einer dreifachen Abwesenheit, denn auch die Gäste – sonst würde sich das Werk ja nicht als Monodrama bezeichnen lassen – kommen in der Komposition Ránkis nicht vor.

Die erste Episode, mit „[t]empo molto sostenuto e rubato“, „sehr gehaltenes Tempo mit Rubato“ zu spielen, handelt vom ersten Teil der Abschiedsrede Leverkühns. Der Text lautet:

Fromme Brüder und Schwestern, ihr wollet mein Fürtragen annehmen. Ich, Adrian Leverkühn, deutscher Tonsetzer, bin längst verheiratet mit dem Satan. Was ich vor mich gebracht, ist Teufelswerk. Ja, Teufelslied.Footnote 151

Im 47. Kapitel ist das Adjektiv „fromm“ nicht zu finden: In Thomas Manns Roman wird das lauere „lieb[]“ (DF: 721) oder „günstig[]“ (DF: 723) verwendet, bei Ránki hingegen die religiös konnotierte Binäropposition zwischen dem verdammten Leverkühn und seinem frommen Publikum gleich zu Beginn der Abschiedsrede markiert. Die emphatische Betonung „Ja, Teufelslied“ findet sich in Doktor Faustus ebenfalls nicht. Ránkis Komposition hingegen schreibt Leverkühns fiktiver Kantate sofort Dämonisches zu.

Integriert werden Hommagen an die Zwölftontechnik und ihrer Behandlung des Materials (z. B. gleich am Anfang, T. 1–4) sowie an Prokofjew oder Schostakowitsch. Das Kammerensemble unterstützt insgesamt Leverkühns Narration, indem es zum Spannungsaufbau oder generell zur IllusionsbildungFootnote 152 beiträgt. Das Wort „Teufelswerk“, das noch einmal das Dämonische unterstreicht, wird durch die enorme Ausdehnung der Silbe „Teu-“ (T. 26 ff.) stark betont (T. 25, DF: 720): Wie Manzoni mit der Phonemisierung der Sprache verweist dieses Verfahren auf Zeitbloms Beschreibung der Dr. Fausti Weheklag, in der er von der „Dehnung von Silben“ spricht (DF: 708). Die Crescendo-Dynamik und der sich beschleunigende Rhythmus führen zu einer plötzlichen, lapidaren Vervollständigung der früheren Silbe mit „[Teu]-felslied“ (T. 28 f.).

Die nächste Episode, als „[a]llegretto grazioso e capriccioso“, „liebliches und kapriziöses Allegretto“ bezeichnet, handelt von Esmeralda:

Es war nur ein Schmetterling. Hetaera Esmeralda. Die hatte es mir angetan, durch Berührung. Sie gab mir Gift in der Liebe, da war ich eingeweiht.Footnote 153

Die weibliche Figur, Esmeralda, wird musikalisch durch den Harfen- und Flötenklang realisiert: Ein Dialog beider Instrumente eröffnet die Episode. Das Streichquintett soll ebenfalls „flautato“ spielen und auf diese Weise den Klang der Flöte imitieren; zusammen mit den Mordenten wird hier das Fliegen eines Schmetterlings in der Musik simuliert (Abbildung 5.10):

Abbildung 5.10
figure 10

Der Anfang der zweiten Episode (T. 35 f.)

Der chromatische Verlauf der ersten Violinstimme samt den vielen Mordenten könnte ab D auf die Konsequenz der intimen Beziehung mit Esmeralda hinweisen, die Syphilis, die später auch im Text des Sängers angesprochen wird („Die hatte es mir angetan“). Dieses Motiv stört den „lieblichen und kapriziösen“ Verlauf der Flöte und lenkt trotz der Pianissimo-Dynamik die Aufmerksamkeit auf sich: Da die anderen Instrumente zupfen, lässt es sich nicht überhören. Abgesehen davon, dass in der Musik von der Ansteckung erzählt wird, stellt dies sicherlich ein den allgemeinen Musikverlauf störendes Element dar. Zwei Takte später singt Leverkühn „mezza voce“, als ob er ein Geheimnis erzählen würde: „Es war ein Schmetterling…“ (T. 41) (Abbildung 5.11):Footnote 154

Abbildung 5.11
figure 11

Die Thematisierung der Ansteckung in der zweiten Episode (T. 39 ff.)

Die dritte Episode erweist sich als sehr unterschiedlich zur zweiten, da die Anweisung „[a]gitato, misterioso“ lautet (T. 56), also „bewegt und geheimnisvoll“. Die geheimnisvolle Atmosphäre wird durch das tiefe Register der Bassklarinette erzeugt; die Tenorstimme singt erregt und betont einige Worte, die in der Partitur großgeschrieben sind:

Was zum Teufel will, das lässt sich NICHT aufhalten. Und JENER hat mir Zeit verkauft für meine Seele. Doch es wurde ausgemacht, dass ich NICHT lieben darf, und das END ist SEIN.Footnote 155

Hier werden also das Liebesverbot und Leverkühns Ohnmacht angesichts seiner verzweifelten Lage thematisiert. Dank des Rallentando und der Stille des Streichquintetts wird das Wort „End“ wiederholt deutlich betont, was eine Parallele zu Manzonis Realisierung des Wortes „Aufenthalt“ ist.Footnote 156 Das Motiv der Verabschiedung Leverkühns von der Welt bzw. des sich nähernden Endes, das bei Ránki bereits im Titel enthalten ist, nimmt in beiden intermedialen Transpositionen eine wichtige Stellung ein (Abbildung 5.12):

Abbildung 5.12
figure 12

„Das END“ (T. 64 ff.)

Die vierte Episode handelt von der geistigen und physischen Krankheit Leverkühns, die wie ein Delirium präsentiert wird:

Ach, Spirochaetae Pallidae! Ihr geisselt den müden Geist. Ach, cerebrale Illumination! Teufels Zauber und höllisch Fieber! Ach, helfet dem Künstler, der der Zukunft den Marsch schlagen will. Tramda, tram[daratta]!Footnote 157

Ach, eitler Wahn, bitt’re Schmerzen, ach!Footnote 158

Diese Episode, in der das Klagen deutlich zum Tragen kommt, ist als „Largo espressivo (quasi una preghiera)“ (T. 69), als „expressives Largo, fast wie ein Gebet“, bezeichnet. Durch die Tempoanweisung wird vermittelt, was die Musik bestätigt: Diese Ausdrucksexplosion von Klage nähert sich einem Klagen religiöser Art, das statisch (siehe die Tempoangabe ,Largo‘) wirken soll. Auch Zeitblom beschreibt Leverkühns Weheklag als „recht eigentlich undynamisch, entwicklungslos, ohne Drama“ (DF: 705). Rhetorisch betrachtet, beinhaltet der Text eine Fülle von exclamationes und invocationes, wie z. B. „Ach, cerebrale Illumination!“. Die Partikel der Klage, ,ach‘, fehlt hier ebenfalls nicht. Leverkühn bittet den Teufel um Hilfe, um geniale Werke für die künftigen Generationen zu schreiben: Das Scheitern seines Projekts wird aber hervorgehoben, indem das musikalische Tempo dem Textinhalt entgegensetzt ist, folglich kann der dort angesprochene Künstler, „der den Marsch schlagen will“, nur einen langsamen Marsch schlagen. Auffällig ist zudem, dass die restlichen Instrumente diesen Marsch sehr schwach unterstützen, was eine Ausnahme im Monodrama darstellt, denn sonst passt sich die Musik dem Inhalt des Textes an (Abbildung 5.13):

Abbildung 5.13
figure 13

„Tramda, tramdaratta“ (T. 82 f.)

Die Worte „tramda, tramdaratta“ am Ende des Stückes wiederholen nicht nur das Motiv der Musik für künftige Generationen und unterstützen nicht nur sprachlich den Marsch-Rhythmus, sondern drücken auch das Motiv der Sprachkrise, das auch bei Manzoni eine zentrale Rolle spielt, aus.

Die fünfte Episode handelt von Echos Tod durch den Teufel:

Eine kleine Seejungfrau, die war meine Schwester und Süsse Braut. Sie hat mir ein Söhnchen gerehlt, ein holdselig heilig Knäbchen. Doch ER – bracht es um – ohn Erbarmen.Footnote 159

Hier ist die erregte Singweise Leverkühns quasi im Sprechgesang zu erkennen: Leverkühns Sprachkrise lässt sich durch eine Vielfalt an Gesangstechniken musikalisch realisieren. Die Piccoloflöte und die Harfe sind mit der Seejungfrau assoziiert, da sie Leverkühns Bericht von ihr begleiten: Klanglich ist daher Esmeralda, die wie der Teufel im Roman ebenfalls verschiedene Gestalten annimmt (Schmetterling, verschleierte Frau, Seejungfrau), in der Komposition immer erkennbar.Footnote 160 Darüber hinaus lässt sich an der Erwähnung der kleinen Seejungfrau konstatieren, dass das Motiv des Inzests auch in Ránkis Monodrama trotz der im Vergleich zur Vorlage starken Textreduktion auftaucht.Footnote 161 Das Kammerensemble unterstützt hier, wie sonst im Monodrama, Leverkühns Narration durch die Dynamik.

Die darauf folgende Episode, die „agitato e[d] excitato“ [sic], „mit Aufregung“ zu spielen ist, handelt vom Liebesverbot des Teufels sowie von der Zeit, die Leverkühn bis zum Ende des Teufelspaktes übrig bleibt:

Hatt ich einst gedacht, dass ich auch lieben darf, in Blut und Fleisch, was NICHT weiblich war. Doch DEN – musste ICH töten. – Ach, meine Sünde ist grösser, denn dass sie mir könnte verzeihen [sic] werden. Ach, die Zeit ist ausgelaufen, ich bin verdammt.Footnote 162

Gerade beim Singen des letzten Satzes, in dem der Klagelaut ,ach‘ wieder auftaucht, wird auch passend hierzu die Musik statisch und der Klagelaut selbst erneut gedehnt (T. 107 f.), zudem lautet die Anweisung für die Tenorstimme „lamentando“ (T. 104), also „klagend“: Alle diese musikalischen Elemente verweisen auf Leverkühns Weheklag, auch der Schluss selbst im Pianissimo, wie das g des Cello am Ende der fiktiven Kantate. Im Text wird außerdem angedeutet, dass Leverkühn nicht nur Figuren weiblichen Geschlechts geliebt hat, was sich in diesem Fall auf den Neffen bezieht, für dessen Tod er sich verantwortlich erklärt.

Die Anweisung für die siebte Episode lautet „[r]ubato, molto espressivo“, „mit Rubato, sehr expressiv“ und ihre ersten acht Takte sind rein instrumental (T. 111–118): Am Anfang spielt das Englischhorn gemeinsam mit dem Streichquintett, danach hört man auch Flöte, Bassklarinette, Pauke und später, wenn die Tenorstimme zu singen beginnt, auch die Harfe.Footnote 163 Der Text lautet:

Nun höret mein Abschiedslied, wie ich es der SATANS Geige abgehört: „ACH, FAUSTE, DU VERWEGENES UND NICHTWERDENDES HERZ… ACH…VERNUNFT UND VERMESSENHEIT, ACH…FREIER WILL, ACH…“Footnote 164

Das Dämonische wird mithilfe des ,teuflischen‘ Instruments par excellence ins Zentrum gestellt: Die virtuose, fast komplett auf der G-Saite und in höheren Lagen Passage der Violine unterstützt den Text. Der Klagelaut tritt zudem wiederholt auf und stört Leverkühns Erzählen; im Text wird die Sprachkrise Leverkühns nochmals deutlich.

Die letzte Episode handelt vom gescheiterten Versuch Leverkühns, seine Komposition aufzuführen. Vor dem letzten Klagelaut sind nochmals die Worte „[t]ramda, tramdaratta“ zu hören, die Leverkühns Sprachkrise und Kommunikationsunfähigkeit unterstreichen.Footnote 165 Die Episode beginnt mit derselben Art von instrumentaler Begleitung, die den Anfang der ersten Episode bestimmt (T. 132–135): Das Stück besitzt also eine Kreisstruktur. Die Worte des Sängers „tramda, tramdaratta“ sind in Crescendo und weisen einen Marsch-Rhythmus auf, der vom Schlagzeug unterstrichen wird (ab M). Dies erzeugt eine große Spannung. Das nochmals gedehnte Wort „Ach“ wird nur vom Schlagzeug begleitet (N): Die Dynamik geht vom Piano zu einem plötzlichen Fortissimo und dann „morendo“, „sterbend“ zu einem plötzlichen Pianissimo. Das Kammerensemble antwortet auf die letzten Noten der Tenorstimme mit einem Echo im Fortissimo samt Akzenten und schließt auf diese Weise das Stück: Auch bei Ránki hat wie beim Vorlesen des letzten Teils der Beschreibung der Weheklag das Echo des Klagens das letzte Wort.

Ránkis Monodrama verdeutlich noch einmal, was auch in den vorigen Kapiteln der vorliegenden Studie konstatiert wurde, nämlich, dass sich trotz sehr unterschiedlicher Musikstile der behandelten Komponist*innen bisweilen Kontinuitäten feststellen lassen, z. B. in der Art und Weise, wie bestimmte Motive im Medium der Musik (teil-)reproduziert und wie bestimmte Passagen des Romans interpretiert werden: Auch hier stehen das Klagen, das quasi religiöser Natur ist, wie die Tempoangabe der vierten Episode ausdrückt, und die Sprachkrise im Vordergrund. Was aber das Monodrama verstärkt, ist die Zuordnung der Vorlage zur Faust-Tradition: In Ránkis Text ist so oft die Rede vom Teufel, dass sich diese Zuordnung, die doch im Roman immer noch Anlass für Diskussionen bietet, kaum in Frage stellen lässt. Es handelt sich sogar um einen musikalischen Teufel, der die Geige spielt. Die Inkongruenzen des Erzählers lassen sich bei Ránki durch die Erhebung Leverkühns zum absoluten Protagonisten und zur alleinigen, autodiegetischen Instanz überwinden.

2.3 Peter Ruzickas „…ZURÜCKNEHMEN…“: Erinnern, Vergessen, Verstummen und Zurücknehmen

Nachdem zwei intermediale Transpositionen, nämlich Manzonis Oper und Ránkis Monodrama analysiert wurden, wird im Folgenden eine intermediale Bezugnahme in den Fokus gerückt, die der Definition entsprechend nur auf einige wenige Mikroformen aus der Vorlage Bezug nimmt.Footnote 166 Das Werk „…ZURÜCKNEHMEN…Erinnerung für großes Orchester“ des deutschen Komponisten Peter Ruzicka (*1948) war ein Kompositionsauftrag der Wiener Philharmoniker, das 2009 in Wien uraufgeführt wurde.Footnote 167 Die Orchesterbesetzung ist die folgende: Streicher (erste und zweite Violinen, Bratschen, Celli und Kontrabässe), drei Flöten (die dritte auch Piccolo), zwei Oboen, Englischhorn, zwei Klarinetten, Bassklarinette, zwei Fagotte, Kontrafagott, vier Hörner, drei Trompeten, drei Posaunen, Basstuba, Kontrabasstuba, Pauken, Schlagwerke, Harfe, elektronische Orgel, Klavier, Celesta. Im Gegensatz zur vorher betrachteten Komposition hat man es hier mit einer imponierenden Besetzung zu tun: Es ist zudem anzumerken, dass die einzelnen Streicherpulte separate Noten haben, was die orchestrale Textur noch dichter macht. Auch hinsichtlich der Dauer ist dieses Stück im Vergleich zu Ránkis Leverkühns Abschied etwas länger.

Nicht nur in der Besetzung unterscheidet sich Ruzickas Werk von den meisten in dieser Studie betrachteten Kompositionen, denn in diesem Fall kann man auch nicht von Medienkombination sprechen, weil das einzige materiell präsente Medium die Musik ist. Auch die Definition ,offene Intermedialität‘ wäre problematisch, da die intermedialen Bezüge keineswegs im musikalischen Text selbst offen deklariert werden und es sich um eine rein instrumentale Komposition handelt. Das im Titel der Komposition erwähnte Zurücknehmen ist kein eindeutiger Verweis auf Leverkühns Zurücknahme der Neunten Symphonie und dementsprechend auf das Medium der fiktionalen Schrift.Footnote 168 Ruzickas …ZURÜCKNEHMEN… ist eher ein in dieser Studie selten vorkommendes Beispiel für verdeckte Intermedialität: Die Präsenz eines einzigen Mediums, nämlich der Musik, die sich zudem durch ausgeprägte Selbstreferentialität auszeichnet, erschwert die Nachweisbarkeit intermedialer Bezüge.Footnote 169

Wie geht denn die folgende Analyse vor? Erstes Mittel dafür können Quellen außerhalb der Partitur und der Aufnahme sein, die jedoch bekanntlich alleine keine ausreichende Aussagekraft besitzen. In der Beschreibung des Werkes im Booklet der CD schreibt Becker, dass der Titel von Ruzickas Komposition „auf d a s Skandalon in Thomas Manns Roman Doktor FaustusFootnote 170 verweist. Er versteht darunter Leverkühns Absicht, die Neunte Symphonie zurückzunehmen. Das stelle aber nicht die einzige Erinnerung dar, so Becker, auf die sich der Titel beziehe: Es sei eine dreifache, und zwar an Manns Doktor Faustus, an Beethovens Neunte Symphonie und an Ruzickas eigenes Schaffen.Footnote 171 Folglich ließen sich in der Komposition sowohl intra- als auch intermediale Bezüge indizieren. Beckers These, die sich u. a. auch auf die Intention des Autors stützt, ist – einer größeren Aussagekraft wegen – mit einer Analyse des Stückes auf der Suche nach Kontinuitäten mit Thomas Manns Roman auf den Prüfstand zu stellen.

Zunächst gilt es anhand der Partitur herauszuarbeiten, ob sich intramediale Bezüge auf Beethovens Spätwerk finden lassen, die somit das im Titel erwähnte Zurücknehmen in Verbindung mit Leverkühns Zurücknahme von Beethovens Neunter Symphonie bringen könnten. Die Beispiele dafür sind zahlreich und werden auch anhand einiger publizierter Analysen des Werkes hervorgehoben. Erstens der, so nochmals Becker, „,Schreckensakkord‘ vom Beginn des 4. Satzes der Neunten Symphonie“.Footnote 172 Zweitens, darauf weist auch Traber hin, „[d]as Schlagzeug und die antreibenden Gesten des Alla marcia aus Beethovens Finale“Footnote 173 und drittens die Tonart von Beethovens letzter Symphonie. Diese Anspielungen auf Beethoven interagieren mit dem restlichen musikalischen Material, wie Becker unterstreicht:Footnote 174

Das musikalische Material speist sich zunächst auch aus früheren Kompositionen Ruzickas, die wie Erinnerungen an Vorgedachtes, auch Verworfenes der neuen Partitur eingeschrieben sind: In diese wie aus tektonischen Verschiebungen und kosmischen Stürzen fräst sich immer wieder der hochgespannte Eröffnungsakkord ein, der die Gegenwart Beethovens ebenso beschwört wie die Signale der Kleinen Trommel („Alla Marcia!“) oder die auf den Ton d (die Tonart der Neunten) fokussierten Repetitionsfelder der Streicher und Bläser.

Wie bei Manzoni werden also Elemente aus Beethovens Werk in das eigene musikalische Material integriert:Footnote 175 Im Gegensatz zur Oper geht es aber bei Ruzicka weniger um eine Fusion oder eine Vermischung der Bezüge auf Beethovens Neunte mit dem eigenen musikalischen Material, sondern eher um eine Markierung und eine Nebeneinanderstellung. Trabert betont, dass der letzte von Becker erwähnte Punkt, nämlich das Drängen auf die Tonart der Neunten (d-Moll) sowohl als Hommage an Beethovens Symphonie als auch an andere zwei Neunte Symphonien interpretiert werden kann, und zwar an die Bruckners, ebenfalls in d-Moll, und die Mahlers, in D-Dur/Des-Dur.Footnote 176 So erweitere Ruzicka das „Arsenal der Erinnerung“Footnote 177 und der Zurücknahme von Doktor Faustus.

Da aber die Bezüge auf Beethoven sich nicht zwangsläufig auf Thomas Manns Roman zurückführen lassen, muss in einem nächsten Schritt nach weiteren Indizien für Bezugnahmen auf Doktor Faustus gesucht werden. Aus diesem Grund sei die Struktur der Komposition kurz geschildert: „…ZURÜCKNEHMEN…“ kann in drei Hauptteile gegliedert werden, die einer Kreisstruktur entsprechen. Der erste Hauptteil erstreckt sich bis Takt 89 und ist von einem Wechsel zwischen Klangflächen und Verstummen sowie einer rhythmischen Opposition zwischen den Streichern und den anderen Instrumenten geprägt. Die Realisierung dieser Klangflächen, die bei der Betrachtung der Partitur sofort zu erkennen sind, ist hauptsächlich Aufgabe der Streicher, die im Gegensatz zu den anderen Instrumenten des Orchesters von schnellen rhythmischen Figurationen gekennzeichnet sind  (Abbildung 5.14). Der zweite Hauptteil geht bis Takt 345. In diesem Teil kommt das Verstummen viel seltener vor, im Takt 280 lautet die Anweisung für die Streicher „feroce“, „wild“. So Traber:Footnote 178

Der zweite, heftige Teil von „…ZURÜCKNEHMEN…“ mit dem Auf und Ab seiner Sturz- und Schwungfiguren, dem Orchestersatz, der wie ein vielfältiges Echo auf virtuos-attackierende Paukensoli wirkt, mit seinen cholerischen Crescendi und dem Energiestau, der durch die metrische Polyphonie unterschiedlich schneller, marschartiger Repetitionsmuster entsteht, trägt Züge jenes „Höllengalopps“ und „Schreckenstanzes“, den Thomas Mann in seinem Roman beschwor.

Gerade die Anweisung „feroce“ erinnert an die „wilde Idee des Niedergeholtwerdens als Tanz-Furioso“ (DF: 708) und gleichzeitig auch an manche Stellen aus der Apocalipsis cum figuris, z. B. die des „Tutti-Fortissimo grauenhaft anschwellenden, überbordenden, sardonischen Gaudium Gehennas“ (DF: 548).Footnote 179

Der dritte Teil von Ruzickas Komposition weist eine erlöschende Dynamik auf, die also allmählich leiser wird, und kehrt zum selben Klangverlauf des ersten Teils zurück. Hier mag man an Zeitbloms Schilderung des Schlusses von Leverkühns Weheklag denken: „[E]in symphonischer Adagiosatz, in welchen der nach dem Höllengalopp mächtig einsetzende Klage-Chor allmählich übergeht“ (DF: 709).Footnote 180 Im Gegensatz zur Weheklag gibt es in Ruzickas Werk einige Soli. Zudem findet Traber eine Korrespondenz zu Zeitbloms Beschreibung der „Hauptstimme, die oft in langen melodischen Bögen verläuft“ (DF: 708) im Flötenmelos im ersten und dritten Teil sowie im Duo der Violine solo mit den Bassinstrumenten im zweiten Teil.Footnote 181 Im Stück lässt sich tatsächlich in allen Teilen eine ähnliche Melodie auffinden: ein selbständiges, singbares Element, das nicht immer gleich auftaucht, aber einer ähnlichen kompositorischen Konzeption zugeordnet werden kann. Diese Melodie wirkt wie eine Erinnerung, die an einigen Stellen unbestimmter und vager ist, an anderen deutlicher, dennoch immer erkennbar bleibt. Der Quintklang a-d der Celesta, der das Stück schließt, ist außerdem als Anspielung sowohl auf Beethovens letzte Symphonie aufzufassen – als „Eingangstor zur Neunten Symphonie“Footnote 182 – als auch auf den Roman, denn das Instrument ist dort Teil der Besetzung. Eine erwähnenswerte Differenz zu Leverkühns Kantate stellt aber das wiederholt auftretende Verstummen dar: Leverkühns Werk zeichnet sich durch seine Gebundenheit aus, nur der Schluss kommt zum Verstummen. Eine echte Differenz ist das aber – genauer betrachtet – nicht: Wißmann erläutert in Bezug auf das ganze Schaffen des Komponisten, dass das Verstummen bei Ruzicka keine leere Zeit darstelle, sondern als Teil der Komposition aufzufassen sei.Footnote 183 Dies erzeuge eine bewusste Tendenz zum Fragmentarischen, ohne dabei Klarheit und Sprachkraft zu verhindern.Footnote 184 Vielleicht gelingt Ruzickas „…ZURÜCKNEHMEN…“ durch jenes kohäsive Fragmentarische eine größere Ausdrucksfähigkeit und daher durch den Medienwechsel eine Ergänzung der Vorlage.

In einem dritten Schritt der Analyse wird auf konzeptuelle Ähnlichkeiten zwischen den letzten Kapiteln von Doktor Faustus und Peter Ruzickas Werk, ausgehend vom paratextuellen Hinweis des Titels, eingegangen. Die Bezeichnung der Form eines musikalischen Stückes als Erinnerung ist in der Musikgeschichte kaum zu finden und weist auf die Darstellung der Zeit im Werk als Zeit des Erinnerns und Nachdenkens, die man durch den ständigen Wechsel zwischen Klangflächen und Verstummen wahrnimmt, hin. Zugleich bezieht sich diese Definition auf die drei Erinnerungsschichten von „…ZURÜCKNEHMEN…“, und zwar auf Beethovens Neunte, Doktor Faustus und Ruzickas eigenes Schaffen. Außerdem tauchen zwei zentrale und auf den ersten Blick gegensätzliche Konzepte im Titel auf: Der Akt des Zurücknehmens lässt sich als Amnestie begreifen. Aleida Assmann, die sich in ihrer Forschung intensiv mit der Erinnerungskultur auseinandergesetzt hat, definiert die Amnestie als „willentliches Vergessen, eine Form der Selbstlegung und Diskursbegrenzung, die bestimmte Sachverhalte aus der gesellschaftlichen Zirkulation verbannt“.Footnote 185 Diesem setzt sich aber die Erinnerung entgegen: Die Klangflächen ihrerseits könnten daher für eine Zeit des Erinnerns und das Verstummen für eine Zeit des Vergessens stehen. Daraus ergibt sich ein „Kampf der Erinnerungen“:Footnote 186 Assmann versteht darunter mit Bezug auf Shakespeares Dramen eine spannungsreiche Art des Erinnerns, in der die beiden Pole (das Vergessen und das Erinnern) neutral in einem ausgewogenen Dominanzverhältnis nebeneinanderstehen. Ruzickas Komposition verfolgt durch die im Titel explizit deklarierte Absicht des Erinnerns einen quasi historiographischen Zweck im Medium der Musik.Footnote 187 Denn das Verstummen kann nicht nur für das Vergessen stehen: In der ganzen Komposition bildet sich der Prozess des Erinnerns ab; Assmann weist darauf hin, die Erinnerung sei „alles andere als eine einheitliche Kraft“Footnote 188 und gehöre „zum Unzuverlässigsten, was ein Mensch besitzt“.Footnote 189 Außerdem macht sie darauf aufmerksam, dass in Erinnerungen „als Motor des Handelns und der Selbstdeutung“Footnote 190 ein großes Potenzial liege: „Wir definieren uns durch das“,Footnote 191 so Assmann, „was wir gemeinsam erinnern und vergessen“.Footnote 192 Auch Leverkühn erinnert sich im Roman an die Neunte Symphonie und nimmt sie gleichzeitig, insbesondere durch die Weheklag, zurück: Die Erinnerung an jene „Variationen des Jubels“ (DF: 705) stellt im Roman die Voraussetzung für das Handeln in Form des Zurücknehmens und Anwendens der Zwölftontechnik dar. Jenem Akt des Zurücknehmens wohnt sowohl Vergessen als auch Erinnerung inne, er dient dem Durchbruch Leverkühns und führt zum epiphanischen Moment. Die Weheklag trägt gleichzeitig kraft ihrer Umkehrung der Variationen des Jubels in Variationen der Trauer zum Vergessen und Erinnern der Neunten Symphonie bei.

Es ist vor allem dieses, der fiktiven Kantate innewohnende Spannungsverhältnis zwischen Erinnern und Zurücknehmen bzw. Vergessen, das Ruzickas Komposition aus dem literarischen Medium in das musikalische transferiert und so mit weiteren Elementen des Werkes kombiniert, wobei sich daraus eine Form von verdeckter Intermedialität ergibt. Da in den letzten Kapiteln des Romans das Thema der Sterilität der Kunst, u. a. auch kraft der vielen intramedialen Bezüge auf Adorno, in den Vordergrund gerückt wird, liefert Ruzickas Werk auch eine Lösung, die zugleich alle drei von Heimann in Anlehnung an Adorno präsentierten Kategorien (Verstummen, Verbleiben im Konventionellen und revolutionäre Lösung) unter dem übergeordneten Begriff der Erinnerung subsumiert. Als Motor des Handelns und der Selbstdeutung erlaubt die memoria nicht nur das Zurückschauen, sondern auch das Suchen nach Alternativen und Lösungswegen. In allen in diesem Kapitel behandelten Kompositionen scheint beispielsweise der Lösungsweg nicht wie im Roman über die Zurücknahme der Neunten Symphonie zu führen. Vielmehr unterstreichen sie die Unmöglichkeit dieses Aktes, nicht zuletzt wegen des Platzes, der die Symphonie im kulturellen Gedächtnis hat, und integrieren Beethovens Werk in das musikalische Material. Um diesbezüglich aber keine voreiligen Schlüsse zu ziehen, soll zunächst einmal das letzte Musikwerk dieses Kapitels näher betrachtet werden, das erneut eine intermediale Transposition ist.

Abbildung 5.14
figure 14

© Mit freundlicher Genehmigung MUSIKVERLAG HANS SIKORSKI GMBH, Hamburg

Die erste Seite der Partitur.

2.4 Humphrey Searles The Lamentation of Dr. Faustus: Marlowe und die Gigue des Teufels

The Lamentation of Dr. Faustus ist das letzte Stück in Searles Kantate. Vor dem Beginn der Musik erwähnt der Moderator die Merkmale von Leverkühns Komposition, darunter die Anwendung der Zwölftontechnik: Im Gegensatz zum Roman, wie bereits in 4.2.3 hervorgehoben, wendet Searle diese Kompositionstechnik bereits in seiner Apocalypsis cum figuris an. Der Komponist kennt sich damit sehr gut aus, da schon seine ersten Kompositionen laut Lockspeiser eine „mastery […] of the twelve-note system“Footnote 193 beweisen. Der Einfluss von Searles Kompositionslehrer, Anton Webern, taucht nicht selten in seinem Werk auf. So Lockspeiser:Footnote 194

[He] acquir[ed] from him [Webern] that power of acute musical analysis combined with an almost excessively sensitive feeling for the musical phrase which was the direct legacy of Schoenberg.

The Lamentation of Dr. Faustus ist eine dreiteilige Komposition.Footnote 195 Der erste vom Autor als „Faust’s lamentation“Footnote 196 bezeichnete Teil stützt sich auf das Endgespräch Fausts aus Christopher Marlowes Theaterstück The Tragicall History of the Life and Death of Doctor Faustus.Footnote 197 Vor dem Einsatz des Sängers, der mit einer Baritonstimme singt, gibt es eine orchestrale Einleitung. Das Register des Orchesters ist tiefer, wenn die Stimme zu singen beginnt. Der zweite Teil ist ein chorales Scherzo, „showing the carrying off of Faust to hell as a dance-furioso“,Footnote 198 schreibt Searle. Hier wird folglich in der Medienkombination das realisiert, was Serenus Zeitblom als „gräßliche[s] […] zynische[s] chorische[s] Scherzo“ beschreibt,

worin „der böse Geist dem betrübten Fausto mit seltsamen spöttischen Scherzreden und Sprichwörtern zusetzt“, – mit diesem fürchterlichen „Drumb schweig, leid, meyd und vertrag, dein Unglück keinem Menschen klag, es ist zu spat, an Gott verzag, dein Unglück läuft herein all Tag“. (DF: 708)

Der scherzhafte, parodistische Charakter dieses Teiles wird durch die Einführung eines „dance poem in the form of a jig“,Footnote 199 das den Titel „Devil’s Jig“ trägt und auf einem Text von Nye sowie auf der Gigue-Form basiert, stark hervorgehoben.Footnote 200 Fausts Höllenfahrt wird von einem Chor begleitet, der die letzten Zeilen von Marlowes Theaterstück spielerisch und humorvoll singt.Footnote 201 Außerdem kann man Höllengelächter hören, durch das die Verwandtschaft mit der Apocalipsis cum figuris des Romans sowie mit der Apocalypsis cum figuris der Radiosendung verdeutlicht wird.

Der dritte Teil beginnt nach dem a cappella-Einsatz mit der Fortissimo-Dynamik des Chores, der Marlowes Worte „Cut is the branch that might have grown full straight“Footnote 202 singt. Vom Komponisten wird dieser Moment als „purely orchestral Adagio, ,the extreme lament‘“Footnote 203 geschildert. Die Instrumente, denen im Gegensatz zu Doktor Faustus Soli gegeben werden und die beim Hören am meisten auffallen, sind zunächst das Violoncello und alle Streicher, dann die Klarinette, danach die Violine und letztendlich der tiefe Klang der Celli und Kontrabässe. Anders als im Roman wird das Stück nicht mit dem Cello beendet.

Beim Nachdenken über die Struktur seiner Lamentation sagt Searle:Footnote 204

I suddenly realised that the three sections of this piece corresponded in some ways to the first three movements of the Choral Symphony, so I prefaced each of the first two sections with quotations from the first two movements of the symphony, but substituting the Esmeralda phrase for Beethoven’s themes. That may not be what Thomas Mann had in mind but it seemed to work quite well.

Einige Elemente von Searles Vertonung, etwa das fehlende g am Ende, die Einführung von Zitaten aus Beethovens Neunter und die Verwendung von Marlowes Text, weisen also darauf hin, dass sich diese Komposition aus der Radiosendung eine größere Distanz zur Vorlage erlaubt. Zeitbloms Beschreibung der Weheklag wird in The Lamentation von allen ihren Wertungen befreit und parodistisch gelesen, was vor allem in „Devil’s Jig“ deutlich wird: Vorlage für die musikalische Form des Stückes sind keine Lamenti mehr, sondern eine Tanzform, die speziell der Figur des Teufels gewidmet wird. Zwar war die Gigue in der Renaissance- bzw. Barockepoche ebenfalls sehr populär, gehörte aber zu einer anderen Dimension des Musizierens, die ursprünglich kaum religiös zu begreifen war.Footnote 205 Auch das Klagen, das in dieser intermedialen Transposition realisiert wird, ist nicht religiöser Natur. Searles Komposition verstärkt daher parodistische Elemente der Vorlage und zielt vor allem darauf ab, die Heterogenität des musikalischen Materials, das beispielsweise auf Scherzi, Gigue und Adagi zurückgreift, herauszustellen und gleichzeitig die Idee der Eintönigkeit der Zwölftontechnik durch die Zwölftontechnik selbst zu kritisieren. Die Gebundenheit ist durch die dreiteilige Struktur und die Beethovens Zitate, die auch in diesem Fall in die Musik integriert werden und kein fremdes, der Komposition äußerliches Element darstellen, immerhin gewährleistet. Die Themen aus Beethovens Neunter Symphonie ersetzen sogar die Esmeralda-Chiffre, ein im Roman häufig wiederholtes Motiv, das vor allem auf die Syphilis-Ansteckung und auf den Teufelspakt verweist; darüber hinaus wird die Deutungsebene des Faust-Romans parodistisch gelesen: Viele Indizien sprechen dafür, dass diese Interpretationsperspektive in Searles Medienkombination in Frage gestellt wird.

Des Weiteren ergänzt Searles Lamentation die Vorlage, indem sie den englischsprachigen Faust-Text par excellence verwendet. Diese Ergänzung lässt sich auf die in dieser Studie wiederholt ausgesprochene Beobachtung zurückführen, dass das sekundäre intermediale Produkt, das aus anderen geographischen und historischen Prämissen entsteht, eben diesen unterschiedlichen Entstehungs- und Rezeptionskontext berücksichtigt. Der intramediale Bezug der Vorlage wird folglich bei Searle in England, wo Marlowe gelebt hat, verstärkt. Denn strukturell und inhaltlich betrachtet ist der Einfluss des englischen Autors auch an den letzten Kapiteln von Manns Doktor Faustus zu erkennen. Marlowes Theaterstück endet mit einem Monolog Fausts, in dem er ebenfalls tief verzweifelt ist und über seine unüberwindliche Verdammnis spricht. Dem Monolog folgt ein „Epilogue“:Footnote 206 Der Chor kommentiert, was geschehen ist, und schließt somit das Stück. Anstelle des Chores wird im Epilog von Doktor Faustus – dort „Nachschrift“ benannt – die Figur des Erzählers verwendet, aber die Struktur und zum Teil der Inhalt zeigen eine frappante Ähnlichkeit zum Theaterstück Marlowes. Folglich wird in Searles/Nyes Vertonung dieser verdeckte intramediale Bezug der Vorlage verstärkt und durch die Zitate aus Marlowes Drama explizit gemacht. Nicht zuletzt zwingt die Verwendung des Marlowe-Textes zu keinem Sprachwechsel oder zu keiner Übersetzung, indem er gleichzeitig eine Faust-Bearbeitung aus ungefähr derselben Zeit (1592) wie die des Volksbuches bietet. Resümierend lässt sich sagen, dass zu den auffälligsten Merkmalen von Searles Vertonung der Weheklag, die aus einer intermedialen Analyse resultieren, die Verstärkung von parodistischen Elementen der Vorlage und durch den Marlowe-Text die Berücksichtigung unterschiedlicher Entstehungsprämissen und Rezeptionskontexte zählen, mit denen ein sekundäres intermediales Produkt zwangsläufig konfrontiert ist.

Aus der Auseinandersetzung mit der Dr. Fausti Weheklag sowie den letzten Kapiteln des Romans im ersten Teil des vorliegenden Kapitels lassen sich zwei Hauptschlussfolgerungen ziehen. Erstens, dass die Klage, einziges Ausdrucksmittel von Leverkühns Kantate, religiöser Natur ist und sich somit im musikalischen Bereich mit Marienklagen und Stabat Mater assoziieren lässt: Durch verschiedene intermediale Verfahren evoziert, simuliert und (teil-)reproduziert der Text eine musikalische (Marien-)klage. Zweitens, dass es im Roman schwer nachzuweisen ist, dass durch die neue Kompositionstechnik die Sterilität der Musik überwunden und folglich im apokalyptischen Diskurs des Romans ein transzendentales Stadium erreicht wird. Vielmehr werden im Roman Lösungswege vorgeschlagen: Diesen zufolge ist das Stadium B entweder außerhalb des Mediums Musik zu verorten oder durch ein radikales Neudenken über Musik möglich. Auch aus dem zweiten Teil des Kapitels über die Kompositionen lassen sich nun einige Schlüsse ziehen: Trotz Unterschiede etwa in der musikalischen Faktur oder in dem transferierten/transformierten Inhalt aus dem Roman kristallisieren sich einige Kontinuitäten heraus. Die Neunte Symphonie wird beispielsweise in keiner Komposition wirklich „zurückgenommen“, sondern positiv in die Komposition, insbesondere in das musikalische Material integriert: Mit Ausnahme von Ránkis Werk, das keinen Bezug auf die Neunte Symphonie nimmt, lässt sich nicht nur bezüglich Ruzickas Komposition von „Zurücknahme der Zurücknahme“Footnote 207 und folglich von Revision der Vorlage sprechen. Die in diesem Kapitel behandelten Kompositionen scheinen eher im Erinnern als im Vergessen eine Lösung zur Sterilität der Kunst zu finden: Alle weisen einen Erinnerungsmodus auf, innerhalb dessen das im Roman mythisierte Spätwerk Beethovens dazu dient, über bestimmte Etappen der Musikgeschichte produktiv nachzudenken. Es ist vor allem die Einstellung der Symphonie Beethovens gegenüber, die in den Kompositionen revidiert wird, denn die Mikroform des Kompositionsstils wird grundsätzlich im intermedialen Transfer nicht geändert: Searles Lamentation ist dodekaphonisch und auch die anderen Kompositionen, obwohl sie einen eigenen Weg gehen, tragen Spuren von Schönbergs Kompositionstechnik. Des Weiteren taucht das Motiv des Klagens, das jedoch im Gegensatz zum Roman nicht immer religiös, sondern auch wie z. B. in Searles Lamentation parodistisch gefärbt ist, in fast allen hier betrachteten Werken auf.

3 Fazit

Dieses Kapitel beschließt den zweiten Teil dieser Studie, der sich mit Leverkühns fiktiven Werken und den darauf bezogenen Kompositionen befasst. Um die Beobachtungen, die im Laufe der Kapitel aufgetaucht sind, aus einer intermedialen Perspektive zu abstrahieren und resümieren, lässt sich Folgendes sagen. Erstens, dass ein weiterer Effekt von Intermedialität die Revision der Vorlage ist, die vielmehr als eine bloße Infragestellung darstellt. Alle Kompositionen revidieren die Idee, dass Beethovens letztes symphonisches Werk zurückgenommen werden kann, indem sie nicht einfach diesen Gedanken in Frage stellen, sondern die Neunte Symphonie selbst in das Material integrieren. Die kompositorische Rezeptionsgeschichte wies diesbezüglich eine eindeutige Position, die vom Entstehungsjahr und -ort des Werkes unabhängig ist, auf, nämlich, dass Beethoven aus der Neuen Musik nicht wegzudenken ist. Zweitens fanden sich in diesem Kapitel noch weitere Indizien für die Relevanz des Systems der Alten Musik, das von Monteverdi, Stabat Mater und Marienklagen vertreten ist, für die Erzeugung des Textes. In den nächsten Kapiteln wird diesem Aspekt erneut Aufmerksamkeit geschenkt, um die Frage beantworten zu können, ob es sich aus intermedialer Sicht um eine Systemkontamination handelt, was sich nur anhand einer Analyse des gesamten Romans nachweisen lässt.

Das hier angewandte analytische Prozedere, das aus einer ersten Analyse des Romans und dann aus einer Analyse der Kompositionen besteht, wird im nächsten Teil fortgesetzt. Dieser befasst sich mit Figuren aus Thomas Manns Doktor Faustus, die etwa in Opern und Violinkonzerte transferiert und (teil-)reproduziert werden. Auf diese Weise soll die Rekonstruktion der kompositorischen Rezeptionsgeschichte des Romans vervollständigt werden. Zudem werden intermediale Analysekategorien an die Bedürfnisse dieses leicht unterschiedlichen Fokus dieser musikliterarischen Untersuchung angepasst.