Die Untersuchung hat bislang gezeigt, dass innerstaatliche Gerichte zu wichtigen Partnern der Menschenrechtsgerichte geworden sind und in zahlreichen Situationen und Konstellationen bereit sind, diese im Rahmen der innerstaatlichen Umsetzung ihrer Entscheidungen zu unterstützen. Dabei hat die Untersuchung ebenfalls deutlich gemacht, dass nationale Gerichte sich in den wenigsten Fällen als simple „Erfüllungsgehilfen“ der Menschenrechtsgerichte verstehen. Vielmehr beharren sie regelmäßig auf einer gewissen Kontrolle über die Entscheidungen und bringen nicht selten zum Ausdruck, dass sie notfalls gar gewillt sind einer Entscheidung die Befolgung zu versagen, wenn sie dies für erforderlich halten.

Beispiele aus jüngerer Zeit legen nahe, dass Gerichte gar verstärkt dazu übergehen Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte zu kontrollieren und deren Wirkungen einzuschränken. Die Spannungen zwischen Rechtsordnungen scheinen also zuzunehmen. Auf diese Entwicklung soll im vorliegenden Kapitel eingegangen werden. In einem ersten Schritt soll aufgezeigt werden, wie verschiedene – auch vormals sehr offene und völkerrechtsfreundliche – Gerichte in jüngerer Zeit dazu übergegangen sind, die Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte einer verstärkten Kontrolle zu unterziehen (1.). Bei näherem Betrachten zeigt sich allerdings, dass es nur in ganz seltenen Fällen zu eigentlichen Konfrontationen kommt, die eine Verletzung der Befolgungspflicht nach Art. 46 Abs. 1 EMRK bzw. 68 Abs. 1 AMRK nach sich ziehen (2.). In der großen Mehrheit der Fälle schränken Gerichte lediglich die über die eigentliche Bindungswirkung hinausgehenden Wirkungen (res interpretata) ein. Statt um eigentlichen Widerstand handelt es sich also eher um einen Beleg dafür, dass viele Gerichte eine aktivere Rolle im Mehrebenengefüge einfordern. Dies dürfte nicht so sehr als Angriff auf die Menschenrechtsgerichte zu verstehen sein als vielmehr als Reaktion auf deren Erstarken (3.).

1. Verstärkte Kontrolle internationaler Judikate

Zahlreiche Beispiele aus jüngerer Zeit legen nahe, dass sich die Haltung innerstaatlicher Gerichte gegenüber den Menschenrechtsgerichten in einem Wandel befindet. So scheinen Gerichte bestrebt, die Entscheidungen aus Straßburg bzw. San José einer verstärkten Kontrolle zu unterziehen und deren Wirkungen gegebenenfalls einzuschränken.Footnote 1 Insbesondere wird beobachtet, dass sich eine zunehmende Anzahl von Gerichten auf die Verfassung als Schranke des Einbezugs völkerrechtlicher Pflichten im innerstaatlichen Rechtsraum beruft.Footnote 2

Zwar ist es kein neues Phänomen, dass Gerichte regelmäßig auf einer gewissen Letztkontrollbefugnis beharren. Zu denken sei nur an die Positionierung zahlreicher Höchstgerichte gegenüber dem Gerichtshof der Europäischen Union.Footnote 3 Gerade im europäischen Menschenrechtssystem haben viele Gerichte zudem früh erklärt, dass sie auch nicht bereit sind dem EGMR uneingeschränkt zu folgen. Einige sind von vorherein lediglich bereit die Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte in eigenen Verfahren zu berücksichtigen, was die Möglichkeit des Abweichens immer bereits impliziert. Dies kommt besonders deutlich in der Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts zum Ausdruck.Footnote 4 Der österreichische Verfassungshof hat bereits 1987 in seiner berühmten Entscheidung Miltner klar gemacht, dass trotz des Verfassungsrangs der EMRK in Österreich im Falle eines Konflikts zwischen Verfassung und EMRK in der Auslegung des EGMR erstere den Vorrang genösse.Footnote 5

Trotzdem scheint die Entwicklung in jüngerer Zeit neue Dimensionen anzunehmen.Footnote 6 Sie scheint sich in einen größeren Trend wachsender Kritik insbesondere am EGMR einzureihen, den viele in einer tiefen Krise sehen.Footnote 7 Immer wieder machen dabei auch Entscheidungen nationaler Gerichte Schlagzeilen, in denen diese die Menschenrechtsgerichte kritisieren oder sich ihnen gar richtiggehend entgegenstellen. Für viel Diskussion gesorgt hat etwa das russische Verfassungsgericht. Dieses entschied 2015 mit Verweis auf andere europäische Verfassungsgerichte wie das deutsche Bundesverfassungsgericht und die italienische Corte Costituzionale, dass es ihm als oberstes Gericht Russlands zustehe, Entscheidungen des EGMR auf ihre Vereinbarkeit mit der russischen Verfassung zu prüfen.Footnote 8 Inzwischen ist die Möglichkeit der systematischen Nachprüfung von EGMR-Entscheidungen durch das Verfassungsgericht explizit gesetzlich geregelt.Footnote 9 Kommt das Verfassungsgericht zum Schluss, dass eine Entscheidung verfassungswidrig ist, führt dies zur Nichtumsetzung der Entscheidung; eine Anpassung der Verfassung schließt das Gesetz kategorisch aus.Footnote 10

Obwohl das Verfassungsgericht betonte, nur in „extrem seltenen Fällen“ von seinem „Recht auf Widerspruch“ Gebrauch machen zu wollen,Footnote 11 hat es inzwischen bereits zwei EGMR-Entscheidungen für verfassungswidrig erklärt. In einem Urteil vom April 2016 machte es zum ersten Mal von diesem „Vetorecht“ Gebrauch und erklärte die Entscheidung des EGMR in der Sache Anchugov and Gladkov für verfassungswidrig.Footnote 12 In dieser Entscheidung war der EGMR zum Schluss gekommen, dass das in der russischen Verfassung statuierte pauschale Wahlverbot für Häftlinge unverhältnismäßig sei.Footnote 13 Um den Konflikt auf höchster Rechtsebene zu entschärften, verwies der Gerichtshof auch auf die Möglichkeit, die Verfassung konventionskonform auszulegen.Footnote 14 Das Verfassungsgericht kam jedoch zum Schluss, dass es nicht möglich sei die klare und eindeutige Verfassungsbestimmung anders denn als Verbot auszulegen. In der Folge erklärte es die Straßburger Entscheidung zwar partiell für verfassungswidrig, ließ aber insofern einen kleinen Gesprächsraum offen, als dass es auf die Möglichkeit einer Anpassung durch den Gesetzgeber verwies.Footnote 15

Auch im zweiten Fall befand das Verfassungsgericht das der Prüfung unterzogene Straßburger Urteil für verfassungswidrig. Dabei handelte es sich um das Entschädigungsurteil in der Sache Yukos, in welchem der EGMR den Beschwerdeführern eine rekordhohe Geldsumme zugesprochen hatte.Footnote 16 Bemerkenswerterweise hatte die Venedig-Kommission in ihrer Analyse der Gesetzesrevision, die auf die Verfassungsprüfung der Straßburger Rechtsprechung zielte, bezweifelt, dass die Zahlung einer Entschädigung jemals zu einem Konflikt mit der Verfassung Anlass geben könnte.Footnote 17 Insofern erstaunt es wenig, dass die Entscheidung des russischen Verfassungsgerichts eher konstruiert wirkt.Footnote 18 Das Gericht kam zum Schluss, dass die Entrichtung einer Entschädigungszahlung an die Teilhaber einer Firma, welche Steuerhinterziehung betrieben hatte, gegen die verfassungsmäßigen Prinzipien der Fairness und Gleichheit verstoßen würde.Footnote 19

Während die Spannungen zwischen Straßburg und Moskau angesichts des schwierigen Verhältnisses Russlands zum EMRK-System nicht so sehr erstaunen mögen,Footnote 20 ist bemerkenswert, dass auch Gerichte aus Staaten, die bislang durch ihre offene Haltung gegenüber den Menschenrechtsgerichten auffielen, in jüngerer Zeit einen schärferen Ton anschlagen.

So hat das oberste argentinische Gericht, bislang einer der wichtigsten Verbündeten des IAGMR und Vorreiter des „nuevo constitutionalismo“ in Lateinamerika,Footnote 21 jüngst eine Rechtsprechungsänderung vorgenommen. Das Gericht verlangt nun, dass Entscheidungen des IAGMR „Grundprinzipien der argentinischen Rechtsordnung“ beachten müssten, um umgesetzt zu werden. Der Gerichtshof hatte zuvor die Aufhebung zweier Urteile verlangt, welche seiner Ansicht nach die Meinungsfreiheit der beiden Journalisten verletzen.Footnote 22 In der Anordnung dieser Maßnahme sah das oberste Gericht zum einen eine Kompetenzüberschreitung von Seiten des IAGMR.Footnote 23 Zum anderen erkannte es darin eine Verletzung der Verfassung. Die Umsetzung des Urteils sei nicht mit Grundprinzipien der argentinischen Rechtsordnung vereinbar („juridicamente imposible a la luz de los principios fundamentales del derecho publico argentino“).Footnote 24 Denn die Anordnung des IAGMR würde seine Stellung als oberstes Gericht Argentiniens, wie sie in der Verfassung ausdrücklich verankert sei (Art. 108), in Frage stellen und stattdessen den IAGMR an die Spitze der Judikative stellen.Footnote 25 Die Tatsache, dass es selbst das oberste Judikativorgan sei („órgano supremo y cabeza del Poder Judicial“), gehöre aber zweifellos zu den „nicht derogierbaren Prinzipien“ („principios inconmovibles“) nach Art. 27 der Verfassung.Footnote 26 Denn diese Bestimmung behalte einen Souveräntitsbereich der argentinischen Rechtsordung vor, der Völkerrecht nicht weichen könne.Footnote 27 Statt zum Schluss zu kommen, dass es selbst die Anordnung mangels expliziter Gründe, welche die Durchbrechung der Rechtskraft erlauben, nicht umsetzen könne, qualifizierte es die Anordnung als verfassungswidrig.

Ein anderes bemerkenswertes Beispiel ist das italienische Verfassungsgericht. Dieses hatte seit seinen „Zwillingsurteilen“ aus dem Jahr 2007 einen sehr Straßburg-freundlichen Kurs verfolgt; zuweilen wurde ihm gar vorgehalten, zu offen gegenüber dem EGMR zu sein.Footnote 28 In jüngerer Zeit hingegen macht das Gericht insbesondere dadurch von sich reden, dass es sich internationalen Gerichten widersetzt. In seiner zu internationalen Bekanntheit gelangten Entscheidung Nr. 238/2014 erklärte es de facto eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs für verfassungswidrig.Footnote 29 Später drohte es auch dem Gerichtshof der Europäischen Union seinen Ungehorsam für den Fall an, dass dieser seine Position nicht ändere. Denn das Verfassungsgericht erkannte in einer zuvor ergangenen Entscheidung aus Luxemburg eine Verletzung des Legalitätsprinzips und des Rückwirkungsverbots.Footnote 30

Gegenüber dem EGMR hat der Verfassungshof bislang noch nicht Gebrauch gemacht von der „nuklearen Option“, eine Entscheidung für verfassungswidrig zu erklären. Trotzdem hat er seinen vormals sehr offenen Kurs korrigiert. Einen ersten Schritt in diese Richtung unternahm er im Folgeurteil zur Entscheidung in der Sache Maggio gegen Italien.Footnote 31 In dieser Entscheidung hielt der Verfassungshof fest, das Interesse an der Umsetzung von Entscheidungen des EGMR müsse gegen andere von der Verfassung geschützte Interessen abgewogen werden, in diesem Fall insbesondere die Prinzipien von Gleichheit und Solidarität.Footnote 32 Im Ergebnis gewichtete das Verfassungsgericht die Interessen an einem ausgeglichenem Finanzhaushalt höher und sah die Einschränkung der in Rede stehenden Grundrechte als gerechtfertigt an.Footnote 33 Die Konsequenz war, dass die in den „Zwillingsentscheidungen“ entwickelte DoktrinFootnote 34 gerade nicht zur Anwendung gelangte und das zugrunde liegende Gesetz damit nicht für verfassungswidrig erklärt wurde. Obwohl der EGMR eine Anpassung der Rechtslage gar nicht verlangt hatte und es damit nicht um die Umsetzung einer angeordneten Maßnahme im engeren Sinne ging, lässt das Gericht der Entscheidung damit nicht die sonst gewährten weitreichenden Wirkungen zukommen.

Noch weiter ausgedehnt hat es die Anforderungen, welche es im Rahmen der Urteilsumsetzung an untere italienische Gerichte stellt, schließlich in einer Entscheidung aus dem Jahr 2015.Footnote 35 Mit dieser Entscheidung schränkt das Gericht die Berücksichtigungspflicht der Rechtsprechung des EGMR durch italienische Gerichte erheblich ein und verlangt eine systematische „Nachprüfung“ von EGMR-Entscheidungen, bevor diese über Art. 117 der Verfassung einbezogen werden.Footnote 36 Die Entscheidung wird als Abkehr von den „Zwillingsentscheidungen“ qualifiziert und hat zum Ergebnis, dass die Funktion des Mechanismus der Verfassungskontrolle, um der EMRK in der Auslegung durch Straßburg weitreichende Wirkungen zu verleihen, erheblich relativiert wird.Footnote 37

Die Konsequenz der Entscheidung ist insbesondere, dass das Gericht in Zukunft, abgesehen von Pilot-Urteilen, welche es immer zu beachten gelte, nur noch dazu bereit ist konsolidierter Rechtsprechung aus Straßburg zu folgen.Footnote 38 Für die Frage, wann von „konsolidierter Rechtsprechung“ auszugehen ist, gab das Gericht unteren Gerichten darüber hinaus Kriterien an die Hand. Zum einen machte es nicht-konsolidierte Rechtsprechung an Unstimmigkeiten innerhalb des EGMR fest, die dann zum Ausdruck kommen, wenn abweichende Meinungen vorliegen. Zum anderen deute es auf eine nicht konsolidierte Rechtsprechung hin, wenn eine Entscheidung von der bisherigen Rechtsprechung des EGMR abweicht oder nicht von der Großen Kammer gefällt worden ist. Schließlich hätten Gerichte sich daran zu orientieren, ob die Auslegung durch den EGMR besonders innovativ und neuartig sei. Damit stellt es sich im Ergebnis auch gegen die dynamische Auslegungsmethode des EGMR.Footnote 39

Im Ergebnis kam das Verfassungsgericht in diesem Fall zum Schluss, dass die in Rede stehende Entscheidung des EGMR quasi ein „Ausreißer“ sei. Es verlangt von unteren Gerichten in solchen Fällen nun, „die einzelne Entscheidung in den Gesamtkontext der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs einzuordnen, um daraus einen Sinn abzuleiten, der mit dieser Rechtsprechung vereinbar ist und der unter keinen Umständen gegen die Verfassung verstößt.“Footnote 40

Obwohl diese Entscheidung nicht per se EMRK-widrig ist, wie sogleich noch ausführlicher darzulegen sein wird, ist sie aus völkerrechtlicher Perspektive dennoch nicht unproblematisch.Footnote 41 Denn sie stellt offen die Autorität des EGMR zur Auslegung der EMRK in Frage, indem das Verfassungsgericht dessen systematische Überprüfung verlangt.Footnote 42 Bemerkenswert dabei ist, dass dieses sich dadurch selbst der Möglichkeit beraubt, mit Straßburg in einen Dialog zu treten, weil bereits untere Gerichte den verlangten Test vornehmen sollen.Footnote 43 Aus völkerrechtlicher Perspektive erschiene es allein aus Gründen der Übersichtlichkeit vorzugswürdiger, wenn der EGMR einen Ansprechpartner hätte. Auf diese Punkte wird erneut zurückzukommen sein.

In eine ähnliche Richtung geht schließlich nun auch das Bundesverfassungsgericht, das in einer Entscheidung jüngst die aus der EGMR-Rechtsprechung im weiteren Sinne fließenden Wirkungen – die sog. „Orientierungswirkung“Footnote 44 – für deutsche Gerichte weiter konkretisiert und im Ergebnis eingeschränkt hat. In Fällen, in denen es nicht um die Durchsetzung von nach Art. 46 Abs. 1 EMRK für Deutschland verbindlichen Entscheidungen geht – im vorliegenden Fall war das Gericht mit gegen die Türkei ergangenen Entscheidungen konfrontiert – verlangt das Gericht nun eine stärkere „Kontextualisierung“ der Entscheidung.Footnote 45 Nicht nur „ein Moment der Vergleichbarkeit“ sei Voraussetzung für die Anwendung einer Rechtsprechung, sondern auch der „rechtskulturelle Hintergrund“ sowie „spezifische Besonderheiten der deutschen Rechtsordnung, die einer undifferenzierten Übertragung im Sinne einer bloßen ‚Begriffsparallelisierung‘“ entgegenstünden.Footnote 46 Im Ergebnis führt dies wohl dazu, dass die „Orientierungswirkung“ künftig im Wesentlichen auf gegen Deutschland ergangene Entscheidungen beschränkt wird. Denn diese sei da „besonders groß, wo sie sich auf Parallelfälle im Geltungsbereich derselben Rechtsordnung“ beziehe.Footnote 47 Darüber hinaus sind es nach dieser Rechtsprechung nur mehr noch „Aussagen zu den Grundwertungen der Konvention“, die zu berücksichtigen sind.Footnote 48

2. Nichtbefolgung und die Pflichten nach Art. 46 EMRK/68 AMRK

Diese Beispiele zeigen, dass verschiedene vormals sehr offene Gerichte ihre Haltung gegenüber den Menschenrechtsgerichten in jüngerer Zeit angepasst und bis zu einem gewissen Grad eingeschränkt haben. Die Spannungen zwischen den Rechtsordnungen scheinen insgesamt also zuzunehmen. Dabei ist allerdings wichtig hervorzuheben, dass es nur in den wenigsten Fällen zu eigentlichen Konfrontationen im Sinne echter Rechtskonflikte kommt. Anders ausgedrückt: Nur in seltenen Fällen führt die Weigerung eines nationalen Gerichts dem EGMR bzw. IAGMR zu folgen zu einer Verletzung der Befolgungspflicht nach Art. 46 Abs. 1 EMRK bzw. Art. 68 Abs. 1 AMRK.

Dies liegt zum einen daran, dass Gerichte den Menschenrechtsgerichten wie gesehen weit über die eigentliche Befolgungspflicht hinaus folgen. Viele Gerichte beziehen heute die gesamte Rechtsprechung der Menschenrechtsgerichte ein.Footnote 49 Nicht selten nutzen sie gegen andere Staaten ergangene Entscheidungen zudem als Gelegenheit, um allfällige Meinungsunterschiede vorzutragen und ihre internationalen Pendants möglicherweise von „ihrer“ Lösung zu überzeugen. Dies ist nicht zuletzt Zeugnis gelebter Subsidiarität: Gerichte behalten sich vor, auf dem Weg des gerichtlichen Dialogs Widerspruch anzumelden und so zur Weiterentwicklung der Konventionsgarantien beizutragen.Footnote 50 Dies brachte das italienische Verfassungsgericht jüngst ganz explizit zum Ausdruck: Die Bestimmung des Inhalts der EMRK-Rechte sei eine gemeinsame Aufgabe von nationalen Gerichten und dem EGMR.Footnote 51 In diesem Sinne seien nationale Gerichte nicht lediglich „passive Empfänger eines Auslegungskommandos, das an anderer Stelle in Form eines Gerichtsurteils erteilt wird“.Footnote 52 Eine „hierarchische Auferlegung einer bestimmten Interpretation“ lehnt es zumindest da ab, wo noch keine etablierte Rechtsprechung besteht.Footnote 53 Das Verfassungsgericht verwies denn auch ausdrücklich auf drei vor der Großen Kammer anhängige Beschwerden und bringt damit zum Ausdruck, dass es auf ein Einlenken von Seiten Straßburgs hofft.Footnote 54

Aber sogar eine Weigerung eines Gerichts, eine im engeren Sinne bindende Entscheidung durchzusetzen, muss nicht zu einer Verletzung der Befolgungspflicht führen. Dies liegt daran, dass neben Gerichten regelmäßig weitere Akteure an der innerstaatlichen Umsetzung von Entscheidungen beteiligt sind.Footnote 55 Insofern kann eine Entscheidung dem EGMR bzw. IAGMR nicht zu folgen schlicht auch als Einladung an die Legislative oder Exekutive zu verstehen sein, die in ihre Zuständigkeit fallenden Schritte zu unternehmen.

Problematisch sind die (seltenen) Fälle, in denen Gerichte eine internationale Entscheidung für im innerstaatlichen Recht überhaupt nicht vollstreckbar oder verfassungswidrig erklären, denn dies kann bedeuten, dass eine Umsetzung auch durch andere innerstaatliche Akteure nicht zulässig und damit vollkommen ausgeschlossen ist. Dies wird zuweilen als „principled resistance“ bezeichnet.Footnote 56 Besonders deutlich wird dies im Falle des russischen Verfassungsgerichts, welches inzwischen bereits zwei Entscheidungen des EGMR für nicht mit der russischen Verfassung vereinbar und deshalb nicht umsetzbar erklärt hat. Denn das Gesetz, in dem die Verfassungskontrolle der Straßburger Entscheidungen nun explizit geregelt ist, schließt eine Anpassung der Verfassung aus.Footnote 57 Zu solchen Ergebnissen kann es auch in Fällen kommen, in denen Gerichte einzelne Entscheidungen mit fundamentalen Prinzipien der eigenen Rechtsordnung oder der „Verfassungsidentität“ unvereinbar erklären, wie es in einer jüngeren Entscheidung etwa das oberste argentinische Gericht getan hat.Footnote 58 Denn auch in diesen Fällen kann eine rechtliche Anpassung schwierig oder gar unmöglich sein.Footnote 59

Solche Entscheidungen erinnern an das Prozedere der Anerkennung und Vollstreckung ausländischer Entscheidungen, in dem gemeinhin gewisse Vorbehalte der Rechtsordnung gelten, in der die Entscheidung vollzogen werden soll. Diese werden regelmäßig einer inhaltlichen Kontrolle unterzogen, bevor ihnen das sog. „Exequatur“ erteilt wird. Nach schweizerischem Recht etwa kann die Anerkennung dann verweigert werden, wenn eine Entscheidung „mit dem schweizerischen ordre public offensichtlich unvereinbar“ ist;Footnote 60 eine ähnliche Ausnahme sieht auch das sog. „Lugano-Übereinkommen“ vor.Footnote 61 Obwohl die Fragestellung eine grundsätzlich andere ist, wenn es um internationale Entscheidungen geht,Footnote 62 steht dahinter letztlich die gleiche (dualistische) Logik: Innerstaatliche Gerichte sind zwar zur Rezeption von Judikaten aus einer anderen Rechtsordnung bereit, aber nur zu den Bedingungen, welche die eigene Rechtsordnung festlegt und über die sie die Kontrolle beanspruchen.

Zu einer Verletzung der Befolgungspflicht nach den Menschenrechtskonventionen kann es in der Folge kommen, da aus völkerrechtlicher Perspektive diese Einwände bekanntlich nicht zählen – innerstaatliches Recht kann, unabhängig von dessen Rang und Wichtigkeit in der nationalen Rechtsordnung, nicht vorgebracht werden, um die Nichterfüllung völkerrechtlicher Pflichten zu rechtfertigen.Footnote 63 Die Menschenrechtsgerichte ihrerseits verlangen auch im Falle eines Konflikts mit der Verfassung bzw. der Verfassungspraxis, dass ihre Entscheidungen gutgläubig befolgt werden und sich die Staaten folglich anpassen, auch wenn solche Fälle eher selten sind.Footnote 64 In diesem Sinne ist die Berufung auf die Verfassung bzw. einen „Verfassungskern“ keine völkerrechtliche Kategorie und damit kein Grund, der die völkerrechtliche Verantwortlichkeit eines Staates auszuschließen vermöchte. Die Entwicklung eines entsprechenden Ausnahmetatbestandes scheint angesichts der damit verbundenen Gefahren auch nicht wünschenswert.Footnote 65

Allerdings ließe sich überlegen, ob in Einzelfällen davon ausgegangen werden könnte, dass Entscheidungen von EGMR und IAGMR die Schwelle der Nichtigkeit erreichen, womit innerstaatliche Gerichte allenfalls einen Grund hätten, diese nicht zu beachten. So könnte man argumentieren, dass Kompetenzüberschreitungen durch die Menschenrechtsgerichte oder krass falsche Entscheidungen zur Nichtigkeit der jeweiligen Judikate führen könnten.Footnote 66

Obwohl die Existenz von Nichtigkeitsgründen für internationale Judikate an sich nicht umstritten ist, ist im Einzelnen unklar, wie die Annullierung tatsächlich vollzogen werden soll. Denn die Anerkennung von Nichtigkeitsgründen steht in einem inhärenten Spannungsverhältnis zum Bestehen endgültiger internationaler Entscheidungen und birgt das Risiko, die Autorität des in Rede stehenden internationalen Gerichts zu untergraben.Footnote 67 Entschärft ist die Problematik da, wo systeminterne Berufungsinstanzen bestehen und die Gründe vorgetragen werden können. Während Nichtigkeitsgründe im Zusammenhang mit EGMR-Entscheidungen damit kaum eine Rolle spielen, weil Entscheidungen an die Große Kammer weitergezogen und noch einmal überprüft werden können (Art. 43 EMRK),Footnote 68 besteht diese Möglichkeit im interamerikanischen System nicht. Gerade die heiklen strafrechtlichen Fälle des IAGMR illustrieren, dass ein Korrektiv durchaus erforderlich erscheint. Eine systeminterne Revisionsinstanz schiene dabei das beste Mittel, um Mängel zu rügen und wäre somit auch für das interamerikanische System wünschenswert. So lange eine Art „Große Kammer“ innerhalb des IAGMR aber nicht besteht, bleibt die Frage relevant, wann innerstaatliche Gerichte als Korrektiv einspringen können und sollen. Auf diese Frage wird im letzten Teil dieser Studie zurückzukommen sein.

Klar ist, dass angesichts der damit verbundenen Gefahren die Anforderungen an die Nichtigkeit sehr hoch sein müssen und es sich nur um absolute Ausnahmefälle handeln kann, soll nicht die Verbindlichkeit internationaler Streitbeilegung in Frage gestellt werden. Die Frage der Nichtigkeit dürfte sich für innerstaatliche Gerichte in der Praxis damit kaum je als Rechtfertigung für die Nichtbefolgung einer Entscheidung eignen.

3. Fazit: wenig Konfrontation, aber verstärkte Kontrolle

Fälle, in denen sich Gerichte einem internationalen Judikat entgegenstellen mit dem Ergebnis, dass dieses nicht umgesetzt wird, können also grundsätzlich nicht unter Berufung auf völkerrechtliche Rechtfertigungsgründe gerechtfertigt werden. Obwohl es wichtig ist zu betonen, dass diese Fälle nach wie vor selten sind, ist nicht zu verkennen, dass sie einen Angriff auf die Autorität des internationalen Gerichts bedeuten.Footnote 69 Gemäß dem IAGMR bedroht die Nichtbefolgung von Entscheidungen „the raison d’être for the functioning“ internationaler Gerichte,Footnote 70 und der EGMR kam zum Schluss, dass „der bewusste Versuch, die Umsetzung eines endgültigen und vollstreckbaren Urteils zu verhindern“ geeignet sei, „die Glaubwürdigkeit und Autorität der Justiz zu untergraben und ihre Wirksamkeit zu gefährden.“Footnote 71 Beide Gerichte gehen darüber hinaus davon aus, dass die effektive Befolgung ihrer Urteile ein integraler Teil des Rechts, von einem Gericht gehört zu werden, ist.Footnote 72 Auch wenn nicht davon auszugehen ist, dass vereinzelte solche Angriffe einer internationalen Institution nachhaltigen Schaden zufügen bzw. gar deren Untergang besiegeln, so ist nicht zu verkennen, dass sie sich trotzdem auf die in Rede stehende Institution auswirken und diese zu Anpassungen zwingen können.Footnote 73 So lässt sich etwa beim EGMR in jüngerer Zeit ein stärkerer Rekurs auf Techniken beobachten, die es ihm erlauben mehr Zurückhaltung zu üben. Wendet er diese einseitig zu Gunsten seiner Kritiker an, worauf Untersuchungen hindeuten, wird dies zu einem Problem für seine Glaubwürdigkeit.Footnote 74

Aus diesen Gründen sollte gerichtlicher Widerstand im engeren, oben beschriebenen Sinne klar vom Instrument des gerichtlichen Dialoges unterschieden werden. Zwar gibt es einige Parallelen zwischen den beiden Figuren, und beide können letztlich ganz ähnliche Funktionen erfüllen. Der gerichtliche Dialog dient oft gerade dazu, Meinungsverschiedenheiten auszutragen. Er erlaubt es nationalen Gerichten, unterschiedliche Sichtweisen zu artikulieren und so die Konventionsauslegung mitzubestimmen. Er ist für nationale Gerichte bis zu einem gewissen Grad ein „Recht zu widersprechen“Footnote 75 und bildet in diesem Sinne „a constructive way for channelling substantive disagreement or criticism“.Footnote 76 Wenn Gerichte den Menschenrechtsgerichten in bindenden Fällen widersprechen, dürften sie vielfach ein ganz ähnliches Ziel verfolgen: Nicht selten dürfte es darum gehen, ihr Gegenüber zum Einlenken zu bewegen und eine Änderung der Rechtslage zu erzwingen. So hat das italienische Verfassungsgericht in seiner Entscheidung, mit welcher es die Umsetzung einer IGH-Entscheidung blockiert hat,Footnote 77 ganz explizit zum Ausdruck gebracht, dass es dadurch „zu einer wünschenswerten – und von vielen gewünschten – Entwicklung des Völkerrechts“ beizutragen hoffe.Footnote 78 Bereits die Androhung von Widerstand kann schließlich dazu dienen, dass sich innerstaatliche Gerichte überhaupt Gehör verschaffen. Widerstand kann so überhaupt erst die Grundlage für einen echten Dialog schaffen, indem es Gerichten dadurch gelingt, eine „gleichberechtigte Konversation zu erzwingen“.Footnote 79 Wenn in Widerstand gegenüber internationalen Gerichten zwar eine gewisse Gefahr für die Autorität internationaler Gerichte und die Stabilität der internationalen Ordnung liegt, mehren sich in jüngerer Zeit denn auch die Stimmen in der Literatur, die darin auch Chancen erkennen und argumentieren, dass dieser letztlich positive Rückwirkungen auf das Völkerrecht haben und längerfristig gar zu dessen Stärkung beitragen könnte.Footnote 80

Trotzdem spricht vieles dafür, den Begriff des gerichtlichen Dialoges auf Fälle zu beschränken, in denen Gerichte über die Auslegung in künftigen Fällen streiten. Hat ein Menschenrechtsgericht in einem Einzelfall entschieden, ist das „Gespräch“ erst einmal beendet. Dann geht es nicht mehr um die abstrakte Konventionsauslegung, sondern die Durchsetzung einer Entscheidung in einem konkreten Fall. Widerspricht ein innerstaatliches Gericht seinem Gegenüber in dieser Situation mit der Folge, dass eine Entscheidung innerstaatlich nicht umgesetzt werden kann, geht es eher darum diese erneut zu überprüfen und deren Wirkungen zu verhindern. Zwar kann auch dies eine wichtige Funktion erfüllen, etwa im interamerikanischen System, das wie gesehen keine interne Revisionsinstanz und damit keine Möglichkeit kennt, Entscheidungen von einer höheren Instanz zu kontrollieren. Darauf wird später zurückzukommen sein. Trotzdem ist Widerspruch im oben beschriebenen Sinne, nämlich dann, wenn er die innerstaatliche Umsetzung einer Entscheidung gänzlich unmöglich macht, widerrechtlich. In der Literatur wurde vorgeschlagen, für diese Konstellation den Begriff „dialectic review“ statt gerichtlichen Dialog zu verwenden.Footnote 81 Um die Grenzen zwischen dem „legalen“ und sogar konventionsrechtlich gewünschtenFootnote 82 Dialogieren und den – seltenen – Fällen konventionsrechtlich heiklen Widerspruchs nicht zu verwischen, scheint diese Terminologie in der Tat vorzugswürdig.

Insgesamt ist das Bild bei näherem Betrachten aber wie gesehen weniger dramatisch, als es auf den ersten Blick scheint. Zwar zeigen die untersuchten Beispiele eindeutig, dass auch vormals offene und menschenrechtsfreundliche Gerichte dazu übergegangen sind, die Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte einer verstärkten Kontrolle zu unterziehen und deren Umsetzung vom Einhalten gewisser Bedingungen des nationalen Rechts abhängig zu machen. Dies spricht für eine gewisse Re-Nationalisierung der Selbstwahrnehmung von Gerichten. Trotzdem ist damit kein „Kampf der Gerichte“ ausgebrochen, und es scheint zu kurz gegriffen, die Entwicklung als Sieg des Nationalismus und nationaler Interessen über Multilateralismus und das Ende internationaler Gerichtsbarkeit zu lesen.Footnote 83

Plausibler scheint es, die gewandelte Haltung zahlreicher Gerichte auch auf die tatsächlich geänderten Umstände zurückzuführen. Nicht nur ist es heute, auch dank der aktiveren Rolle von Individuen, welche die tatsächliche Umsetzung von zu ihren Gunsten ergangenen Entscheidungen einfordern, schlicht zu einer Intensivierung der Interaktion zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen gekommen. Statt als Versuch der Schwächung der Menschenrechtsgerichte könnte die Entwicklung also auch als Reaktion auf deren Erstarken und die enorme Zunahme internationaler Entscheidungen gelesen werden.Footnote 84 Als Konsequenz können sich gerade obere innerstaatliche Gerichte durch mächtige internationale Gerichte „bedroht“ sehen und versuchen ihre Stellung zu verteidigen. Martinico etwa bezeichnet dies als den „Preis des Erfolges“ des EGMR.Footnote 85 Bifulco und Paris argumentieren, dass es dem italienischen Verfassungsgericht mit seinen Zeichen, die es nach Straßburg sendet, auch darum gehe, sicherzustellen, dass die Aufgabe italienischer Gerichte nicht auf diejenige eines „Exekutivorgans“ für Entscheidungen des EGMR reduziert wird.Footnote 86

Erkenntnisse aus der politikwissenschaftlichen Forschung legen ferner nahe, dass wachsende institutionelle Macht mit wachsender Politisierung, d. h. öffentlicher Aufmerksamkeit und Debatte sowie auch Widerstand, einhergeht.Footnote 87 Dies stimmt mit der allgemeinen Beobachtung überein, wonach ein „reactive turn“ stattfindet und sich innerstaatliche Gerichte verstärkt gegen die Umsetzung völkerrechtliche Verpflichtungen stellen, was der zunehmenden völkerrechtlichen Regelungsdichte und -intensität und dem dadurch erhöhten Konfliktpotenzial angelastet wird.Footnote 88 Insofern erstaunt nicht, dass gerade internationale Entscheidungen, die mit ihren konkreten Anordnungen deutlich größeres Konfliktpotenzial zu innerstaatlichem Recht als das oft vage generell-abstrakte Völkerrecht bergen, auch auf Ablehnung stoßen.Footnote 89 Dies gilt besonders für die Menschenrechtsgerichte, die beide – in unterschiedlichem Maße – durch die Konkretisierung ihrer Entscheidungen dazu beigetragen haben, dass ihre Entscheidungen auf der innerstaatlichen Ebene stärker greifen und leichter umsetzbar werden.Footnote 90 Wie gesehen kann die Durchsetzung der Urteile der Menschenrechtsgerichte innerstaatliche Gerichte in ein richtiggehendes Dilemma führen; so können sie sich gehalten sehen zwischen der Befolgung internationaler Vorgaben und dem Respekt innerstaatlichen Rechts entscheiden zu müssen. Die stärkere Involvierung innerstaatlicher Gerichte in der Umsetzung internationaler Entscheidungen führt damit nicht nur zu einer Stärkung; ihre Rolle wird damit auch deutlich komplexer. Damit wird die Frage immer drängender, welche Rolle innerstaatliche Gerichte an der Schnittstelle zwischen Rechtsordnungen wahrnehmen sollen. Mit dieser normativen Frage wird sich das letzte Kapitel der vorliegenden Untersuchung auseinandersetzen.