Die Analyse von Leverkühns fiktiven Kompositionen und ihren intermedialen Transpositionen wird in diesem Kapitel mit der Apocalipsis cum figuris fortgesetzt. Das im Jahr 1919 geschriebene Oratorium wird im 34. Kapitel des Romans Doktor Faustus geschildert: Der Titel des fiktiven Werkes lässt es sofort in eine Tradition künstlerischer Werke einschreiben, die sich u. a. von der Offenbarung des Johannes inspirieren lassen. So Rita Müller-Fieberg über die Faszination vieler Künstler*innen für den biblischen Text:Footnote 1

Zum einen stellt die Offenbarung des Johannes in ihrer kunstvollen ästhetischen Formung selbst ein poetisches Meisterwerk dar und vermochte daher auch immer wieder andere Autoren dazu einladen, aus ihrer Sprache, aus ihren Bildern und ihrer Dramatik zu schöpfen.

Der erste Teil des vorliegenden Kapitels setzt sich mit einer Definition von Apokalypse und mit Typen von Apokalypsen auseinander, die dann auf Manns Roman übertragen werden. Als wichtiges Element eines apokalyptischen Diskurses profiliert sich das Zusammenspiel von Immanenz und Transzendenz: In Doktor Faustus wird dieser Diskurs durch das Oratorium Leverkühns musikalisch und durch die Vorstellung der Ideen eines Münchener Kreises politisch dekliniert. Sowohl auf der musikalischen als auch auf der politischen Ebene bewegt sich das 34. Kapitel von Doktor Faustus noch auf einem ersten immanenten Zustand. Die ursprüngliche, nicht ausschließlich negativ konnotierte Bedeutung des Wortes Apokalypse und des Wortes Katastrophe spielen aufgrund der von Leverkühn verwendeten mittelalterlichen Quellen für die Komposition und der Ausbildung des Erzählers eine zentrale Rolle; zugleich stützt sich dieser Teil u. a. auf Derridas Schrift, die ein historisch passendes Pendant zum zweiten Teil des Kapitels bietet. So wie Derrida in den 1980er Jahren den apokalyptischen Diskurs rezipiert und auszuloten versucht, so setzen sich die drei behandelten Kompositionen jeweils von Konrad Boehmer, Karl-Wieland Kurz und Humphrey Searle zwischen 1980 und 1988 nicht nur mit Leverkühns Werk, sondern auch mit dessen apokalyptischem Diskurs auseinander. Dieser Aspekt lässt sich als transmedial einstufen: Die Apokalypse ist an keine „bestimmte mediale Präsentationsform gebunden“,Footnote 2 dementsprechend werden in diesem Kapitel medienübergreifende Rekursverfahren auf den apokalyptischen Diskurs untersucht.

Boehmers Apocalipsis cum figuris zeichnet sich durch die Kombination von Musikstilen und Musikgattungen aus und schafft durch das Ende mit einem Leopardi-Zitat und dem Schrei eines neugeborenen Kindes den Sprung zu einer keineswegs einbahnig interpretierbaren Transzendenz. Sowohl das Werk von Boehmer als auch das von Kurz besitzen einen enzyklopädischen Charakter und üben, intermedial betrachtet, einen ergänzenden Effekt aus, da sie über die im Roman erwähnten apokalyptischen Quellen hinausgehen und noch weitere verwenden, z. B. die Sybillinischen Weissagungen und kasuistische Texte. Zugleich distanziert sich die Komposition von Kurz bereits im Titel von der Vorlage: Es handelt sich in diesem Fall um eine konturlose Apokalypse sine figuris, in der nicht Bildhaftigkeit, sondern gerade ihr Gegenteil als formbildend konzipiert wird. Das sine figuris und das Werk selbst lassen sich allerdings nicht nur als Reaktion eines sekundären intermedialen Produktes auf das 34. Kapitel von Thomas Manns Doktor Faustus, sondern (sowohl in Anbetracht der Entstehungszeit als auch der expliziten Erwähnung von Boehmers Doktorarbeit) als Reaktion eines sekundären intramedialen Produktes auf Boehmers Apocalipsis betrachten. Während die Kompositionen von Boehmer und Kurz nicht das Ziel verfolgen, den Klang von Leverkühns Oratorium zu rekonstruieren, sondern eher dessen Radikalität ihrer musikalischen Epoche anzupassen, versucht die Komposition von Searle dagegen, sich so präzise wie möglich an der Vorlage zu orientieren. Daraus resultiert eine Reflexion über Mediendifferenzen und die Rezeption von intermedialen literarischen Werken: Die Uneindeutigkeit des Textes bezüglich des musikalischen Stils wird etwa im Medium der Musik durch einen präzisen Einsatz „der Methode der Komposition mit zwölf nur aufeinander bezogenen TönenFootnote 3 gelöst. Alle drei Kompositionen lassen sich als Medienkombinationen definieren, die mindestens über die Medien Musik und Text verfügen, im Fall von Kurz auch über das Medium Kunst: Der intermediale Bezug in der Vorlage wird somit zu einem materiell präsenten Medium im sekundären intermedialen Produkt.

1 Apokalypsen in Doktor Faustus

Eine Ausführung über Typen von Apokalypsen im Text und in den Vertonungen, apokalyptische Motive und Apokalyptiker*innen muss von einer Definition von Apokalypse ausgehen. In seiner Schrift von 1983 mit dem Titel Von einem neuerdings erhobenen apokalyptischen Ton in der Philosophie erläutert Jacques Derrida die Etymologie des Wortes, um zu einer Definition zu gelangen:Footnote 4

Apokalypto war sicherlich ein gutes Wort für gala’. Apokalypto, ich entdecke [decouvre], ich enthülle [dévoile], ich offenbare [révèle] die Sache, die ein Körperteil, der Kopf oder die Augen, sein kann, ein geheimer Teil, das Geschlecht, oder was auch immer da verborgen zu halten ist, ein Geheimnis, die zu verbergende Sache, eine Sache, die weder gezeigt noch gesagt, die vielleicht bedeutet wird, aber zunächst nicht dem Augenschein preisgegeben werden kann oder darf. Apokekalymmenoi logoi, das sind anstößige Reden. Es geht also um das Geheimnis und die pudenda.

Bei einer Apokalypse handelt es sich also um die Offenbarung von Geheimnissen und Verborgenem, um etwas, das man nicht gerne hören möchte und was sich mit Schamgefühlen, Sexualität und Tabu-Themen verbinden kann. Dem Zitat lässt sich bereits entnehmen, worauf Jürgen Brokoff explizit hinweist: Der Fokus einer Apokalypse liegt vielmehr auf dem „Vorgang des Offenbarens, Enthüllens, Aufdeckens“Footnote 5 als auf dem Zustand des Offenbarten, Enthüllten und Aufgedeckten. Im Vordergrund steht also die Performanz der apokalyptischen Verkündung, die Brokoff „ohne das Medium Sprache nur schwer vorstellbar erscheint“.Footnote 6 Diese Notwendigkeit eines Rückgriffs auf das sprachliche Medium wird sowohl durch den Bezug auf Dürers Holzschnitte in Leverkühns Oratorium als auch durch die Kompositionen des zweiten Teils dieses Kapitels zugleich widerlegt und bestätigt: Die vorher genannten Beispiele bedienen sich doch anderer Medien, basieren aber gleichwohl auf einer sprachlichen Vorlage. Leverkühns Komposition, die auch in ihrer Fiktionalität immerhin auf eine fiktive Aufführung ausgerichtet ist, unterstreicht sowohl die Bildhaftigkeit des apokalyptischen Textes durch die Ergänzung cum figuris als auch durch den Rekurs auf das Medium Musik die Performanz und Prozesshaftigkeit des apokalyptischen Offenbarens.

Apokalypse und Weltuntergang werden nicht selten – und das nicht nur in der Alltagssprache – gleichgesetzt. Brokoffs Untersuchung zufolge lässt sich diese Verwechslung darauf zurückführen, dass die Offenbarung des Johannes, die den Weltuntergang schildert, die letzte Schrift des Neuen Testaments darstellt. Übersehen werde aber, dass „[d]er Weltuntergang […] keineswegs den Schlußpunkt der Johanneischen Erzählung“Footnote 7 bilde; ihm folge „‚das neue Jerusalem‘, das immerwährende Reich Gottes“.Footnote 8 Auf dieses strukturelle Zusammenspiel von Immanenz und Transzendenz legt Brokoffs Studie, die beabsichtigt, die Apokalypse aus literaturwissenschaftlicher Perspektive, also die Apokalypse als Text zu erforschen, sehr viel Wert: Die immanente Welt wird mit dem Ziel vernichtet, die „Errichtung der Herrschaft des transzendenten Gottes im ‚neuen Jerusalem‘“Footnote 9 zu ermöglichen. Die Apokalypse als Redeform ist daher eine Rede von Untergang und Neubeginn; infolgedessen bedarf sie mindestens einer zweimotivischen Struktur, wobei das zweite Motiv, das Motiv des Neubeginns – wie in der Offenbarung – lediglich angedeutet werden kann und folglich oft übersehen wird.

Derrida sagt in der bereits erwähnten Schrift Folgendes:Footnote 10

Man weiß nie (weil es nicht mehr der Ordnung des Wissens unterliegt), wem die apokalyptische Sendung zukommt, sie springt von einem Sende-Ort zum anderen (und ein Ort wird immer im Ausgang [à partir] vom mutmaßlichen Senden bestimmt), sie geht von einer Bestimmung, von einem Namen und einem Ton zum anderen, sie verweist immer auf den Namen und den Ton des anderen, der da ist, aber nur als derjenige, der da gewesen ist und noch kommen muß, der in der Gegenwart der Erzählung nicht mehr da oder noch nicht da ist.

Auch im vorliegenden Kapitel wird versucht, die Logik der zahlreichen intra- und intermedialen Verweise des apokalyptischen Diskurses, die in Leverkühns Oratorium und in den Kompositionen von Boehmer, Kurz und Searle enthalten sind, offenzulegen. Diese verschiedenen, aber aufeinander bezogenen Deklinationen des apokalyptischen Diskurses werden definiert und in Verbindung sowohl mit kulturwissenschaftlichen Studien zur Apokalypse als auch mit Intermedialitätstheorien gebracht.

1.1 Die musikalische Apokalypse: Adrian Leverkühns Oratorium

Im vorliegenden Abschnitt wird zunächst einmal auf die musikalische Deklination des apokalyptischen Diskurses in Doktor Faustus und dementsprechend auf die Darstellung von Leverkühns Oratorium durch die Erzählinstanz Zeitblom eingegangen. Dem Titel des fiktiven Werkes lässt sich entnehmen, dass Adrian Leverkühn nicht nur aus der Sprache und der Dramatik der Offenbarung schöpft, sondern auch aus den Bildern, was durch die Spezifizierung cum figuris deutlich zum Ausdruck kommt. Diese Spezifizierung verweist zudem auf eine weitere Vorlage der Komposition: Dürers Druckwerk gleichnamigen Titels. Die dynamische Verflechtung dreier Medien (Text, Musik und Kunst) wird im fiktiven paratextuellen Hinweis bereits programmatisch deklariert: Leverkühns Oratorium ist das fiktive Produkt zahlreicher intermedialer Bezüge und Medientransformationen. Denn weder die Offenbarung des Johannes noch Dürers Holzschnitte stellen die einzigen Quellen von Leverkühns Apocalipsis und des 34. Kapitels dar: Das Oratorium wird als „Resumé aller Verkündigungen des Endes“ (DF: 520) bezeichnet und so könnten ebenfalls alle Kompositionen bezeichnet werden, die Eingang in den zweiten Teil des vorliegenden Kapitels finden.

Diese „Vermischung der Stimmen, Gattungen und Codes“Footnote 11 in Leverkühns Komposition und in den später betrachteten Musikwerken ist laut Derrida dem apokalyptischen Ton angeboren. Selbst der Sprache der Offenbarung des Johannes wird nicht nur von Müller-Fieberg Bildhaftigkeit zugesprochen, sondern auch Albrecht Dürer transferierte und transformierte eine bereits vorhandene Qualität des biblischen Textes in das Medium der Kunst und Adrian Leverkühn setzt sich als Ziel, eine bildhafte Komposition zu schreiben, die Bezug auf den apokalyptischen Diskurs nimmt.Footnote 12

Das sogenannte „apokalyptische“ Kapitel von Thomas Manns Doktor Faustus, also das 34. Kapitel, weist eine dreiteilige Struktur auf und entspricht daher Brokoffs vorher präsentierter Definition der Apokalypse als Redeform, die eine mindestens zweimotivische Struktur besitzt. Das 34. Kapitel konzentriert sich im ersten Teil vor allem auf Adrian Leverkühn und seine Vorarbeiten an der Komposition Apocalipsis cum figuris, sprich: auf seine Lektüre zahlreicher apokalyptischer Texte der Antike und des Mittelalters. Bereits hier kommen das historische Endzeitgefühl und verschiedene Aspekte von Leverkühns Komposition zur Sprache, so etwa die Präsenz eines Erzählers, der durch die chiastisch organisierten Worte „Das Ende kommt, es kommt das Ende“ (DF: 519) den Weltuntergang verkündet und dann diese Botschaft einem Responsorium abgibt, das sie „unvergeßlich wiederholt“ (ebd.) und sich aus „zwei vierstimmigen, gegeneinander bewegten Chören“ (ebd.) zusammensetzt. Neben der Beobachtung, dass auch das Responsorium die Zweiteiligkeit der Apokalypse reproduziert, ist es hier auffällig, dass nicht nur formale und inhaltliche Besonderheiten von Leverkühns Oratorium, sondern auch harmonische geschildert werden. So werden beispielsweise musikalisch die Worte des Erzählers „in einer geisterhaften, auf liegenden Fremd-Harmonien ruhenden, aus reinen Quarten- und verminderten Quintenschritten gefügten Melodik“ (ebd.) wiedergegeben. Zeitbloms Beschreibung von Leverkühns Oratorium fällt nicht nur unter den Modus des intermedialen telling, sondern auch des intermedialen showing, da diese sehr detaillierte Beschreibung des Werkes zugleich auch auf die „Vergegenwärtigung eines (fiktiven) Klangeindrucks“Footnote 13 zielt und sich daher sowohl als evozierend als auch als simulierend einstufen lässt.Footnote 14

Der zweite Teil des Kapitels, in Klammern „Fortsetzung“ (DF: 525) genannt, befasst sich mit den Tafelrunden des Kridwiß-Kreises, also mit den Treffen einer Gruppe von Intellektuellen in München, die durch den Rückgriff auf Mythen und das Ziel einer Vereinfachung der Wissenschaft den ideologischen Boden für die spätere politische Situation in Deutschland bereiten. Der dritte Teil, in Klammern „Schluß“ (DF: 538) genannt, geht noch einmal auf Leverkühns Werk ein und besteht hauptsächlich aus Zeitbloms Bewertung der Komposition. In ihr werden Stil, Mittel und einige Merkmale wieder durch ein vorherrschendes telling mit fließenden Grenzen zum showing weiter beschrieben.

Wie durch die Explikation der drei Teile ersichtlich wurde, besitzt das Kapitel eine A-B-A-Struktur, die sich aus einer Präsentation des Hauptthemas, einer Fortsetzung und seiner Variation sowie aus einem Schluss, der das Hauptthema erneut aufgreift und vertieft, zusammensetzt. Formal betrachtet, gibt es viele musikalische Vorlagen, die einer solchen Struktur zugrunde liegen und die dementsprechend für eine „Musikalisierung der Literatur“Footnote 15 sprechen könnten. Strukturell betrachtet ist es nicht so, dass das Kapitel selbst versucht, die zweiteilige Struktur der Apokalypse zu reproduzieren. Infolgedessen könnte man der in einem Sammelband zur Aktualität des Apokalyptischen präsentierten Auffassung von Briese, Faber und Podewski zustimmen, dass dort „[w]o Apokalyptisches drauf steht, […] Apokalyptisches gerade nicht drin“ ist.Footnote 16 Auch aus inhaltlicher Sicht bewegt sich das Kapitel auf dem immanenten Stadium des „krisenhaften Zustand[s] A“,Footnote 17 für den kein Neubeginn vorgeschlagen wird. Was durch die Struktur des Kapitels zum Tragen kommt, ist ein apokalyptischer Diskurs, an dessen Anfang und Ende die Musik steht. Folglich wäre es auch nicht unangebracht, von einer A1-A2-A1-Struktur zu sprechen, denn der zentrale Teil des Kapitels könnte als politische Modulation eines vorrangig musikalischen Themas interpretiert werden. Zweifellos werden durch Zeitbloms Erzählen im 34. Kapitel sowie in weiteren Kapiteln des Romans verschiedene Deklinationen des apokalyptischen Diskurses sichtbar; im Folgenden wird aufgrund der Akzentuierung der vorliegenden Studie vor allem auf die musikalische Ebene eingegangen, ohne die politische – die durch den Kridwiß-Kreis zum Ausdruck kommt – zu vernachlässigen.

Adrian Leverkühns Oratorium schafft noch nicht den Sprung zur Transzendenz und zur Erlösung. Was die Komposition widerspiegelt, ist ein äußerst produktiver Krisenzustand der Musik, die sich neu erfinden möchte und zu diesem Zweck disparate Musikstile und -mittel anwendet. Eine große Inspirationsquelle des Werkes stellt das Mittelalter und die Renaissance dar, sowohl in der Auswahl der apokalyptischen Texte und Kunstwerke, die zu den fiktiven Prätexten zählen, als auch in der musikalischen Faktur selbst. Leverkühn stützt sich beispielsweise auf Dante, besonders auf sein Inferno, auf „die ekstatischen Erlebnisse der Mechthild von Magdeburg“ (DF: 517) und der Hildegard von Bingen, auf die Historia ecclesiastica gentis Anglorum von Beda Venerabilis und auf vergleichbare Texte italienischen Ursprungs, wie beispielsweise die „Dialoge[] Gregors des päpstlichen Sangesmeisters“ und die „Vision Alberichs, des Mönchs von Monte Cassino“,Footnote 18 also allgemein gefasst verwendet er „früh-christliche[] und mittelalterliche[] Visionsliteratur und Jenseitsspekulation“ (DF: 518). Zeitblom liefert Hinweise zum Verfahren, dem Leverkühn folgt, um diese Texte zu kombinieren: Leverkühn sammle „alle ihre Elemente in einem Brennpunkt“ (DF: 518), fasse „sie in später künstlerischer Synthese“ (DF: 518 f.) zusammen, um dann den Rezipient*innen „nach unerbittlichem Auftrag der Menschheit den Spiegel der Offenbarung vor Augen“ (DF: 519) zu halten, „damit sie darin erblicke, was nahe heran[…]komm[t]“ (ebd.). Es handelt sich nach Zeitbloms Wiedergabe dabei um ein Verfahren, das mit einer moralischen Absicht auf eine Synthese vieler Prätexte abzielt.

Auch in der musikalischen Faktur des Werkes sind Rückgriffe auf Formen, die vor der Barockzeit zu finden waren, enthalten: Dazu zählt etwa die „Chorfuge zu den Worten des Jeremias“ (DF: 523), die sich „auf die archaische Fugenform gewisser Canzonen und Ricercaren der Vor-Bach’schen Zeit“ (DF: 524) stützt, „in denen das Fugenthema nicht immer eindeutig definiert und festgehalten ist“ (ebd.). Gleichzeitig handelt es sich aber um eine Komposition, die verschiedene musikalische Stile parodiert: den französischen Impressionismus, die „bürgerliche Salonmusik, Tschaikowsky, Music Hall“ (DF: 545) und Jazz.Footnote 19 Adrian Leverkühn experimentiert mit Rhythmen, Stilen und Formen und beschäftigt sich sogar mit der Frage nach der Denaturierung des Klanges, die Zeitblom als „die früheste Errungenschaft der Tonkunst“ (DF: 542) definiert und die immer noch ein zentrales Anliegen von Komponist*innen der Nachkriegszeit, etwa von Konrad Boehmer, darstellt.Footnote 20 Neues und Altes greifen ineinander; die Komposition lässt sich jedoch nicht als dodekaphonisch klassifizieren: Ein Neubeginn, also eine Überwindung der musikalischen Immanenz durch ein neues kompositorisches System, steht nicht hier, sondern erst in der Weheklag im Vordergrund.

Der Übergang zum Zustand B ist also nicht in diesem Kapitel zu suchen: Die musikalische Apokalypse setzt fort und schafft den Sprung zu einer musikalischen Transzendenz erst mit der Anwendung des strengen Satzes und der Komposition der Dr. Fausti Weheklag. Betrachtet man die verschiedenen Typen von Apokalypsen, die in dem bereits erwähnten Sammelband von Briese, Faber und Podewski vorgestellt werden, so könnte sich in Doktor Faustus eine „[i]nverse Warnapokalypse“Footnote 21 profilieren. Im Roman droht zwar „[e]in unerwünschtes, vernichtendes Ereignis […] unweigerlich einzutreten“,Footnote 22 nämlich die komplette Sterilität der Kunst, dieses Ereignis wird jedoch „durch einen grundlegenden Gesinnungs- und Handlungswandel in der Gegenwart abgewendet“,Footnote 23 und zwar durch die Anwendung eines kompositorischen Systems, das Adrian Leverkühn schon seit langer Zeit vorschwebte. Berechtigt wäre aber der Einwand, dass nicht nur von einem politischen Gesichtspunkt aus, sondern auch in Sachen Musik keine echte Erlösung stattfindet: Im Endeffekt ist nur das „hohe g eines Cello“ (DF: 711) am Ende der Weheklag in der Lage, nach den Worten des Erzählers den Sinn zu wandeln und eine metaphorische Assoziation zu einem „Licht in der Nacht“ (ebd.) zu ermöglichen. Hätte man dementsprechend Schwierigkeiten, eine musikalische Erlösung durch die Dodekaphonie im Roman zu sehen, so wäre es angebracht, von einer „[e]motional-wunschhafte[n] Verneinungs- und Untergangsapokalypse“Footnote 24 zu sprechen. Die bereits erwähnten Autor*innen des Sammelbandes definieren diese als eine moderne Art von Apokalypse, deren Entstehung sich im 19. Jahrhundert zeitlich situieren lässt: Diese Apokalypsen sind „um jeden zweiten Teil, den der Erlösung, beschnitten“Footnote 25 oder begreifen „die Erlösung gerade als Übergang in ein non-humanes Nichts“.Footnote 26 Die Möglichkeit einer Erlösung der Musik durch ihren Neubeginn von einem einzigen Ton, von jenem g des Cello, könnte für zu schwach gehalten werden: Folglich wäre keine Erlösung vorhanden. Es könnte ebenfalls argumentiert werden, dass auch hier die Erlösung als Übergang in ein menschlich unbegreifliches Nichts zu begreifen ist, was jedoch Brokoff zufolge immerhin die Präsenz eines zweiten transzendentalen Stadiums und infolgedessen die mindestens zweimotivische Struktur der Apokalypse bestätigt.

Nachdem die Art des musikbezogenen apokalyptischen Diskurses in Doktor Faustus definiert wurde, sei nun auf einige Elemente eingegangen, die charakteristisch für apokalyptische Diskurse und Darstellungen sind und die man in Zeitbloms Beschreibung von Leverkühns Komposition wiederfindet. Die Wahl der Figuren und Inhalte verdeutlicht eine Interaktion zwischen Immanenz und Transzendenz, denn der Zeuge der Apokalypse Leverkühns warnt vor der bevorstehenden Katastrophe, indem er vom Jüngsten Gericht und von der Hölle berichtet. Der Chor und das Orchester unterstützen sein Erzählen beispielsweise durch Geheule, das als Thema fungiert, durch zahlreiche Arten von Glissandi, die auch auf die menschliche Stimme angewandt werdenFootnote 27 und durch die Emulation eines „Pandämonium des Lachens“ (DF: 548) im letzten Teil der Komposition: Es wird also versucht, Klänge und Geräusche der Hölle zu reproduzieren. Eine Kritik und Umwertung von Kompositionstendenzen, die den Weg für die streng zwölftönige Weheklag bereitet, ist wesentlicher Bestandteil des musikalischen Stückes, denn dieses sei

von dem Paradoxon beherrscht (wenn es ein Paradoxon ist),Footnote 28 daß die Dissonanz darin für den Ausdruck alles Hohen, Ernsten, Frommen, Geistigen steht, während das Harmonische und Tonale der Welt der Hölle, in diesem Zusammenhang also einer Welt der Banalität und des Gemeinplatzes, vorbehalten ist. (DF: 544)

Auf die Struktur des Jenseits wird im Oratorium auch mittels der Interaktion des Tonalen und des Dissonanten angespielt, die der Interaktion zwischen Immanenz und Transzendenz gegenübergestellt werden kann. Dass es sich aber lediglich um einen Versuch der immanenten Welt handelt, das transzendente Jenseits abzubilden, was im Zentrum der meisten apokalyptischen Verkündungen steht, scheint von der Behandlung und Konzeption des vokalen und orchestralen Parts bestätigt. So Zeitblom:

Chor und Orchester stehen einander nicht als das Menschliche und das Dingliche klar gegenüber; sie sind ineinander aufgelöst: der Chor ist instrumentalisiert, das Orchester vokalisiert, – in dem Grade und zu dem Ende, daß tatsächlich die Grenze zwischen Mensch und Ding verrückt erscheint […]. (DF: 544)

Chor und Orchester verkörpern dieser Beschreibung entsprechend immer noch die materielle Welt auf der Suche nach einer neuen musikalischen Sprache, die aber immerhin vom Status quo aus auf diese einzutretende musikalische Phase blickt und über die Möglichkeiten ihrer Umsetzung durch vielfältiges Experimentieren, intensives Interagieren und die Aufhebung von Trennungen reflektiert. Dieses Schauen bildet den Kern der Apokalypse, die Derrida als „Kontemplation […] oder eine Inspiration […] der Schau“Footnote 29 definiert. Wichtiger Schritt zur Erreichung des Zustands B ist außerdem die „Vernichtung der Differenz selbst“,Footnote 30 was sich durch die Vernichtung der weltlichen, in diesem Fall musikalischen, Sprache umsetzen lässt.Footnote 31

Eine Apokalypse bedarf eines Apokalyptikers: Im Rahmen der Komposition selbst übernimmt der Zeuge diese Funktion und im Rahmen der intradiegetischen Dimension des Romans spielt Adrian Leverkühn diese Rolle. Umberto Eco beispielsweise grenzt in Bezug auf die Massenkultur Apokalyptiker*innen von Integrierten ab:Footnote 32

Während die Apokalyptiker gerade dadurch überleben, daß sie Theorien über den Zerfall ausbilden, versagen sich die Integrierten weitgehend der Theoriearbeit; sie erzeugen und übermitteln ihre Botschaften in unbefangener Leichtigkeit, tagtäglich, auf allen Ebenen. Die Apokalypse ist eine Besessenheit des dissenters, des Andersdenkenden; die Integration ist die konkrete Realität derjenigen, die nicht abweichen, nicht anderer Meinung sind. Das Bild der Apokalypse zeichnet sich ab, wenn man die Texte über die Massenkultur liest; das Bild der Integration ersteht bei der Lektüre der Texte aus der Massenkultur.

Bezug nehmend auf Eco konstatieren Briese, Faber und Podewski, dass „der Motor apokalyptischen Denkens […] vor allem von Künstlern und Intellektuellen in Gang gehalten zu werden“Footnote 33 scheint; folglich wäre Leverkühn prädestiniert für die Rolle des Apokalyptikers, nicht zuletzt weil man durch Zeitbloms Erzählen den Eindruck gewinnt, dass er sich nonkonform verhält und mit der Welt unzufrieden ist.Footnote 34 Der Komponist zeigt in einer seiner wahrscheinlich produktivsten Phasen zwei psychologische Zustände – einen depressiven und einen gehobenen –, die „innerlich nicht scharf gegen einander abgesetzt waren“ (DF: 512). Während er die Apocalipsis cum figuris komponiert, isoliert er sich von der Welt, „um unbelauscht, unbeargwöhnt, in ausgeschalteter, von unserem Gesundheitsleben schmerzhaft abgesonderter Verborgenheit Entwürfe zu hegen und zu entwickeln“ (DF: 516).Footnote 35 Adrian Leverkühn komponiert diese „Lebensgeschichte der Musik“ (DF: 542) wie besessen, also genau mit jener Besessenheit der dissenters, von denen Eco spricht; dies ist nicht verwunderlich, da er zu diesem Zeitpunkt Esmeralda und dem ,Teufel‘ bereits begegnet war. Die Apocalipsis wird schnell komponiert: 1919 in einer Zeitspanne von sechs Monaten, ein Jahr nach Ende des Ersten Weltkriegs. Die Krankheit beeinflusst das Komponieren. Man gewinnt den Eindruck, dass Leverkühn persönlich mit dem Teufel, seiner Inspirationsquelle, spricht.Footnote 36 Auch er ist Knecht einer Vision, die er dringend kommunizieren muss, genau wie Johannes in der Offenbarung, der sich als Knecht bezeichnet, der das Wort Gottes über die Zukunft vermittelt.Footnote 37 Mit Johannes teilt Leverkühn auch das „Erhoben-Werden“;Footnote 38 des Weiteren, darauf verweist Brokoff, ist auch im Fall des Zeugen der biblischen Offenbarung nicht klar, ob er für denjenigen zu halten ist, der die Wahrheit offenbart oder doch für denjenigen, „dem die Wahrheit offenbart wird“.Footnote 39 Bezüglich Thomas Manns Romans hängt die Antwort auf diese Frage vor allem davon ab, wie man sich der Teufelsproblematik gegenüber positioniert.Footnote 40

Um kurz einige weitere, wiederkehrende inhaltliche Elemente und Figuren von Apokalypsen zu erwähnen, seien hier exemplarisch die babylonische Hure und die Aufforderung des Komms aufgegriffen. „[D]ie große Erzhure“ (DF: 519) fungiert laut Brokoff als „zentrale Metapher der Unreinheit“Footnote 41 und kann der Binäropposition Unreinheit und Reinheit zugeordnet werden, welche „der Unterscheidung von Transzendenz und Immanenz Kontur verleiht“.Footnote 42 Diese fehlt auch in Leverkühns fiktiver Komposition, die sich von Dürers entsprechender Schilderung inspirieren lässt, der sich wiederum auf Ezechiel und auf eine „Portraitstudie einer venezianischen Kurtisane“ (ebd.) stützte, nicht. Zwar wird in Zeitbloms Beschreibung der Komposition Leverkühns nie erwähnt, dass das in der apokalyptischen Verkündung zentrale Verb ,kommen‘ im Imperativ verwendet wird, es lässt sich aber gleichwohl eine Parallele zu Derridas Analyse dieses sprachlichen Elements ziehen. Die Worte „Das Ende kommt, es kommt das Ende, es ist erwacht über dich; siehe, es kommt. Es gehet schon auf und bricht daher über dich, du Einwohner des Landes“ (ebd.) besitzen immerhin Aufforderungscharakter, auch wenn die Imperativform nicht in Verbindung mit dem Verb ,kommen‘ verwendet wird.Footnote 43 Diese Worte werden zunächst vom Erzähler gesungen und dann einem Responsorium abgegeben, das sie „unvergeßlich wiederholt“ (ebd.): Der Aufforderungscharakter ergibt sich daher sowohl aus der Imperativ-Verwendung des im Rahmen einer apokalyptischen Verkündung ebenfalls wichtigen Verbs ,sehen‘Footnote 44 als auch aus der obsessiven Wiederholung des Zitats durch den Chor sowie aus der vermittelten Botschaft selbst. Zugleich hebt Derrida die Uneindeutigkeit des ,Komm‘ – u. a. aus pragmatischen Gründen – hervor, sodass es reduktiv erscheint, diesem apokalyptischen Element nur einen Aufforderungscharakter zuzuschreiben.Footnote 45 Geeignet sei das ,Komm‘ jedoch, um „in allen Tonlagen ausgesprochen“Footnote 46 zu werden, was sich anhand von Leverkühns Oratorium bestätigen lässt und dort eine gesangliche Realisierung findet. Das ,Komm‘ ist Derrida zufolge selbstreferentiell, denn es kündigt „nicht diese oder jene Apokalypse […]“,Footnote 47 sondern „seine differánce selbst“Footnote 48 an. Derrida führt weiter aus, dass im ,Komm‘ „bereits ein gewisser Ton wider[hallt], es ist an sich selbst die Apokalypse der Apokalypse, Komm ist apokalyptisch“.Footnote 49

1.2 Die politische Apokalypse: Der Kridwiß-Kreis

Im zentralen Teil des 34. Kapitels von Doktor Faustus wird der apokalyptische Diskurs, wie in 4.1 bereits angedeutet, politisch dekliniert. Wenn man den Zeitpunkt der histoire betrachtet und diesen mit der entsprechenden historischen Zeit verbindet, ist das alles andere als erstaunlich: „In den apokalyptischen Texten der Weimarer Zeit findet […] eine Politisierung der Apokalypse statt“,Footnote 50 konstatiert Brokoff, der eben diese Texte zum Gegenstand seiner Untersuchung macht. Wie im Fall von Adrian Leverkühns apokalyptischer Komposition lohnt es sich auch bezüglich dieses apokalyptischen Diskurses nicht, sich auf die Suche nach der Transzendenz Gottes zu begeben, denn diese ist ebenfalls „durch eine andere Transzendenz ersetzt worden“.Footnote 51 Die sogenannte „Fortsetzung“ (DF: 525) des 34. Kapitels präsentiert einige Kernpunkte der Auffassungen eines Kreises von Intellektuellen, die sich in München im Hause des „Graphiker[s], Buchschmuck-Künstler[s] und Sammler[s] ostasiatischer Farbenholzschnitte und Keramik“ (ebd.) Sixtus Kridwiß versammeln. Auch hier handelt es sich noch um eine Apokalypse cum figuris: Der Bereich der Kunst ist nicht nur durch den Veranstalter solcher „Round-table-Sitzungen“ (DF: 526), sondern auch durch die Präsenz des „Kunstgelehrte[n] und Dürerforscher[s] Professor Gilgen Holzschuher“ (DF: 528) vertreten, der die Anspielung an Dürer verstärkt und fortsetzt.Footnote 52

Diese „Männer der Bildung, des Unterrichts, der Wissenschaft“ (DF: 530) wehren sich gegen die bürgerliche Tradition und ihrer Werte „der Bildung, der Aufklärung, der Humanität“ (ebd.) und plädieren für Gewalt, Autorität sowie die Rückkehr zu Prinzipien und politischen Zuständen mittelalterlicher Gesellschaften. Dr. Egon Unruhe setzt sich beispielsweise in seinen Schriften mit der „Rechtfertigung und wissenschaftlichen Verifizierung uralten Sagengutes“ (DF: 527) auseinander und Professor Georg Vogler, der „Literarhistoriker“ (ebd.), mit einer „Geschichte des deutschen Schrifttums unter dem Gesichtspunkt der Stammeszugehörigkeit“ (ebd.). Die Teilnehmer des Kridwiß-Kreises verfolgen sogar das Ziel, „die parlamentarische Diskussion“ (DF: 531) durch „die Versorgung der Massen mit mythischen Fiktionen“ (DF: 532) zu ersetzen und stützen ihre Überlegungen vor allem auf die Réflexions sur la violence von Sorel.Footnote 53 Die immanente Welt deklarieren sie für gescheitert; die zukünftige Welt ist in ihren Vorstellungen „eine alt-neue, eine revolutionär rückschlägige“ (DF: 534); sie hoffen nämlich auf eine „neuigkeitsvolle[] Rückversetzung der Menschheit in theokratisch mittelalterliche Zustände und Bedingungen“ (DF: 535). Zeitblom kommentiert das so:

Das war so wenig reaktionär, wie man den Weg um eine Kugel, der natürlich herum-, d. h. zurückführt, als rückschrittlich bezeichnen kann. Da hatte man es: Rückschritt und Fortschritt, das Alte und Neue, Vergangenheit und Zukunft wurden eins, und das politische Rechts fiel mehr und mehr mit dem Links zusammen. (ebd.)Footnote 54

In diesem Fall zeichnet sich der apokalyptische Diskurs durch eine Vermischung politischer Stimmen aus. Darüber hinaus berichtet der Erzähler davon, dass sich die Intellektuellen des Kridwiß-Kreises für ein „sacrificium intellectus“ (DF: 532), für einen absichtlichen Verzicht auf ihre intellektuellen Fähigkeiten, entschieden hatten. Als Konsequenz wollen sie alles vereinfachen, wie die Gelehrten von Swifts „Grand Academy of Lagado“Footnote 55 in Gulliver’s Travels, die zwecks einer besseren Verständigung Wörter und Rede abschaffen und Dinge auf dem Rücken herumtragen wollen.Footnote 56 Im zentralen Teil des 34. Kapitels profiliert sich eine politische Revolution besonderer Art, die in Hinblick auf die programmatisch deklarierte Absicht einer Rückkehr zu den Ursprüngen als „re-volution“Footnote 57 aufgefasst werden könnte und „präfaschistisch“Footnote 58 anmutet.Footnote 59 Das Ende der Immanenz, also die Vernichtung der Differenz ist auch wie in Leverkühns Oratorium und in vielen apokalyptischen Texten wesentlicher Bestandteil dieses apokalyptischen Diskurses, der eine politische und gesellschaftliche Transzendenz vorsieht, die aus Gewalt, Mythen, Diktatur und Differenzlosigkeit besteht. Gewalt ist apokalyptischen Schriften nicht fremd: Brokoff weist darauf hin, dass in der Offenbarung des Johannes „Wahrheit und Gewalt selbst auf unlösliche Weise miteinander verknüpft“Footnote 60 sind, da „Gott und Gewalt ineinsgesetzt“Footnote 61 werden. Nicht nur in den Konversationen des Kridwiß-Kreises kristallisiert sich also Gewalt als notwendige Voraussetzung zur Erreichung der Transzendenz heraus, sondern auch in dem biblischen, apokalyptischen Text par excellence.

Als Apokalyptiker lassen sich auch wie der Zeuge von Leverkühns Komposition die Teilnehmer des Kridwiß-Kreises bezeichnen, denn sie beabsichtigen nicht, sich zu integrieren, sondern bilden Theorien über den Zerfall der Gesellschaft aus. Ebenfalls könnte man sie mit den Mystagogen nach Derrida in Verbindung bringen, die zum Delirium,Footnote 62 zu jeder „Verstimmung der Saiten und Stimmen im Kopf“Footnote 63 führen, da sie die Werte, die Grundprinzipien und die politischen Institutionen einer bestehenden Gesellschaft in Frage stellen. Aus Sicht der Intellektuellen des Kridwiß-Kreises stellt die Vernichtung der Differenz als Voraussetzung einer geschichtlichen Erlösung etwas Positives dar: Ihre Ideen können dem Typ einer „Erfüllungs- und Erlösungsapokalypse“Footnote 64 zugeordnet werden und historisch mit jenen politischen Bewegungen u. a. in Deutschland assoziiert werden, die den ideologischen Boden für den Nationalsozialismus bereiten.

Auch dieser politisch deklinierte apokalyptische Diskurs, der sich im Rahmen der Sitzungen des Kridwiß-Kreises entfaltet und von dem Zeitblom als – nach seinen Worten – passiver Beobachter berichtet,Footnote 65 ist mit dem Ende des 34. Kapitels keineswegs beendet. Die Teilnehmer des Kreises spekulieren über die Möglichkeiten eines Auswegs aus einem Krisenzustand, der die Politik, die Gesellschaft und, nicht zuletzt, auch die Wissenschaft betrifft. Dieses Klima spiegelt sich laut Zeitblom in Leverkühns Oratorium wider, das „mit dem bei Kridwiß Gehörten in eigentümlicher Korrespondenz, im Verhältnis geistiger Entsprechung stand“ (DF: 539). Die ideologischen Auffassungen des Kridwiß-Kreises verdeutlichen ein „prinzipielle[s] Nicht-Einverständnis“Footnote 66 mit den Werten und Prinzipien ihrer Zeit. Im Gegensatz dazu entspringt Leverkühns Komposition „einer Rebellions- und Protesthaltung“Footnote 67 eben gegen jene ideologischen Positionen, die sich damals verbreiteten, und wählt als Rebellions- und Warnungswaffe das Medium der Musik. Das 34. Kapitel enthält eine Verschachtelung apokalyptischer Diskurse; im Fall der Komposition Leverkühns ist die Apokalypse auch histoire des musikalischen Werkes selbst.

Börnchen stellt in seiner Dissertation fest, dass „sich in den letzten Jahrzehnten der Tenor durchgesetzt zu haben“Footnote 68 scheint, „den Roman als ,Apokalypse‘ zu lesen – eine Interpretation, zu der Humor und Komik nicht zu passen scheinen“.Footnote 69 In dieser Hinsicht könnte man der vorliegenden Studie ebenfalls vorwerfen, sich in diese Interpretationslinie einzuschreiben und dementsprechend den Humor und die Komik von Doktor Faustus zu übersehen. An dieser Stelle muss aber beachtet werden, dass Apokalypse mit Weltuntergang nicht gleichzusetzen ist, obwohl sie in der Alltagskommunikation, in literarischen Texten, in Filmen und in der Kunst oft so verstanden wird.Footnote 70 Wie zu Beginn des vorliegenden Abschnitts bereits erwähnt, unterstreicht Brokoff gleich am Anfang seiner Studie, dass auch in der Offenbarung des Johannes der Weltuntergang „keineswegs den Schlußpunkt“Footnote 71 der Erzählung bildet. Des Weiteren weisen Briese, Faber und Podewski darauf hin, dass der Begriff ,Katastrophe‘, der mit dem ,Weltuntergang‘ in apokalyptischen Texten eng verquickt ist und den heute kaum jemand mit etwas Positivem assoziieren würde, ursprünglich im Sinne einer „Wendung zu Besserem“Footnote 72 eine positive Bedeutung trug, die „von der römischen Antike bis über die Renaissance hinaus“Footnote 73 auch so verwendet wurde. Dies gelte auch für den Begriff ,Apokalypse‘, der – „bis in die Frühe Neuzeit hinein – immer auch ein positiv besetzter Erwartungs- und Hoffnungsbegriff“Footnote 74 gewesen sei. Dies änderte sich erst „mit den allmählichen Transformationen des Christentums“.Footnote 75 Die drei Forscher*innen bestätigen die von Brokoff ebenfalls vorgestellte „binäre Bedeutungsstruktur“Footnote 76 der Apokalypse, die aus „Krise, Untergang und Erlösung“Footnote 77 besteht. Da Leverkühns Apocalipsis cum figuris vor allem mittelalterliche und frühneuzeitliche Texte und Kunstwerke als Vorlage aus der Absicht heraus verwendet, Altes und Neues musikalisch zu kombinieren, scheint sein Werk sowohl in der musikalischen Faktur als auch in seiner Darstellung der Apokalypse die ursprüngliche Bedeutung des Begriffs zu beleben: Den verwendeten Texten ist diese Bedeutung inhärent. Eine Apokalypse wie Leverkühn sie nach Zeitbloms Wiedergabe versteht, schließt keineswegs Positives aus, sondern impliziert sogar eine Erlösung.

Von der Parodie verschiedener Musikstile war in diesem Kapitel bereits die Rede. Dazu sei ergänzt, dass Zeitblom im 34. Kapitel die provozierende Haltung von Künstler*innen adressiert. Nachdem der Erzähler über den Namen „Ober-Kirchenrat“ (DF: 541) berichtet, den Richard Wagner zur Zeit des Parsifal unter einem Brief hinzufügte, ist im Text folgender Kommentar des Erzählers zu finden:

Für den Nicht-Künstler ist es eine recht intriguierende Frage, wie ernst es dem Künstler mit dem ist, was ihm das Angelegentlich-Ernsteste sein sollte und zu sein scheint; wie ernst er sich selbst dabei nimmt und wieviel Verspieltheit, Mumschanz [sic], höherer Jux dabei im Spiele ist. (DF: 541)Footnote 78

Ironie und Humor sind aus der Komposition Leverkühns nicht wegzudenken, auch wenn ihre Basis das Apokalyptische ist. Die im 34. Kapitel dargestellten Ereignisse stammen zudem aus Zeitbloms fiktiver Feder, dem „als Nachfahre der deutschen Humanisten“ (DF: 12) die ursprüngliche Bedeutung des Wortes ,Apokalypse‘ bestimmt nicht fremd ist. Da er erzählt, ist er derjenige, der den apokalyptischen Ton setzt: Es scheint legitim zu fragen, ob er der Apokalyptiker par excellence des Romans sei. Mit der Verstimmung, die Derrida zufolge apokalyptischen Diskursen zugrunde liegt, scheint sich der Viola d’amore-Spieler ebenfalls gut auszukennen.Footnote 79 Zeitblom rezipiert Leverkühns Werk: Briese, Faber und Podewski heben hervor, dass „nicht die Produzenten Apokalypsen produzieren, sondern die Rezipienten“.Footnote 80 Dies verweist auf Derridas Auffassung, wonach es eine wichtige aber nicht immer selbstverständliche Voraussetzung für das Gelingen der apokalyptischen Kommunikation ist, dass der Ton angenommen wird: „Wer den apokalyptischen Ton annimmt, wird Ihnen [sic] etwas bedeuten, wenn nicht gar sagen“.Footnote 81 Der Erzähler rezipiert Leverkühns Oratorium allerdings nicht passiv, sondern produziert seinerseits seine apokalyptische, verstimmte Darstellung des Lebens des Freundes. Dass „die Apokalypse von langer Dauer“Footnote 82 ist, bestätigt das 34. Kapitel von Thomas Manns Doktor Faustus durch das komplexe IneinandergreifenFootnote 83 zahlreicher apokalyptischer Diskurse auf der intradiegetischen und extradiegetischen Ebene der Narration und darüber hinaus.Footnote 84

Anhand des 34. Kapitels von Doktor Faustus kann den vorigen Ausführungen entsprechend der apokalyptische Diskurs des Romans in seinen musikalisch- und politisch-bezogenen Deklinationen näher beleuchtet werden. Auf einer Makroebene der Analyse geschieht das durch die Definition der Art von Apokalypse: Als Voraussetzung gilt die Identifikation der Stadien der Immanenz und der Transzendenz sowie die Untersuchung der verwendeten Quellen. Auf einer Mikroebene ist diese Untersuchung durch die Analyse der Präsenz und Realisierung von wiederkehrenden Elementen apokalyptischer Reden, z. B. dem ,Komm‘-Motiv und der Figur des Zeugen, möglich. Dieses analytische Prozedere wird auch auf die darauf folgenden Kompositionen von Boehmer, Kurz und Searle angewendet und mit Kategorien aus der Intermedialitätsforschung stärker in Verbindung gebracht.

2 Vom Roman zur Musik

Der vorliegende Abschnitt integriert die literaturzentrierte, intermediale Analyse des ersten Abschnitts in die Analyse der intermedialen Transpositionen bzw. Bezugnahmen jeweils von Konrad Boehmer (Apocalipsis cum figuris), Karl-Wieland Kurz (Apocalipsis sine figuris) und Humphrey Searle (Apocalypsis cum figuris). Somit sollen einerseits der Transfer und die Transformation von Leverkühns Oratorium vom Medium der fiktionalen Schrift in das Medium der Musik, andererseits der apokalyptische Diskurs der jeweils betrachteten Komposition rekonstruiert werden. Zu diesem letzten Zweck wird erneut auf die Terminologie und die Positionen des vorigen Abschnitts rekurriert.

2.1 Inverse Warnapokalypsen: Konrad Boehmers Apocalipsis cum figuris

Die erste Komposition, die hier präsentiert wird, ist die Apocalipsis cum figuris von Konrad Boehmer (1941–2014) für vier Schlagzeuge, zwei Klaviere, drei Pop-Vokalist*innen und vier Lautsprecher, die 1984 anlässlich der Donaueschinger Musiktage aufgeführt wurde.Footnote 85 Während der niederländische Komponist, der in Berlin geboren wurde und in Köln mit einer Dissertation zur Theorie der offenen Form in der Neuen Musik im Fach Musikwissenschaft promovierte,Footnote 86 an einer Oper über den Faust-Stoff, die sich aber nicht mit Manns Roman auseinandersetzte, arbeitete, wurde er zu einem Symposium über Thomas Manns Doktor Faustus nach Brüssel eingeladen. Diese Einladung war für Boehmer der Anlass, den Roman nach vielen Jahren erneut zu lesen. Das in 4.1.1 erwähnte Zitat über die umgekehrte Rolle und Funktion der Dissonanz und des Tonalen und folglich den paradoxen Charakter von Leverkühns Oratorium,Footnote 87 das eben das Tonale und nicht die Dissonanz mit der Hölle assoziiert, versteht der Komponist als die Essenz des Werkes.Footnote 88

Bei der Lektüre dieser wohl faszinierendsten Beschreibung […] fesselte mich vor allem die Radikalität des Entwurfs, die ein Menschenalter nach dessen Niederschrift – und grade [sic] heute, in der Ära musikalischen Neo-Biedermeiers – von ungebrochener Aktualität ist.

Diese Aussage verdeutlicht nochmals, was im vorigen Abschnitt bereits hervorgehoben wurde: Leverkühns fiktive Komposition enthält musikalische Ideen und Ansätze, die auffällige Korrespondenzen zu musikalischen Ideen, Ansätzen und Versuchen nicht nur seiner Zeit, sondern auch der Nachkriegszeit aufweisen.

Konrad Boehmer erläutert im Programm zur Uraufführung, seine Intention sei nicht gewesen, Leverkühns Oratorium nachzukomponieren, um eine Art Programm-Musik zu konzipieren. Die ästhetische Konzeption und die Spannweite der im Roman geschilderten Komposition seien jedoch durchaus die Grundlagen seines Werkes gewesen. Wichtiger Ausgangspunkt seiner Überlegungen sei auch die Faszination für den Konnex zwischen Zivilisationsstadien der europäischen Geschichte und „apokalyptischen Ideologien“.Footnote 89 Direkt oder indirekt scheint sich hier der Komponist auf die vorher erwähnten Ausführungen von Umberto Eco zur Wirkung der Argumentationen von Apokalyptiker*innen zu berufen, in denen die Massenkultur als Antikultur erscheint: Diese Art des Argumentierens ziele auf eine Reaktion der Integrierten und folglich der Massenkultur, die somit von den Apokalyptiker*innen beeinflusst werden, ab. Dies ist laut Eco äußerst produktiv, denn es setzt Prozesse in Gang, die zu einer Erweiterung der Kultursphäre und einer „Zirkulation einer ,populären‘ Kunst und Kultur“Footnote 90 beitragen. Die Prozesshaftigkeit, die Eco somit anspricht und zu den konstitutiven Merkmalen der apokalyptischen Verkündung als Akt des Offenbarens zählt, spielt eine vordergründige Rolle in Boehmers Komponieren. Der Komponist sieht eigenen Aussagen zufolge in all seinen elektronischen Werken „das Moment des Klanges als Prozeß (und nicht: als Objekt) “Footnote 91 an: Das Ergebnis der Klangerzeugung ist für ihn nachrangig, während ihre Prozesshaftigkeit eine Sonderstellung einnimmt. Außerdem beschäftigt sich Boehmer – genau wie der fiktive Komponist Adrian Leverkühn im apokalyptischen Oratorium– mit dem Problem der Denaturierung des Klanges und ist der Auffassung, dass gerade in Manns Doktor Faustus schon eine Lösung gefunden werden könne:Footnote 92

Die Lösung der ästhetischen Aporien, die, wie wir jetzt wissen, nicht darin bestehen konnte, daß man willkürlich jeden „natürlichen“ Klang in den Fleischwolf der Klänge, den Ringmodulator, stopfen konnte, jene Lösung hätte man damals schon bei Thomas Manns Leverkühn nachlesen können, der den „denaturierten“ Klang als musikgeschichtliches Phänomen schlechthin begriff […].

Deshalb sei Leverkühn „der letzte und radikalste Repräsentant westlicher Kunst-Musik“,Footnote 93 da er „den Kunst-Laut in den Natur-Laut zurück zu versenken“Footnote 94 versucht und damit „etablierte[] Systeme und ästhetische[] Normen“Footnote 95 sprengt. Der Komponist assoziiert eben aufgrund dieser Überwindung von inneren Grenzen der Musik das fiktive Projekt Leverkühns mit dem Espace von Edgar Varèse, der die äußeren Grenzen der Musik (des Konzertsaals) sprengt. Dadurch schlägt er ein weiteres Modell für Leverkühns fiktive Komposition vor, das allerdings in Thomas Manns Tagebüchern und Selbstkommentaren nicht erwähnt wird und sich angesichts der Entstehungszeit (ca. 1947) eher mit der Entstehungszeit des Romans als mit der von Leverkühns Apocalipsis in Verbindung bringen lässt.Footnote 96 Die Unmöglichkeit einer Zuordnung von Leverkühns Kompositionstendenzen in der Apocalipsis zu denen des musikalischen Panoramas seiner Zeit wäre nicht nur ein Beweis für die Fiktionalität des Textes, sondern könnte auch eine Erklärung dafür liefern, warum manchmal bei Komponist*innen der Eindruck entsteht, dass in Doktor Faustus Tendenzen der Neuen Musik der Nachkriegszeit antizipiert werden.Footnote 97 Leverkühns Oratorium weist laut Boehmer auf das Ende einer musikalischen Ära – der bürgerlichen Epoche – hin und „dieses Ende nimmt bei ihm apokalyptische Dimensionen an, wird Ausdruck des freien Leidens, ,musique concrète‘ im wahrsten Sinne des Wortes“.Footnote 98 Auch der Komponist scheint daher in diesem Zitat Leverkühns Oratorium dem apokalyptischen Stadium des Untergangs einer musikalischen Welt zuzuordnen, weil es gleichzeitig durch etwa die Denaturierung des Klanges auf eine neue Welt hinweise, aber im Ganzen immer noch nicht dem eingetretenen Stadium der musikalischen Transzendenz entspreche.

Die Präsenz der Pop-Sänger*innen sollte für diejenigen, die mit dem Denken Boehmers vertraut sind, keine Überraschung sein. In seinem Essay Reihe oder Pop? erläutert der Komponist, er habe großen Respekt vor Bob Dylan, Ferré, den Lords und den Rolling Stones, weil sie durch ihre Musik Vorurteile thematisiert und entkräftet haben, und offenbart den programmatischen Versuch, eine Annäherung der Neuen Musik an die Pop-Musik zu fördern:Footnote 99

Man könnte den Versuch wagen, eine Synthese zwischen den sympathischen Songs und dem musikalischen Bewußtsein zu bilden, das wir unbeirrt für das authentischere und humanere halten.

Diese Idee einer Kombination verschiedener Musikstile und Musikgattungen überschneidet sich mit der musikalischen Konzeption von Leverkühns Apocalipsis: Es handelt sich in diesem Fall um den Transfer eines in der literarischen Vorlage durch die Technik des intermedialen telling beschriebenen musikkompositorischen Verfahrens in das Medium der Musik, also um die Medientransformation einer intermedialen Bezugnahme des Textes, die selber einer Medientransformation entspringt. Man könnte in diesem Fall von einer Intermedialität zweiten Grades oder einfach von einer Rückkehr zum ursprünglichen Medium sprechen: Der zweite Schritt jedoch der Bezugnahme in Doktor Faustus beeinflusst immerhin diese Rückkehr. Nicht nur das fiktive, konstitutive Verfahren von Leverkühns Komposition wird bei Boehmer in die Musik transferiert, es werden auch die musikalischen Vorbilder übernommen, da sich sowohl Leverkühn als auch Boehmer auf populäre Musikgattungen stützen. Zugleich lassen sich beide Werke aufgrund jener der kompositorischen Konzeption zugrunde liegenden „Vermischung der Stimmen, Gattungen und Codes“Footnote 100 weit über paratextuelle Hinweise hinaus dem apokalyptischen Diskurs zuordnen: Briese, Faber und Podewski weisen darauf hin, dass Paratexte besonders im Fall von apokalyptischen Texten oft eines Vergleichs mit der inhaltlichen Ebene bedürfen.Footnote 101

Boehmers Komposition gliedert sich in vier Ebenen, welche die figurae der Komposition darstellen. Die erste Ebene bildet „das ,Geheul schreiender Menschen‘ im Griff der apokalyptischen Würgengel“Footnote 102 ab und wird musikalisch mithilfe von „körperlichen“, konkreten Klängen realisiert. Die zweite präsentiert apokalyptische Bilder und Visionen, ohne eine Geschichte erzählen zu wollen: Vielmehr erwähnt sie Textfragmente und wiederholt sie. Es sind selbstverständlich Teile der Offenbarung des Johannes enthalten, in Boehmers „Resumé aller Verkündigungen des Endes“ (DF: 520) kommt aber auch eine Vielzahl anderer Texte und Autor*innen vor, die man in Doktor Faustus nicht findet, wie z. B. Barockgedichte über das Vanitas-Motiv, Hölderlin, der die Parzen bittet, ihm noch einen letzten Sommer zu gewähren, Giacomo Leopardi, dessen Aussage „Die Welt ist Dreck“ eine zentrale Rolle spielt, weil sie das Stück beschließt, und ein Text von Karl Marx, der den Kapitalismus kritisiert. Die babylonische Hure wird musikalisch mithilfe von Szenen aus dem Roman Juliette ou les prospérités du vice des Marquis de Sade porträtiert. Die Vorlage ist also nicht mehr bzw. nicht nur die babylonische Hure von Dürer, der sich seinerseits am Porträt einer venezianischen Kurtisane orientierte.Footnote 103

Die dritte Ebene ordnet Boehmer ironischerweise der geordneten, zivilisierten Welt zu, die durch die Einführung von Nationalhymnen ins Lächerliche gezogen wird.Footnote 104 Diese Ebene der Komposition kann mit der Fortsetzung des 34. Kapitels von Thomas Manns Doktor Faustus in Verbindung gebracht werden, da die Nationalhymnen auf den Nationalismus anspielen: Aufgrund des Erscheinungsjahres schließt Boehmers Komposition den Bezug auf zeitgenössische Nationalismen mit ein. Die vierte Ebene wird dem Teufel gewidmet; wie in Dantes Inferno begegnet man ihm im letzten girone. Die Rolle des Teufels übernehmen die Pop-Vokalist*innen. Sie sollten die „schändlichen Liederreigen der Söhne des Pfuhls“ (DF: 545) darstellen. Gegen Ende des Stückes findet sich eine Mischung aus Choral und Hitsong, die um das tonale Zentrum von C-Dur kreist.Footnote 105 Diese „einfache“ Tonalität – ein möglicher Bezug auf die Realisierung der Hölle durch das Tonale bzw. das Banale in der Komposition Leverkühns – begleitet den Text „I am a dream – I am God“,Footnote 106 eine Aussage des russischen Komponisten Skrjabin, die mit dem Delirium assoziiert werden könnte, das apokalyptische Verkündungen bewirken und dem Adrian Leverkühn selbst zum Opfer gefallen ist.Footnote 107 Die Aufnahme des ersten Schreis eines neugeborenen Kindes, den man ganz am Ende der Komposition zu hören bekommt, wird mit den folgenden Worten Leopardis verbunden: „Nur Bitterkeit und Langeweile – Die Welt ist Dreck“ (S. 56). Ordnet man aber diese letzten Elemente der Komposition in den apokalyptischen Diskurs ein, so ist nicht nur die scheinbar einfache C-Dur-Tonart alles andere als erstaunlich. Boehmers Komposition schafft in einem einzigen Stück, was dem fiktiven Leverkühn erst mit der Weheklag gelingt, nämlich den Sprung zur Transzendenz. Die Differenz wird vorläufig vernichtet und eine einfache Tonart herrscht;Footnote 108 darüber hinaus ist Skrjabins Aussage, „I am a dream – I am God“, ein sprachlicher Verweis auf eine Traum-Dimension und auf Gott selbst. Leopardis Worte erklären die immanente Welt für endgültig gescheitert und der erste Schrei des neugeborenen Kindes übernimmt die Funktion jenes „hohe[n] g eines Cello“ (DF: 711), das den Neubeginn markiert. Alles erreicht morendo ein Ende, was dem apokalyptischen Diskurs ein vorläufiges Ende setzt (Abbildung 4.1).

Abbildung 4.1
figure 1

Mit freundlicher Genehmigung der Konrad Boehmer Foundation

Das Ende des Stückes (S. 56).

Dekonstruktivistische Verfahren, besonders die „Dekonstruktion des Gegensatzes“Footnote 109 lassen sich auch hier wie im vorigen Kapitel in Odegards The Calling of St. Gregory beobachten. Der Pessimismus, welcher Leopardis Zitat zum Ausdruck bringt, scheint durch den Schrei des neugeborenen Kindes in Hoffnung umgewertet zu werden.Footnote 110 Gegensätze werden sowohl in Leverkühns Apocalipsis als auch in Boehmers gleichnamiger Komposition dekonstruiert. Der Autor erklärt wie folgt seine Poetik:Footnote 111

Das Schlechte ist mir gut (ich umarme den Dreck), das Gute ist mir schlecht (ich verachte Moralisten); Ordnung ist mir Chaos (denn leerer als absolute Ordnung kann selbst das Chaos nicht sein); Chaos zu schaffen, ist in meinen Kompositionen Anlaß zu strengster musikalischer Ordnung; Untergang ist mir Erneuerung (ich bin fortschrittsgläubig), Erneuerung Untergang (da bin ich Romantiker).

Nach der Analyse von Boehmers Apocalipsis cum figuris wird im Folgenden auf die Rezeption des Werkes durch die Besprechung einiger Rezensionen und wissenschaftlicher Artikel kurz eingegangen. Der Kritiker Ernst Vermeulen, der eine Aufführung des Stückes im Amsterdams Concertgebouw hörte, sagte, die Komposition sei so dämonisch wie wenige andere in der Musikgeschichte.Footnote 112 Nach einer sehr kurzen Analyse der Komposition konstatiert der Literaturwissenschaftler Theodore Ziolkowski, dass Boehmer den Beschreibungen in Thomas Manns Roman nicht präzise folge, aber das Gefühl von Barbarei effektiv vermittle.Footnote 113 Der Musikwissenschaftler und Komponist Alfred Zimmerlin beschreibt die Apocalipsis cum figuris als das extremste Werk Boehmers, „ein fast vierzigminütiges Pändamonium von einer Radikalität, die gewiss über das hinausgeht, was Thomas Mann seinem Adrian Leverkühn im Doktor Faustus andichtete“.Footnote 114 Offenbar treten durch diese Rezensionen Wertungen zutage. Zudem werden voreilige Schlussfolgerungen über komplexe Dynamiken und Implikationen von intermedialen Transpositionen gezogen, die u. a. von medienspezifischen Differenzen abhängen.Footnote 115 Nichtsdestotrotz nehmen die letzten erwähnten Zitate Bezug auf einige Eigenschaften von Intermedialität, die eine Einordnung der Komposition erlauben. Es handelt sich in diesem Fall um offene bzw. manifeste Intermedialität: Die Komposition enthält mehr als ein Medium und diese Medien sind distinkt und „in principle separately ,quotable‘“.Footnote 116 Da sich die elektronische Komposition an Leverkühns fiktivem Werk orientiert, kann sie als intermediale Transposition eines literarischen Prätextes in eine Medienkombination eingestuft werden, da nicht nur ein Medium in der elektronischen Komposition materiell präsent ist.Footnote 117 Zudem stellt Boehmers Komposition eine partielles intermediales Produkt dar, das sich auf ein im Roman beschriebenes Werk konzentriert. Resümierend lässt sich sagen, dass Boehmers Komposition etwa durch den Rückgriff auf weitere literarische Texte und Musikstile einen ergänzenden Effekt hat. Sie ist ab und zu in der Lage, die Vorlage zu verstärken, indem etwa die beschriebene Mischung von populären und nicht-populären Musikstilen nicht einfach angedeutet, sondern im musikalischen Text selbst umgesetzt wird.Footnote 118

Wagt man noch einmal den Versuch, Boehmers Komposition im apokalyptischen Diskurs einzuordnen, um sie darin zu verorten, so könnte das Werk als „inverse Warnapokalypse“ bezeichnet werden. Das Erscheinungsjahr der Komposition (1984) spricht ebenfalls für diese Einordnung, da Briese, Faber und Podewski als Beispiel für eine inverse Warnapokalypse u. a. auch den „Warner vor der ,atomaren‘ Katastrophe Günther Anders“Footnote 119 nennen.Footnote 120 Charakteristisch für diese Apokalypse ist es, dass „ein unerwünschtes, vernichtendes Ereignis […] unweigerlich einzutreten“Footnote 121 droht, das aber „durch einen grundlegenden Gesinnungs- und Handlungswandel in der Gegenwart abgewendet werden“Footnote 122 könnte. In Boehmers Apocalipsis cum figuris könnte durch die Geburt des Kindes das Eintreten eines apokalyptischen Zustandes verhindert werden. Wie in Doktor Faustus und in apokalyptischen Texten der Weimarer Zeit scheint hier kein Gott im Spiel zu sein. Dieser wird in Skrjabins Zitat lediglich erwähnt, es ist aber das menschliche „aktive[] Handeln“,Footnote 123 welches sich in der Entscheidung zur Fortpflanzung äußert, das zur Erlösung und Transzendenz führt.

Boehmers elektronische Komposition übernimmt die Bildhaftigkeit von Leverkühns Komposition durch die vier Ebenen, lässt sich ebenfalls in den apokalyptischen Diskurs einordnen und interagiert mit populären Musikgattungen. Der apokalyptische Diskurs wird dabei um Elemente bereichert, die für die Apokalypsen der 1980er Jahren als typisch gelten. Zudem wird das Stadium der Transzendenz erreicht. Insofern ergänzt die Komposition die literarische Vorlage. Auch Leverkühns Komposition arbeitet mit Umwertungen, da Dissonanz und Tonales darin umgewertet werden: Bei Boehmer wird dieser Aspekt verstärkt und hervorgehoben, denn trotz der scheinbaren Radikalität u. a. der angewandten musikalischen Mittel profiliert sich sowohl in den immer zu hinterfragenden Aussagen der Autorinstanz als auch im Werk selbst eine Umwertung des Weltuntergangs in Erneuerung.

2.2 Konturlosigkeit: die Apocalipsis sine figuris von Karl-Wieland Kurz

Die Komposition von Karl-Wieland Kurz (*1961), Apocalipsis sine figuris, distanziert sich bereits im Titel von Leverkühns fiktivem Werk. Zwar lässt sie sich anhand des Paratextes sofort auf Thomas Manns Roman zurückführen, das sine figuris jedoch macht gleichzeitig deutlich, dass sich das Werk auf den Roman indirekt bezieht.Footnote 124 Wie bei Boehmer handelt es sich hier ebenfalls um partielle direct or overt intermediality, also offene bzw. manifeste Intermedialität, die erneut der Form der Medienkombination zugeordnet werden kann und sich folglich nicht ausschließlich des Mediums der Musik bedient. Das Wort sine im Titel ist selbstverständlich die Neuheit eines Stückes, in dem die figurae bzw. die Bilder weniger strukturiert eingesetzt werden und in dem Bildhaftigkeit nicht als formbildend konzipiert wird. Nicht zufällig spricht der Autor selbst von „neutralen Schichten“Footnote 125 und „Textüberflutungen“,Footnote 126 die den Musikfluss unterbrechen bzw. sogar „überfluten“.Footnote 127 Während die Schichten Boehmers eine präzise Struktur und Konzeption nachweisen, sind sie bei Kurz neutral und können nicht eindeutig eingeordnet werden. Die Apocalipsis sine figuris ist allerdings nicht gänzlich ohne Bilder: Es werden Kunstwerke gezeigt, das Medium Kunst ist also auch Bestandteil dieses plurimedialen Produktes. Der Unterschied liegt jedoch in der Funktion der benutzten Bilder und Texte: Diese sind neutral, weil sie laut Aussagen des Autors keine verstärkende Funktion haben. Da sie die Musik überfluten, zielen sie auf keine Synthese mit der Musik ab: Sie scheinen als reine, unerwartete Ablenkungen gedacht zu sein, die aber zugleich in der Lage sind, einen Wechsel im Dominanzverhältnis der Medien zu bewirken.

Boehmers Apocalipsis hat die Komposition von Kurz beeinflusst, denn Kurz hat in ihr sogar ein Zitat aus Boehmers Doktorarbeit erwähnt.Footnote 128 Es handelt sich in diesem Fall um eine intermediale Bezugnahme auf den Roman, die auf eine weitere Komposition zu Doktor Faustus Bezug nimmt und daher intramedial als Antwort sowohl auf den Roman als auch auf Boehmers intermediale Transposition aufzufassen ist.

Die Erstfassung der Apocalipsis sine figuris wurde in den Jahren 1985–1987 fertig gestellt und ihre Uraufführung fand 1987 in Frankfurt am Main statt – in der Stadt, in der auch Leverkühns Oratorium uraufgeführt wurde. Die Neufassung mit der Ergänzung des dritten Satzes „Kataleptische Katalekte“ wurde im selben Jahr veröffentlicht und 1988 ebenfalls in Frankfurt uraufgeführt.Footnote 129

Die Besetzung ist in zwei Gruppen gegliedert:

  1. 1.

    Vokalstimmen/Darsteller: vier Sprecher (zwei hohe, zwei tiefe, möglichst männliche Stimmen); vier Sänger: Countertenor, Tenor, Bariton, Bass (alle Vokalstimmen, über Gesangsanlage); ein Concert-Art-Performer (im Publikum; mit demontiertem Pianino).Footnote 130

  2. 2.

    Orchester: drei Trompeten, drei Hörner, drei Posaunen (Tenor-, Tenor-Bass-, Kontrabassposaunen), drei Tuben (Tenortuba, Bass- bzw. Doppeltuba, Kontrabasstuba); zwei Paukengruppen (möglichst 2 × 7 Pauken); Harmonium; Orgel; Celesta (mit elektrischer Verstärkung, oder Sampler); zwei Flügel mit je drei Spielern (vierteltönig gegeneinander verstimmt); zwei Harfen (vierteltönig gegeneinander verstimmt); vier Gitarren (1/2 und 3/4 vierteltönig gegeneinander verstimmt; mit Live-Elektronik); vier Bratschen (eine solistisch; alle mit Pick-up- und Kontaktmikrophonen verstimmt); vier Kontrabässe: der erste in Solostimmung (viersaitig), der zweite Viersaiter in Normalstimmung und die anderen zwei Fünfsaiter (alle Kontrabässe mit Pick-up-und Kontaktmikrophonen verstärkt); Tonbandzuspielung; Mischpult für Klangregie.Footnote 131

Diese detaillierte Beschreibung der Besetzung zeigt, dass das Projekt des Komponisten sehr ambitioniert ist. Noch ambitionierter scheint es, wenn man die riesige Menge der verwendeten Texte betrachtet. Genau wie Adrian Leverkühn reicht Kurz die Offenbarung des Johannes als Quelle eines Werkes über die Apokalypse nicht aus. Für den apokalyptisch-eschatologischen Teil verwendet er Texte, die in der sumerischen Zeit beginnen und sich bis zu den „Berliner Knastblättern“ der 1980er Jahre des 20. Jahrhunderts spannen.Footnote 132 Eine zentrale Rolle spielen die apokryphen und die frühchristlichen religiösen Texte, wie z. B. die Sybillinischen Weissagungen, die Apokalypsen des Thomas und Petrus, Flugblätter und Schriften aus dem Spätmittelalter, teilweise auf Altfranzösisch und Okzitanisch sowie kasuistische Texte. In Anbetracht der Anzahl an verwendeten Texten wäre die Frage berechtigt, ob man den von Gess beschriebenen Effekten von Intermedialität noch einen Effekt hinzufügen sollte, nämlich den Effekt der Revision.Footnote 133 Die Vorlage wird zwar ergänzt und verstärkt, es scheint aber ein Konkurrenzverhältnis zu ihr zu entstehen: Die Distanzierung im Titel durch das sine deutet bereits auf eine revidierende Lektüre von Thomas Manns Roman hin. Zweifellos lässt sich das Stück von Kurz ebenso wie Leverkühns fiktive Komposition als „Resumé aller Verkündigungen des Endes“ (DF: 520) definieren: Der enzyklopädische Charakter bleibt trotz intermedialer Transformation erhalten. Diese riesige Menge von Literatur wird mithilfe eines Montage-Prinzips mit der Musik und mit sich selbst kombiniert: Man erkennt hier das gleiche Prinzip, das in Doktor Faustus identifiziert werden konnte, nämlich die Kombination von Disparatem durch die Montage-Technik.Footnote 134

In der Apocalipsis sine figuris findet man drei Hauptthemen bzw. Hauptideen, die durch das vorher beschriebene Prozedere, jedoch weniger präzise als im Roman organisiert werden, was eine weitere Begründung für das sine figuris darstellt.Footnote 135 Das erste Thema ist selbstverständlich das der Apokalypse, das der Komponist als „bizarre Revue von ,den letzten Dingen‘, eine Show vom verschlissenen und beschissenen Ende der Welt“Footnote 136 beschreibt. Das zweite wird als „Galerie der Ideen“Footnote 137 bzw. „Zentralfriedhof der abendländischen Ideen“Footnote 138 bezeichnet und umfasst hauptsächlich Texte aus dem 19. und dem 20. Jahrhundert, u. a. von Freud, Mallarmé, Lautréamont, Bakunin, Cioran und Plechanow. Das dritte Thema ist Adrian Leverkühn gewidmet und versucht, „einen fiktiven Komponisten so zu porträtieren, als ob er sich bei der kompositorischen Arbeit gerade selbst über die Schulter schaut und sich dabei in einen Bergson’schen unbegrenzten Raum verliert bzw. verströmt“.Footnote 139 Dieser Moment lässt sich als metakompositorisch bezeichnen, da über das Komponieren selbst reflektiert wird. Des Weiteren führt die Komposition von Kurz durch die Bezugnahme auf Boehmers Schriften zu einer Reflexion über das „Vertonen“ des Romans von Thomas Mann selbst, was sich als metamedial einstufen lässt. Im Stück herrschen folglich verschiedene Metaebenen: Der Transfer und die Transformation von Mikroformen aus einem Roman, der sich mit der kompositorischen Laufbahn eines Künstlers befasst, führt zu Reflexionen sowohl über diesen Transfer als auch über die Inhalte selbst, nämlich den Bereich der Komposition. Um die Rolle von Leverkühn bzw. des im Programmheft genannten „Künstlers“Footnote 140 zu porträtieren, verwendet der Autor Zitate von berühmten Komponisten des 20. Jahrhunderts, etwa Busoni, Schönberg, Varèse und Skrjabin. Exemplarisch sei hier ein im fünften Teil der Komposition vorkommendes Zitat von Ferruccio Busoni erwähnt:Footnote 141

Nehmen wir es uns doch vor, die Musik ihrem Urwesen zurückzuführen; befreien wir sie von architektonischen, akustischen und ästhetischen Dogmen; lassen wir sie reine Erfindung und Empfindung sein, in Harmonien, in Formen und Klangfarben […].

Neben vielen anderen Aspekten lässt sich dieses Zitat auf Leverkühns Kompositionstendenzen zurückführen, besonders auf diejenigen, die er mit und nach der Apocalipsis cum figuris verfolgt. Zunächst verfolgt der fiktive Komponist ebenfalls das Ziel, die „Musik ihrem Urwesen zurückzuführen“, indem er sich u. a. auch an Kompositionsstilen vor Bach und Händel orientiert. Zweitens will er ebenso Grenzen und Dogmen sprengen und entwickelt zu diesem Zweck die Zwölftontechnik, die etwa die Grenzen zwischen Harmonik und Melodik, also sozusagen dem Horizontalem und dem Vertikalen der Musik nivelliert. „[R]eine Erfindung und Empfindung“ ist allerdings die Musik Leverkühns nicht, obwohl in der Weheklag immerhin das Ziel einer Rekonstruktion des Ausdrucks innerhalb einer strengen Form verfolgt wird.Footnote 142 Leverkühns Kompositionskriterien werden durch den Bezug auf Busonis Stellungnahme musiktheoretisch untermauert: Dies verstärkt die Vorlage.

Wie zu Beginn des vorliegenden Unterabschnitts angedeutet, weckt der Titel Apocalipsis sine figuris zum Teil falsche Erwartungen, obwohl hier mit der Polysemie des Wortes gespielt wird und daher u. a. auch rhythmische Figurationen in die Gesamtbedeutung des Wortes einbezogen werden.Footnote 143 Das Werk von Kurz besteht nicht nur aus Texten und Musik, sondern auch aus Bildern, etwa der Bildbetrachtung im Teil III 6, in dem die „Offenbarung S. Johannis des Theologen“Footnote 144 gezeigt wird.

Es gilt, weitere Verknüpfungspunkte mit Boehmers Apocalipsis und mit dem Roman anzusprechen. Zum Beispiel die explizite Stellungnahme des Autors, dass seine Komposition keineswegs den Anspruch erhebt, Leverkühns Oratorium nachzukomponieren, was durch die Änderung des Titels deutlicher als bei Boehmer signalisiert wird. Oder auch die politisch-gesellschaftliche Kritik des Stückes: Diese Kritik wird nicht nur durch die Äußerungen des Autors, er möchte „die bildungsbürgerliche Haltung von komponierenden Literaturliebhabern zu ihren Schwarmobjekten“Footnote 145 mitthematisieren, sondern auch durch textuelle Elemente sichtbar. Ein Beispiel dafür wäre das folgende Zitat von Varèse, das am Anfang des Stückes vorkommt: „Die Bourgeoisie heißt Besonnenheit diejenige Feigheit, die sie in ihrer dreckigen Glückseligkeit gelähmt hält“.Footnote 146 Sowohl Zeitblom durch seine Erzählungen über die Kridwiß-Treffen als auch Adrian Leverkühn durch sein apokalyptisches Oratorium üben Kritik an der damaligen politischen Stimmung; Boehmer verwendet darüber hinaus, wie in 4.2.1 bereits angesprochen, Texte von Marx, die Kritik an ökonomischen Machtverhältnissen üben. So kombiniert er die Kritik am Nationalismus und Faschismus mit einer Kritik am Kapitalismus.

Hanne Stricker bezeichnet das Oratorium von Karl-Wieland Kurz als „Dämonenzauber verzerrter Lebensenergien“Footnote 147 und betont, jene dialektische Ästhetik – die in Boehmers Komposition und im apokalyptischen Kapitel von Doktor Faustus sehr wichtig ist – sei in dieser Komposition keine „formbildende[] Kraft“:Footnote 148

Er [Karl-Wieland Kurz] rückt bewußt ab von der Dialektik als formbildender Kraft, auch von der Koketterie mit der Ästhetik des Häßlichen und deren Gegensatz, der Schönheit, die als unzuverlässiges Mittel auszuklinken ist. K.-W. Kurz ist entschieden für die Mischung von Disparatem.

Laut dieser Rezension lässt die Komposition von Kurz die Binäroppositionen von Leverkühns apokalyptischem Oratorium, die dort bereits einer Umwertung unterzogen wurden, beiseite und sucht einer poststrukturalistischen Vision entsprechend keine Differenzen zwischen Zeichen mehr: Schönheit und Hässlichkeit bilden einen einzigen Pol. Die Grenzen zwischen den Medien sind fließend, die Schichten werden nicht hierarchisch angeordnet und es herrscht wie in Leverkühns Komposition und bei Boehmer eine Vermischung von Stimmen: Diese Vermischung ist an den verschiedenen Zitaten diverser Autoren aber auch an den Sprecher- und Sängerstimmen zu erkennen. Auch musikalische Stile werden vermischt: z. B. liest man im vierten Teil die Anweisung: „rhythmisch prägnantes Initial, variiert wiederkehrend; gezacktes, einstimmiges ,Fugato‘, pointillistisch zerstoben, freie Einschübe, Tonband-Protuberanzen“.Footnote 149 Formen, Strukturen und Systeme werden ebenfalls kombiniert: der erste Teil basiert auf Emergenz, der zweite auf Diskretheit, der dritte auf Fraktalen, der vierte auf einem Modell, der fünfte auf Prozessualität. Nicht nur aufgrund der verwendeten Texte, sondern auch aufgrund dieser Mischung disparater musikalischer Mittel, Stile, Kompositionskriterien und -konzeptionen lässt sich das Oratorium von Kurz dem apokalyptischen Diskurs zuordnen. Aus Gender-Perspektive könnte man außerdem ergänzen, dass die Apokalypse von Kurz stark männlich dominiert ist, da sich diese aus männlichen Stimmen sowie Texten männlicher Autoren zusammensetzt. Es handelt sich daher um eine geschlechtlich markierte Apokalypse: Die Verkündung der bevorstehenden Katastrophe erfolgt eindeutig durch männliche Instanzen.

Sowohl Boehmers Apocalipsis cum figuris als auch die Apocalipsis sine figuris von Kurz stellen eine Erweiterung und Vertiefung des enzyklopädischen Charakters von Manns Kapitel dar, jedoch ist die Wahl der Quellen unterschiedlich und entspricht je anderen Interpretationen des Romans. Beide Komponisten haben es sich nicht zum Ziel gesetzt, wie Adrian Leverkühn zu komponieren und passen den apokalyptischen Diskurs ihrer Epoche an. In beiden Fällen handelt es sich um eine Medienkombination; bezüglich der Komposition von Kurz wäre es aufgrund der fließenden Grenzen zwischen Medien durchaus angebracht, den Terminus der „Medienfusion“Footnote 150 zu verwenden – obwohl anzumerken ist, dass, wenn die Bilder gezeigt werden, die Musik vorläufig unterbrochen wird und folglich also die Medien nicht wirklich fusioniert werden. Wichtiges Merkmal des Oratoriums von Kurz scheint die Strukturlosigkeit, die Konturlosigkeit, das sine figuris zu sein, was zur formbildenden Kraft der Vertonung unter verschiedenen musikalischen und intermedialen Aspekten wird.

2.3 Die Musikalisierbarkeit von Doktor Faustus: Humphrey Searles Apocalypsis cum figuris

Die dritte und letzte Komposition, die hier präsentiert wird, ist eine Kantate von Humphrey Searle (Dr. Faustus, im Katalog der British Library The Devil’s Jig genannt), die von der BBC Radio 3 am 9. März 1980 übertragen wurde.Footnote 151 Diese Kantate unterscheidet sich wesentlich von den bisher beschriebenen Kompositionen, da sie das Ziel hat, Serenus Zeitbloms Schilderungen von Leverkühns Stücken präzise zu folgen. Der Komponist (1915–1982) selbst schreibt in seinen Memoiren: „I followed Mann’s indications as far as possible“.Footnote 152 Außerdem setzt sich die Kantate nicht nur mit der Apocalipsis cum figuris, sondern auch mit anderen Kompositionen des Romans, z. B. mit der Dr. Fausti Weheklag, auseinander.Footnote 153

Der britische Komponist konnte diese Herausforderung annehmen, weil er in Wien Privatunterricht bei einem der berühmtesten Vertreter*innen der Neuen Musik, Anton Webern, genossen hatte und als erster Komponist gilt, der die 12-Ton-Kompositionstechnik in Großbritannien eingeführt hat.Footnote 154 In seinen Memoiren schreibt er:Footnote 155

I did not particularly want to write a Faust; there have been admirable ones by Berlioz, Schumann, Liszt and Busoni […]. However when the BBC asked me to write music for a programme about Thomas Mann’s Dr. Faustus I could not resist the challenge, especially as Mann’s Adrian Leverkühn is very different from the Faust of Goethe, Lenau or the medieval puppet play; he uses the supernatural powers given him by the Devil for the sake of developing himself as a composer rather than on wine, women or power […].

Sowohl für Boehmer als auch für Searle kommt der Anstoß für die Vertonung von Leverkühns Apocalipsis von außen; beide setzen sich mit Thomas Manns Bearbeitung des Faust-Stoffes auseinander, weil dort die Musik eine zentrale Rolle spielt.

Searle beschreibt sein Projekt nicht als eine Dramatisierung des Romans, sondern als eine Diskussion seiner Hauptideen. So handelt sich auch bei ihm, ähnlich wie bei allen in dieser Studie betrachteten Kompositionen, um kein totales intermediales Produkt, sondern um ein partielles: Trotz des Ziels einer Rekonstruktion der VorlageFootnote 156 beruht die intermediale Transposition auf einer individuellen Auswahl von zu vertonenden Romankapiteln und -zitaten. Die Kantate ist in eine musikalische Radiosendung eingefügt, in der die Musik manchmal unterbrochen wird, um Passagen aus dem Roman vorzulesen oder wichtige Momente der Handlung zusammenzufassen bzw. zu erklären. Die Auswahl der Texte sowie das Schreiben neuer Texte war Aufgabe des Schriftstellers und Dichters Robert Nye. Am Projekt nahmen auch der Ambrosian Chorus und das New Symphony Orchestra mit den Solostimmen von Wendy Eathorne, Paul Esswood, Brian Burrows und John Gibbs teil. Der Dirigent war Humphrey Searle. Da sowohl das Medium der Musik als auch durch die Moderation das Medium des gesprochenen Textes materiell präsent sind, stellt Searles Komposition, ähnlich wie die von Kurz und Boehmer, eine Form von Medienkombination dar.

Searles Apocalypsis besteht aus zwei Teilen: Der erste ist vom ersten Teil des 34. Kapitels (DF: 511–525), der zweite vom sogenannten „Schluß“ (DF: 538–550) inspiriert. Die Komposition dauert ca. 20 Minuten und die Texte sind hauptsächlich in englischer Sprache. Die Verwendung der englischen Sprache lässt sich nicht als rekonstruktiv bezeichnen. Vielmehr markiert sie einen Unterschied zur Vorlage: Ihre Mikroformen werden nicht nur in das Medium der Musik transferiert, sondern auch sprachlich übersetzt und erhalten somit durch den Sprachwechsel eine nationale Färbung, auch wenn dieser Aspekt bei Searle nicht so ausgeprägt wie bei anderen in dieser Studie behandelten intermedialen Transpositionen, wie z. B. Hagens To Zeitblom, erscheint.Footnote 157

Vor dem Beginn der Musik wird Zeitbloms Beschreibung im ersten Teil des apokalyptischen Kapitels vorgelesen: Der Moderator unterstreicht die Verbindung der dort geschilderten apokalyptischen Bilder mit Dante Alighieris Commedia, indem er eine literarische Vorlage sowohl der Apocalipsis als auch des Romans selbst (ein Zitat aus Dantes Inferno gehört zu dessen Paratexten) anspricht und unter anderen Quellen privilegiert.Footnote 158 Die Musik beginnt mit glissandi der Pauken und der Posaunen, die sich auf Esmeraldas Thema stützen. Dem „testis, […] Zeugen, […] Erzähler“ (DF: 519) von Searles Apocalypsis wird die Stimme eines Counter-Tenors gegeben. Mit seinen berühmten, rhetorisch als Chiasmus klassifizierbaren Worten „Das Ende kommt, es kommt das Ende“ (ebd.) fängt er an. Später, nachdem das Responsorium seine Worte „unvergeßlich wiederholt“ (ebd.) hat, wird er von dem auch im Roman erwähnten „mocking, bleating bassoon in its highest register“Footnote 159 begleitet. Der Chor beginnt, begleitet nur von den Pauken, mit Gemurmel, dann singen die Chorsänger*innen immer lauter, während die Musik zu einem Höhepunkt kommt, der durch Fortissimo-Dynamiken und einen massig wirkenden Klang charakterisiert ist. Dieser Höhepunkt führt zu Jeremias Worten: „Wir, wir haben gesündigt/Und sind ungehorsam gewesen“ (DF: 523). Die Chorfuge zeigt in Thomas Manns Roman eine seltsame Form, die Zeitblom so beschreibt:

Ich nenne das Stück eine Fuge, und fugal mutet es an, doch ohne daß ehrsam das Thema wiederholt würde, sondern mit der Entwicklung des Ganzen wird dieses selber entwickelt, so daß ein Stil aufgelöst und gewissermaßen ad absurdum geführt wird, dem der Künstler sich zu unterwerfen scheint, – was nicht ohne Zurückdeutung auf die archaische Fugenform gewisser Canzonen und Ricercaten der vor-Bach’schen Zeit geschieht, in denen das Fugenthema nicht immer eindeutig definiert und festgehalten ist. (DF: 523 f.)Footnote 160

Searle versucht, diese Struktur in der Komposition zu realisieren, indem er jede Stimme auf eine unterschiedliche Form seiner Grundreihe (Original, Umkehrung, Krebs, Krebsumkehrung) stützt, obwohl der Rhythmus gleichbleibt. Der resultierende Effekt wird durch ein Fortissimo des ganzen Orchesters unterstützt. Der erste Teil von Searles Apocalypsis endet „with a picture of the condemned man looking down into the abyss“,Footnote 161 eine Anspielung auf Michelangelos Verdammte.Footnote 162

Der zweite Teil fängt „more light-heartedly“Footnote 163 mit der Figur der babylonischen Hure an, für die Leverkühn den „graziösesten Koloratur-Sopran“ (DF: 545) vorschreibt. Die „virtuosen Läufe“ (ebd.) der babylonischen Hure „gehen zuweilen mit vollkommen flötenhafter Wirkung in den Orchesterklang ein“ (ebd.), schreibt Zeitblom. Diese Virtuosität realisiert Searle durch spanische Rhythmen und die Sopran-Stimme, die bis zum hohen g gebracht wird. Danach beginnt die Parodie verschiedener Musikstile: „Klänge des französischen Impressionismus, ins Lächerliche gezogen, bürgerliche Salonmusik, Tschaikowsky, Music Hall, die Synkopen und rhythmischen Purzelbäume des Jazz“ (ebd.). Dieser Moment bietet dem britischen Komponisten die Möglichkeit, mit verschiedenen Stilen zu spielen. Robert Nye schrieb passende Nonsenstexte für die „Teufelsgesänge“ (ebd.), die den parodistischen Charakter der Passage unterstreichen.

Danach realisiert Searle das „Pandämonium des Lachens“ (DF: 548), das Zeitblom heftig erschreckt: Genauso erschreckt ihn Leverkühns Neigung zum Lachen.Footnote 164 Das Höllengelächter des Chores fängt leise an, verschiedene und vielfältige Gelächtervarianten sind hier zu erkennen. Es wird bald zu einem „tornado of sound“,Footnote 165 zum Tutti-Fortissimo des „sardonischen Gaudium Gehennas“ (DF: 548), das dem Erzähler von Doktor Faustus das Geheimnis der Musik „offenbart“ (DF: 549). Die Wortwahl lässt an die Offenbarung des Johannes denken und das Oratorium Leverkühns zeigt sich hier als eine musikalische Offenbarung des Geheimnisses der Musik statt des Gottes. Dem Höllengelächter folgt der Kinderchor, dieses „Stück kosmischer Sphärenmusik, eisig, klar, gläsern-durchsichtig“ (ebd.), das genau wie in Manns Text auf den Noten des Höllengelächters basiert, und der Fähigkeit Leverkühns entspricht, das Gleiche zu verungleichen.Footnote 166 Das Ende beschreibt Searle als,Abgrundmusik‘ für das ganze Orchester und Orgel.Footnote 167

Im Kontext einer Medienkombination, besonders von Text und Musik, ist die Frage nach dem Verhältnis zwischen den beiden Medien zentral. Der Musikkritiker Malcolm Rayment beschreibt Searles Vorgehen wie folgt: „When setting a text he is inclined to modesty, submerging his own contribution in the interest of the words“.Footnote 168 Dies wird auch von zwei Schüler*innen und Bekannten des Komponisten, Herrn Prof. Sutton-Anderson und Frau Prof. Anderson betont.Footnote 169 Zwar orientiert sich Searles Apocalypsis stark an der Vorlage, übernimmt jedoch zugleich durch die Verwendung der englischen Sprache und vor allem durch den expliziten Einsatz der Zwölftontechnik eine ergänzende Funktion. Programmatisch und durchgehend verwendet Leverkühn Schönbergs Kompositionstechnik lediglich in der Weheklag. Diesbezüglich ergänzt Searles Apocalypsis die Vorlage, indem Dodekaphonie eindeutig und mit der Präzision eines Traktates zumindest bei der Realisierung der seltsamen Fugenform angewandt wird.Footnote 170

Viele Elemente von Leverkühns fiktiver Komposition finden sich in Searles intermedialer Transposition wieder, etwa die babylonische Hure und das Komm-Motiv: Searles apokalyptischer Diskurs ist daher derselbe Typ wie der der Vorlage; worüber sich die Komposition Gedanken macht, das ist der kompositorische Stil, mit dem sich die verbal musicFootnote 171 von Doktor Faustus in das Medium der Musik und in diese spezifische Form von Medienkombination transferieren lässt. Searles Kantate ist insgesamt eine partielle Vertonung des Romans, aber die Vertonung der Apocalipsis cum figuris an sich lässt sich als total einstufen, da kaum ein Element der Vorlage nicht vorkommt. Es handelt sich um direct or overt intermediality; das intermediale Produkt wählt im Vergleich zu den Werken von Boehmer und Kurz Zeitbloms Schilderungen von Leverkühns Oratorium als alleinige Vorlage, reflektiert über die Möglichkeiten der intermedialen Transposition, der Musikalisierbarkeit jedes einzelnen Wortes des Textes und versucht, dies umzusetzen.

Im ersten Teil des vorliegenden Kapitels wird gezeigt, wodurch sich die Apokalypse als Redeform auszeichnet und wie sie im Roman musikalisch und politisch dekliniert wird. Diese Verflechtung mit dem Politischen ist sowohl im Roman als auch in der intermedialen Transposition von Konrad Boehmer zentral: Seine Apocalipsis cum figuris reflektiert über Nationalismen und Zivilisationsstadien. Bezüglich der Transposition des 34. Kapitels aus Doktor Faustus ergeben sich einige Kontinuitäten und Differenzen. In die erste Kategorie der Kontinuitäten lässt sich die Beobachtung einordnen, dass alle drei Transpositionen sich nicht nur auf eine apokalyptische Quelle stützen, sondern wie Adrian Leverkühn mehrere Texte kombinieren und zusätzlich auch die Bildhaftigkeit der Apokalypse ins Zentrum stellen, indem sie den Bereich der Kunst einbeziehen. Was die Quellen angeht, so lässt sich zugleich auch eine erste Differenz feststellen: Sowohl Kurz als auch Boehmer ergänzen und passen die Quellen der Vorlage an ihre historische Zeit an. Somit werden Bezüge zum apokalyptischen Diskurs der 1980er Jahre hergestellt, was bei Boehmer besonders deutlich erscheint. Searle, der den Roman so präzise wie möglich transponieren möchte, sieht sich vor die Aufgabe gestellt, einen präzisen Stil für seine Komposition zu wählen und greift auf die Zwölftontechnik zurück, die Leverkühn in der Apocalipsis noch nicht anwendet.

3 Fazit

Das vorliegende Kapitel bereichert die Rekonstruktion der kompositorischen Rezeptionsgeschichte von Doktor Faustus, indem es eines der Hauptwerke Leverkühns, die Apocalipsis cum figuris, sowie drei intermediale Transpositionen bzw. Bezugnahmen in den Blick nahm. Die Wichtigkeit einer Kontextualisierung des sekundären intermedialen Produktes wurde noch einmal von der Beobachtung bestätigt, dass alle drei Musikwerke in den 1980er Jahren entstanden sind und folglich die apokalyptische Stimmung der letzten Phase des Kalten Krieges in sich tragen.

Im Prozess des Medienvergleichs konnten in diesem Kapitel weitere Effekte von Intermedialität und speziell des Medienwechsels beobachtet werden: Erstens die Ergänzung der Vorlage, etwa bei Boehmer und Kurz durch die Erweiterung der Quellen, die bei der Beschreibung von Leverkühns Komposition erwähnt werden, was zugleich für ein adaptives Textverständnis spricht. Zweitens eine eher rekonstruktive Haltung gegenüber der Vorlage, z. B. bei Searle, der Zeitbloms Beschreibung der Apocalipsis, also jenes intermediale telling hörbar zu machen beabsichtigt. Mediengrenzen erschienen bei diesem Versuch zugleich fließend und scharf gezogen: Nicht alles kann in Musik gesetzt werden und ausgerechnet das Medium der Schrift erwies sich aus diesem Blickwinkel als vage. Searle löst dieses Problem ebenfalls durch die Ergänzung der Vorlage mittels der Anwendung der Zwölftontechnik, die im Roman erst in der Weheklag verwendet wird. Mit dieser Komposition, die es in dieser Untersuchung zudem ermöglicht, die Frage nach der Erreichung eines transzendentalen Stadiums im apokalyptischen Diskurs zu beantworten, beschäftigt sich das nächste Kapitel.