Keywords

Konzepte, Methoden und Praktiken des Übersetzens sind für die Frühe Neuzeit von epochaler Bedeutung.Footnote 1 Betrachtet man die europäischen Übersetzungskulturen, wurzeln diese stark im philologischen Selbstverständnis der Humanisten.Footnote 2 Ihre Erschließung, Relektüre und Konstruktion eines altsprachlichen Kanons ist über die Rückkopplung an das humanistische imitatio-Denken von Anfang an mit Übersetzungsverfahren verbunden. Die Rezeption antiker Themen ist gleichwohl nur eine Facette, die im 16. Jahrhundert zentral erscheint, durch die Internationalisierung des Übersetzens im 17. Jahrhundert allerdings zunehmend hinter Übersetzungstätigkeiten auf anderen Feldern zurücktritt. Mediengeschichtlich ist im Untersuchungsrahmen der Buchdruck als dynamisierende Voraussetzung wichtig, der selbst eine große Übersetzungsbewegung auslöst, indem Wissensbestände der Handschriftenkultur in das neue Medium des Drucks überführt werden. Sprachliche und mediale Übersetzungsbewegung bedingen und verstärken sich gegenseitig und entfalten in ihrer permanenten Wechselseitigkeit eine hohe kulturelle Dynamik. In der Folge wachsender Handelsbeziehungen kommt es zu einer europaweiten Intensivierung und Professionalisierung des Übersetzens sowie auch des Fremdsprachenunterrichts über Sprachlehrbücher.Footnote 3 Diese wird gerade durch die potenzierte Mehrsprachigkeit und Territorialität im europäischen Raum beflügelt, strahlt über die kolonialen Wechselströme der Frühen Neuzeit weltweit aus und tritt dort in Interaktion zu eigenständigen Übersetzungskulturen, was zu globalen Rückkopplungen innerhalb Europas führt. Übersetzen ist eine zentrale und ubiquitäre Kulturtechnik der Frühen Neuzeit, die in dem praxeologischen Ansatz des SPP 2130 ‚Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit‘ interdisziplinär erschlossen wird.

1.1 Frühneuzeitliche Übersetzungsforschung

Die seit etwa 1450 im deutschen Sprachraum exponentiell ansteigenden Übersetzungen antiker und humanistischer Autoren werden schon lange hinsichtlich ihrer sprachlichen, literarischen, epistemischen, kulturellen, bildungs-, sozial- und mentalitätsgeschichtlichen Charakteristika untersucht. Zahlreiche Einzelstudien zu bestimmten Werken, Autoren, Übersetzern und Regionen entstanden, ohne dass die frühneuzeitliche Übersetzungsliteratur jedoch bislang hinreichend erschlossen ist. Lange wurde die Leistung von Übersetzerinnen und Übersetzern – nicht nur in Bezug auf die Frühe Neuzeit – zu wenig geschätzt oder gar abgewertet; sie galten im Vergleich zu den Autorinnen und Autoren der ‚Originalwerke‘ als nachrangig, sollten im Idealfall unsichtbar bleiben und wurden für eigenständige Akzentuierungen kritisiert, statt ihre Kreativität, Produktivität und Vermittlungsfunktion zu würdigen. Zeit-, sprach- und raumübergreifende Untersuchungen der frühneuzeitlichen Übersetzungskulturen fehlen noch immer gänzlich. Gerade im internationalen VergleichFootnote 4 wird deutlich, dass in der deutschen Wissenschaft dringender Forschungsbedarf besteht.

Den Reichtum an frühneuzeitlichen Übersetzungen bezeugen die einschlägigen Kataloge und Datenbanken wie beispielsweise der British Library General Catalogue oder das Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des XVI. und des XVII. Jahrhunderts.Footnote 5 Franz Josef Worstbrock verzeichnet allein im themenspezifischen Repertorium Deutsche Antikerezeption für den Zeitraum von 1450 bis 1550 im deutschen Sprachraum 63 verschiedene Übersetzer, 55 übersetzte Autoren und 116 Werke in 433 Überlieferungsträgern.Footnote 6 Einen anderen zeitlichen und inhaltlichen Zuschnitt wählt das Marburger Repertorium Übersetzungsliteratur im deutschen Frühhumanismus, das von 2007 bis 2012 von der DFG gefördert wurde; erfasst werden alle deutschsprachigen Übersetzungen, die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts angefertigt worden sind. Insgesamt handelt es sich um 144 Werke, die in 122 Handschriften und 145 Inkunabeln (mit ca. 2500 Exemplaren) überliefert sind; zusätzlich wurden 273 Drucke des 16. Jahrhunderts verzeichnet.Footnote 7 Umfassend dokumentiert sind die Übersetzungen und Kommentare antiker Werke in dem von Paul Oskar Kristeller begründeten Catalogus translationum et commentariorum, der mittlerweile in zehn Bänden vorliegt.Footnote 8 Für England, Schottland und Irland sind vor 1641 in dem Online-Katalog Renaissance Cultural Crossroads, der am Centre for the Study of the Renaissance der University of Warwick unter der Leitung von Brenda Hosington erarbeitet wurde, über 6000 gedruckte Übersetzungen verzeichnet.Footnote 9

In jüngster Zeit haben die Übersetzungen der Frühen Neuzeit in den Sprach- und Literaturwissenschaften vermehrt Aufmerksamkeit auf sich gezogen. So untersuchte das von Regina Toepfer und Johannes Klaus Kipf organisierte wissenschaftliche Netzwerk „Humanistische Antikenübersetzung und frühneuzeitliche Poetik in Deutschland (1480–1620)“, welche Impulse von den Übersetzungen der Autoren des klassischen Altertums auf die Entwicklung der deutschen Literatur und Literatursprache der Frühen Neuzeit ausgegangen sind.Footnote 10 Die Virulenz frühneuzeitlicher Übersetzungskulturen als emerging field der Kulturwissenschaften dokumentiert sich auch in weiteren Projekten, die aktuell bearbeitet werden oder gerade abgeschlossen sind und aus denen verschiedene Publikationen hervorgingen. Zu erwähnen sind etwa das von Bernd Bastert und Manfred Eikelmann geleitete Bochumer DFG-Projekt „Klassiker im Kontext“, das spätmittelalterliche und frühneuzeitliche Klassikerverdeutschungen in medialen Übertragungsprozessen bis um 1600 untersucht,Footnote 11 das am Berliner Zentrum für Literatur- und Kulturforschung angesiedelte Projekt „Übersetzungen im Wissenstransfer“, das sich verstärkt europäischen Fragestellungen öffnet,Footnote 12 oder das von Brigitte Burrichter und Joachim Hamm geleitete Würzburger Kallimachos-Projekt „Narragonien digital“, das die Textualität, Medialität und Übersetzungsgeschichte des Narrenschiffs in einer digitalen Edition abbildet. Seraina Plotke widmete sich in einem SNF-Projekt Sebastian Brant im Schnittfeld frühneuzeitlicher Textkulturen und in zwei jüngst bewilligten DFG-Projekten wird die frühneuzeitliche Übersetzungsliteratur in ihrer reichen Materialität weiter erschlossen: dem „Online-Repertorium Deutsche Antikenübersetzung 1501–1620“ von Johannes Klaus Kipf und Bernd Bastert sowie der „Heidelberger Übersetzungsbibliographie nichtfiktionaler Texte (HÜB)“ im Zeitraum von 1450 bis 1850 von Vahram Atayan.Footnote 13

Auch in den Geschichts-, Musik- und Bildwissenschaften finden frühneuzeitliche Übersetzungen zunehmend Aufmerksamkeit, wie die Publikationen von Peter Burke, Peter Burschel, Renate Dürr, Antje Flüchter und Mark Häberlein belegen, die eine breite thematische Spannweite von Formen kultureller Zugehörigkeit und Praktiken interkultureller symbolischer Kommunikation insbesondere bei ‚west-östlichen‘ Kulturkontakten über Translationspraktiken im Kontext der jesuitischen Mission bis hin zur Mehrsprachigkeit des Adels und im Militär in der Frühen Neuzeit abdecken.Footnote 14 Zu erwähnen sind auch das Themenheft der Zeitschrift Saeculum mit dem Schwerpunkt „Kulturelle Übersetzung“ (2017), die Beiträge zur Ovid-Rezeption in den Frühmittelalterlichen Studien (2019) und die Studie von Catarina Zimmermann-Homeyer zu Frühdrucken lateinischer Klassiker (2018), in der die innovativen Illustrationskonzepte der Straßburger Offizin Johann Grüningers erstmals aus kunsthistorischer Perspektive erforscht werden.Footnote 15 Kürzlich erschienen sind der von Achim Aurnhammer und Susanne Rode-Breymann verantwortete Sammelband zur Entwicklung des deutschen Liedes im literatur- und musikgeschichtlichen Kontext der Renaissance (2018) und der von Christina Strunck und Carolin Scheidel herausgegebene Band Palladio, Vignola & Co. in Translation (2020), in dem textgebundene, bildgebundene und intermediale Übersetzungsprozesse an europäischen Kunsttraktaten des 16. bis 18. Jahrhunderts untersucht werden.Footnote 16 Die vielfältigen Forschungsaktivitäten, zu denen auch die Sammelbände zur Heliodor-Rezeption, zur Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit und zu Übersetzern als Entdecker gehören, untermauern den Ansatz des SPP 2130, die Epoche mittels ihrer Übersetzungskulturen zu beschreiben.Footnote 17

Die Sichtweise älterer Forschungspositionen, die eine Fokussierung auf den alteuropäischen Raum priorisieren oder ein europäisches Übersetzungsprivileg postulieren,Footnote 18 erscheint angesichts der Erkenntnisse der Postcolonial Translation School bzw. transferorientierten Übersetzungsanalyse in den KulturwissenschaftenFootnote 19 jedoch auch für die Frühe Neuzeit nicht mehr vertretbar. So hat die Forschung für das 16. Jahrhundert etwa am Beispiel von Fernão Mendes Pintos gezeigt, wie die Übersetzungstendenzen in dessen China-Reiseberichten das Primat seiner portugiesischen Ausgangskultur relativieren.Footnote 20 Alternativ zu einer Begrenzung der räumlichen Anlage auf eine exklusiv gesehene Übersetzungskultur oder gar ein Übersetzungsmonopol Europas sind das SPP 2130 ‚Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit‘ und der aus ihm erwachsene Sammelband daher ohne kontinentale oder territoriale Begrenzung angelegt.

1.2 Konzepte des Übersetzens

Alternativ zu und im Zusammenspiel mit eingeführten ideen-, ereignis- oder sozialgeschichtlichen Konzepten der Frühneuzeitforschung, verfolgt das SPP 2130 einen Zugang, der mit dem Übersetzen auf eine Kulturpraxis fokussiert ist. Die Frühe Neuzeit wird als eine Epoche verstanden, die sich maßgeblich durch ihre Übersetzungstätigkeit konstituiert. Die differenten Kulturen des Übersetzens werden dezidiert unter den Aspekten der Internationalisierung und Globalisierung beleuchtet, gehen also sowohl über das zentrale Forschungsfeld der Antikenübersetzungen als auch die innereuropäischen Transferprozesse hinaus, die Wissenschaft, Politik und Handel zunehmend prägen. Auf diese Weise ist das europäische Epochenkonzept der Frühen Neuzeit bewusst mit anderen Übersetzungskulturen weltweit zu konfrontieren, um daraus heuristische Impulse für die Epochenreflexion in Wissenschafts-, Kultur- und Literaturgeschichtsschreibung zu gewinnen. Die inner- und transeuropäischen sowie globalen Translationsbewegungen sind vom 15. bis zum 18. Jahrhundert hochdynamisch, wobei in vielen Bereichen noch grundlegende Forschungsarbeit zu leisten ist. Wie die Perspektiven der Forschung auf die frühneuzeitlichen Übersetzungskulturen sind auch die Vorstellungen, Theorien und Methoden der historischen Akteure plural, heterogen und komplex.

1.2.1 Vormoderne Übersetzungsdiskurse

Bereits in der Antike wurde über die angemessene Form des Übersetzens diskutiert und dabei die Opposition von sinngemäßem und wörtlichem Übersetzen akzentuiert, die den Übersetzungsdiskurs bis in die Gegenwart prägt und auch in der Frühen Neuzeit präsent ist. Cicero betonte in De optimo genere oratorum, die Werke Platons, Xenophons, Aeschines’ und Demosthenes’ nicht als Dolmetscher, sondern als Redner aus dem Griechischen ins Lateinische übertragen und die ausgangssprachlichen Wendungen den zielsprachlichen Konventionen angepasst zu haben. Oberstes Prinzip für eine Übersetzung müsse sein, die Worte nicht abzuzählen, sondern abzuwägen.Footnote 21 Dieser Auffassung schloss sich Hieronymus an, der nicht ein Wort durch das andere, sondern einen Sinn durch den anderen ausdrücken wollte, ausgenommen die Übersetzung der Heiligen Schrift, bei der auch die Wortfolge ein Mysterium sei. Wie schwierig diese Maxime in der Praxis umzusetzen ist, legte Hieronymus in seinem übersetzungstheoretischen Brief an Pammachius offen.Footnote 22 Oft finde er in der lateinischen Sprache kein Äquivalent für ein griechisches Wort, auch forderten die unterschiedlichen Grammatiken, die verschiedenen Redefiguren und überhaupt die Eigentümlichkeiten beider Sprachen ausführliche Umschreibungen, die man ihm zu Unrecht als Verletzung seiner Treuepflicht gegenüber dem Original vorgeworfen habe.

Die frühneuzeitlichen Übersetzer knüpften an die theoretischen Diskussionen der antiken Autoren an und plädierten in der Mehrzahl für eine sinngemäße Übertragung. Unter den deutschen Frühhumanisten vertrat nur der Esslinger Stadtschreiber Niklas von Wyle eine Sonderposition, indem er „vf das genewest dem latin nâch“ folgen wollte.Footnote 23 Mit Martin Luther verlor das Wort-für-Wort-Prinzip auch für die Heilige Schrift an Bedeutung, das alle volkssprachigen Bibelübersetzungen seit der Spätantike geprägt hatte.Footnote 24 Die wachsende Zahl an Übersetzungen seit der Mitte des 15. Jahrhunderts führte zu einer intensiven theoretischen Reflexion, die jedoch meist auf die Paratexte beschränkt blieb. Widmungsbriefe und Vorreden wurden zum bevorzugten Ort sprachlich-literarischer Auseinandersetzung, wo sich Übersetzende über ihre Motivation, die translatorischen Schwierigkeiten, die Funktion wie die intendierte Interpretation ihrer Texte äußerten.Footnote 25 Einzelne Autoren verfassten auch übersetzungstheoretische Schriften, wie Leonardo Bruni in De interpretatione recta vehement die Qualität mittelalterlicher Übersetzungen kritisierteFootnote 26 und Martin Luther in seinem Sendbrief vom Dolmetschen das gesprochene Deutsch statt dem geschriebenen Latein zum Leitprinzip einer guten Übersetzung erklärte.Footnote 27 Auch wenn die Humanisten in der Übersetzungsgeschichte keinen so radikalen Wandel einleiteten, wie ihre Selbstaussagen dies suggeriertenFootnote 28 und in der Forschung teils angenommen wurde, so zeugen ihre zahlreichen translatorischen Reflexionen doch von einem gesteigerten Problembewusstsein.Footnote 29 Der Streit um Luthers Bibelübersetzung und die außereuropäische Missionstätigkeit der Jesuiten trugen dazu bei, die übersetzungstheoretischen und sprachreflexiven Überlegungen weiter zu schärfen.Footnote 30 Übersetzen bildete ein kulturelles Leitprinzip, über dessen Kriterien man sich immer wieder verständigen musste.

1.2.2 Paradigmenwechsel im Übersetzungsverständnis

Die Dichotomie ‚wörtlich versus sinngemäß‘ genügte schon den Zeitgenossen kaum und bedarf weiterer Spezifizierungen, um die Textprodukte der frühneuzeitlichen Übersetzungskulturen angemessen beschreiben zu können.Footnote 31 Auch das Verhältnis von frühneuzeitlicher und mittelalterlicher Übersetzungspraxis ist einer genauen Revision zu unterziehen. So hat die Forschung als grundsätzliche Differenz zwischen den Verfahrensweisen der mittelalterlichen und humanistischen Übersetzer benannt, dass die mittelalterlichen Autoren sich nur dem Stoff, der materia, verpflichtet gefühlt und die Form dagegen frei gestaltet hätten. Erst die humanistischen Autoren räumten der treuen Wiedergabe des Originals nach dieser Auffassung oberste Priorität ein und achteten auch gezielt auf formale Aspekte. Das Modell, das der germanistische Mediävist Franz Josef Worstbrock vor über zwanzig Jahren entwickelt und mit den Worten ‚Wiedererzählen und Übersetzen‘ beschrieben hat,Footnote 32 ist zwar heuristisch hilfreich, reduziert die vielfältigen mittelalterlichen Übersetzungstypen allerdings auf eine mögliche Variante. Die der Texterschließung dienenden Interlinearversionen und die dem Ausgangstext eng folgenden BibelübersetzungenFootnote 33 bleiben unberücksichtigt, wohingegen die in den romanhaften Gattungen vorherrschende Form des ‚Wiedererzählens‘ zur translatorischen Norm erklärt wird. Zugleich wird ein humanistisches Ideal konstruiert, dem viele volkssprachige, aber auch gelehrte Übersetzungen des 15. und 16. Jahrhunderts nicht oder nur bedingt entsprechen.Footnote 34 Weil die frühneuzeitlichen Übersetzer Eingriffe in ihre Prätexte vornehmen, diese aktualisieren und dramatisieren, kürzen und erweitern, lässt sich ihr vom modernen Übersetzungsverständnis abweichendes Verfahren als „erzählendes Übersetzen“Footnote 35 oder „interpretierendes und vermittelndes Übersetzen“Footnote 36 charakterisieren, dessen kulturelle Bedeutung durch systematische Forschung zu bestimmen ist. Wie in der deutschen zeichnet sich auch in der internationalen Frühneuzeitforschung ein Paradigmenwechsel ab, der von (ab-)wertenden Urteilen über die fehlende stilistische Äquivalenz zur Anerkennung der produktiven Leistung englischer und französischer Übersetzer führte.Footnote 37

1.2.3 Impulse der Translationswissenschaften

Das komplexe Verhältnis zwischen ausgangs- und zielsprachigem Text ist Untersuchungsgegenstand der Translationswissenschaften, die sich in verschiedene Forschungsrichtungen aufgliedern. Während linguistische Translationswissenschaftler*innen Texte prinzipiell und ohne Einschränkung des Informationsgehalts für übersetzbar halten, stehen Anhänger des relativistischen Ansatzes einem solchen Verfahren skeptisch gegenüber. Gemäß der Tradition Wilhelm von Humboldts betrachten sie das Denken als Ausdruck kultureller und nationaler Identität und bezweifeln, dass Vorstellungen in einer anderen Sprache analog zum Ausdruck gebracht werden können,Footnote 38 wohingegen jene Übersetzen als eine „Folge von code-switching-Operationen“Footnote 39 ansehen. Übersetzende fungieren dabei lediglich als Sprachmittler für interlinguale Äquivalenzen, indem sie als eine Art Relaisstation einfach transkodieren. Exemplarisch dafür kann die Erklärung des Leipziger Übersetzungswissenschaftlers Otto Kade aus dem Jahr 1971 gelten: „Alle Texte einer Sprache Lx (Quellensprache) können unter Wahrung des rationalen Informationsgehalts im Zuge der Translation durch Texte der Sprache Ln (Zielsprache) substituiert werden, ohne daß prinzipiell der Erfolg der Kommunikation beeinträchtigt oder gar in Frage gestellt wird.“Footnote 40

Auch die universalistischen Übersetzungstheoretiker*innen, die den Zeichencharakter von Sprache betonen und sich auf ein tertium comparationis beziehen, gehen von einer prinzipiellen Übersetzbarkeit von Texten aus.Footnote 41 Beide Auffassungen lassen sich mit den frühneuzeitlichen Übersetzungskulturen kaum in Einklang bringen, die von variierenden Transformationen und eigenständigen Akzentuierungen zeugen. Zwar wurde der Äquivalenzbegriff längst auch schon in der linguistischen Translationswissenschaft stärker ausdifferenziert, etwa indem Werner Koller zwischen denotativer, konnotativer, textnormativer, pragmatischer und formal-ästhetischer Äquivalenz unterscheidet, deren Anforderungen Übersetzende nie in gleicher Weise gerecht werden können.Footnote 42 Doch knüpft das SPP 2130 vornehmlich an jene translationswissenschaftlichen Modelle an, die den hermeneutischen, pragmatischen und funktionalen Charakter der Übersetzungstätigkeit hervorheben. Vorlage und Übersetzung stehen in einem produktiven Spannungsverhältnis von Identität und Differenz, das in jedem Einzelfall genau zu bestimmen ist und auch innerhalb eines Textes variieren kann. Radegundis Stolzes Vorschlag, eine Übersetzung als „das Nicht-Andere“ zu deuten, da sie weder das Gleiche noch etwas ganz anderes als der Ausgangstext sei,Footnote 43 überwindet die traditionelle übersetzungstheoretische Opposition ‚wörtlich vs. sinngemäß‘ und eröffnet neue Deutungsperspektiven.

Dabei lässt sich Übersetzen zunächst als hermeneutischer Prozess beschreiben. Als Empfangende der ausgangssprachlichen und Sendende der zielsprachlichen Botschaft können Übersetzende nur jene Informationen weitergeben, die sie selbst verstanden haben und als relevant erachten. Übersetzen ist ein subjektiver „Sinngebungsprozeß“, der grundsätzlich graduell fortschreitet.Footnote 44 Mit Hans-Georg Gadamer lässt sich Übersetzen als Dialog zwischen Text und Rezipient verstehen, in dessen Verlauf es zu einer allmählichen Annäherung und schließlich zu einer „Horizontverschmelzung“ kommt.Footnote 45 Aus Sicht der Translationswissenschaften gelangt dieser Prozess freilich nie zum Abschluss; Übersetzen bleibt ein „tentatives Oszillieren zwischen Zugabe und Defizit“,Footnote 46 insofern dem Zieltext punktuell immer etwas verloren geht, wohingegen er an anderer Stelle hinzugewinnt. Weil sich das Textverständnis weder aus der Addition einzelner Satzteile ergibt, noch auf eine eindeutige Interpretation festgelegt werden kann, bleibt das Textprodukt ein hermeneutischer Entwurf. Die „Übersummativität des Übersetzungstextes als Ganzem“Footnote 47 führt dazu, dass das Sinnpotential auf verschiedenste Weise realisiert werden kann.

Anknüpfend an die Sprechakt-Theorie von John Lanshaw Austin und John Roger Searle vom Anfang der 1970er Jahre stellen Vertreter*innen der pragmatischen Translationswissenschaft heraus, dass Übersetzen nicht nur ein Verstehen verlangt, sondern auch sprachliches Handeln bedeutet.Footnote 48 Weil sich die Illokution nicht ohne Weiteres aus der Lokution erschließen lässt, sind Texte mehrdeutig und unterschiedlich interpretierbar. Je nach Situation haben Sprechakte verschiedene Intentionen, was in besonderem Maße für Übersetzungen gilt, da Ausgangs- und Zieltext per se in verschiedene soziokulturelle Kontexte eingebunden sind.Footnote 49 Übersetzen ist mehr als eine Transkodierung von Wörtern oder Sätzen aus einer Sprache in eine andere, sondern eine komplexe Handlung, bei der ein Ausgangssachverhalt in ein anderes kulturelles Umfeld überführt wird. Der Heidelberger Sprach- und Übersetzungswissenschaftler Hans Jürgen Vermeer erklärte diesen Zusammenhang 1994 folgendermaßen:

Handlung und Verhalten sind verknüpft mit den Usancen, Konventionen und Normen einer Kultur, in deren Gemeinschaft der betreffende Mensch als ‚enkulturierter‘ lebt […]. Ein Text ist ein Handlungsprodukt. Ein Text ist also verknüpft mit dem Gesamtverhalten seines Produzenten und dessen Kultur [...].Footnote 50

Die zielsprachige Situation determiniert, welche Funktion eine Übersetzung haben kann, und wirkt sich auch auf deren Formulierung aus, da sich Übersetzer an „kulturspezifischen Vertextungskonventionen“Footnote 51, Texttypen und Relationen zu anderen Texten orientieren. Mit Vermeer lässt sich die zweckorientierte und zielgerichtete Maxime als ‚skoposadäquat‘ bezeichnen:

Man kann nicht einfach die Ausdrucksweise einer Kultur zum Ausdruck einer anderen übernehmen. Form und Sinn bilden eine Einheit. Das Problem des Übersetzens besteht in der Balance zwischen Form und Sinn der KulturA zum Zeitpunktt1 und Form und Sinn der KulturB zum Zeitpunktt2, in dem, was ich kultur- und adressaten-, kurz: skoposadäquat übersetzen nenne […].Footnote 52

Neuere kulturwissenschaftliche Ansätze der Translationswissenschaft wie die Descriptive Translations Studies fokussieren daher auf die Wirkungen von Übersetzungen innerhalb kultureller Systeme und begreifen Übersetzende nicht nur in ihrer Rolle als Kulturvermittlende, sondern als Akteurinnen und Akteure kultureller Evolution.Footnote 53

Ein solcher situations- und funktionsbezogener Ansatz ist für das SPP 2130 wesentlich, will es doch die kulturellen Rahmenbedingungen und die kulturerzeugenden Impulse der frühneuzeitlichen Übersetzungen in den Blick nehmen. Welche ausgezeichneten Anschlussmöglichkeiten zwischen neueren übersetzungswissenschaftlichen Tendenzen und den Forschungen zu Phänomenen kultureller Übersetzung in den historischen Geisteswissenschaften bestehen, ist bisher wenig wahrgenommen worden, auch weil sich die Translationswissenschaften vor allem der Übersetzungsforschung in der neuesten Geschichte und unmittelbaren Gegenwart widmen.Footnote 54 Dass sich die Frühe Neuzeit für translationswissenschaftliche Untersuchungen eignet, hat Vermeer mit seiner zweibändigen Studie Das Übersetzen in Renaissance und Humanismus zumindest angedeutet.Footnote 55 Das SPP 2130 setzt hier an und überträgt diese Ansätze auf die Textkulturen der Frühen Neuzeit. Aus der Historisierung aktueller translationswissenschaftlicher Perspektiven und der Erforschung vormoderner Übersetzungskulturen können im Gegenzug auch neue Erkenntnisse über gegenwärtige Translationsphänomene und -probleme abgeleitet werden.

1.2.4 Übersetzungsdefinition und Epochenkonzept

Gemäß der interdisziplinären Anlage des SPP 2130 muss zwischen verschiedenen Translationsvorstellungen unterschieden werden. Während der Übersetzungsbegriff in den Sprach-, Literatur- und Translationswissenschaften meist in einem engeren Sinne verwendet wird und vorwiegend auf interlinguale Phänomene beschränkt bleibt, wird er in den Geschichts- und Kulturwissenschaften auch weiter gefasst und auf kulturelle, mediale und materielle Transferprozesse verschiedenster Art bezogen. Verweisen lässt sich hierbei vor allem auf die Projekte und Publikationen von Doris Bachmann-Medick, die den translational turn in Literatur- und Kulturwissenschaften proklamierte und Kulturwissenschaften konsequent als Übersetzungswissenschaften versteht.Footnote 56 Dem SPP 2130 liegt daher ein gestuftes Übersetzungsverständnis zugrunde, das an verschiedene Translationstheorien anknüpft und den Bogen von der interlingualen bis zur kulturellen Übersetzung spannt.

Eine Übersetzung wird definiert als Vermittlung einer sprachlichen Botschaft bzw. von sinntragenden Zeichen aus einer (Ausgangs-)Kultur A in eine (Ziel-)Kultur Z, mit dem Ziel, neue Adressat*innen zu erreichen und sich über sprachliche, räumliche, zeitliche, kulturelle und/oder mediale Grenzen hinweg zu verständigen.

Indem philologische, anthropologische und gesellschaftliche Translationskonzepte kombiniert werden, ist die Übersetzungsdefinition interdisziplinär anschlussfähig und bietet sowohl für die Sprach- und Literaturwissenschaften als auch für die Bild-, Musik- und Geschichtswissenschaften eine tragfähige Basis. Auf diese Weise kann im SPP 2130 sowohl untersucht werden, wie architektonische Besonderheiten von dem französischen an den englischen Königshof überführt werden (vgl. das kunsthistorische Projekt von Christina Strunck, bearbeitet von Lukas Maier) oder auf welche Weise deutsche Autoren auf europäisches Liedgut zurückgreifen und Melodien, Tonsätze und Texte transformieren (vgl. das neugermanistische Projekt von Astrid Dröse) als auch inwiefern ein islamischer Kartograph traditionelle geometrische Muster der Berberkultur beim Übersetzen in einen christlichen Atlas integriert (vgl. das wissenschaftshistorische Projekt von Sonja Brentjes, bearbeitet von Victor de Castro León und Alberto Tiburcio).

Auch der zeitliche Rahmen des SPP 2130 ist das Ergebnis intensiver Diskussionen, die zu einem transdisziplinären Kompromiss führten. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich von ca. 1450 bis 1800 und vermag damit, teils auftretende Differenzen bei der zeitlichen Konzeptualisierung der Frühen Neuzeit in den verschiedenen historischen, philologischen und translationswissenschaftlichen Disziplinen zu integrieren. In der beginnenden Frühen Neuzeit zeichnet sich unter dem Einfluss der humanistischen Bildungsbewegung ein Umbruch in der europäischen Literaturgeschichte ab: Die Schriften der Autoren des klassischen Altertums werden zum Teil wiederentdeckt, ediert und kommentiert; seit etwa 1450 werden im deutschen Sprachraum zahlreiche Übersetzungen angefertigt, die wesentlichen Einfluss auf die Entwicklung der volkssprachigen Literatur und Literatursprache nehmen. Erst im 17. Jahrhundert verlieren die antiken Autoren, die die Übersetzungsliteratur bis dahin maßgeblich bestimmten, an VerbindlichkeitFootnote 57 und werden zunehmend Werke der zeitgenössischen Literaturen anderer Volkssprachen übertragen.

Eine wichtige Rolle kommt dabei der Erfindung des Buchdrucks zu, der zu einem exponentiellen Anstieg der Verbreitung von Übersetzungsliteratur führt. Dabei werden die Texte aus den situativ engen Kommunikationszusammenhängen der Manuskriptkultur gelöst und können nach ökonomischen Bedingungen flexibel erworben und rezipiert werden.Footnote 58 Die europäische Buchproduktion des Zeitraums ist durch einschlägige Repertorien und Kataloge gut erschlossen. Einbezogen sind in das SPP 2130 aber auch andere Räume und Übersetzungskulturen wie beispielsweise das aufblühende Verlagswesen Japans in der Frühen Neuzeit oder die Jesuitenmission in Indien und Südamerika. Die zeitliche Begrenzung des Untersuchungszeitraums mit 1800 berücksichtigt die in verschiedenen Disziplinen etablierte Epochenzäsur, die sich u. a. an einem Paradigmenwechsel in der Übersetzungstheorie festmachen lässt.Footnote 59 Ob und gegebenenfalls inwiefern dieses historische Epochenkonzept ein spezifisch europäisches Modell ist, wird das SPP 2130 zu einem späteren Zeitpunkt auf der Grundlage interdisziplinärer Vergleichsstudien reflektieren.

1.3 Praktiken des Übersetzens

Durch den gestuften Übersetzungsbegriff ist es möglich, ganz unterschiedliche Methoden und Praktiken des Übersetzens einzubeziehen und die Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit systematisch zu erforschen. Das Spektrum der Untersuchungsgegenstände reicht im SPP 2130 von Übersetzungen antiker Klassiker, jüdischer, christlicher, buddhistischer und islamischer Grundlagentexte und enzyklopädischer Werke über kartographisches Material, Verstechniken, Liedtexte und Melodien bis hin zu Gemälden, räumlichen Arrangements und Architekturen. Inter- und intralinguale Übersetzungen werden ebenso berücksichtigt wie intermediale, interkulturelle und performative Übertragungsprozesse.

1.3.1 Grundformen interlingualen und intralingualen Übersetzens

Für die humanistische Bewegung ist im Gegenstandsbereich interlingualer ÜbersetzungFootnote 60 zunächst das Übersetzungsprivileg des Lateinischen als Gelehrtensprache (Kirche, Recht, Wissenschaft) hervorzuheben.Footnote 61 Die Übersetzungstätigkeit richtet sich hier zum einen auf die Übertragung der antiken Texte in die Muttersprachen. Zum anderen erzwingt die Gelehrtensprache Übersetzungen von den Volkssprachen in das Lateinische. Latein kann dabei auch als interkulturelle Gelenkstelle für muttersprachliche Texte fungieren, über die wie z. B. im Fall von Sebastian Brants NarrenschiffFootnote 62 von der einen in die andere Volkssprache übersetzt wird. Doch fungiert das Lateinische auch als Mittlerinstanz für andere gelehrte Sprachen; die meisten Werke des griechischen Altertums werden im Humanismus über den Umweg des Lateinischen als ‚Übersetzungen aus zweiter Hand‘Footnote 63 in die deutsche Sprache überführt. Manche Autoren fertigen auch selbst Übersetzungen eigener Werke an, um einen neuen Adressatenkreis zu erreichen und passen sie einer anderen Kommunikationssituation an.Footnote 64

Ein weiterer, in der Frühen Neuzeit anwachsender Bereich ist das intralinguale ÜbersetzenFootnote 65 zwischen den Volksprachen. In allen genannten Feldern wird dabei aus und in unterschiedliche Sprachstufen übersetzt. Neben den altsprachlichen Texten steht etwa das neulateinische Schrifttum, mittelhochdeutsche Texte werden in frühneuhochdeutsche Texte transformiert, niederdeutsche Versionen in hochdeutsche übertragen und umgekehrt. So basiert die frühneuhochdeutsche Übersetzung der ‚Metamorphosen‘ durch Jörg Wickram, die in dem altgermanistischen Projekt von Regina Toepfer, bearbeitet von Jennifer Hagedorn, untersucht wird, auf einer mittelhochdeutschen Version Albrechts von Halberstadt aus der Zeit um 1200.Footnote 66 Der Bedarf an pragmatischer Schriftlichkeit führt zudem zur Ausbildung neuer Textsorten, wie etwa volkssprachigen Rechenbüchern, die von der Bedeutung des Übersetzens für den Handel zeugen.

Auch außerhalb Europas ist eine rege Übersetzungstätigkeit zu beobachten, so werden im Nahen Osten Übertragungen aus dem Arabischen, Persischen oder Osmanischen angefertigt. In der ganzen Großregion des sinitischen Kulturraums dominiert das klassische Chinesisch bestimmte Genres der Textproduktion und werden verschiedene Techniken der Vermittlung in die regionalen Schriftsprachen oder Alltagssprachen entwickelt. Übersetzungen zwischen den ostasiatischen Sprachen wie aus den europäischen Sprachen orientieren sich stark an jenen Konventionen, die im Umgang mit der klassischen Hochsprache eingeübt worden sind. Mit der ‚Entdeckung‘ und der ‚Neuen Welt‘ erhält das Übersetzen bereits in der Frühen Neuzeit eine globale Dimension, die nicht nur für ökonomische Kontakte relevant ist, sondern auch die jesuitische Missionsarbeit entscheidend prägt.Footnote 67 Aber auch für die innereuropäische Missionierung werden Übersetzungen angefertigt, wie das von Rebekka Voß geleitete Projekt zu jüdisch-christlichen Kulturkontakten belegt, in dem transkulturelle jiddische Übersetzungen im Kontext der pietistischen Judenmission im Deutschland des 18. Jahrhunderts erforscht werden (vgl. den Beitrag von Avraham Siluk in diesem Band).

1.3.2 Spracharbeit und Literaturtransfer

Die umfangreiche Übersetzungstätigkeit im frühneuzeitlichen Europa belegt, dass die sprachliche Erschließung und Vermittlung antiker Literatur ein zentrales Arbeitsfeld der Gelehrten darstellte. Zwar wollten die Archegeten des Humanismus zunächst nur die lateinische Sprache reformieren, übertrugen diese Prinzipien aber bald auch auf das Griechische und die Volkssprachen.Footnote 68

Übersetzende stehen vor dem Problem, dass sie ausgangssprachliche Begriffe und Wendungen übertragen müssen, für die in der Zielsprache keine Äquivalente zur Verfügung stehen. Dieses schon in der Antike beklagte Phänomen führt dazu, dass die Übersetzungsliteratur als Katalysator sprach- und literaturgeschichtlicher Veränderungen fungiert.Footnote 69 Von den frühneuzeitlichen Übersetzungen gehen wichtige Impulse für die Ausbildung der Nationalsprachen und Nationalliteraturen aus.Footnote 70 Übersetzende müssen das Verhältnis von Ausgangs- und Zielsprache genau austarieren, fremde Begriffe entlehnen, neue Wendungen formen und Textsorten ausdifferenzieren. Die mathematische Fachsprache etwa bildet sich im Übersetzungsprozess lateinischer und italienischer Rechenbücher aus.

Manche Autoren des 16. Jahrhunderts erheben dabei einen dezidiert kulturformenden und sprachschöpferischen Anspruch, indem sie erklären, die Volkssprache durch ihre Übersetzungen bereichern oder die Prätexte gar verbessern zu wollen.Footnote 71 Sie entwickeln Gattungstraditionen weiter und loten poetische Spielräume aus. Übersetzen ist, so zeigen es nicht zuletzt die Bemühungen von Martin Opitz um eine deutsche Poetik,Footnote 72 Arbeit am Sprachmaterial. Zwar äußern sich andere Autoren skeptisch über die Ausdrucksmöglichkeiten in der Volkssprache, doch tragen ihre Übersetzungen langfristig ebenfalls dazu bei, das Primat des Lateinischen als Literatur- und Wissenschaftssprache zu überwinden. An solchen Diskursen setzt das SPP 2130 an, um Übersetzen nicht nur als kulturvermittelnde, sondern als kulturstiftende Praxis zu fokussieren. So wird in dem von Jörg Wesche beantragten neugermanistischen Projekt von Julia Amslinger untersucht, wie europäische Verstechniken in der deutschen Poetik und Gelegenheitspoesie des 17. und 18. Jahrhunderts rezipiert und adaptiert werden. Das romanistisch-translationswissenschaftliche Projekt von Andreas Gipper, bearbeitet von Caroline Mannweiler und Diego Stefanelli, wiederum zeichnet im selben Zeitraum nach, wie Wissenschaftsübersetzungen in Frankreich zur Ausbildung nationaler Wissenschaftskulturen führen.

Durch die Ausdifferenzierung der Übersetzungskulturen und die Möglichkeiten des Buchdrucks kommt in der Frühen Neuzeit eine verstärkte Internationalisierung der Übersetzungsströme und Zirkulation der Texte in Gang, die als zunehmender Literaturtransfer beschrieben wird.Footnote 73 Zugrunde liegt hierbei zunächst das erweiterte Literaturverständnis der Frühen Neuzeit, das im Sinn des ‚Geschriebenen‘ sowohl gebrauchsliterarische als auch poetische Textsorten einschließt. Transfer bedeutet in diesem Zusammenhang eine Übertragungsleistung, die – wie man etwa für den deutsch-niederländischen Literaturtransfer gezeigt hat – stets auch wechselseitig erfolgen kann und daher nicht als kulturelle Einbahnstraße, sondern dynamisch (z. B. als Rückkopplung) zu denken ist.Footnote 74 Kultureller Frame-Wechsel und Rekontextualisierung führen zu einer Sinnpotenzierung und -depotenzierung der Ausgangstexte, die in der Zielkultur durch den sprachlichen und medialen Transfer mit neuen Bedeutungen aufgeladen werden. So lässt sich in dem linguistisch-romanistischen SPP-Projekt zu kolonialen Translationsstrategien an der Peripherie Neu-Spaniens beobachten, dass das christlich-theologische Konzept der Dreieinigkeit beim Übersetzen ins Zapotekische mit polytheistischen indigenen Vorstellungen enggeführt wird, die die christlichen Missionare zeitgleich zu überwinden suchten (vgl. den Beitrag von Martina Schrader-Kniffki, Yannic Klamp und Malte Kneifel). Insofern bedingt Literaturtransfer nicht nur eine Kultur- und Wissensübertragung, sondern stets auch eine Kultur- und Wissenstransformation. Literaturtransfer bedeutet dabei jegliche Form des Austauschs von Texten als Übertragung von einem Kommunikationssystem in ein anderes, in deren Zusammenhang das Übersetzen als eine Transferform zu spezifizieren ist. Dabei sind sowohl vertikale als auch horizontale Bewegungen (zwischen Ständen, Institutionen, Domänen, Territorien etc.) im Literaturtransfer zu berücksichtigen. Damit bietet das SPP 2130 die Perspektive, auch einen substantiellen Beitrag auf dem Gebiet der Literaturtransferforschung zu leisten.

1.3.3 Interkulturelle Kommunikation

Die Vielfalt der frühneuzeitlichen Übersetzungskulturen lässt sich folglich nicht auf den Aspekt der Wissensvermehrung reduzieren. Zwar werden durch die Übersetzungen zuvor unbekannte Sachverhalte und Werke inhaltlich erschlossen, doch ist der sprachliche Transfer stets mit literarischen, diskursiven, epistemischen und normativen Faktoren verbunden, da das Translat in einen neuen kulturellen Kontext eingebunden werden muss.Footnote 75 Unabhängig davon, ob der Ausgangstext der Zielkultur völlig eingespeist (‚Einbürgerung‘) oder ob seine kulturelle Herkunft sprachlich präsent gehalten wird (‚Verfremdung‘), wirkt sich der andere Kontext auf das Textverständnis aus.Footnote 76 Die Beziehung zwischen Ausgangstext, Übersetzer*innen und Zieltext lässt sich mit Gadamer als ein dialogisches Verhältnis charakterisieren.Footnote 77 Die neue situative Einbettung kann ihrerseits auf die Vorlage rückwirken und dafür sorgen, dass sein Sinnpotential auch in der Ausgangssprache auf andere Weise realisiert wird. Selbst wenn der Zieltext eigene Geltung beansprucht und den Ausgangstext ersetzen will, besteht zwischen den beiden ein enges Wechselverhältnis. Übersetzen lässt sich deshalb als eine Form interkultureller Kommunikation verstehen,Footnote 78 bei der zeitliche, räumliche, sprachliche und mediale Grenzen überwunden und Wissenshierarchien neu verhandelt werden.

Im SPP 2130 werden zunächst die zentralen Übersetzungsströme innerhalb Europas erfasst, die gesamteuropäisch ausstrahlen, sich in einer bestimmten interlingualen Konstellation – wie zum Beispiel im Bereich des italienisch-deutschen und deutsch-niederländischen LiteraturtransfersFootnote 79 – besonders intensivieren, teils auch indirekte Übersetzungskulturen über Relaissprachen ausbildenFootnote 80 oder im Feld einer einzelnen Zielsprache konkurrieren und eine Zensur herausfordern können.Footnote 81 Mit Translationsverfahren im Kontext der humanistischen Bildungsbewegung beschäftigt sich das altgermanistische Projekt von Regina Toepfer, in dem die deutschen Homer- und Ovid-Übersetzungen des 16. Jahrhunderts aus intersektionaler Perspektive analysiert werden (vgl. den Beitrag von Jennifer Hagedorn). Dagegen setzen sich vor allem die Projekte mit einem zeitlichen Fokus im 17. und 18. Jahrhundert mit Transferverfahren auseinander, in denen aus einer Volkssprache in eine andere übersetzt wird. Den Übersetzungen in das Französische, das sich als neue europäische lingua franca herausbildet, widmen sich Andreas Gipper am Beispiel von Wissenschaftsübersetzungen und Hans-Jürgen Lüsebrink anhand von Enzyklopädien, flankierend untersucht Susanne Greilich enzyklopädische Übersetzungen ins Spanische.

Einbezogen sind in das SPP 2130 auch Übersetzungsprozesse an den europäischen Peripherien wie etwa in Wales, wenn in dem keltologischen Projekt von Erich Poppe und Elena Parina nach den Strategien der Übersetzung religiöser Grundlagentexte ins Kymrische gefragt wird. Der koloniale Kontext der europäischen Expansion gerät mit den Projekten zur Jesuitenmission in Südamerika (Martina Schrader-Kniffki), Indien (Antje Flüchter, bearbeitet von Giulia Nardini) und Japan (Katja Triplett) in den Blick, doch sind auch jene Übersetzungspraktiken für das SPP 2130 relevant, die sich in der Frühen Neuzeit unabhängig von den europäischen Einflüssen ausgebildet haben. Welche Dynamiken sich daraus ergeben können, wenn zwei verschiedene Übersetzungskulturen aufeinander treffen, untersuchen das religionswissenschaftliche Projekt von Katja Triplett anhand der Austauschprozesse zwischen katholischen Missionaren und Buddhist*innen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Japan und das wissenschaftshistorische Projekt von Dagmar Schäfer und Vera Dorofeeva-Lichtmann am Beispiel der Kartierung von Ostasien durch indigene und europäische Kartographien.

Interkulturelle Kommunikation schließt auch die Möglichkeit des Missverstehens und des Fehlinterpretierens ein. So ist das wiederholte Scheitern der Friedensbemühungen in Europa zwischen 1450 und 1789 mit einem Translationsdefizit und unüberwindbaren kulturellen und kommunikativen Differenzen erklärt worden.Footnote 82 Für eine umfassende Erschließung der Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit ist es auch wichtig, die Grenzen der Verständigung auszuloten, wie sie sich im 16. Jahrhundert etwa in Konstantinopel zeigen. Nach der Einführung des Buchdrucks avanciert die Stadt zwar zum bedeutenden Druckort, doch vermag diese Entwicklung kaum die Übersetzungsbarriere zwischen dem christlich-lateinischen und islamisch-osmanischem Schriftsystem zu überwinden, weshalb es in Friedensverträgen zu ‚asymmetrischen‘ Übersetzungsrelationen kommt.Footnote 83 Geradezu idealtypisch rekonstruieren lassen sich die wechselseitigen kulturellen Übersetzungsleistungen und ihre Grenzen bei Audienzen, die wie kein anderes Zeremoniell durch symbolische Codes bestimmt sind und die ritualisierte Praxis diplomatischer Kommunikation zwischen Ost und West maßgeblich prägen.Footnote 84

1.3.4 Translatorische Akteur*innen und ihre Netzwerke

Das Forschungsprogramm ergänzt nicht nur die vorhandenen Studien um weitere komparatistische Analysen einzelner Übersetzungen, sondern untersucht im Sinn der transferorientierten Übersetzungsanalyse auch die historischen Netzwerke der Akteur*innen und Produkte und analysiert ihre kulturprägende Rolle.Footnote 85 Die hermeneutische, die pragmatische und die funktionale Übersetzungstheorie lenken die Aufmerksamkeit auf die individuelle Disposition der Übersetzenden, auf die Relevanz von Textsorten, den konkreten Verwendungszweck und das intendierte Zielpublikum. Einige der im SPP 2130 untersuchten Akteur*innen sind bemerkenswert mobil und überschreiten auch selbst immer wieder sprachliche, räumliche und kulturelle Grenzen. Zu solchen ‚Cultural brokers‘ gehören die aus dem Ausland stammenden Ehefrauen europäischer Herrscher wie etwa die Tochter von Heinrich IV. und Maria de Medici, Henrietta Maria, deren kulturvermittelnde Einflüsse auf das englische Königshaus in dem Projekt von Christina Strunck untersucht werden (vgl. den Beitrag von Lukas Maier), der italienische Jesuit Roberto Nobili, mit dessen Übersetzungstätigkeit sich das Projekt von Antje Flüchter beschäftigt (vgl. den Beitrag von Giulia Nardini), und der syrische Christ Salomon Negri, dessen Position im west-östlichen Wissens- und Kulturtransfer das Projekt von Mark Häberlein erforscht (vgl. den Beitrag von Paula Manstetten). Nobili suchte die katholische Lehre in Südindien zu verbreiten, Negri war als Gelehrter, Sprachlehrer, Dolmetscher und Übersetzer u. a. in Paris, London, Halle, Venedig und Konstantinopel tätig. Andere Übersetzende hingegen erweisen sich als sehr ortsgebunden und agieren vornehmlich vom eigenen Schreibtisch aus, exemplarisch dafür sind die sogenannten ‚Lehnstuhlgeographen‘, die in dem Tübinger Projekt von Renate Dürr und Irina Saladin untersucht werden. Diese Übersetzer fertigten ihre kartographischen Werke auf der Grundlage umfangreicher Materialsammlungen an, ohne die beschriebenen Gebiete jemals selbst gesehen und erkundet zu haben.

Gefragt wird im SPP 2130 immer wieder nach den Begriffen, Ideen, Diskursen, Medien, Gattungen und Traditionen, die in der Zielkultur zur Verfügung stehen und mit denen Übersetzende die ausgangssprachlichen Informationen reproduzieren können. Diese Textproduzenten sind ihrerseits in intellektuelle, religiöse, soziale und ökonomische Netzwerke eingebunden, die kollektive Formen von Autorschaft begünstigen und ganze Übersetzungswerkstätten entstehen lassen.Footnote 86 Mit den vielfältigen wirtschaftlichen, diplomatischen und kulturellen Kontakten einer osmanisch-jüdischen Familie im 18. Jahrhundert setzt sich Irena Fliter in ihrem Projekt auseinander und untersucht, wie die Camondo-Familie zu einer bedeutenden Handelsdynastie aufstieg und zahlreiche Vermittlungstätigkeiten zwischen dem Osmanischen Reich und Europa übernahm. Bei Forschungsvorhaben, bei denen unabhängige Quellen zu den beteiligten Akteuren fehlen, ermöglichen oftmals die Paratexte der Übersetzungen Rückschlüsse auf die Anzahl, die Herkunft, den Stand, das Geschlecht und die Religion der beteiligten Akteur*innen (Übersetzende, Drucker, Verleger, Auftraggeber*innen, Adressat*innen etc.), ihre soziale Relation und institutionelle Anbindung, die Art und Intensität der Textarbeit sowie den Zweck und die Funktion des Translats. So zeugt das Oeuvre des deutschen Gelehrten Johann Michael Moscherosch, das in dem Projekt von Dirk Werle untersucht wird, nicht nur von seinen polyhistorischen und enzyklopädischen Interessen, sondern auch von seiner konfessionellen Herkunft (vgl. den Beitrag von Sofia Derer).

Untergliedert ist der vorliegende Band nach den drei Sektionen, die auch das SPP 2130 strukturieren und in dem sich der gestufte Übersetzungsbegriff spiegelt: „Zeichensysteme und mediale Transformationen“, „Anthropologie und Wissen“ sowie „Kulturelle Zugehörigkeiten und Gesellschaft“. Während im semiotisch und medial ausgerichteten ersten Bereich zunächst das Übersetzen selbst im Zentrum steht, fokussiert die zweite Sektion auf die Bedeutung des Übersetzens für Individualitätskonzepte, Menschenbilder und die Epistemologie der Frühen Neuzeit. Der dritte Bereich stellt in erweiterter Perspektive schließlich das Interaktionsfeld zwischen kultureller Übersetzung und gesellschaftlichem Wandel in den Mittelpunkt. Zwar ergeben sich zwischen den drei Sektionen immer wieder Überschneidungen, doch lassen sich systematisch verschiedene Schwerpunktsetzungen unterscheiden, sodass die Übersetzungskulturen der Frühen Neuzeit auf einer interlingualen, einer epistemischen und einer kulturellen Ebene erschlossen werden.