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1 Enzyklopädismus und Übersetzung im spanischen 18. Jahrhundert

Für die Entwicklung der Gattung des enzyklopädischen Wörterbuchs in der Epoche der Aufklärung kam Spanien zweifellos eine nur untergeordnete Rolle zu. Die bedeutenden Vorläufertexte des 17. Jahrhunderts, wie Moréris Grand dictionnaire historique (Lyon 1674) und Bayles Dictionnaire historique et critique (Rotterdam 1697), wurden ebenso wie die großen Universalenzyklopädien der Zeit, etwa Zedlers Universal-Lexicon (Halle/Leipzig 1731–54), Chambers Cyclopædia (London 1728), die Encyclopédie (Paris 1751–80) und ihre ‚Nachfolgerin‘, die Encyclopédie méthodique (Paris 1782–1832), in Frankreich, England, Deutschland und den Niederlanden publiziert.Footnote 1 Auch im Bereich wissenschaftlicher Fachlexika (zu Geographie, Handel und Industrie, Medizin, Pharmazie, Agrarwissenschaft, Gartenbaukunst, Musik, Religion) dominierten die west- und mitteleuropäischen ‚Zentren der Aufklärung‘. Im Kontext der transnationalen Entstehungszusammenhänge der genannten enzyklopädischen Werke waren Beiträge spanischer Autoren allenfalls von mittelbarer Bedeutung.

Zwar hatte Álvaro Navia Ossorio, Marqués de Santa Cruz de Marcenado, bereits in den 1720er Jahren das Projekt eines spanischen Universallexikons ins Auge gefasst und seine diesbezüglichen Pläne in drei, den Bänden 8, 9 und 10 der Reflexiones militares (Turin 1724–30) als Anhänge beigegebenen Texten dargelegt.Footnote 2 Das Diccionario universal sollte jedoch nie realisiert werden. Es liefert damit ein frühes Beispiel für die Entmutigungen und gescheiterten Vorhaben, die den Enzyklopädismus des spanischen 18. Jahrhunderts einerseits charakterisieren.Footnote 3

Andererseits partizipierte das Land durchaus an den aufgeklärten Praktiken der Wissenssammlung, -systematisierung und -disposition in lexikalischer Form – und dies in umfangreicherem Maße als ein erster Blick auf die Umstände – die wissenschaftliche Rückständigkeit des Landes und der Einfluss der Inquisition – vermuten lässt. Die Teilhabe am Enzyklopädismus vollzog sich auf zweierlei Weise: in Form der passiven Rezeption (d. h. Lektüre) fremdsprachlicher, allen voran französischer, enzyklopädischer Wörterbücher einerseits und der aktiven Produktion nationalsprachlicher Enzyklopädien andererseits. So verweisen die mehr als 40 Texte, auf die sich Santa Cruz de MarcenadoFootnote 4 als mögliche Quellen seines Diccionario universal beruft, darauf, dass moderne europäische Enzyklopädien bereits im Spanien der Frühaufklärung Beachtung fanden. Neben Moréri und Bayle werden Speziallexika wie Savary des Bruslons Dictionnaire universel de commerce (Paris 1723–30), Bruzen de la Martinières Grand dictionnaire géographique et critique (Paris 1726–39), Harris‘ Lexicon technicum (London, 1704–10), Ozanams Dictionnaire de mathématique (Amsterdam 1691) und Lémerys Pharmacopée universelle (Paris 1697) erwähnt. Zudem ist auf die Bedeutung der spanischen Ökonomischen Gesellschaften als Orte einer intensiven Enzyklopädie-Rezeption in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts verwiesen worden.Footnote 5

Was spanischsprachige Enzyklopädien anbelangt, so finden sich ab der Mitte des 18. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (mit Schwerpunkt auf den 1740er/50er und den 1780er/90er Jahren) neben dem aus dem Französischen übertragenen Wörterbuch von Moréri und der Encyclopedia metódica (Madrid 1788–1794; unvollständig) nach bisherigem Stand rund 30 weitere gedruckte, enzyklopädische Fachwörterbücher. Von diesen beruhen mindestens 16 Titel auf Übersetzungen. Zu bekannten, europaweit erfolgreichen Titeln historisch-geographischer Lexika wie Ladvocats Dictionnaire géographique portatif (Paris 1747; seinerseits eine Adaption von Echards Gazetteer’s or Newsman’s Interpreter), dem Dictionnaire historique portatif desselben Autors, Chomprés mythologischem Lexikon Dictionnaire de la fable (Paris 1727), sowie von Bibel- und theologischen Lexika (Alletz: Dictionnaire portatif des conciles; Montagon: Dictionnaire apostolique; Pluquet: Dictionnaire des hérésies; Deserti: Dizionario Ricciano ed anti-ricciano; Nonnotte: Dictionnaire philosophique de la religion) gesellen sich Übersetzungen natur- und agrarwissenschaftlicher Fachwörterbücher aus der Feder von namhaften Spezialisten. So wurden beispielsweise das Dictionnaire universel d’agriculture (Paris 1781–1805) des Agronomen Rozier, das Dictionnaire raisonné de physique (Paris 1781) des Physikers und Naturkundlers Mathurin Jacques Brisson und das Dictionnaire des Merveilles de la Nature (Paris 1781) von Sigaud de Lafond, ebenfalls Physiker, ins Spanische übersetzt und teilweise mehrfach neu editiert.Footnote 6 Die Chemische Receptirkunst oder Taschenbuch für praktische Ärzte (Erfurt 1797) des deutschen Pharmazeuten Trommsdorffs wurde mittelbar über das Französische ins Spanische übertragen. Schließlich fand auch das Dictionnaire raisonné universel d’histoire naturelle (Paris 1764) des Naturalisten Valmont de Bomare in Form von Teilübersetzungen Eingang in eine spanische Enzyklopädie, nämlich Olivés Diccionario de diversion y de instruccion (Madrid 1797) (vgl. Übersicht 1 im Anhang).

Die kursorische Zusammenschau lässt zwei Aspekte deutlich werden: Auch auf der Iberischen Halbinsel ist, erstens, das 18. Jahrhundert ein Zeitalter nicht nur der Lexikographie, sondern auch der enzyklopädischen Wörterbücher – ein „âge des dictionnaires“ – gewesen,Footnote 7 dessen wesentliche Triebfeder, zweitens, die Übersetzung war. Die Forschung hat wiederholt auf die generelle Bedeutung von Übersetzungen für das spanische 18. Jahrhundert hingewiesen und dabei betont, dass es Letztere waren, die dem Land eine Öffnung hin zu jüngeren literarischen und wissenschaftlichen Entwicklungen in Europa ermöglichten.Footnote 8 Für die Übersetzung aus dem Französischen ins Spanische lagen verschiedene zweisprachige Wörterbücher, Grammatiken und Handbücher (z. B. Capmanys Arte de traducir el idioma francés al castellano, 1776) vor;Footnote 9 sie demonstrieren die herausragende Bedeutung der Übertragung von französischen Werken ins Spanische. Diese Feststellungen gelten auch für den Enzyklopädismus und die Lexikalisierung des Wissens.

Umgekehrt kann die spanische Enzyklopädie-Produktion der Zeit als paradigmatisch für die Zusammenhänge zwischen Enzyklopädismus und Übersetzung betrachtet werden, wie sie im Rahmen des von der Verfasserin gemeinsam mit H.-J. Lüsebrink geleiteten Forschungsprojekts fokussiert werden. Vermittels der systematischen Erfassung sämtlicher Enzyklopädie-Übersetzungen des langen 18. Jahrhunderts wird zunächst, in genereller Hinsicht, die Bedeutung der Übersetzung für die Ausbreitung der Gattung des enzyklopädischen Wörterbuchs konturiert. Diese kann – nicht nur für Spanien, sondern für ganz Süd-, Nord- und Osteuropa – kaum überschätzt werden. Die bisherigen Erhebungen haben ein Korpus von Ausgangstexten im Umfang von mehr als 70 überwiegend französischen, sowie englischen und deutschen Enzyklopädien ergeben, die neben wechselseitigen Übersetzungen ins Deutsche, Französische und Englische mehr als 200 (adaptierte) Übersetzungen ins Niederländische, Dänische, Schwedische, Spanische, Portugiesische, Italienische, Polnische, Russische und Griechische zeitigten.Footnote 10 Über diese quantitative Perspektive hinaus gilt die Untersuchung qualitativen Aspekten im Kontext des Zusammenspiels von Enzyklopädie und Übersetzungspraxis, nämlich den Fragen danach

  1. 1)

    inwiefern Praktiken des Übersetzens enzyklopädischen Werken per se inhärent waren und einen wichtigen Bestandteil des Umgangs mit Quellen und intertextuellen Bezügen darstellten;

  2. 2)

    welche (trans-)kulturellen Prozesse und Konsequenzen mit ihnen verbunden waren;

  3. 3)

    welche Verbindungen zwischen den diskursiven Prozessen des Übersetzens, des Annotierens und des kritischen Kommentierens bestehen.

Diesen Untersuchungsperspektiven soll im Folgenden am Beispiel der spanischen Encyclopedia metódica nachgegangen werden.Footnote 11 Diese adaptierte Übersetzung der französischen Encyclopédie méthodique – ihrerseits eine erheblich erweiterte und thematisch neugeordnete Bearbeitung der Encyclopédie und mit 40 alphabetischen Wörterbüchern und insgesamt 212 Quartbänden das voluminöseste enzyklopädische Werk des Aufklärungszeitalters – ist bereits in verschiedenen Arbeiten thematisiert worden.Footnote 12 Gleichwohl hat die Forschung abgesehen von der Editionsgeschichte mit Blick auf den Inhalt der Metódica bisher nahezu ausschließlich auf ein einziges der thematischen Diccionarios fokussiert, nämlich jenes zur Geographie – und dabei insbesondere auf den Eintrag „España“ und die Modifikationen, die dieser im Vergleich zum kritischen Ausgangsartikel „Espagne“ von Masson de Morvilliers erfahren hat.Footnote 13 Diese Perspektive wird nachfolgend geweitet und das Korpus in seiner Gesamtheit in den Blick genommen.

2 Die Encyclopedia metódica als adaptierte Fassung der Encyclopédie méthodique

Für die übersetzte, spanische Fassung der Enzyklopädie waren ursprünglich – wie für das französische Werk – 26 thematische Wörterbücher vorgesehen; mit einem Umfang von 53 Text- und 7 Tafelbänden.Footnote 14 Das Verlagsprospekt von 1782 kündigte eine nationalsprachliche Form („traducida en castellano“) und eine auf die spezifische Situation Spaniens ausgerichtete Perspektive („aumentada con lo relativo a España“) an.Footnote 15 Das Projekt lag in der Verantwortung des renommierten und etablierten Verlegers Antonio de Sancha, der im Hinterzimmer seiner Offizin regelmäßig prominente Aufklärer wie Pedro Rodríguez de Campomanes und den Conde de Aranda zur tertulia empfing.Footnote 16 Die redaktionelle Arbeit wurde – unter Mithilfe von Campomanes – einer Gruppe von Experten anvertraut, deren Fachwissen nicht nur eine gelungene Übersetzung des Ausgangstextes garantieren, sondern auch die Möglichkeit der inhaltlichen Korrektur und Ergänzung der thematischen Wörterbücher eröffnen sollte.Footnote 17 Im Prospecto erklärt De Sancha:

Für die Übersetzung dieses großen Werks haben wir viele gelehrte Personen, eifrig der Nation zum Fortschritt zu verhelfen und der Dinge kundig, die in ihm [dem Werk, S.G.] diskutiert werden: die einen sind Mitglieder der Königlichen Akademien des Landes, andere Lehrstuhlinhaber oder in den höchsten Ämtern des Königreichs. Sie haben sich freiwillig erboten mit ihrer literarischen Arbeit zum Erfolg dieser Unternehmung beizutragen (Übers. S.G.).Footnote 18

Mit der Beauftragung von Experten folgte De Sancha der im Spanien des 18. Jahrhunderts üblichen Praxis im Kontext wissenschaftlicher Übersetzungen.Footnote 19 Bereits Feijoo hatte in Cartas eruditas (1760) auf den Umstand verwiesen, dass es für eine gelungene Übersetzung mehr brauche als die bloße Kenntnis von Ausgangs- und Zielsprache.Footnote 20 Campomanes wiederum hatte in Apéndice à la educación popular (1776) ausgehend vom Wunsch nach einer spanischen Übersetzung der Encyclopédie betont, dass im Bereich der Handwerke eine enge Zusammenarbeit von Übersetzern und Fachleuten notwendig sei:Footnote 21 eine Forderung, die sich für die Übersetzung des Wörterbuchs Manufactures, arts et métiers der Méthodique als relevant erweisen sollte.

Die Übertragung der Méthodique ins Spanische und ihre Adaption für das heimische Publikum war ein monumentales Unterfangen, das zudem in zeitlicher Parallelität zur fortgesetzten Publikation weiterer Wörterbücher der französischen Ausgabe erfolgte. Letztgenannter Umstand stellte angesichts des alphabetischen Ordnungssystems eine besondere Herausforderung dar, denn selbstverständlich konnte mit der Drucklegung eines thematischen Wörterbuchs der Metódica erst begonnen werden, nachdem sämtliche französische Textbände (Supplemente ausgenommen) publiziert und übersetzt und die entsprechenden spanischen Lemmata in die richtige Reihenfolge gebracht worden waren. Erschwerend kam hinzu, dass Wissenschaftsübersetzungen für Spanien relatives Neuland darstellten und bisweilen schlicht die entsprechenden kastilischen Fachtermini fehlten.Footnote 22

Von den anvisierten Bänden sollten am Ende tatsächlich 6 Diccionarios mit 11 Bänden, zzgl. 1 Tafelband veröffentlicht werden. Das Vorhaben ist zunächst zielstrebig angegangen worden – die Bände zu Historia natural und Gramática y literatura erschienen 1788 nahezu zeitgleich, ebenso wie 1791/92 jene zu Artes académicos, Arte militar und Geografía moderna –, bevor es nach der Publikation der Bände zu Fábricas, artes y oficios und des Tafelbands 1794 aufgegeben wurde (vgl. Übersicht 2 im Anhang).

Die Gründe dafür, dass die Metódica in Hinblick auf Gesamtumfang und Vollständigkeit der einzelnen, thematischen Wörterbücher nur ein ‚Gerippe‘ blieb, sind neben dem hohen Aufwand und den Verzögerungen bei der Herausgabe des Ausgangstexts im sich verschlechternden politischen Verhältnis Frankreichs und Spaniens im Zuge der Französischen Revolution zu suchen.Footnote 23 Bereits 1783 hatte der ‚Spanien‘-Artikel Masson de Morvilliers im Wörterbuch zur Geographie, der dem Land Fanatismus, Rückständigkeit und Untätigkeit vorgeworfen hatte, die zunächst sehr wohlwollende Reaktion der spanischen Obrigkeit auf das französische Werk gebremst. Ab 1784 begutachteten daher renommierte Aufklärer die Méthodique, wobei die Bände letztlich insgesamt positiv aufgenommen wurden. Das Wörterbuch zum Handel qualifizierte der Generalzensor gar als ‚hervorragend‘ („el más excelente“) – auch angesichts der einleitenden Dissertation zum Thema, die die Prinzipien einer ‚so komplizierten Wissenschaft‘ anschaulich darlege.Footnote 24

Dieses Urteil evoziert den generellen Anlass der Rezeption enzyklopädischer Werke auf der Iberischen Halbinsel: das Verlangen nach fundierter Information über relevante Wissensgebiete angesichts des kulturellen, wissenschaftlichen und ökonomischen Niedergangs des Landes. Das Bestreben, die Ressourcen des Mutterlands und der Kolonien fortan besser und zur Wiederherstellung der alten spanischen Größe zu nutzen, garantierten der Industrie, Wirtschafts- und Handelstheorie dabei besondere Aufmerksamkeit.Footnote 25 In seinem „Aviso“ zum Wörterbuch Fábricas, artes y oficos (Bd. 1, 1794, o. S.) macht der Herausgeber die Bedeutung einer systematischen Auseinandersetzung mit dem Thema folglich deutlich. Zugleich betont er die Herausforderungen der Adaption, die darin bestanden haben, gänzlich neue Artikel zu spezifischen, regionalen spanischen Handwerken, wie etwa der „alpargateros“ (‚Espadrilles-Schuhmacher‘) und „estereros de esparto“ (‚Espartogras-Fußmatten-Flechter‘), verfassen zu müssen und für die Beschreibung operativer Vorgänge, Arbeitsgeräte und -materialien adäquate termini tecnici zu formulieren. Gerade die Übersetzung ‚gewöhnlicher Inhalte‘ („materias comunes“) in die Vernakularsprache stelle den Übersetzer vor eine Herausforderung:

Auf den ersten Blick erscheint die Übersetzung von […] niederen, gemeinen, gewöhnlichen Inhalten leicht im Verhältnis zu den erhabenen, abstrakten, philosophischen Themen […]. Aber leider ist es nicht so, denn die Wissenschaften verfügen über ein allgemeines, aus dem Griechischen und Lateinischen stammendes Vokabular, das sie zwischen allen gelehrten Nationen kommunizierbar und verständlich macht […]. Die Künste und Handwerke, die in den einfachen Dörfern geboren und geschaffen wurden, haben […] die Sprache ihrer niederen Schöpfer bewahrt; sie leiden unter ihrer zweifelhaften und entlegenen Herkunft: ihr Wortschatz ist traditionell, einer jeden Nation, vielleicht sogar jeder Provinz eigen, dem Rest der Menschen unbekannt und für diejenigen rätselhaft, die nicht mit ihnen befasst sind (Übers. S.G.).Footnote 26

Das Problem habe sich nur mit Mühen und unter Hinzuziehung von fachkundigen Arbeitern lösen lassen.

Hier zeigt sich, was – über die allgemeine Frage nach der Rezeption enzyklopädischer Werke hinaus – ihre Adaption in andere Sprachen bedeutete und zwar sowohl hinsichtlich des Übersetzungsprozesses als auch der aus der Übersetzung resultierenden diskursiven Ergebnisse, nämlich:

  • die Übertragung eines Gattungsmodells auf die kulturelle Spezifik eines Landes,

  • die systematische Bemächtigung der sozialen Realität vermittels eines nationalsprachlichen Vokabulars und

  • die Mitwirkung am aufgeklärten Diskurs im Allgemeinen und demjenigen über die eigene Nation im Besonderen.

Zwei Aspekte seien mit Blick auf diese letzte Feststellung hervorgehoben:

  1. 1)

    Während die Metódica einerseits unvollendet blieb, ist sie andererseits dem Versprechen, relevante Ergänzungen vorzunehmen, in allen Diccionarios umfänglich nachgekommen. Rund 165 der Artikel in Historia natural de los animales (Bd. 1) sind neu bzw. ergänzt, etwa 145 im Wörterbuch Arte militar, ca. 300 Einträge in Gramática y Literatura, zwei Dutzend in Fábricas, artes y oficios, nahezu zahllose in den Wörterbüchern zu Geographie und Artes académicos. Gewiss handelt es sich bei der entsprechenden Ankündigung im Prospecto auch um einen Gattungstopos; bei Korrektur und Ergänzung um gängige Verfahren enzyklopädischen Schreibens. Im Falle von Enzyklopädie-Übersetzungen ins Spanische meinten sie jedoch mehr sowohl als die ‚belles infidèles‘ des 17. Jahrhunderts als auch die für den Enzyklopädismus des 18. Jahrhunderts charakteristische „Arbei[t] am Wissen“.Footnote 27 Für ein Land, das lange an der Peripherie der Aufklärung verortet wurde,Footnote 28 bedeutet(e) die ergänzende und korrigierende Übersetzung eine wichtige Teilhabe an aufgeklärten Praktiken der Wissenssammlung, -ordnung und -systematisierung.

  2. 2)

    Die Bedeutung von Enzyklopädie-Übersetzungen in Spanien offenbart sich in ihrer ganzen, sowohl praktischen als auch ideologischen, Tragweite angesichts des bereits erwähnten „Espagne“/„España“-Eintrags im Wörterbuch zur Geographie der Méthodique bzw. Metódica. Clorinda Donato (2015, 2020) hat auf die Virulenz geographischer Wissensbestände im Kontext des aufgeklärten Enzyklopädismus verwiesen, die einerseits aus der Vernachlässigung fundierter, neuerer Reisebeschreibungen durch die französischen Enzyklopädisten – und damit einer fehlerhaften, manipulativen Information – und andererseits aus dem Ringen um imperiale Vorherrschaft bzw. der Verteidigung kolonialer Herrschaftsansprüche resultierte. Im Falle der Méthodique sah sich einer der beiden Hauptredakteure der Géographie moderne, Masson de Morvilliers, hinsichtlich seiner Beschreibungen Südeuropas dem Vorwurf der Nichtbeachtung qualifizierter Quellen ausgesetzt.Footnote 29 Tatsächlich liest sich Morvilliers „Espagne“-Artikel über weite Strecken als Sammlung von Versatzstücken der leyenda negra, die darauf zielen, Spanien als ein Gegenteil der Aufklärung zu formulieren.Footnote 30

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass der Eintrag in der spanischen Adaption eine grundlegende Überarbeitung erfahren hat, die durch Auslassungen und Umschreibungen, vor allem aber durch detailreiche ErgänzungenFootnote 31 sowie eine Erwiderung auf Morvilliers Behauptung, das moderne Europa habe Spanien nichts zu verdanken,Footnote 32 charakterisiert ist. Die Ergänzungen betreffen v. a. die politische Verfasstheit und Geschichte Spaniens: die Darstellung Morvilliers, die auf Voltaire zurückgeht, wird in der Metódica komplett neu gefasst und u. a. um die Entdeckung Amerikas und die Eroberung der beiden Indien ergänzt. Süffisant kommentiert der Verfasser: ‚Dies ist eine wahrhafte Darstellung der Entwicklungen, die das Königreich Spanien erfahren hat und nicht das grelle Porträt des Jahrhunderts Ludwigs XIV.Footnote 33 Einig sind sich der „Espagne“- und der „España“-Eintrag hingegen über die Existenz von Defiziten und Problemen in der modernen spanischen Gesellschaft, wiewohl diese unterschiedlich begründet werden. Aufschlussreicher noch als die bloße Gegenüberstellung von Auslassungen und Ergänzungen erscheint daher ihre Bewertung vor dem Hintergrund der rhetorischen Strategie der Wörterbücher auf der Basis einer Analyse der Mikrostruktur. Bei Morvilliers (1783) wird das semantische Feld dominiert von Lexemen der Schwäche („l’Espagne soumise, l’épuisement de ses forces, vaste corps sans substance, affoiblit la monarchie, héritier de la foiblesse“): die Darstellung der spanischen Historie dient dazu, die gegenwärtige Dekadenz als Endpunkt einer zwangsläufigen Entwicklung zu präsentieren, die ihre Wurzeln im spanischen Nationalcharakter habe. Die spanische Adaption wiederum sucht nicht nur die Ursachen der Dekadenz in äußeren historischen Umständen, sondern formuliert parallel dazu auch eine Traditionslinie iberischer Stärke („llevaron sus armas victorias, habían llegado al mas alto grado del poder, hacian cada día grandes conquistas“),Footnote 34 vor deren Hintergrund die aktuellen Probleme als prinzipiell behebbar erscheinen.

Spanische Enzyklopädie-Übersetzungen entfalten hier unter sowohl utilitaristischen als auch ideologischen Gesichtspunkten ihre Wirkmächtigkeit: denn zum einen wurde mit der Bereitstellung umfänglichen, systematisierten und aktuellen Wissens ein Ausgang aus dem Zustand gegenwärtiger Dekadenz eröffnet; Enzyklopädien fungierten als praktische Instrumente der anvisierten Regeneration des Landes. Explizit weist der Autor und Übersetzer des Wörterbuchs zu Gramática y literatura, Luis Minguez de San Fernando, im Vorwort seines Werks auf diesen Umstand hin:

Es ist unumstößlich, dass das Land stets ein Werk dieser Gestalt gebraucht hat. Aber ich glaube, dass es niemals vorteilhafter gewesen ist als in diesen Zeiten, in denen, so scheint es, sich das spanische Genie von Neuem entfaltet und sich allgemein jenes rege Interesse und Gefallen an der Literatur zeigen, die unsere Vorfahren im glücklichen 15. und 16. Jahrhundert in höchstem Maße besaßen (Übers. S.G.).Footnote 35

Zum anderen legten die spanischen Enzyklopädisten ihrem Land mit der nicht bloß schlichten Übersetzung, sondern korrigierenden und ergänzenden Adaptation der Wissensbestände das Heft des Handelns in die eigenen Hände – demonstrierten also jene Befähigung zur Stärke, von der im Spanien-Artikel der Geografía moderna und auch im Vorwort von Minguez de San Fernando die Rede ist, im Kontext der Enzyklopädie-Produktion selbst. Enzyklopädien stellten in dieser Hinsicht auch ideologische Instrumente der Selbstbehauptung Spaniens dar.

Bereits Navia Ossorio hatte im Übrigen sowohl die Kompilation übersetzter Wissensbestände als auch ihre Ergänzung und kritische Kommentierung als Praktiken charakterisiert, die Autor und Land gleichermaßen Gewinn und Meriten versprächen:

Viele werden abgeneigt sein, sich auf eine Arbeit zu beschränken, die rein materiell erscheint; aber sie werden damit weniger Liebe zum Vaterland als persönliche Eitelkeit demonstrieren. Und wenn jemand sein Wissen zeigen möchte, so nimmt ihm niemand das Recht, den Artikeln des Buchstabens [mit dessen Bearbeitung er betraut wurde, S.G.], Material hinzuzufügen und das, was er geschrieben findet, zu kritisieren und Ergänzung oder Kritik mit Sternchen am Seitenrand auszuweisen […] (Übers. S.G.).Footnote 36

Im Diskurs um die Regeneration Spaniens kommt der Erinnerung an die Größe des Landes im Siglo de Oro eine zentrale Rolle zu. Angesichts dessen nimmt es nicht Wunder, dass die Wörterbücher der Metódica Wissensbestände aus spanischen Werken dieser Zeit integrieren (vgl. insbesondere die Ergänzungen zur Literatur des Siglo de Oro in Gramática, arte y literatura) – nicht jedoch ohne die Relevanz dieser Werke für die zeitgenössische Wissenschaft hervorzuheben. So verweist der Übersetzer des Wörterbuchs zur Naturgeschichte der Tiere an verschiedener Stelle auf bedeutende Naturhistorien des Goldenen Zeitalters, wie Acosta und Hernández de Toledo, die Buffon – auf dessen Werk wiederum der Band der französischen Méthodique im Wesentlichen beruht – als Quellen gedient hätten. Die gegenwartsbezogene Perspektive der Wörterbücher wird zudem über die Referenz auf zeitgenössische wissenschaftliche Werke spanischer Autoren hergestellt und damit – im Widerspruch zu Morvilliers Urteil über Spanien – der Beitrag zu den Wissensbeständen und zum wissenschaftlichen Diskurs der République des lettres deutlich gemacht. Mit Stolz berichtet der Übersetzer des Wörterbuchs Arte militar, Luis Castañon, dass bereits der französische Ausgangstext wesentlich auf den spanischen Reflexiones militares basiere und konstatiert:

Es besteht kein Zweifel daran, dass die Franzosen sich nicht der Reflexiones militares bedient hätten, wenn sie ein eigenes, derart vollständiges Werk besäßen, und es ist unzweifelhaft, dass all diejenigen, die eine ruhmreiche militärische Laufbahn anstreben, sich ihrem Studium widmen müssen (Übers. S.G.).Footnote 37

Tatsächlich lag das Werk Navia Ossorios seit den 1730er Jahren in einer französischen Übersetzung vor.Footnote 38 Auch das Wörterbuch zur Geographie wird zum Ort einer selbstbewussten Partizipation am Wissensdiskurs der Zeit, indem zahllose Artikel entweder vom spanischen Übersetzer selbst redigiert oder aus dem Diccionario geográfico de las Indias occidentales von Alcedo (1786–89) aufgenommen und mit dem Kürzel „A.“ markiert werden. Selbst für das Wörterbuch zur Naturgeschichte der Tiere lässt sich eine Stärkung hispanischer Wissensbestände konstatieren. Es sind Exzerpte aus der 1780 publizierten Storia antica del Messico von Clavijero (1780) (z. B. „Alco, „Amitzli, „Armadillo, „Coyote, etc.), des Compendio della storia geográfica, naturale, e civile del regno del Cile von Molina (z. B. „Puma“, „Vicuña“, „Chinchilla (Suppl.)“, etc.),Footnote 39 der unveröffentlichten Historia del río Grande Antonio Juliáns (o. J.) (z. B. „Buey“, „Caballo Agulilla“), des Orinoco ilustrado y defendido von Gumilla (21745) („Cusicusi“) und der Noticias americanas von Ulloa (1772) („Llama) sowie fachsprachliche Einträge zur Jagd aus dem Diccionario de la lengua castellana (21783) der Real Academia Española und aus Mateos‘ Origen y dignidad de la caza (1634), die den Text ergänzen.Footnote 40 Das Wörterbuch zu Fábricas, artes y oficios wiederum integriert u. a. Ponz‘ Viage de España (1772–1794) („Ganado Lanar“) sowie Larrugas Memorias políticas y económicas (1787–1800) („Alfombra“, „Algodón“, „Cinta“, „Gasas“, „Lana“) – und damit zwei ambitionierte Werke, in deren Zentrum die soziale Realität des modernen Spaniens stand. Larruga hatte nicht weniger betrieben als eine umfassende Erhebung handelsrelevanter Daten der spanischen Provinzen und das Ziel verfolgt, auf dieser Grundlage die wirtschaftliche Regeneration des Landes voranzutreiben.Footnote 41

Bei aller ‚nationalen‘ Perspektive, die hier zu erkennen ist, sind die spanischen Übersetzer/Autoren der Metódica zugleich nicht blind für Werke europäischer (Nachbar-)Länder, die sie hinsichtlich der Aktualisierung und Ergänzung des Ausgangstextes für sinnvoll erachten. Zwar nehmen auch im Wörterbuch Gramática, arte y literatura spanische Quellen – z. B. Mayans y Siscars Orígenes de la lengua española (1737): „Abundancia“, „Apologo“, „Acción oratoria“, „Aviso“ – eine wichtige Rolle ein, relevanter noch ist jedoch das Dictionnaire pour l’intelligence des auteurs classiques, grecs et latins von François Sabbathier (1766–1771). Rund 60 neue Einträge (z. B. „Accio (Lucio)“, „Amphitryon“, „Andronico (Livio)“, „Aristophanes“, etc.) gehen auf dieses französische Fachwörterbuch zurück, das im Kontext der Méthodique-Adaption folglich partiell mitübersetzt wurde.

3 Fazit

Das Untersuchungsbeispiel macht verschiedene Aspekte deutlich. Über die generelle Relevanz von Übersetzungen für die Verbreitung der Gattung des enzyklopädischen Wörterbuchs hinaus zeigt sich eine enge, zugleich transkulturelle und transgenerische Verflechtung von Wissen, die die Kategorien von ‚Original‘ und ‚Adaption‘ relativiert: auch französischen Enzyklopädien sind solche, im doppelten Sinne übersetzten Wissensbestände (Acosta, Hernández, Santa Cruz de Marcenado,…) inhärent. Indem spanische Enzyklopädisten diese Tatsache offen legen und zugleich andere, unbeachtete hispanische Werke und deren Inhalte (Larrugas, Ponz, Alcedo, Clavijero,…) ins Zentrum der Enzyklopädie übertragen, machen sie Wörterbuch-Übersetzungen zum Ort einer Selbstbehauptung, die sowohl nach innen (Besinnung auf intellektuelles Erbe und eigenes Potential) als auch nach außen (Demonstration dieses Potentials durch Mitwirkung an der Lexikalisierung von Wissen) gerichtet ist. In gegenwärtiger Perspektive und mit Blick auf die Orte der Aufklärung ist der Befund geeignet, die Kategorien von ‚Zentrum‘ und ‚Peripherie‘ zumindest zu relativieren.

Hinsichtlich des aus den Prozessen des Übersetzens, Kommentierens und Ergänzens von Wissensbeständen hervorgehenden Textes, d. h. die (jeweilige) Enzyklopädie als solche, zeigen sich wiederum – in einer durchaus paradoxalen Gegenbewegung zum Konzept der République des Lettres – Effekte der Nationalisierung der Gattung, die je nach Erscheinungsort auf die spezifischen Kontexte und den kulturellen Hintergrund der Leser*innen zugeschnitten wurde.