1 Übersetzung im Rampenlicht: Prozesse und Projektionen

Geschrieben steht: „im Anfang war das Wort!“

Hier stock’ ich schon! Wer hilft mir weiter fort?

Ich kann das Wort so hoch unmöglich schätzen,

Ich muß es anders übersetzen,

Wenn ich vom Geiste recht erleuchtet bin.Footnote 1

Fausts Ringen um eine adäquate Übertragung des Logosbegriffs zu Beginn des Johannes-Evangeliums ins Deutsche gibt wohl das bekannteste Beispiel für eine Übersetzungsszene in der Weltliteratur. Goethe zeigt den frühneuzeitlichen Gelehrten in der Studierzimmerszene als Bibelübersetzer, der sich vom wörtlichen Übersetzen verbalinspirierter Rede löst und in Erwägung der Alternativen ‚Wort‘, ‚Sinn‘ und ‚Kraft‘ schließlich die ‚Tat‘ als beste sinngemäße Übersetzung einsetzt.

Eindrucksvoll stellt die Szene somit die Grundsituation des Übersetzens als Wortfindungsprozess vor Augen. Nicht spontanes Dolmetschen, sondern reflektiertes Abwägen des in der Ausgangs- und Zielsprache jeweils zur Verfügung stehenden Zeichenvorrats kennzeichnet den Vorgang schriftbasierter Übersetzung. Entsprechend erscheint der Übersetzungsvorgang als eine Suche nach den besten Zeichen, die sich aus translationswissenschaftlicher Perspektive äquivalenztheoretisch beschreiben lässt. In dieser Sicht setzt sie ebenso wechselseitige Übersetzbarkeit voraus wie sie den Maßstäben von denotativer, konnotativer, textnormativer, pragmatischer und formal-ästhetischer Äquivalenz zu genügen hat.Footnote 2

Als evidentes Ausgangsbeispiel kann die Übersetzungsszene im Faust in der Einleitung zur ersten Sektion indessen nicht nur deshalb zu stehen kommen, weil sie den Übersetzungsprozess selbst reflektiert, sondern ihn im dramatischen Kontext des Theaterstücks zugleich medial transformiert. Denn natürlich hat Goethe solch mühselige Beschäftigung theatralisch findig ausgebaut. So dient Fausts monologischer Umgang mit dem Gotteswort in der Dramaturgie des Stücks nicht zuletzt zur Provokation des herumschleichenden Pudels, der sich kurz darauf bekanntlich als hinter dem Ofen hervorschießender Mephistopheles im Gewand eines fahrenden Scholastikus entpuppt. Zwar schleudert Faust daraufhin kein Tintenfass, doch trägt das Genie Faust hier durchaus die Züge des Bibelübersetzers Luther, der gleichfalls nicht wortwörtlich, sondern programmatisch aus dem Sinn zu übersetzen pflegt. Und mit Johannes 1 als Ausgangsvers gibt Goethe dieser Familienähnlichkeit noch die Pointe, dass das Prinzip sinngemäßer Übertragung ausgerechnet am Wortbegriff (‚logos‘) durchgesetzt wird.

Gleichzeitig stellt die Inszenierung des Übersetzens bei Goethe ebenso eine fiktionale wie historische Projektion dar, ein Bild der Frühen Neuzeit also, auch wenn Goethe das 16. Jahrhundert noch „im Sinne des Mittelalters“ als eine Mittelzeit zwischen Antike und Moderne begreift, wie es beispielsweise die berühmte Regiebemerkung am Eingang der Laboratoriums-Szene im Faust II kenntlich macht.Footnote 3 Tatsächlich hat diese historische Projektion auch aus heutiger Sicht ihre Berechtigung, und das im doppelten Sinn: zum einem, indem sie die Epoche Fausts in einer Übersetzungsszene entwirft. Diesem Grundgedanken folgt letztlich auch das Schwerpunktprogramm, dass die Frühe Neuzeit dezidiert in Übersetzungskulturen zu konturieren versucht. Zum anderen markiert die Projektion bei Goethe auch den historischen Abstand zwischen Zuschauenden und theatralischem Geschehen und stellt somit den Projektionscharakter der Geschichtsfiktion selbst vor Augen. Denkt man die Übersetzungsszene historiographisch weiter, kann die dramatische Projektion zugleich als Verweis auf die frühneuzeitliche Übersetzungsgeschichte als Leerstelle dienen: Wie muss man sich den Vorgang des Übersetzens in der Frühen Neuzeit vorstellen, ähnlich wie in der Imagination Goethes, wie anders und wie darüber hinaus? Diese Fragen sind immer noch triftig. Denn trotz teils intensiver Forschungen wie z. B. im Bereich frühneuzeitlicher AntikenübersetzungFootnote 4 ist die Frühe Neuzeit als Epoche dynamischer Übersetzungskulturen noch unerschlossen. Dies gilt auch für das bei Goethe imaginierte Feld frühneuzeitlicher Bibelübersetzung,Footnote 5 selbst wenn die Übersetzungsgeschichte des am häufigsten übertragenen Buchs der Welt insgesamt in beispielloser Weise aufgearbeitet scheint.Footnote 6

2 Frühneuzeitliches Übersetzen. Praktiken und Reflexionen

Vor dem skizzierten Hintergrund richtet die erste Sektion das Augenmerk auf die Grundlagen frühneuzeitlicher Übersetzungskultur, nämlich das Übersetzen selbst: Wie wird Übersetzung als Prozess in einschlägigen historischen Settings theoretisch reflektiert, in den gegebenen Zeichensystemen praktiziert und dabei gegebenenfalls medial transformiert?

Mit Blick auf die translationswissenschaftlich eingeführte Unterscheidung von intralingualer, interlingualer und intersemiotischer ÜbersetzungFootnote 7 steht in der ersten Sektion zunächst das interlinguale Übersetzen im Vordergrund. Grundlage für das Beschreiben und Verstehen der frühneuzeitlichen Übersetzungskulturen sind die historischen Konzeptualisierungen von Übersetzungsvorgängen selbst. Sie finden sich oft nur sporadisch oder in Paratexten zu einzelnen Übersetzungen verstreut. Entsprechend sind sie, auch für die europäischen Volkssprachen, nicht systematisch aufgearbeitet.

Die enorme kulturelle Tragweite interlingualer Übersetzungspraxis lässt sich im 17. Jahrhundert exemplarisch an der deutschsprachigen Barockpoetik verdeutlichen. Diese beruht in Regelbestand und Musterlektüre wesentlich auf strategischen Übersetzungsleistungen, die angesichts der tiefgreifenden sprachpatriotischen Imprägnierung der Barockdichtung lange Zeit wenig oder in einseitiger Verengung auf den altsprachlichen Kanon gesehen wurden. Das Paradebeispiel gibt der schlesische Dichtungsreformer Martin Opitz, der in der deutschen Dichtung des 17. Jahrhunderts wie kein anderer schulbildend gewirkt hat. Die Wirkmächtigkeit seiner Reformbemühungen geht dabei keinesfalls allein von seiner 1624 erschienenen Poetik Buch von der Deutschen Poeterey aus, sondern maßgeblich auch von seiner regen Tätigkeit als Übersetzer, die eine sich schnell ausdifferenzierende Lektüre und Nachbildung fremdsprachlicher Muster in der deutschsprachigen Dichtung der Zeit beflügelt. Entsprechend gilt Opitz bis zu Gottsched nicht nur als „Vater der deutschen Dichtkunst“,Footnote 8 sondern – wie es Justus Georg Schottel in seiner Grammatik auf den Punkt bringt – auch als „Meister in der Dolmetsch-Kunst“.Footnote 9 Seine Kunst beruht dabei jedoch keinesfalls einseitig auf – teils auch trügerischerFootnote 10 – Antikenübersetzung.Footnote 11 Vielmehr fußt sie im großen Umfang vor allem auf der Übertragung von romanischen und niederländischen Mustern,Footnote 12 die bei Opitz nicht nur den Grundstein für eine neue deutsche, sondern auch allgemeine Poetik legen.Footnote 13 Entsprechend löst sich die deutschsprachige Dichtkunst im 17. Jahrhundert zunehmend vom späthumanistisch-altsprachlichen Kanon und entwickelt sich in Richtung Pluralisierung von AutoritätFootnote 14 und InternationalisierungFootnote 15 fort. Fragt man nach der Skopusorientierung dieser breiten Übersetzungspraxis, gibt zeitgenössisch etwa Georg Philipp Harsdörffer eine Antwort. Er verbildlicht die kulturdynamische Rezeptions-, Übersetzungs- und Aneignungsleistung als Prozess der Veredelung und stellt die literarische Tätigkeit auf eine Vergleichsebene mit der Schneiderzunft, wo „die Schueler aus ihrer Lehrmeister Maentel Kleider machen/und so statlich mit Silber und Gold ueberbremen/daß sie nicht erkaentlich sind“; gelungen ist die Gedicht-Übersetzung für Harsdörffer, „wan es so wol klingt/daß man nichteinmal abmerken kann/daß es in einer andern Sprache urspruenglich geschrieben worden.“Footnote 16 Nicht eine zu bewahrende Alterität, sondern Identität wird hier folglich als Übersetzungsideal gesehen.

Im nächsten Schritt erlaubt gerade das universale Übersetzungsverständnis in der Frühen Neuzeit, auch die Grundformen der intralingualen und intersemiotischen Übersetzungen in den Blick zu nehmen. So sind Welterfahrung und Weltdeutung in der Frühen Neuzeit maßgeblich durch semiotische Denkmodelle geprägt, die einen Übersetzungsakt implizieren. Die Vorstellungen von einem universalen ‚Zeichenkosmos‘ speisen sich dabei aus verschiedenen Quellen:

Zum einen wirkt das allegorische Weltverständnis des Mittelalters nach; anknüpfend an Augustinus werden Dinge als Bedeutungsträger eines höheren Sinns verstanden, sodass Theolog*innen und Naturforscher*innen vor der hermeneutischen Aufgabe stehen, die Sprache der Dinge zu entziffern und das Wahrnehmbare in Bedeutung zu übersetzen bzw. – im Doppelsinn von lateinisch interpres – zu interpretieren. Die res bekommen im Zusammenhang von Sprachmystik und Natursprache einen Stellenwert zugewiesen, der mit ikonischen Zeichen vergleichbar ist.Footnote 17 Die verba unterstehen etwa im Bereich der Dichtkunst der Horazischen ut pictura poesis-Formel, sodass eine Austauschbarkeit von Feder und Pinsel angenommen und im historischen Verständnis somit auch zwischen den Künsten übersetzt wird.Footnote 18 Wie der liber naturae enthalten dabei auch von Menschen verfasste Bücher verborgene Botschaften. Die integumentum-Lehre, die in Petrus Abaelard ihren bekanntesten mittelalterlichen Vertreter gefunden hat, fordert Rezipienten dazu auf, die in der antiken Dichtung und Philosophie verhüllte Wahrheit zu enthüllen. In der Frühen Neuzeit behält die Allegorese ihre Bedeutung, wie die zahllosen Publikationen allegorischer Wörterbücher im 16. und 17. Jahrhundert belegen.

Zum anderen erhält das „bildhaft deutende Denken“Footnote 19 der Architektur, Bildhauerei, Malerei und Dichtung durch die Wiederentdeckung platonischen Gedankenguts, das Interesse an der Kabbala und die Signaturenlehre des Paracelsus neue Nahrung. So werden z. B. Hieroglyphen als visuelle Symbole betrachtet, die direkt auf die Wahrheit verweisen.Footnote 20 Der gesamten Schöpfung, sei sie von Gott oder von Menschen gemacht, wird als mundus significativus eine semiotisch-spirituelle Dimension zugestanden; natürliche wie kulturelle Zeichen müssen gelesen und gedeutet, also übersetzt werden, um ihre Bedeutung zu entschlüsseln.

Angesichts solcher Befunde zielt die erste Sektion auch auf die Erforschung von intersemiotischen Übersetzungen, die etwa anhand von Text-Bild-Relationen untersucht werden können. Für die dritte Form der intralingualen Übersetzung schließlich ist vor allem die frühneuzeitliche Rezeption der mittelalterlichen Literatur zu berücksichtigen.

3 Projektspektrum. Untersuchungsfelder und Ergebnisse

Die erste Sektion bietet für die Rekonstruktion der historischen Konzeptualisierungen und Praktiken von Übersetzung die basale Arbeitsplattform, auf der konzentriert zur Verwendung und Verhandlung unterschiedlicher Zeichensysteme geforscht wird. Leitend ist dabei die Interrelation von semiotischer Kodierung und medialer Vermittlung. Wie greifen Zeichenprozess und Medialität in Übersetzungen zusammen, und wie werden die spezifischen Übersetzungsgegenstände durch ihre jeweiligen medialen Rahmungen transformiert? Die Sektion eröffnet entsprechend Forschungsperspektiven auf den Zusammenhang von Übersetzung und frühneuzeitlicher Sprachreflexion, von Übersetzungs- und Spracharbeit, von Semiotik- und Mediengeschichte.

Der erste Beitrag von Elena Parina und Erich Poppe (s. Kap. 5) richtet den Fokus zunächst auf die noch weitgehend unerschlossene walisische (Bibel-)Übersetzungskultur des 16. Jahrhunderts und zielt anhand von geistlichen Texten auf die Rekonstruktion von Übersetzungsstrategien ins Kymrische. Entsprechend ist er im Bereich interlingualer Übersetzung verankert und bahnt den Weg in ein schwer zugängliches historisches Zeichensystem. Konkret bieten Parina und Poppe eine Fallstudie zum Lehnwortgebrauch sowie zum Umgang mit Bibelzitaten in der Übersetzungspraxis Robert Gwyns, die insgesamt stark gegen-reformatorisch geprägt ist. Gezeigt wird darüber hinaus, wie die konfessionelle Ausrichtung der Übersetzung Gwyn nicht zuletzt Anlass zu übersetzungstheoretischen Reflexionen gibt (u. a. im Problemzusammenhang von Verbalinspiration einerseits und Unschärfen bei der Bibelübersetzung andererseits). Insbesondere belegt die Analyse die dezidierte Absicht, die Tätigkeit des Übersetzens konsequent der Unterweisung einer ungelehrten (walisischen) Leser- bzw. Zuhörerschaft zu unterstellen, um so eine gewisse Breitenwirkung in der Zielsprache zu erzielen. Das spezifische Profil der Übersetzungspraxis Gwyns schärft der Beitrag dabei durch prägnante kontrastive Vergleiche (zu Praktiken gelehrsamkeitsorientierter, reformierter oder irenisch ausgerichteter Übersetzung vom 16. bis ins 17. Jahrhundert) und entfaltet auf diese Weise eine beachtliche übersetzungsgeschichtliche Tragweite und Anschlussfähigkeit.

Eine intersemiotische Konstellation untersucht sodann der konsequent literatur- und musikwissenschaftlich abgestimmte Beitrag von Astrid Dröse und Sara Springfeld zur Liedkultur des 17. Jahrhunderts als Übersetzungskultur (s. Kap. 6). Im Sinn einer historischen Ausweitung der Kunstzone in den ‚Interart Studies‘ erprobt er Methoden und Perspektiven eines interdisziplinären Forschungsfeldes vor allem am Beispiel des barocken Liederdichters Heinrich Albert im Umfeld der Königsberger Kürbishütte. Alberts Arien bilden eines der bedeutendsten deutschsprachigen Liedkorpora des 17. Jahrhunderts, die zugleich im großen Umfang auf der europäischen, insbesondere italienischen und französischen Liedkultur aufruhen. Insofern rückt nicht nur eine spezifisch bimediale, sondern auch literaturvergleichende Konstellation in den Blick. Zur Analyse der Liedübersetzungen wird dabei neben der Unterscheidung von translatorischer Einzel- und Systemreferenz ein umfassendes heuristisches Schema eingebracht, das ebenso die spezifische Medialität wie differenten soziokulturellen Settings, den jeweiligen ‚Sitz im Leben‘, der Liedübertragungen im Blick hält. Auf diese Weise kann nachvollzogen werden, wie etwa die höfische Kunstliedform des französischen ‚Air de Cour‘ durch Alberts Übersetzung in den bürgerlichen Gesellschaftskontext der Königsberger Kürbishütte poetisch und medial transformiert wird.

Der folgende Beitrag Irina Saladins (s. Kap. 7) ist mit der Analyse der Kartierung Nordamerikas durch Claude und Guillaume Delisle noch einmal in anderer Weise als der Künste-vergleichende Ansatz von Dröse und Springfeld einer intersemiotischen Fragestellung verpflichtet: Wie werden um 1700 historische Textzeugen wie Reiseberichte, Geschichtswerke und Briefe oder auch mündliche Aussagen von Reisenden von den beiden berühmten französischen ‚Lehnstuhlgeographen‘ (géographes de cabinet) in Karten übersetzt? Anhand dieser Leitfrage entwickelt Saladin zunächst eine eingehende Methodenreflexion intermedialen Übersetzens, die heuristisch auch an Ansätze einer narratologisch ausgerichteten Kartographiegeschichte Anschluss nimmt. Am ausgewählten Beispiel der Nordamerikakarten der Delisles verfolgt sie daraufhin im Detail die grundlegenden Kontexte (u. a. Lebensumstände der Delisles, ihre Werkstätten, Quellenbestände oder Netzwerke) und richtet den Untersuchungsfokus vor diesem Hintergrund auf die mediale Transformation, welche aus der schrittweisen Übertragung der Texte in Karten resultiert. Saladin kann dabei zeigen, wie die lineare, teils narrative Qualität der von den Delisles verwendeten Textzeugen als Routenwissen zunächst im medialen Zwischenschritt von Skizzen sowie dann partiell noch im Endprodukt der gradnetzbasierten Karte zum Tragen kommt.

Mit dem Akteurs- und Quellenhorizont des klassischen Zeitalters in Frankreich wird der Untersuchungszeitraum der Sektion durch den Beitrag von Andreas Gipper und Diego Stefanelli ins 18. Jahrhundert weitergeführt (s. Kap. 8). Anhand des translatorischen Dreiecks Bonnet-Spallanzani-Senebier konturiert dieser das Phänomen der Wissenschaftsübersetzung als Generator symbolischen Kapitals. Im Vordergrund steht dabei noch einmal eine interlinguale Situation, die sowohl Wissenschaftsübersetzungen vom Französischen ins Italienische (Bonnet/Spallanzani) als auch Übertragungen vom Italienischen ins Französische (Spallanzani/Senebier) berücksichtigt. Gipper und Stefanelli können im Analysedurchgang belegen, dass die Zusammenarbeit von Übersetzern mit Wissenschaftlern im Kontext der Naturforschung des 18. Jahrhunderts einerseits bzw. des Aufstiegs der europäischen Vernakulärsprachen als Wissenschaftssprachen andererseits nicht eindimensional als Verhältnis eines unsichtbaren Dieners beschreibbar ist. Vielmehr sind die Übergänge fließend, indem Naturforscher wie beispielsweise Spallanzani zugleich Übersetzende und Übersetzte sind. Die Quellenlage erlaubt dabei im Fall des ausgewählten Dreigestirns eine literatursoziologisch an Bourdieu orientierte Rekonstruktion der jeweiligen wissenschafts- und sprachpolitischen Motive der Übersetzer, die etwa durch das bloße Übersetztwerden strategisch auf Gewinnmaximierung symbolischen Kapitals, Prestigeübertragung oder die Positionierung als eigenständiger Naturforscher im einschlägigen Wissenschaftsfeld hinzielen. Translationsgeschichtlich wird im Gegenlicht des Konkurrenzverhältnisses mit dem Italienischen zudem die (Relais-)Funktion des Französischen in der europäischen Übersetzungskultur deutlich, das sich im 18. Jahrhunderts auf den Weg zur universalen Wissenschaftssprache macht.

Den Schlussstein der ersten Sektion bildet der Beitrag von Hans-Jürgen Lüsebrink über Übersetzungen in französischen Enzyklopädien, der am Beispiel der Encyclopédie von Diderot und D’Alembert und der Encyclopédie Méthodique ebenfalls interlinguale Translationsaspekte untersucht (s. Kap. 9). Er erweitertet das methodische Spektrum der Sektion allerdings insofern, als mit dem Thema der Übersetzung von und in den zentralen französischen (sowie europäischen) Enzyklopädien des 18. und frühen 19. Jahrhunderts eine metatextuelle Perspektive des historischen Übersetzungsdiskurses eingeholt wird. Gerade der Bereich der Übersetzung erweist sich in den ausgewählten Enzyklopädien konzeptionell als ergiebig. Denn hier geht es um die Analyse der übersetzungsgeschichtlich vorfindlichen Selbstbeschreibung, die in den jeweiligen Enzyklopädien umfänglich in Artikeln zur Übersetzung, zum Übersetzer, zur Version oder auch Inversion vertreten ist. Da solche Einträge den zeitgenössischen Wissensstand gemäß der enzyklopädischen Textsortenanforderungen möglichst vollständig abbilden, leistet der Beitrag für die Rekonstruktion der europäischen Übersetzungskultur der Frühen Neuzeit wichtige Grundlagenforschung. Die herausgehobene Bedeutung des enzyklopädischen Diskurses für Fragen sowohl der Übersetzungspraxis als auch -theorie der Zeit resultiert dabei nicht nur aus der Zusammenstellung übersetzungsgeschichtlich als bedeutend eingeschätzter Quellen und Positionen, sondern auch aus der zeitlichen Stellung der untersuchten Enzyklopädien am Scheitelpunkt zur Moderne bzw. mitten in der Französischen Revolution. Durch sie wird nicht zuletzt ein bereits retrospektives Reflexionspotential auf die Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit, namentlich der Aufklärung, eingebracht.