Die bisherigen Ausführungen haben deutlich gemacht, dass innerstaatliche Gerichte heute eine doppelte Funktion an der Schnittstelle zwischen Rechtsordnungen erfüllen – zum einen sind sie wichtige „Erfüllungsgehilfen“ der Menschenrechtsgerichte; zum anderen verstehen sie sich als Hüter über die eigene Rechtsordnung und haben Grenzen der Befolgbarkeit internationaler Judikate herausgearbeitet. Um diese beiden Rollen in Ausgleich zu bringen, wählen viele Gerichte einen Mittelweg, indem sie sich zwar grundsätzlich bereit erklären, den Menschenrechtsgerichten zu folgen, jedoch gewisse Vorbehalte formulieren und sich Kontrollmöglichkeiten vorbehalten. Während die Mehrheit der Gerichte zwar eine direkte und unbedingte Bindung an die Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte ablehnt, sind viele dennoch bereit, diesen auf andere, indirektere Art und Weise Folge zu leisten. Für die Entscheidung, ob sie dem EGMR bzw. IAGMR folgen, nehmen viele Gerichte eine Abwägung der verschiedenen Interessen im Einzelfall und damit eine materielle Beurteilung vor, die es ihnen bis zu einem gewissen Grad erlaubt, einen Ausgleich zu schaffen. Auf diesen Abwägungsprozess und die Gründe, die dabei eine Rolle spielen, wird eingehend einzugehen sein (2.). In einem ersten Schritt soll nun aber auf die Befolgungstechniken innerstaatlicher Gerichte und die darin enthaltenen Kontrollmöglichkeiten der internationalen Judikate eingegangen werden (1.).

1. Befolgung ja, aber: vorbehaltene Kontrollmöglichkeiten

Zwar gibt es durchaus Beispiele, insbesondere aus dem interamerikanischen Kontext, in denen sich Gerichte strikt an die internationalen Vorgaben gebunden erachtet und diese bedingungslos durchgesetzt haben. In der Mehrheit der Fälle aber sind Gerichte zurückhaltender. Statt sich uneingeschränkt an die internationalen Vorgaben gebunden zu erklären, greifen viele auf indirektere Techniken zurück, um den Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte Folge zu geben. Diese erlauben es zwar auch, Entscheidungen umzusetzen, beinhalten aber gleichzeitig einen Spielraum. Somit lässt sich zwischen unmittelbarer Befolgung internationaler Entscheidungen, die als Bindung an das Ergebnis zu verstehen ist, und lediglich mittelbarer Befolgung als eher prozessorientiertem Einbezug der Entscheidungen unterscheiden. Auf diese Unterscheidung soll in einem ersten Schritt vertieft eingegangen werden (1.1.). Illustrativ für diese Unterscheidung ist die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, das sich ausführlich zur Unterscheidung zwischen einer prozeduralen Berücksichtigungs- und einer ergebnisorientierten Befolgungspflicht ausgesprochen hat und die in einem zweiten Schritt ausführlicher erläutert werden soll (1.2.). Das Beispiel des schweizerischen Bundesgerichts schließlich macht deutlich, dass indirekte Befolgungstechniken für Gerichte gegenüber einer unmittelbaren Befolgung auch deshalb vorzugswürdig erscheinen können, weil Völkerrecht dabei regelmäßig über nationales Recht „vermittelt“ wird, was eine gewisse legitimierende Wirkung verspricht (1.3.).

1.1. Unmittelbare Befolgung als Ausnahme

Aus dem interamerikanischen System gibt es einige Beispiele, in denen innerstaatliche Gerichte sich strikt an die Vorgaben des IAGMR gebunden erachtet haben. Einige Gerichte behandeln den Gerichtshof gar als hierarchisch übergeordnete Instanz und gehen davon aus, dass Entscheidungen des Gerichtshofs rechtsgestaltende Wirkungen zukommen. So hat etwa das oberste Gericht Guatemalas die zuvor ergangene Entscheidung in der Sache Fermín Ramirez für bindend („vinculante“) erklärt und statuiert, dass es zwingend („imperativo“) sei, dieser Folge zu leisten.Footnote 1 Dabei ging das Gericht davon aus, dass durch die Entscheidung des IAGMR das in Rede stehende innerstaatliche Urteil bereits aufgehoben sei („deja sin efecto lo actuado dentro del proceso instruido contra el señor Fermín Ramírez“).Footnote 2 Der IAGMR hatte befunden, dass der zur Todesstrafe Verurteilte keinen fairen Prozess genossen hatte und das Urteil entsprechend an Verfahrensmängeln litt.Footnote 3 Guatemala traf die Pflicht, ein neues Verfahren unter Einhaltung der Rechte des Betroffenen durchzuführen. Zudem verbot der Gerichtshof dessen Hinrichtung.Footnote 4 In einer anderen Entscheidung kam dasselbe Gericht zum Schluss, dass aufgrund der unmittelbaren Wirkungen („autoejecutividad“) des IAGMR-Urteils in der gleichen Sache das konventionswidrige innerstaatliche Urteil quasi automatisch aufgehoben sei.Footnote 5 Der IAGMR hatte zuvor schwere Menschenrechtsverletzungen festgestellt und angeordnet, Guatemala müsse eine „echte und wirksame“ Untersuchung der Verbrechen einleiten und die Täter allenfalls zur Verantwortung ziehen.Footnote 6 Ähnlich ging ein Gericht in Costa Rica vor, nachdem der IAGMR den Staat in Herrera UlloaFootnote 7 wegen eines unverhältnismäßigen strafrechtlichen Urteils gegen den betroffenen Mauricio Herrera Ulloa gerügt hatte.Footnote 8 Das Gericht kam zum Schluss, dass bereits das Urteil des IAGMR das Strafurteil außer Kraft gesetzt habe („dejó sin efectos en todos sus extremos […] la sentencia dictada por este Tribunal“).Footnote 9

Andere Gerichte erlassen lediglich eine Art Ausführungsurteil, um die internationalen Vorgaben auf die innerstaatliche Ebene zu „übersetzen“. Ein Beispiel ist die unmittelbare Folgeentscheidung in der Sache Tristán Donoso gegen Panama. Darin hatte der IAGMR festgestellt, dass die strafrechtliche Verurteilung eines Anwalts aufgrund von gegenüber einem hohen Funktionär getätigten Äußerungen unverhältnismäßig gewesen sei und gegen dessen Meinungsfreiheit verstoßen habe.Footnote 10 Das Gericht verlangte, dass Panama das Urteil gegen Donoso innerhalb eines Jahres aufheben und dafür sorgen müsse, dass sämtliche Auswirkungen des Urteils beseitigt würden.Footnote 11 In der Folge verfasste das oberste Gericht eine „Übereinkunft“, um das Urteil des IAGMR zu erfüllen („acuerdo mediante el cual se da cumplimiento a la sentencia […] de la Corte Interamericana de Derechos Humanos en el caso Santander Tristán Donoso contra Panamá“).Footnote 12 Darin ordnete es an, dass das zur Beschwerde Anlass gebende innerstaatliche Urteil revidiert werden müsse und überwies die Rechtssache an die Strafkammer.Footnote 13 Denn Panama als Mitglied der internationalen Gemeinschaft anerkenne, respektiere und befolge die Entscheidungen des IAGMR.Footnote 14

Auch das oberste mexikanische Gericht formulierte explizit eine Befolgungspflicht für mexikanische Gerichte. Zuvor hatte der IAGMR entschieden, dass Fälle, in denen es um durch Militärangehörige verübte Menschenrechtsverletzungen an Zivilpersonen geht, nicht mehr vor Militärgerichten verhandelt werden dürften. Geklagt hatten die Familienangehörigen des verschollenen Rosendo Radilla-Pacheco, dessen Verschwinden der Gerichtshof Mexiko nun verpflichtete effektiv aufzuklären.Footnote 15 Bevor es zu einem eigentlichen Folgeverfahren kam, in welchem das oberste mexikanische Gericht die betreffende Bestimmung des Militärkodexes schließlich für verfassungswidrig erklärte,Footnote 16 sprachen sich die Richter bereits in einer (nicht bindenden) Resolution zur Frage aus, wie mit der Entscheidung in der Sache Radilla-Pacheco umzugehen sei. Dazu sahen sie sich veranlasst, weil mangels einer gesetzlichen Regelung in Mexiko Unsicherheit über die Umsetzung von Urteilen des IAGMR bestehe.Footnote 17 Sie kamen schließlich zum Schluss, dass aus der Befolgungspflicht der Urteile des IAGMR nach der AMRK folge, dass es den innerstaatlichen Gerichten nicht zustehe, die Schlussfolgerungen des IAGMR zu hinterfragen oder nachzuprüfen. Vielmehr hätten nationale Richter die Urteile in ihrer Gesamtheit anzuerkennen und zu befolgen.Footnote 18 Daraus schloss das Gericht, dass in „strikter Befolgung“ des IAGMR-Urteils („estricto acatamiento a lo resuelto por la Corte Interamericana de Derechos Humanos“)Footnote 19 die in Rede stehende Bestimmung des Militärkodexes nicht mehr zur Anwendung gelangen dürfe.Footnote 20

Gerade aus dem interamerikanischen Kontext gibt es also Beispiele, in denen sich Gerichte zu einer unmittelbaren – und also bedingungslosen – Befolgung der Vorgaben des IAGMR gehalten sehen. Den Beispielen ist gemein, dass ihnen sehr schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen zugrunde liegen. In der Mehrheit der Fälle sind Gerichte aber zurückhaltender und bringen zum Ausdruck, dass sie zwar grundsätzlich bereit sind den Menschenrechtsgerichten zu folgen, sich aber eine gewisse Kontrolle über die Wirkungen der Entscheidungen im innerstaatlichen Rechtsraum vorbehalten – mit der möglichen Folge, dass eine Entscheidung nicht umgesetzt wird.Footnote 21 So statuierte das peruanische Verfassungsgericht ausdrücklich, dass die Konsequenz eines IAGMR-Urteils nicht die „automatische Verdrängung“ des nationalen Rechts sei, sondern sich Gerichte um die „Harmonisierung und Integration“ der internationalen Vorgaben im nationalen Recht bemühen sollten.Footnote 22 Das deutsche Bundesverfassungsgericht postuliert zwar ausdrücklich einen „internationalen und europäischen Dialog der Gerichte“,Footnote 23 betont aber gleichzeitig „die in dem letzten Wort der deutschen Verfassung liegende Souveränität“.Footnote 24 Das Grundgesetz wolle gerade keine „jeder verfassungsrechtlichen Begrenzung und Kontrolle entzogene Unterwerfung unter nichtdeutsche Hoheitsakte“.Footnote 25 Seine Rolle sieht es darin, die Straßburger Judikate in der eigenen Rechtsordnung „einzupassen“,Footnote 26 was auch ein Abweichen vom EGMR bedeuten kann.Footnote 27 Auch das italienische Verfassungsgericht formulierte bereits in seinen „Zwillingsentscheidungen“, die den Weg für den systematischen Einbezug der Straßburger Rechtsprechung in die italienische Rechtsordnung ebneten,Footnote 28 seine Letztentscheidungsbefugnis und behielt sich einen Spielraum vor zu überprüfen, „whether the provisions of the ECHR, as interpreted by the Strasbourg Court, guarantee a protection of fundamental rights that is at least equivalent to the level guaranteed by the Italian Constitution.“Footnote 29

Insbesondere in Europa hat sich eine Reihe von Gerichten ganz explizit dagegen ausgesprochen, dass den Entscheidungen des EGMR unmittelbare Wirkungen in der innerstaatlichen Rechtsordnung zukommen. Mit anderen Worten haben sie deutlich gemacht, dass sie sich nicht direkt an die Straßburger Vorgaben gebunden erachten. Am weitesten geht dabei wohl der französische Verfassungsrat, der bis heute nicht einmal explizit auf den EGMR Bezug nimmt.Footnote 30 Das spanische Verfassungsgericht wiederum betont in ständiger Rechtsprechung, dass die Urteile des EGMR keine rechtsgestaltenden Wirkungen auf der nationalen Ebene beanspruchtenFootnote 31 und grundsätzlich nicht unmittelbar vor spanischen Gerichten durchsetzbar seien („sin efecto directo anulatorio interno, ni ejecutoriedad a cargo de los Tribunales españoles“).Footnote 32

Auch das italienische Verfassungsgericht sprach sich explizit gegen die unmittelbare gerichtliche Durchsetzbarkeit von EGMR-Urteilen vor italienischen Gerichten aus.Footnote 33 Der Verfassungshof erachtete es ausdrücklich als Aufgabe des Gesetzgebers, die Straßburger Entscheidungen umzusetzen.Footnote 34 Dies gelte umso mehr, wenn der Gerichtshof ein strukturelles Defizit im nationalen Recht feststelle.Footnote 35 Laut Kommentatoren ist dieses Urteil als Antwort des Verfassungsgerichts auf den Kassationshof zu sehen, der sich zuvor für die unmittelbare Durchsetzung der Straßburger Judikate durch die Judikative ausgesprochen hatte.Footnote 36 Insbesondere schob das Gericht damit unteren Gerichten, die teilweise Gesetzen aufgrund von EGMR-Urteilen die Anwendung versagt hatten, einen Riegel.Footnote 37 Das Verfassungsgericht strich dabei die Unterschiede zum Unionsrecht hervor, das selbst seine unmittelbare Anwendbarkeit – auch durch untere Gerichte – verlangt.Footnote 38 Die Beschwerdeführer hatten in der ersten der beiden Entscheidungen argumentiert, italienische Gerichte müssten auch im Falle der EMRK, direkt gestützt auf die Verpflichtungen aus der EMRK und die Rechtsprechung des EGMR, entgegenstehendem nationalen Recht die Anwendung versagen.Footnote 39

Nichtsdestotrotz lassen auch diese Gerichte den Entscheidungen des EGMR Wirkungen zukommen, wenn auch auf indirektere Weise. So kommt der französische Verfassungsrat regelmäßig zum gleichen Ergebnis wie der EGMR, weshalb in diesem Zusammenhang oft von einem „stillschweigenden Einbezug“ die Rede ist.Footnote 40 Das italienische Verfassungsgericht bezieht die Rechtsprechung des EGMR sogar im Rahmen seiner Verfassungskontrolle mit ein und vollzieht damit funktional eine Konventionalitätskontrolle.Footnote 41 Ähnlich geht das deutsche Bundesverfassungsgericht vor. Zwar sei die EMRK nicht „unmittelbarer verfassungsrechtlicher Prüfungsmaßstab“; sie sei aber im Rahmen der Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes herbeizuziehen.Footnote 42 Das Bundesverfassungsgericht stehe in diesem Sinne „mittelbar im Dienst der Durchsetzung des Völkerrechts“.Footnote 43 In seinem Urteil zur Sicherheitsverwahrung formulierte das Gericht später noch deutlicher, dass die EMRK sowie auch die Urteile des EGMR als „Auslegungshilfen für die Bestimmung von Inhalt und Reichweite von Grundrechten und rechtsstaatlichen Grundsätzen des Grundgesetzes“ dienten.Footnote 44

Das spanische Verfassungsgericht schließlich betont, dass die fehlende direkte Durchsetzbarkeit der Entscheidungen des EGMR nicht bedeute, dass diesen in der spanischen Rechtsordnung keinerlei Wirkungen zukämen.Footnote 45 Zwar nimmt das spanische Gericht – anders als das italienische – explizit keine Konventionalitätskontrolle vor, lässt sich aber trotzdem von der Auslegung der Straßburger Richter leiten und ist in gewissen Fällen sogar bereit, einzelne Entscheidungen auf dem Wege der Verfassungsbeschwerde umzusetzen.Footnote 46

Diese Beispiele verdeutlichen, dass es für innerstaatliche Gerichte ganz unterschiedliche Möglichkeiten und Techniken gibt, Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte nachzukommen. Auch wenn sich Gerichte nicht in der Lage sehen bzw. nicht willens sind, die internationalen Vorgaben unmittelbar durchzusetzen, scheinen sie oft gewillt, das innerstaatliche Recht zumindest konventionskonform auszulegen. Gerade weil viele Rechtsordnungen die gerichtliche Durchsetzung internationaler Judikate nicht oder nur sehr punktuell regulieren, kommt dem Instrument der „urteilskonformen“ Auslegung des bestehenden nationalen Rechts eine herausragende Bedeutung zu.Footnote 47

Vom Ergebnis aus betrachtet mag es oft sogar keine Rolle spielen, auf welche Art und Weise Gerichte eine Entscheidung umsetzen. Denn auch die Auslegung des nationalen Rechts im Lichte des Völkerrechts, also die indirekte oder mittelbare Anwendung bzw. Befolgung, dient dazu, Völkerrecht tatsächlich statt zu geben. Mittelbar ist die Umsetzung, weil der angewendete Rechtsakt in der Regel nationales Recht ist; die völkerrechtlichen Verpflichtungen werden dabei quasi durch nationales Recht „vermittelt“. Auch diese „Technik“ erlaubt es Gerichten mit anderen Worten in vielen Fällen, internationale Entscheidungen zu befolgen. In diesem Sinne ist die mittelbare Durchsetzung von Völkerrecht eine „powerful alternative“ zur unmittelbaren.Footnote 48 Da das nationale Recht in diesen Fällen „intakt“ bleibt und Gerichte dabei im Rahmen ihrer Kompetenzen handeln, mag die mittelbare Durchsetzung auf dem Weg der konventions- bzw. urteilskonformen Auslegung für viele Gerichte gar das bevorzugte Instrument sein.Footnote 49

Zahlreiche Beispiele legen ferner nahe, dass sich eine klare Abgrenzung zwischen unmittelbarer und mittelbarer Befolgung kaum vollziehen lässt. In vielen Fällen verschwimmen die Grenzen. So betont etwa das italienische Verfassungsgericht in Abgrenzung zum EU-Recht, dass die EMRK und EGMR-Urteile nicht unmittelbarer Grund für die Aufhebung innerstaatlicher Gesetze sein können und bezieht diese lediglich als mittelbaren Prüfmaßstab im Rahmen seiner Verfassungskontrolle mit ein.Footnote 50 In einem späteren Urteil ließ es dann jedoch verlauten, dass es nicht von der Interpretation des EGMR abweichen dürfe, da dieser das zuständige Auslegungsorgan der EMRK sei.Footnote 51 Obwohl das Gericht zwar formell die Verfassungskontrolle in den Händen behält, scheint es inhaltlich für sich kaum Ermessensspielraum zu sehen, und dies sogar dann, wenn sich die in Rede stehende Entscheidung nicht an Italien richtet.Footnote 52 Dies kommt im Ergebnis einer Bindung an den EGMR sehr nahe.

Ähnliche Beispiele finden sich auch in Argentinien, wo die Rechtsprechung des IAGMR grundsätzlich lediglich als „Richtschnur“ im Rahmen der Auslegung der AMRK, die in Argentinien Teil der Verfassung ist, herbeigezogen wird.Footnote 53 Allerdings variiert der Wert, den das oberste Gericht der Rechtsprechung zukommen lässt, von Fall zu Fall.Footnote 54 Während in einigen Fällen leidglich von einer relevanten Auslegungshilfe die Rede ist, wird in anderen von einer unerlässlichen oder zwingenden Richtlinie gesprochen. In seinem Meilensteinurteil Simón etwa bezeichnete das Gericht die internationalen Vorgaben als „Richtschnur bei der Auslegung“ („pauta de interpretación“), empfand es aber als „unabdingar“, die Schlussfolgerungen in Barrios Altos seiner Entscheidung zugrunde zu legen.Footnote 55

Trotzdem besteht ein grundsätzlicher Unterschied zwischen direkter Befolgung im Sinne von Bindung an das Ergebnis und eher prozessorientierter völkerrechtskonformer Auslegung. Den oben genannten Beispielen ist gemein, dass die Gerichte in diesen Fällen zum Ausdruck bringen, dass sie die Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte nicht „ungefiltert“ übernehmen, sondern sich einen Spielraum offenhalten und von Fall zu Fall entscheiden, ob sie einer Entscheidung folgen oder nicht. Besonders zum Ausdruck kommt diese vorbehaltene Kontrolle, wenn Gerichte von vorherein klarstellen, dass sie lediglich gewillt sind, die Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte im Rahmen ihrer eigenen Prüfung zu berücksichtigen. Dies impliziert bereits die Möglichkeit davon abzuweichen und ist somit ein grundlegender Unterschied zur Befolgungspflicht. Bekanntes Beispiel dafür ist der englische Supreme Court, der von Gesetzes wegen verpflichtet ist die Straßburger Entscheidungen zu berücksichtigen („take into account“).Footnote 56 Diese Pflicht unterscheidet er explizit von einer Befolgungspflicht.Footnote 57

1.2. Berücksichtigungs- statt Befolgungspflicht: das Bundesverfassungsgericht

Ausführlich geäußert zu dieser prozeduralen Berücksichtigungspflicht, die der ergebnisorientierten Befolgungspflicht gegenübersteht, hat sich das deutsche Bundesverfassungsgericht in der Leitentscheidung in der Sache Görgülü.Footnote 58 Vorausgegangen war eine Entscheidung des EGMR, in der es um das Sorge- und Umgangsrecht des Beschwerdeführers Kazim Görgülü zu seinem unehelichen Sohn ging. Das Kind war ohne das Wissen des Vaters kurz nach seiner Geburt von der Kindsmutter zur Adoption freigegeben worden und befand sich in der Obhut von Pflegeeltern. Die Bemühungen des leiblichen Vaters um seinen Sohn blieben vor innerstaatlichen Instanzen erfolglos. Schließlich gelangte Görgülü an den EGMR, der zum Schluss kam, die Verweigerung von Umgangs- und Sorgerechten verletze Art. 8 EMRK.Footnote 59 Obwohl der EGMR sich im Tenor mit einer Feststellung einer Konventionsverletzung begnügte, fügte er in den Urteilsgründen hinzu, dass zur Behebung des noch immer andauernden Konventionsverstoßes im vorliegenden Fall dem Kindsvater zumindest der Kontakt zu seinem Sohn ermöglicht werden müsse.Footnote 60 Das Bundesverfassungsgericht sah sich mit dem Fall befasst, weil der Kindsvater erneut den Instanzenzug durchlief, um das zu seinen Gunsten ergangene Straßburger Judikat durchzusetzen. Das zuständige Amtsgericht hatte ihm in der Folge des Urteils des EGMR zwar per Beschluss die alleinige elterliche Sorge übertragen, das übergeordnete Oberlandesgericht Naumburg hob diesen aber wieder auf. Das Urteil des EGMR richte sich nur an Deutschland als Gesamtstaat und sanktioniere lediglich in der Vergangenheit liegende Verstöße.Footnote 61 Darauf erhob Görgülü Verfassungsbeschwerde und rügte eine Verletzung seiner Grundrechte, weil das Gericht das Urteil des EGMR missachtet habe.Footnote 62

In seiner Entscheidung stützte das Verfassungsgericht diese Position und kam zum Schluss, dass die Vorinstanz das EGMR-Urteil bei seiner Entscheidungsfindung nicht hinreichend berücksichtigt habe.Footnote 63 So hätte es sich „in einer nachvollziehbaren Form damit auseinander setzen müssen, wie Art. 6 GG in einer den völkerrechtlichen Verpflichtungen der Bundesrepublik Deutschland entsprechenden Art und Weise hätte ausgelegt werden können.“Footnote 64 In der Folge statuierte das Gericht, dass deutsche Gerichte die Entscheidungen des EGMR zu berücksichtigen hätten. Wichtig dabei ist, dass es diesen Einbezug als Pflicht formulierte: Alle Träger der deutschen öffentlichen Gewalt seien grundsätzlich an die Entscheidungen des Gerichtshofs gebunden.Footnote 65 Dies gelte auch für die Judikative.Footnote 66 Die fehlende Auseinandersetzung deutscher Gerichte mit Urteilen des EGMR kann entsprechend zu einer Verletzung der Verfassung führen.Footnote 67 Das Gericht ebnete damit explizit den Weg für Individuen, die mangelhafte Umsetzung von Urteilen des EGMR vor deutschen Gerichten zu rügen.Footnote 68

Aus dem Urteil wird jedoch auch deutlich, dass das Bundesverfassungsgericht nicht verlangt, dass deutsche Gerichte Urteilen des EGMR in jedem Fall folgen müssen. Vielmehr auferlegt es diesen lediglich die Pflicht, sich mit den internationalen Präjudizien auseinanderzusetzen und belässt ausdrücklich die Möglichkeit, in begründeten Fällen davon abzuweichen. Denn das Bundesverfassungsgericht sieht es als Aufgabe der innerstaatlichen Gerichte, die EGMR-Urteile in die eigene Rechtsordnung einzupassen, wobei es nur im Rahmen „methodisch vertretbarer Gesetzesauslegung“ Spielraum für eine gerichtliche Durchsetzung sieht.Footnote 69 Es sieht die Rolle deutscher Gerichte gerade darin, im Sinne eines „aktiven (Rezeptions-)Vorgangs“ die Vorgaben des EGMR „in den Kontext der aufnehmenden Verfassungsordnung ‚umzudenken‘.“Footnote 70 Erforderlich ist demnach lediglich, dass sich Gerichte „mit der Entscheidung erkennbar auseinandersetzen und gegebenenfalls nachvollziehbar begründen [müssen], warum sie der völkerrechtlichen Rechtsauffassung gleichwohl nicht folgen.“Footnote 71 Dies wurde als „Verpflichtung zur Auseinandersetzung mit einschlägiger Judikatur in Verbindung mit einer besonderen Begründungslast im Abweichsfalle“ bezeichnetFootnote 72 und verdeutlicht die prozedurale Seite der Berücksichtigungspflicht im Gegensatz zur ergebnisorientierten Befolgungspflicht. Görgülü ist damit insbesondere auch eine Entscheidung über die Grenzen des Einbezugs der Anordnungen der Straßburger Richter. Nach der Logik des Bundesverfassungsgerichts kann sowohl die fehlende Auseinandersetzung mit einer einschlägigen EGMR-Entscheidung als auch „deren gegen vorrangiges Recht verstoßende schematische ‚Vollstreckung‘“ gegen die Verfassung verstoßen.Footnote 73 Der Akt der „Einpassung“ kann somit im äußersten Fall einen Bruch der EMRK zur Folge haben.Footnote 74

Spätere Fälle, in denen das Bundesverfassungsgericht die Berücksichtigungspflicht anwendete, konkretisieren, was das Gericht damit meint, dass Gerichte die Entscheidungen des EGMR aktiv in die deutsche Rechtsordnung einzupassen hätten. Insbesondere verdeutlichen die Fälle, dass das Gericht weit davon entfernt ist, EGMR-Entscheidungen mechanisch umzusetzen, sondern sich in jedem Fall eine eigenständige Prüfung vorbehält.Footnote 75 Dies wird zum einen deutlich in der Entscheidung zur Sicherungsverwahrung. Zwar folgten die Richter darin Straßburg im Ergebnis und dies, obwohl das Bundesverfassungsgericht dafür auf eine eigene, frühere Entscheidung zurückkommen musste, in der es anders entschieden hatte. Denn das Gericht hatte sich bereits vor der EGMR-Entscheidung zum Institut der Sicherungsverwahrung ausgesprochen und dieses damals im Grundsatz für verfassungsmäßig erklärt.Footnote 76 In der Literatur wird denn auch vertreten, das Bundesverfassungsgericht gehe „in bislang beispielloser Weise und Reichweite auf das vorangegangene Urteil des EGMR ein“.Footnote 77

Allerdings kam das Gericht lediglich über einen Umweg zum gleichen Ergebnis wie der EGMR. Dieser hatte in seiner Entscheidung in M. gegen Deutschland, in der es um die Sicherungsverwahrung potenziell gefährlicher Straftäter ging, die deutsche Gesetzeslage, die eine Verlängerung der Sicherungsverwahrung in gewissen Fällen zuließ, als nicht konventionskonform befunden. Dabei war er zum Ergebnis gekommen, dass die Regelung als Strafe zu qualifizieren sei und deshalb unter das Rückwirkungsverbot von Art. 7 EMRK fiel.Footnote 78 Außerdem bestand in dem Fall gemäß EGMR keine gesetzliche Grundlage für den Freiheitsentzug, weshalb er auch Art. 5 EMRK als verletzt erachtete.Footnote 79 Dabei übte der EGMR über den Konventionsverstoß im entschiedenen Fall hinaus grundsätzliche Kritik an der deutschen Praxis im Bereich der Sicherungsverwahrung.Footnote 80

Diese nahm das Bundesverfassungsgericht auf. In seinem Urteil im Folgeverfahren war es aber nicht bereit, die nach deutschem Recht geltende Unterscheidung zwischen „Strafen“ und „Maßregeln der Sicherungsverwahrung“, die keinen strafenden, sondern einen präventiven Zweck verfolgen, aufzuheben. Statt letztere wie der EGMR als Strafen zu qualifizieren und unter das Rückwirkungsverbot nach dem Grundgesetz zu subsumieren, behielt es die Unterscheidung ausdrücklich bei. Den Grundrechtseingriff sah das Gericht an anderer Stelle: Es qualifizierte solche Maßnahmen als Eingriff in das Recht auf persönliche Freiheit. Gestützt darauf entwickelte das Gericht seine Doktrin zum sog. „Abstandsgebot“, welches zwischen den zwei Formen des Freiheitsentzugs einzuhalten sei und den Grundrechtseingriff rechtfertige.Footnote 81 Das Bundesverfassungsgericht hielt fest, dass unter der EMRK keine „schematische Parallelisierung“ und „Harmonisierung“ der Rechtsordnungen erforderlich sei, sondern dass der Einbezug der Wertungen des EGMR in einer „ergebnisorientierten Weise“ genüge.Footnote 82 Der EGMR hieß diese Rechtsprechung in einem späteren Urteil ausdrücklich gut und attestierte dem Bundesverfassungsgericht, dass es dadurch der „gemeinsamen Verantwortung“ für die Konvention Rechnung getragen habe.Footnote 83

Noch deutlicher wird das Selbstverständnis des Bundesverfassungsgerichts, eine eigenständige Rolle bei der Urteilsumsetzung wahrzunehmen, in einem Folgeurteil zur Entscheidung Zaunegger gegen Deutschland. Das Bundesverfassungsgericht hatte sich darin mit der Verfassungsmäßigkeit einer Bestimmung des Kindschaftsrechts auseinanderzusetzen, die für nicht verheiratete Eltern vorsah, dass das Sorgerecht des Vaters von der Zustimmung der Mutter abhängig war. Auch in diesem Fall hatte sich das Bundesverfassungsgericht bereits zuvor zu der Bestimmung ausgesprochen und sie unter der Bedingung für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt, dass sich die Annahme des Gesetzgebers, Mütter würden sich bei dieser Entscheidung vom Kindswohl leiten lassen, als richtig erweise. Insofern sei der Gesetzgeber verpflichtet, die tatsächliche Entwicklung im Auge zu behalten.Footnote 84 Der EGMR wiederum war in seiner Entscheidung zum Schluss gekommen, dass die Regelung diskriminierend sei, da die grundsätzliche Alleinsorge der Mutter mit Blick auf das Kindswohl nicht verhältnismäßig sei.Footnote 85

Die erneut mit der Frage befassten Karlsruher Richter kamen in der Folge dieses Mal zum gleichen Ergebnis wie der EGMR und erklärten die Bestimmung als nicht mit Art. 6 des Grundgesetzes vereinbar.Footnote 86 Das Gericht nahm in seiner Entscheidung auch ausführlich auf den EGMR Bezug. Gleichzeitig wird aus der Entscheidung deutlich, dass ausschlaggebend für das Ergebnis letztlich eine Studie des Bundesministeriums für Justiz war, die zum Schluss gekommen war, dass die Entscheidung der Mütter regelmäßig gerade nicht kindswohlorientiert erfolgt.Footnote 87 Die Entscheidung legt nahe, dass das Gericht dem EGMR im Interesse des Kindswohls nicht gefolgt wäre, wenn das Ergebnis anders ausgefallen wäre. Auch diese Entscheidung verdeutlicht, dass sich das Bundesverfassungsgericht eine eigenständige Rolle vorbehält.

Das Folgeverfahren in der Sache Von Hannover gegen Deutschland schließlich zeigt, dass eine vollkommene Angleichung der Standards nicht stattfindet und sich auch der Bundesgerichtshof eine Prüfung im Einzelfall – und eine andere Schlussfolgerung als der EGMR – vorbehält. Zwar bewog die Entscheidung des EGMR, in welcher es um Fragen zum Privatleben von Prinzessin Caroline von Monaco ging, den Bundesgerichtshof zur Anpassung seiner langjährigen Rechtsprechung zur Abwägung von Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrechten bekannter Personen. Allerdings passte der BGH die Prüfung auf den spezifischen Kontext an und kam zu einem vom EGMR leicht abweichenden Ergebnis. Das in der Folge angerufene Bundesverfassungsgericht wiederum sah darin keine Verletzung der Berücksichtigungspflicht. Es sei „verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden, dass der BGH die ihm bei der konkretisierenden Berücksichtigung der Rechtsprechung des Gerichtshofs im Einzelfall obliegende Wertung und Gewichtung dahingehend vorgenommen hat, dass vorliegend ein hinreichender Informationswert gegeben war.“Footnote 88 Der EGMR seinerseits billigte in einem weiteren in der Sache Von Hannover ergangenen Urteil die Vorgehensweise der deutschen Gerichte ausdrücklich.Footnote 89 Dies verdeutlicht, dass er sich zuweilen damit zufrieden gibt, wenn sich Gerichte ernsthaft mit seiner Rechtsprechung auseinandersetzen und ihm grundsätzlich entgegenkommen.Footnote 90

1.3. Mittelbare Durchsetzung zur Legitimitätserzeugung: das Bundesgericht

Für einige Gerichte ist die mittelbare Durchsetzung internationaler Entscheidungen nicht nur deshalb vorzugswürdig gegenüber einer unmittelbaren Durchsetzung, weil diese Technik, bei der das innerstaatliche Recht „intakt“ bleibt, schonender scheint, sondern auch, weil die völkerrechtlichen Verpflichtungen dabei durch innerstaatliches Recht „vermittelt“ werden und dadurch eine gewisse Legitimität erzeugt wird. Ein Beispiel dafür ist das schweizerische Bundesgericht. In der Schweiz besteht zwar formell-rechtlich die Möglichkeit, dass das Bundesgericht eine eigentliche Konventionalitätskontrolle vornimmt; Völkerrecht bildet einen eigenständigen Beschwerdegrund vor Bundesgericht.Footnote 91 Seitdem die Verfassung 1999 an die EMRK angeglichen worden ist, hat die eigenständige Rolle der EMRK in der schweizerischen Rechtsordnung aber an Bedeutung verloren. Im Schrifttum wird gar beobachtet, dass die Bundesrichter es zuweilen vorziehen, sich statt auf die EMRK auf konventionskonform ausgelegtes Verfassungsrecht zu stützten,Footnote 92 und dies, obwohl das Bundesgericht als offen und „loyal“ gegenüber Straßburg gilt.Footnote 93 Das Bundesgericht hat die Rolle der EMRK damit in seiner Praxis „abgemildert“.Footnote 94

Ein Grund dafür ist zum einen sicherlich der hohe Deckungsgrad von Verfassung und Konvention. Denn die EMRK bildete ein wichtiges Vorbild bei der Ausgestaltung des Grundrechtskatalogs im Rahmen der Verfassungsreform von 1999,Footnote 95 was sich in besonderem Maße bei den Verfahrensrechten zeigt.Footnote 96 Vor der Verfassungsreform im Jahr 1999 enthielt die Verfassung lediglich einen bruchstückhaften Grundrechtekatalog. Diese besondere Rolle, welche die EMRK für die schweizerische Rechtsordnung und insbesondere auch die Verfassung gespielt hat,Footnote 97 führt dazu, dass das Bundesgericht zuweilen die Auslegung des EGMR auch bei der Auslegung der Verfassung einbezieht. Dies wird deutlich in einer Entscheidung aus dem Jahr 2007, in der das Gericht zum ersten Mal in einer Leitentscheidung eine Änderung seiner Rechtsprechung mit Bezug auf das sog. „unbedingte Replikrecht“ bekannt machte, zur Frage also, wann Streitparteien im Verfahren eingereichte Stellungnahmen einsehen und sich dazu äußern können.Footnote 98 Die Umsetzung dieser Rechtsprechung aus Straßburg hatte in der Schweiz einige Schwierigkeiten bereitet und zu zahlreichen Entscheidungen gegen die Schweiz Anlass gegeben.Footnote 99 Nun stützte sich das Bundesgericht auf die „ständige Rechtsprechung“ des EGMR zu dieser Frage, indem es auf das Urteil Nideröst-HuberFootnote 100 und weitere gegen die Schweiz ergangene Entscheidungen verwies.Footnote 101 Darin hatte der EGMR seine Rechtsprechung bestätigt, wonach das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Abs. 1 EMRK das Recht umfasse, „von jedem Aktenstück und jeder dem Gericht eingereichten Stellungnahme Kenntnis zu nehmen und sich dazu äußern zu können, sofern sie dies für erforderlich halten.“Footnote 102 Das Bundesgericht las diese Anforderungen des EGMR an die Garantie des rechtlichen Gehörs in die entsprechende Garantie der Bundesverfassung (Art. 29 Abs. 2) hinein. So müsse der Rechtsprechung des EGMR zu den Verfahrensgarantien auch bei der Auslegung von Art. 29 Abs. 2 BV Rechnung getragen werden.Footnote 103 Als Grund nannte das Gericht ausdrücklich, dass die in Rede stehende Verfassungsbestimmung der EMRK nachgebildet worden ist: „Dieser Rechtsprechung liegt die Überlegung zugrunde, dass die Grundsätze des fair trial gemäss Art. 6 Ziff. 1 EMRK in Art. 29 Abs. 1 BV als allgemeine Verfahrensgrundsätze übernommen worden sind und deshalb für alle gerichtlichen Verfahren gelten.“Footnote 104

Ein weiterer Grund für die „protektionistische“ Haltung des Bundesgerichts zugunsten der Bundesverfassung dürfte aber sein, dass die Akzeptanz des innerstaatlichen Rechts größer ist als die des Völkerrechts.Footnote 105 Keller spricht diesbezüglich von einer „wertvollen Hilfestellung, um die Legitimität der Entscheide zu erhöhen“.Footnote 106 Indem die Richter formell nationales Recht anwenden, vermitteln sie gegen außen ein Bild der Eigenständigkeit und Unabhängigkeit von Straßburg, was insbesondere in Staaten wie der Schweiz, in denen zuweilen eine zu starke Einflussnahme des Konventionssystems auf die innerstaatliche Rechtsordnung beklagt wird,Footnote 107 eine gewisse „besänftigende“ Wirkung haben dürfte. Trotzdem ist das Ergebnis natürlich regelmäßig dasselbe und ist die wichtige und einflussreiche Stellung Straßburgs nicht zu verkennen. Auch dies deutet darauf hin, dass die Technik der mittelbaren Umsetzung internationaler Vorgaben nur scheinbar eine schonendere Variante ist als die unmittelbare Befolgung. Darauf wird eingehender zurückzukommen sein.

2. Die Abwägung innerstaatlicher Gerichte

Viele Gerichte versuchen also, ihre unterschiedlichen Rollen – als völkerrechtliche Erfüllungsgehilfen einerseits und als Hüter über die nationale Rechtsordnung andererseits – in Ausgleich zu bringen, indem sie einen Mittelweg beschreiten. Sie sind zwar bereit, den Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte Wirkungen zukommen zu lassen, jedoch nicht bedingungslos und ohne Mitsprache. Welches sind aber die Gründe und Erwägungen, die Gerichte dazu bewegen, den Menschenrechtsgerichten zu folgen, und dies möglicherweise auch trotz entgegenstehendem nationalem Recht? Die Beispiele zeigen, dass es eine Reihe von Faktoren gibt, die regelmäßig entscheidend dafür sind, dass innerstaatliche Gerichte den Menschenrechtsgerichten folgen. Dabei handelt es sich gerade nicht um starre Kriterien, wie viele Gerichte sie beim Test der unmittelbaren Anwendbarkeit von Völkervertragsrecht verwenden. Vielmehr wägen Gerichte die verschiedenen Interessen gegeneinander ab und entscheiden im Einzelfall, welches Interesse höher wiegt – das Interesse an der Befolgung einer Entscheidung oder an möglicherweise entgegenstehenden Gründent. Bevor die Faktoren, die Gerichte zur Befolgung bewegen, im Einzelnen erörtert werden (2.2.), gilt es jedoch zu erläutern, wieso bestimmte andere Faktoren für Gerichte gerade keine große Rolle spielen, wenn sie mit der Umsetzung einer Entscheidung von EGMR bzw. IAGMR konfrontiert sind, nämlich verschiedene Faktoren formell-rechtlicher Natur (2.1.).

2.1. Vorab: die untergeordnete Rolle formeller Fragen

Selbst wenn innerstaatliche Gerichte Völkerrecht für grundsätzlich unmittelbar anwendbar halten, kann dessen tatsächliche Anwendung in der Praxis immer noch an der fehlenden innerstaatlichen Geltung der entsprechenden Normen oder an höherrangigem innerstaatlichem Recht scheitern. Der Frage der innerstaatlichen Geltung von Völkerrecht und dessen Rang in der Normenhierarchie kommt mit anderen Worten herkömmlicherweise großes Gewicht zu für die Frage, ob nationale Gerichte Völkerrecht innerstaatlich Folge geben können.Footnote 108 Die Beispiele legen jedoch nahe, dass dies im Zusammenhang mit den Entscheidungen von EGMR und IAGMR anders ist. Auch eine dritte Frage schließlich spielt, wie schon gesehen, eine erstaunlich kleine Rolle, nämlich das Vorliegen expliziter gesetzlicher Ermächtigungstatbestände zur Umsetzung internationaler Judikate bzw. überhaupt von rechtlichen Faktoren im innerstaatlichen Recht, die eine Umsetzung begünstigen. Zweifellos erleichtern Faktoren wie die Offenheit einer Verfassung gegenüber menschenrechtlichen Instrumenten zwar die Umsetzung von Judikaten. Wie zu zeigen sein wird, sind sie allerdings regelmäßig nicht die ausschlaggebenden Faktoren dafür, ob Gerichte dem EGMR bzw. IAGMR folgen oder nicht.

a) Die Frage der innerstaatlichen Geltung (Wirksamkeit)

Ob nationale Gerichte an Völkerrecht gebunden sind und dieses innerstaatlich anwenden können, hängt immer auch davon ab, dass dieses Teil des innerstaatlichen Rechts geworden ist oder, mit anderen Worten, innerstaatliche Geltung erlangt hat. Obwohl es sich bei der Geltung und der Ausführungsbedürftigkeit um zwei verschiedene Fragen handelt, stellen sie sich nationalen Gerichten deshalb oft in einem Zuge.Footnote 109 Angesichts der Tatsache, dass die wenigsten Rechtsordnungen Vorschriften kennen, die internationale Judikate explizit zum Teil des innerstaatlich geltenden Rechts machen,Footnote 110 mag es auf den ersten Blick erstaunen, dass die Frage, ob eine internationale Entscheidung Teil des innerstaatlichen Rechts geworden ist, für innerstaatliche Gerichte kaum ein Hindernis für die Umsetzung der Judikate von EGMR und IAGMR darstellt. In der Mehrzahl der untersuchten Beispiele äußern sich Gerichte nicht einmal explizit zu der Frage.

Die Erklärung dafür dürfte sein, dass die meisten Gerichte davon ausgehen, dass die ursprünglich erfolgte Zustimmungserklärung zu den Konventionen sowie die Unterwerfung unter die Gerichtsbarkeit der Menschenrechtsgerichte und das allenfalls daraufhin erfolgte innerstaatliche Prozedere sich auch auf die Entscheidungen der Gerichte erstreckt.Footnote 111 Für das deutsche Bundesverfassungsgericht etwa ist Ausgangspunkt in streng dualistischer Manier das Zustimmungsgesetz, mittels dessen die Bundesrepublik der EMRK innerstaatlich den Anwendungsbefehl erteilt hat. Dieses in Verbindung mit dem Rechtsstaatsprinzip führt gemäß Bundesverfassungsgericht zur Pflicht, die EMRK mitsamt den dazu ergangenen Entscheidungen einzubeziehen.Footnote 112 Eine wichtige Rolle spielt dabei ferner der Grundsatz der Völkerrechtsfreundlichkeit. Denn die über den entschiedenen Einzelfall hinausgehende Beachtung der Entscheidungen lässt sich über das Zustimmungsgesetz nur unzureichend begründen, zumal das Bundesverfassungsgericht über die Vorgaben der EMRK hinausgeht.Footnote 113 Die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes und dessen „inhaltliche Ausrichtung auf die Menschenrechte“ verlangten es, den Garantien der Menschenrechtskonvention in der Bundesrepublik Deutschland möglichst umfassend Geltung zu verschaffen.Footnote 114

Auch das kolumbianische Verfassungsgericht sprach sich ausdrücklich für die innerstaatliche Geltung auch der Judikate des IAGMR aus, da die gesamte Konvention und somit auch die Bestimmungen zur Bindungswirkung der Urteile mittels Inkorporation in der Verfassung (Art. 93) Teil der kolumbianischen Rechtsordnung geworden seien.Footnote 115 Aus diesem Grund seien Entscheidungen des IAGMR nicht nur auf der zwischenstaatlichen Ebene bedeutsam, sondern wirkten direkt in den innerstaatlichen Rechtsraum hinein.Footnote 116 Das peruanische Verfassungsgericht verwies lediglich darauf, dass gemäß Art. 55 der peruanischen Verfassung völkerrechtliche Verträge mit der Ratifikation automatisch innerstaatlich Geltung erlangen („formar parte del ordenamiento jurídico nacional“).Footnote 117 Das oberste guatemaltekische Gericht verwies ohne weitere Erklärungen darauf, dass Art. 68 AMRK vom Kongress mittels Dekret gutgeheißen worden sei („aprobada por Decreto 6-78 del Congreso de la República de Guatemala“).Footnote 118 Das spanische Verfassungsgericht wiederum hielt fest, dass die fehlende unmittelbare Durchsetzbarkeit von EGMR-Urteilen nicht bedeute, dass diesen in Spanien gar keine Wirkungen zukämen, da die EMRK gemäß Verfassungsauftrag in Art. 96 der Verfassung Teil der spanischen Rechtsordnung geworden sei („habida cuenta de que el Convenio europeao forma parte de nuestro Derecho interno“).Footnote 119 Der italienische Kassationshof schließlich kam zum Schluss, dass EGMR-Urteile Rechte und Pflichten darstellen, die auch innerhalb der Rechtsordnung gelten („rights and obligations which also operate within the domestic legal order“).Footnote 120

Insgesamt lässt sich also sagen, dass zahlreiche Gerichte von der innerstaatlichen Inkorporation der zum Zeitpunkt der Zustimmung zu den Konventionen erst noch zu ergehenden Entscheidungen ausgehen. Dieses Ergebnis deckt sich mit Erkenntnissen aus der Literatur zum europäischen System, wonach formelle Anforderungen für die innerstaatliche Wirksamkeit der EMRK bzw. der Entscheidungen des EGMR eine untergeordnete Rolle spielen.Footnote 121 Bei Staaten, in denen die Konvention selbst keine innerstaatliche Geltung zukommt, weil sie die Konventionsgarantien auf andere Weise umsetzen, wie dies etwa für England und die skandinavischen Staaten gilt, mag dies anders sein. Denn da greift die Urteilsbefolgungspflicht „ins Leere“.Footnote 122 Dies ist nicht zuletzt einer der Gründe dafür, dass diese Staaten aus der vorliegenden Studie ausgeklammert werden.Footnote 123 Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die innerstaatliche Erlangung von Geltung bei dieser Art „dynamischen“ Völkerrechts zumindest da kein Hindernis darstellt, wo der zugrunde liegende Vertrag in seiner Gesamtheit innerstaatlich geltendes Recht geworden ist.

b) Die Rolle der Rangfrage

Wie wir gesehen haben, sind innerstaatliche Gerichte bereit, den Entscheidungen von EGMR und IAGMR weitreichende Wirkungen zukommen zu lassen, und dies nicht selten auf Kosten geltenden innerstaatlichen Rechts.Footnote 124 Dabei fällt auf, dass eine weitere Frage in diesem Zusammenhang wider Erwarten keine zentrale Rolle spielt, und zwar die Frage nach dem Rang der zugrunde liegenden völkerrechtlichen Verpflichtungen in der innerstaatlichen Normenhierarchie.Footnote 125 Dies ist insofern erstaunlich, als dass die unmittelbare Anwendbarkeit einer Norm alleine in der Regel nicht dazu führt, dass sich eine völkerrechtliche Bestimmung gegen entgegenstehendes nationales Recht durchzusetzen vermag – im Konfliktfall geht die höherrangige Norm vor.Footnote 126

Zwar gibt es durchaus einige Beispiele, vorwiegend aus dem interamerikanischen Kontext, in denen Gerichte die Durchsetzung der Urteile der Menschenrechtsgerichte nicht zuletzt damit begründet haben, dass die völkerrechtlichen Verpflichtungen vorgingen. Sie haben die Vorrangfrage insofern zugunsten der menschenrechtlichen Entscheidungen entschieden. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass in Lateinamerika in vielen Staaten menschenrechtliche Konventionen und insbesondere die AMRK gerade wegen ihrer Natur Verfassungs- oder gar Überverfassungsrang genießen. Hintergrund ist, wie weiter oben ausführlicher dargestellt, die zentrale Funktion, die diesen Instrumenten im Rahmen des Aufbaus und der Stärkung der Rechtsstaatlichkeit in den noch jungen Demokratien Lateinamerikas zukommt.Footnote 127 Diese privilegierte Behandlung menschenrechtlicher Verträge erlaubt es Gerichten oft relativ problemlos, Urteile des IAGMR umzusetzen. Teilweise nehmen sie dabei eine bemerkenswert offene Haltung ein, die als streng monistisch bezeichnet werden könnte. Dies gilt etwa für die Urteile des obersten guatemaltekischen Gerichtes, in denen dieses nicht mehr viel anderes tut, als die Urteile des IAGMR für innerstaatlich wirksam zu erklären.Footnote 128 Aufgrund seiner völkerrechtlichen Verpflichtungen sei es zu deren Umsetzung verpflichtet, so die Begründung. Dabei verwies das Gericht in einer Aufzählung ohne weitere Ausführungen unter anderem auf Art. 46 der Verfassung, der den Vorrang der AMRK vor innerstaatlichem Recht statuiert, in der Praxis im Einzelnen aber umstritten ist.Footnote 129 Auch das kolumbianische Verfassungsgericht sah sich in einem Fall bedingungslos zur Umsetzung einer Entscheidung des IAGMR verpflichtet und fügte in einem Nebensatz schlicht hinzu, dass die völkerrechtlichen Verpflichtungen kraft Verfassung Vorrang hätten („obligaciones de carácter internacional que por mandato constitucional prevalecen en el orden interno“).Footnote 130 Das oberste panamaische Gericht äußerte sich nicht explizit zur Rangfrage und hielt lediglich fest, dass Panama als Mitglied der internationalen Gemeinschaft die Urteile des IAGMR anerkenne, respektiere und befolge.Footnote 131

Auch andere Gerichte sprechen sich durchaus zur Frage des Platzes der individuell-konkreten Judikate von EGMR und IAGMR innerhalb der Normenhierarchie aus. So gewährte das oberste Gericht Costa Ricas der gesamten interamerikanischen Rechtsprechung gar Überverfassungsrang. In einem obiter dictum hielt es fest, dass den Entscheidungen des IAGMR der gleiche Rang zukommen müsse wie der Konvention selbst. Weil menschenrechtlichen Verträgen nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung Überverfassungsrang zukommt, gilt dies entsprechend auch für die dazu ergangenen Entscheidungen.Footnote 132 Das italienische Verfassungsgericht wählt einen Mittelweg: Es lässt der EMRK in der Auslegung der Straßburger Richter eine Stellung über einfachen Gesetzen, aber unterhalb der Verfassung zukommen („norme interposte“).Footnote 133 Das oberste venezolanische Gericht wiederum erklärte, dass IAGMR-Urteilen gerade kein Verfassungsrang zukomme, obwohl der AMRK selbst gemäß der Verfassung von Venezuela Verfassungsrang zukommt.Footnote 134

Im Ergebnis spielt der formelle Rang aber selbst in Fällen, in denen sich Gerichte explizit zu der Frage äußern, nicht immer eine ausschlaggebende Rolle. So qualifizierte etwa das bolivianische Verfassungsgericht ein Urteil des IAGMR explizit als Teil des „bloque de constitucionalidad“.Footnote 135 Die Folge war, dass ein der Umsetzung der Entscheidung entgegenstehendes Gesetz „beseitigt“ werden konnte. Nicht thematisiert wurde vom Gericht demgegenüber der dadurch entstandene Konflikt mit anderen Verfassungsbestimmungen. Es berief sich schlicht darauf, dass die Befolgung des IAGMR-Urteils zwingend sei („imperante“).Footnote 136 Damit liegt die Vermutung nahe, dass das Gericht jenseits formeller Gründe schlicht dem als wichtig erachteten Urteil des IAGMR Folge geben wollte. Auch das italienische Verfassungsgericht nutzt EGMR-Urteile trotz deren formalen Status unterhalb der Verfassung funktional zur Verfassungskontrolle von Gesetzen.Footnote 137 Der französische Verfassungsrat wiederum schließt die Prüfung von Gesetzen am Maßstab der menschenrechtlichen Vorgaben de iure zwar explizit aus; es besteht jedoch kein Zweifel darüber, dass er sich de facto trotzdem maßgeblich am EGMR orientiert.Footnote 138

Zahlreiche Gerichte sprechen sich aber nicht so explizit zur Rangfrage aus, und zwar selbst dann, wenn sie internationale Entscheidungen unmittelbar durchsetzen, was, wie dargestellt, regelmäßig zu Konflikten mit innerstaatlichem Recht führt. Wie ist diese Praxis zu deuten? Wieso stellt die Rangfrage im Rahmen der Urteilsdurchsetzung so selten ein Problem dar?

Ein Teil der Antwort dürfte sein, dass sich innerstaatlichen Gerichten die Rangfrage in der Praxis oft gar nicht erst stellt. Der Grund ist, dass die Konventionen Garantien enthalten, die denjenigen verfassungsmäßiger Grundrechte ganz ähnlich sind; manche Verfassungen sind den Konventionen gar nachgebaut. Dies erklärt sicherlich auch, wieso die völkerrechtskonforme Auslegung in diesem Bereich eine so wichtige Rolle spielt. Indem viele Gerichte die Rechtsprechung der Menschenrechtsgerichte in die verfassungsmäßigen Grundrechte „hineinlesen“, erheben sie diese faktisch quasi auf Verfassungsstufe.

Jenseits der formellen Ähnlichkeit der Garantien aber dürfte auch die besondere Natur der menschenrechtlichen Instrumente und deren Funktion innerhalb des Rechtsstaates eine Rolle spielen. So betonte etwa das italienische Verfassungsgericht in seinen „Zwillingsentscheidungen“, dass Ziel der EMRK der Grundrechtsschutz sei; damit ergänze das Menschenrechtssystem die italienische Verfassung.Footnote 139 In Deutschland steht die EMRK lediglich im Rang eines einfachen Gesetzes, trotzdem kommt ihr gemäß der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine „verfassungsrechtliche Bedeutung“ zu. Begründet wird dies mit der „inhaltlichen Ausrichtung auf die Menschenrechte“ des Grundgesetzes.Footnote 140 In diesem Sinne seien die Grundrechte auch als „Ausprägung der Menschenrechte zu verstehen“, welche diese „als Mindeststandard in sich aufgenommen“ hätten.Footnote 141 Die Heranziehung der Rechtsprechung des EGMR über den Einzelfall hinaus diene dazu, „den Garantien der Menschenrechtskonvention in der Bundesrepublik möglichst umfassend Geltung zu verschaffen“.Footnote 142 Dies wird auch als Verfassungsrang der Sache nach bezeichnet.Footnote 143

In Lateinamerika beriefen sich verschiedene Gerichte auf das Pro-persona-Prinzip, das im Falle eines Konflikts zwischen der interamerikanischen und der innerstaatlichen Rechtsordnung ausschlaggebend sein soll. Ein Beispiel ist das guatemaltekische Gericht, das damit die Umsetzung eines IAGMR-Urteils entgegen nationalen Rechts rechtfertigte.Footnote 144 Ähnlich äußerte sich auch das peruanische Verfassungsgericht. In Martin Rivas, in welchem dieses ein nationales Amnestiegesetz auf der Basis der Rechtsprechung des IAGMR als nicht „verfassungsmäßig legitim“ erachtete,Footnote 145 betonte es, dass es nicht einer starren Vorrangregel zugunsten entweder des internationalen oder des nationalen Rechts folge. Aus dem Urteil des IAGMR fließe nicht die „automatische Derogation der entgegenstehenden Normen des innerstaatlichen Rechts“.Footnote 146 Im Interesse des beiden Ebenen gemeinsamen Ziels eines effektiven Schutzes der Grundrechte sei vielmehr eine integrierende und harmonisierende Lösung und eine „Beziehung der Kooperation“ zwischen den Rechtsordnungen geboten.Footnote 147

Wohl prominentestes Beispiel dürfte aber das oberste mexikanische Gericht sein, das für seine progressive Rechtsprechung gar den UN-Menschenrechtspreis erhieltFootnote 148 und als „shining example of best practices“ bezeichnet wurde.Footnote 149 In der Leitentscheidung aus dem Jahr 2013, mit welcher das Gericht Beobachtern zufolge den Grundrechtsschutz zum Herzstück der mexikanischen Rechtsordnung erhob,Footnote 150 statuierten die Richter ausdrücklich, dass für die Befolgung von Judikaten des IAGMR über den entschiedenen Einzelfall hinaus nicht die formelle Hierarchie ausschlaggebend sein solle. Vielmehr sei, in Einklang mit dem Pro-persona-Prinzip, entscheidend, welche Rechtsordnung – die nationale oder die internationale – dem Betroffenen weiterreichenden Schutz biete.

Ausgangspunkt der Entscheidung bildete der neue Art. 1 der mexikanischen Verfassung, der im Jahr 2011 reformiert worden war und statuiert, dass allen Personen in Mexiko die Grundrechte und die für Mexiko verbindlichen völkerrechtlichen Menschenrechte zuständen. Deren Ausübung könne nur unter den von der Verfassung vorgesehenen Bedingungen eingeschränkt werden.Footnote 151 Obwohl Art. 133 den höchsten Rang in der Normenhierarchie der Verfassung zuschreibt,Footnote 152 leitete das Gericht daraus ab, dass sämtliche von Mexiko ratifizierte menschenrechtliche Verträge Teil eines „einheitlichen Katalogs“ („mismo catálogo“) seien, welcher der Kontrolle der mexikanischen Rechtsordnung diene.Footnote 153 Keine Rolle spiele dabei, ob es sich dabei um internationale oder nationale Rechte handle.Footnote 154 In der Folge verwarf das Gericht im Bereich der Menschenrechte das Konzept der Hierarchie und statuierte, dass es sich dabei gewissermaßen um ein „amalgama de derechos“ handle.Footnote 155 So sei es gerade das Ziel der neuen Verfassungsbestimmung, von einer Hierarchisierung abzukommen und einen integrierten Katalog von Rechten zu etablieren.Footnote 156

Zwar darf dies nicht darüber hinwegtäuschen, dass viele Gerichte das letzte Wort der Verfassung vorbehalten und betonen, dass im Falle eines Konfliktes mit der Verfassung bzw. dem Kern der Verfassung die Grenze der Durchsetzbarkeit erreicht ist.Footnote 157 Interessanterweise ist es aber auch in den Fällen, in denen innerstaatliche Gerichte den Menschenrechtsgerichten die Gefolgschaft verweigert haben, regelmäßig nicht der formelle Vorrang der Verfassung, der den Ausschlag dafür gab. Vielmehr nehmen Gerichte auch in dieser Konstellation regelmäßig eine Abwägung vor und entscheiden nach der Wichtigkeit der konkurrierenden Ansprüche und damit nach inhaltlichen Kriterien. Darauf wird eingehender zurückzukommen sein.

c) Die Rolle anderer rechtlicher Parameter

Schließlich spielen auch andere rechtliche Parameter eine untergeordnete Rolle für die Frage, ob innerstaatliche Gerichte Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte Folge geben oder nicht. Zwar begünstigen die sehr völker- und insbesondere menschenrechtsfreundlichen Verfassungen zahlreicher lateinamerikanischer Staaten sicherlich die Rezeption der Entscheidungen des IAGMR, und die bemerkenswert offene Haltung einzelner Gerichte ist zweifellos auch vor diesem Hintergrund zu erklären.Footnote 158

Diese rechtlichen Faktoren sind aber oft nicht die einzige Erklärung für den Einbezug der Vorgaben des EGMR bzw. IAGMR. Auch in Europa würden viele Verfassungen einen weitergehenden Einbezug der Vorgaben des EGMR erlauben, als dass Gerichte ihn tatsächlich vornehmen. Ein Beispiel dafür ist die spanische Verfassung, deren Art. 10 Abs. 2 vorschreibt, dass die spanische Verfassung in Einklang mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen Spaniens auszulegen sei und Vorbild für viele lateinamerikanische Verfassungen bildete.Footnote 159 Anders als zahlreiche seiner lateinamerikanischen Pendants nutzt das spanische Verfassungsgericht diese Bestimmung aber gerade nicht für eine Konventionalitätskontrolle und lässt Urteilen des EGMR nur in relativ engen Grenzen verfassungsrechtliche Bedeutung zukommen.Footnote 160 Auch der französische Verfassungsrat hat die an sich bestehende Möglichkeit, die EMRK im Rahmen der Verfassungskontrolle einzubeziehen, bewusst nicht genutzt. Andererseits kann sogar eine privilegierte Stellung der Menschenrechtskonvention auf Verfassungsstufe Gerichte nicht zur Einhaltung völkerrechtlicher Pflichten zwingen, wie das venezolanische und jüngst das argentinische Beispiel illustrieren.Footnote 161 Dies legt nahe, dass auch andere, außerrechtliche Faktoren eine Rolle spielen für die Frage, wie Gerichte internationale Entscheidungen behandeln.

Selbst das Vorliegen eines Auslegungsspielraums ist schließlich nicht alleine maßgebend. Zwar sind einige Gerichte wie gesehen eher bereit den Menschenrechtsgerichten zu folgen, wenn das innerstaatliche Recht einen Auslegungsspielraum enthält und die Umsetzung entsprechend auf dem Wege der völkerrechtskonformen Auslegung gelingt.Footnote 162 Somit begünstigt die inhaltliche Nähe bzw. sogar Überlappung der Konventionsgarantien mit den verfassungsmäßigen Grundrechten sicherlich den Einbezug der Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte. Einige Gerichte haben sich explizit gegen eine Umsetzung ausgesprochen, wenn Gesetzesrecht klar entgegensteht; zahlreiche Gerichte erkennen zudem in der Verfassung eine absolute Grenze für die Umsetzbarkeit der Judikate von EGMR und IAGMR.Footnote 163 Allerdings verwenden Gerichte das Instrument der völkerrechtskonformen Auslegung zuweilen in einer sehr instrumentellen, zweckorientierten Art und Weise und strapazieren nicht selten die Wortlautgrenze, um einer Entscheidung Folge geben zu können.Footnote 164 Welches sind also die wahren Gründe, die Gerichte zum Handeln bewegen? Darauf soll nun vertieft eingegangen werden.

2.2. Die Faktoren für die gerichtliche Durchsetzung internationaler Entscheidungen

Formal-rechtliche Faktoren spielen also nur bis zu einem gewissen Grad eine Rolle für die Frage, welche Wirkungen innerstaatliche Gerichte den Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte zukommen lassen. Welches aber sind die Faktoren, die den Ausschlag dafür geben, dass Gerichte den Menschenrechtsgerichten folgen? Auf diese Frage soll nun vertieft eingegangen werden.

a) Durchsetzung oder Prävention

Für eine Reihe von Gerichten spielt bei der Bestimmung der Rechtsfolgen zunächst die Frage eine Rolle, ob sich eine Entscheidung gegen ihren Staat oder einen Drittstaat richtet. Zwar ziehen zahlreiche Gerichte heute die gesamte Rechtsprechung von EGMR bzw. IAGMR auch vorausschauend mit ein.Footnote 165 Oft machen sie allerdings einen qualitativen Unterschied abhängig davon, ob es um die eigentliche Durchsetzung von Entscheidungen oder die Beachtung der Rechtsprechung im weiteren Sinne, die res interpretata, geht.Footnote 166 Gerichte stufen die Urteilswirkungen also je nach Konstellation ab und messen Entscheidungen entsprechend unterschiedliches Gewicht bei. Grundsätzlich lässt sich sagen, dass die Bindung von größerer Intensität ist, wenn sich ein Urteil gegen den eigenen Staat richtet als wenn es sich um ein gegen einen Drittstaat ergangenes Urteil handelt.

Das Bundesverfassungsgericht etwa lässt der Rechtsprechung des EGMR im weiteren Sinne lediglich eine „Orientierungswirkung“ zukommen. Während es in Görgülü aber noch von einer „faktischen Präzedenzwirkung“ von EGMR-Entscheidungen ausging,Footnote 167 hat es diese jüngst eingeschränkt und macht nun deutlich, dass es jenseits von Art. 46 EMRK insbesondere die „Grundwertungen“ der Konvention seien, die von deutschen Gerichten einbezogen werden müssten.Footnote 168

Auch an den untersuchten Beispielen aus Argentinien zeigt sich, dass der oberste Gerichtshof zwar die gesamte interamerikanische Rechtsprechung in eigenen Verfahren einbezieht, sich aber nur in unmittelbaren Folgeverfahren bedingungslos nach dem IAGMR richtet.Footnote 169 Dies tat er im Beispielsfall dann aber auch, obwohl er mit der Entscheidung des IAGMR bzw. deren weitreichenden Folgen im nationalen Recht nicht einverstanden war und diese kritisierte.Footnote 170 Ähnliches gilt für Kolumbien, wo das Verfassungsgericht die gesamte Rechtsprechung der interamerikanischen Organe über Art. 93 der Verfassung als Auslegungshilfe im Rahmen der Verfassungskontrolle berücksichtigt, für die Durchsetzung von Kolumbien im engeren Sinne betreffenden Entscheidungen aber das Instrument der Verfassungsbeschwerde („acción de tutela“) zulässt und in diesen Konstellationen keinen Auslegungsspielraum sieht.Footnote 171

Deutlich hat diese Unterscheidung auch das oberste mexikanische Gericht gemacht: Es hielt fest, dass die Bindung der mexikanischen Gerichte („la vinculación“) nicht die gleiche sei, wenn Mexiko nicht Verfahrenspartei ist. Während die Richter gegen Mexiko ergangene Urteile als bindend behandeln müssten („criterio vinculante“), dienten alle anderen Urteile der Orientierung („criterio orientador“).Footnote 172 Beachtet werden müsse die Rechtsprechung im weiteren Sinne nur, wenn das innerstaatliche (Verfassungs-)Recht keinen weitergehenden Schutz für Individuen beinhalte.Footnote 173 Nur die auf einen konkreten Sachverhalt bezogenen und auf einem bestimmten Rechtsrahmen beruhenden Akte von Staatsorganen, zu denen sich der IAGMR ausgesprochen hat, sei der Staat verpflichtet tel quel zu befolgen.Footnote 174 Das oberste Gericht spricht in diesem Zusammenhang von der „función tutelar“, der „bevormundenden“ Funktion des IAGMR, deren Ziel es sei, die Menschenrechtsverletzungen in einem konkreten Fall zu beheben.Footnote 175 Gerichte von Drittstaaten hingegen handelten nicht zur Wiedergutmachung, sondern zur Verhinderung von Konventionsverletzungen („función preventiva“).Footnote 176 Erforderlich sei der Einbezug der Konventionsauslegung durch den Gerichtshof, da sich der Inhalt der Konvention erst zusammen mit der Rechtsprechung gelesen erschließe. In diesem Sinne handle es sich dabei bis zu einem gewissen Grad um eine Erweiterung („una extensión“) der Konvention.Footnote 177 Mit dieser Entscheidung übernimmt das oberste mexikanische Gericht die Rechtsprechung des IAGMR. Es akzeptierte darin schließlich auch explizit die Doktrin der KonventionalitätskontrolleFootnote 178 und ordnete an, dass mexikanische Gerichte diese künftig ex officio durchzuführen hätten.Footnote 179

Andere Gerichte sind sogar nur dann bereit zu handeln, wenn sich das in Rede stehende Urteil gegen ihren Staat richtet. So unterstreicht etwa das österreichische Verfassungsgericht den rechtlichen Unterschied zwischen res iudicata und der Rechtsprechung des EGMR im weiteren Sinne für die österreichische Rechtsordnung und hob in einer Entscheidung eine Bestimmung des nationalen Rechts erst auf, nachdem der EGMR diese in Sporer explizit als nicht konventionskonform befunden hatte.Footnote 180 Der Verfassungsgerichtshof kam zum Schluss, er sehe sich „angesichts des Urteils des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte im Fall Sporer in Beachtung der Rechtspflicht des Art. 46 EMRK gehalten, der in diesem Urteil getroffenen Feststellung zu folgen, dass das Fehlen der Möglichkeit gerichtlicher Überprüfung im Gefolge der Anordnung des § 166 erster Satz ABGB konventionswidrig ist.“Footnote 181 Im Anwendungsbereich von Art. 46 EMRK sei „auch der Verfassungsgerichtshof im Rahmen eines bei ihm anhängigen Verfahrens dazu verpflichtet, einen konventionskonformen Zustand herzustellen.“Footnote 182 Dabei hielt das Gericht ausdrücklich fest, dass es sich dazu aufgrund des zuvor gegen Deutschland ergangenen Urteils in der Sache Zaunegger,Footnote 183 das sich mit der ähnlichen deutschen Rechtslage befasst hatte, nicht verpflichtet gefühlt hatte.Footnote 184

Gerade weil es eine Unterscheidung zwischen res iudicata und res intepretata nicht vornahm, war die Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts demgegenüber als zu rigide kritisiert worden. Das Gericht hatte in seinen „Zwillingsentscheidungen“ statuiert, dass die Urteile in beiden Fällen beachtet werden müssten.Footnote 185 Es begründete dies damit, dass Normen erst in ihre Anwendung und Interpretation zu „leben“ begännen.Footnote 186 Der EGMR sei dabei als Garant für einen einheitlichen Schutz der Menschenrechte in Europa eingesetzt worden: „Definitive uniformity in application is […] guaranteed by the centralised interpretation of the ECHR attributed to the European Court of Human Rights in Strasbourg, which has the last word.“Footnote 187 In einem Urteil aus dem Jahr 2009 machte das Verfassungsgericht deutlich, dass es die Bindungswirkung in einem strikten Sinne verstand und sich selbst somit – innerhalb bestimmter GrenzenFootnote 188 – keinen Ermessensspielraum zugestand, davon abzuweichen: „This Court cannot substitute its own interpretation of a provision of the ECHR for that of the Strasbourg Court, thereby exceeding the bounds of its own powers, and violating a precise commitment made by the Italian state through signature and ratification of the Convention without any derogations.“Footnote 189 Kritisiert an dieser Position wurde insbesondere, dass sie nicht genügend berücksichtige, dass die über die Befolgungspflicht hinausgehende Auslegung der EMRK eine gemeinsame Aufgabe von nationalen Gerichten und EGMR sei.Footnote 190 Die Idee eines „Monopols“ des EGMR erscheine nicht sinnvoll; es sei auch Aufgabe der nationalen Gerichte, zu einer Fortentwicklung des Konventionssystems beizutragen.Footnote 191 Inzwischen ist das Gericht von dieser Praxis abgewichen.Footnote 192

b) Etablierte und konsistente Rechtsprechung

Eine Rolle kann für innerstaatliche Gerichte ferner spielen, ob es sich bei der in Rede stehenden internationalen Rechtsprechung um eine etablierte Rechtsprechung handelt. Denn damit steigt die Wahrscheinlichkeit, dass EGMR bzw. IAGMR auch in einem gegen ihren Staat ergehenden Urteil eine Konventionsverletzung feststellen würden. So nannte das oberste argentinische Gericht das Bestehen einer konstanten Rechtsprechung als Grund für eine über den entschiedenen Einzelfall hinausgehende Beachtung.Footnote 193 Auch in der Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts spielt dieser Faktor eine – gar zunehmendeFootnote 194 – Rolle. So kam das italienische Verfassungsgericht in einer jüngeren Entscheidung zum Schluss, es sei „only ‚consolidated law‘ resulting from the case law of the European Court on which the national courts are required to base their interpretation, whilst there is no obligation to do so in cases involving rulings that do not express a position that has not become final.“Footnote 195

c) Präzision der Vorgaben

Die Präzision oder „Vollständigkeit“ einer Norm ist für viele Gerichte eine der entscheidenden Voraussetzung bei der Beurteilung der unmittelbaren Anwendbarkeit von Völkervertragsrecht.Footnote 196 Auch im Zusammenhang mit den Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte wird gemeinhin davon ausgegangen, dass konkretere Anordnungen zu einer besseren Befolgung führen, da sie zum einen den Druck auf die Staaten erhöhen, zum anderen aber die Urteilsumsetzung auch erleichtern, indem sie ihnen den Weg weisen.Footnote 197 Die Vermutung liegt also nahe, dass präzise Vorgaben vonseiten der Menschenrechtsgerichte auch die direkte Befolgung durch nationale Gerichte begünstigen. Dies gilt ganz besonders für den interamerikanischen Kontext, wo der IAGMR seinen Urteilen standardmäßig detaillierte Angaben beifügt.Footnote 198

Entgegen dieser Vermutung haben sich nur wenige Gerichte zum Kriterium der Präzision der Vorgaben der Menschenrechtsgerichte geäussert. Beispiele sind das kolumbianische Verfassungsgericht und der italienische Kassationshof. In beiden Fällen kamen aber wichtige weitere Gründe hinzu, welche die Gerichte dazu bewogen zu handeln.Footnote 199 Das kolumbianische Verfassungsgericht sprach sich im Fall 19 Comerciantes ausführlich zu Bedingungen der direkten gerichtlichen Durchsetzbarkeit von IAGMR-Entscheidungen aus. Nicht „direkt vollstreckbar“ („ejecutadas de inmediato“) seien demnach Anordnungen, die wegen ihrer Komplexität eine „Verkettung einer Reihe von Akten“ oder das Tätigwerden spezieller Justizbehörden erforderten.Footnote 200 Dabei hatte das Gericht etwa die Pflicht zur Verfolgung und Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen vor Augen, wie sich aus den Erwägungen ergibt. Als ungeeignet für eine direkte gerichtliche Durchsetzung erachtete das Gericht ferner Maßnahmen, die nicht bereits vollkommen präzise ausgestaltet seien („ordenadas con absoluta precisión“) und dem Staat einen Interpretations- und Verhandlungsspielraum beließen.Footnote 201 Der italienische Kassationshof kam in Dorigo zum Schluss, dass es sich bei der in Rede stehenden EGMR-Entscheidung um eine präzise Pflicht handle, nach der sich die italienischen Richter zu richten hätten („preciso obbligo giuridico del giudice nazionale italiano a conformarsi alla giurisprudenza di quella Corte“).Footnote 202 Das Gericht sah in der Folge seinen Ermessensspielraum auf Null reduziert und gab der Entscheidung Folge.

Auch andere Beispiele legen nahe, dass die Anordnung konkreter Maßnahmen die direkte gerichtliche Durchsetzung zumindest begünstigt. So scheinen etwa spanische Gerichte eher bereit einzuschreiten, wenn der EGMR gewisse Schritte explizit anordnet. Dies legen zwei Fälle nahe: Im ersten Fall, Fuentes Bobo, war das spanische Verfassungsgericht nicht bereit die Entscheidung umzusetzen, im zweiten Fall hingegen wurde die Audiencia Nacional, ein besonderes Bundesstrafgericht, aktiv.Footnote 203 Während sich der EGMR in Fuentes Bobo nicht zu innerstaatlich erforderlichen Maßnahmen geäußert hatte und auch vage geblieben war, was die genaue Zusammensetzung der Entschädigungssumme anbelangt,Footnote 204 hatte er im zweiten Fall im Tenor die sofortige Freilassung der Beschwerdeführerin Inés del Río Prada angeordnet.Footnote 205 Im ersten Fall hatte das Ministerkomitee den Fall ferner für abgeschlossen erklärt, nachdem die geforderte Summe bezahlt worden war.Footnote 206 Das spanische Verfassungsgericht war daraufhin zum Schluss gekommen, dass die Rechtsverletzungen des Beschwerdeführers bereits abgegolten waren und lehnte ein weiteres Tätigwerden ab.Footnote 207 Dies wurde in Spanien unter Verweis auf an sich bestehende Restitutionsmöglichkeiten kritisiert.Footnote 208

In allen Beispielen aber spielten zusätzliche Gründe eine Rolle dabei, wie die Gerichte entschieden, wie noch zu zeigen sein wird. Insgesamt lässt sich damit sagen, dass konkrete Anordnungen die gerichtliche Durchsetzung von Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte befördern, aber kein unabdingbares Kriterium sind. Dafür spricht auch, dass gerade im EMRK-System die Anordnung konkreter Maßnahmen nach wie vor die Ausnahme bleibt,Footnote 209 was Gerichte nicht davon abhält, dennoch zur Umsetzung der Entscheidungen beizutragen.

d) Schwere der Menschenrechtsverletzung und Gesamtkontext

Eine wesentliche Rolle spielt in vielen Fällen die Schwere der zugrunde liegenden Menschenrechtsverletzung. Dies wird regelmäßig dann noch verstärkt, wenn die Verletzung nach wie vor andauert. In diesen Fällen sind Gerichte oft bereit aktiv zu werden – und zwar selbst dann, wenn innerstaatliches Recht entgegensteht. Dies zeigt sich deutlich an der Rechtsprechung des spanischen Verfassungsgerichts, das auch vor der Einführung einer Wiederaufnahmemöglichkeit lediglich in gewissen qualifizierten Fällen bereit war, bereits rechtskräftige Urteile wiederzueröffnen. Obwohl es sich grundsätzlich auf den Standpunkt stellte, dass EGMR-Entscheidungen nicht direkt gerichtlich durchsetzbar seien, ließ es Verfassungsbeschwerden mit dem Ziel der Wiedereröffnung von Verfahren zu, wenn eine Konventionsverletzung gleichzeitig eine noch andauernde Verletzung der Verfassung bedeutete („Violación-actual-Doktrin“). Im Ergebnis ließ das Verfassungsgericht die Wiedereröffnung indes lediglich in besonders schweren Fällen zu, nämlich dann, wenn die Betroffenen nach wie vor von Freiheitsstrafen betroffen waren.Footnote 210 Demgegenüber ließ es eine Durchbrechung der Rechtskraft in der Sache Fuentes Bobo, der eine arbeitsrechtliche Streitigkeit zugrunde lag, gerade nicht zu.Footnote 211

Der Beschwerdeführer, dem gemäß EGMR auf konventionswidrige Weise beim öffentlich-rechtlichen Fernsehen gekündigt worden war, wollte in einem unmittelbaren Folgeverfahren seine Wiedereinstellung erreichen und klagte deshalb auf Revision seines Urteils. Er machte mittels Verfassungsbeschwerde geltend, die Nichtwiedereröffnung seines Verfahrens verletze sein Recht auf eine wirksame Beschwerde in Verbindung mit der Meinungsäußerungsfreiheit nach der spanischen Verfassung (Art. 24 Abs. 1). Das Gericht kam jedoch zum Schluss, dass die Verletzung der Rechte des Beschwerdeführers im Gegensatz etwa zu Fällen, in denen die Person noch im Gefängnis sitze, nicht mehr fortdauere. Zudem bestehe auch gar kein Schaden mehr, da Spanien den Forderungen des EGMR durch die Zahlung der Entschädigung vollumfänglich nachgekommen sei. Beleg hierfür sei, dass das Ministerkomitee den Fall für abgeschlossen erklärt habe.Footnote 212 Ferner verwarf das Gericht die Argumentation, das zuständige Gericht hätte die bestehenden Revisionsgründe im Bereich des Arbeitsrechts extensiv auslegen müssen, um günstige Urteile des EGMR darunter zu fassen. Einen expliziten Revisionsgrund stellten Urteile des EGMR in Spanien auch für arbeitsrechtliche Streitigkeiten nicht dar. Der Beschwerdeführer hatte sich auf den Standpunkt gestellt, dass es sich um „wiedererlangte Dokumente“ im Sinne der einschlägigen Gesetzesbestimmung handelte.Footnote 213 Indem es vorliegend keinen Revisionsgrund angenommen habe, habe das Gericht das Recht auf eine wirksame Beschwerde verletzt. In einem strafrechtlichen Fall hatte das Verfassungsgericht eine solche Rüge zuvor bereits zugelassen und statuiert, dass in Fällen, in denen die Aufrechterhaltung der Rechtskraft wegen ihres „Rigorismus und Formalismus“ von einem klaren Missverhältnis zwischen dem zu schützenden Gut, der Rechtskraft und der dahinter stehenden Rechtssicherheit auf der einen und der Wiedereröffnung auf der anderen Seite zeugten, die Verfassung verletzt sei.Footnote 214 Vorliegend kam das Verfassungsgericht jedoch zum Schluss, dass es für die Durchbrechung der Rechtskraft in diesen Fällen einer Gesetzesänderung bedürfe.Footnote 215

Ein Fall, in welchem die „Violación-actual-Doktrin“ zur Anwendung kam, ist das unmittelbare Folgeurteil zur Entscheidung in der Sache Del Río Prada. Die Strafkammer der Audiencia Nacional, einem für einige besondere Delikte zuständigen Gericht, erkannte in der andauernden Freiheitsstrafe der Beschwerdeführerin eine Verletzung des Rechts auf persönliche Freiheit nach der spanischen Verfassung (Art. 17 Abs. 1) und ordnete die sofortige Freilassung der Betroffenen und die Aufhebung der entgegenstehenden innerstaatlichen Urteile an.Footnote 216 Nur einen Tag zuvor hatte die Große Kammer des EGMR entschieden, dass Spanien durch die rückwirkende Anwendung einer neuen Praxis, die zu einer Verschiebung des Datums der Freilassung der Beschwerdeführerin und damit im Ergebnis einer nachträglichen Verlängerung der Strafe geführt hätte, Art. 7 und 5 EMRK verletzt habe.Footnote 217 Die Beschwerdeführerin, die zwischen 1988 und 2000 im Zusammenhang mit Terroranschlägen in verschiedenen Strafverfahren zur maximalen Freiheitsstrafe von 30 Jahren verurteilt worden war, wäre demnach statt 2008 erst im Jahr 2017 freigekommen.Footnote 218 Es handelte sich dabei um einen derjenigen Fälle, in denen der EGMR hinsichtlich der Art der Beendigung der Konventionsverletzung eine „Ermessensreduktion auf Null“ angenommen und im Tenor die sofortige Freilassung der Beschwerdeführerin angeordnet hatte.Footnote 219 Bereits dies verdeutlicht die Schwere der Rechtsfolgen des Konventionsverstoßes, die vom spanischen Gericht in der Folge anerkannt wurde, da der EGMR nur in Ausnahmefällen von dieser Technik Gebrauch macht.Footnote 220

Eine ähnliche Rechtsprechung hat auch das oberste estnische Gericht entwickelt. Auch dieses erachtete zwar den Gesetzgeber als zuständig dafür, Wiederaufnahmegründe einzuführen, sieht sich in gewissen Fällen aber ermächtigt einzuschreiten.Footnote 221 Zunächst verlangt es dafür, dass die Wiedereröffnung ein angemessenes Mittel für die Behebung eines vom EGMR festgestellten Konventionsverstoßes ist und dass außerdem kein anderes geeignetes Mittel zur Wiedergutmachung besteht. Dies sei dann nicht der Fall, wenn bereits das EGMR-Urteil selbst oder eine finanzielle Entschädigung eine genügende Wiedergutmachung böten. Darüber hinaus verlangt das Gericht, ganz ähnlich wie das spanische Gericht, dass eine andauernde Konventionsverletzung besteht. Anders als das spanische Verfassungsgericht betont es dabei ausdrücklich, dass es sich um eine wesentliche Verletzung („substantial violation“) handeln müsse, die die Rechtsstellung des Betroffenen beeinträchtige. Dies sei der Fall, wenn nach wie vor spürbare negative Konsequenzen für die betroffene Person bestünden.Footnote 222 Dabei verlangt das Gericht, dass das Interesse an der Wiedereröffnung gegenüber dem Interesse an Rechtssicherheit und möglicherweise involvierten Rechten Dritter überwiegt.Footnote 223

Deutlich wird die Verbindung zwischen der Schwere der Menschenrechtsverletzungen und der Bereitschaft von Gerichten aktiv zu werden in Entscheidungen, die sich zu Lasten von Individuen auswirken. Zu dieser Konstellation kommt es vornehmlich im interamerikanischen Kontext, wo insbesondere die „strafrechtliche“ Rechtsprechung des IAGMR, also Entscheidungen, in denen der Gerichtshof die effektive Aufarbeitung von schweren, zumeist im Kontext der blutigen Diktaturen verübten Menschenrechtsverletzungen verlangt, immer wieder zu Konflikten mit (Verfassungs-)Rechten von Einzelpersonen führt.Footnote 224 Trotz dieser Konflikte sind innerstaatliche Gerichte in zahlreichen Entscheidungen der Forderung des IAGMR, in Scheinprozessen ergangene Urteile wiederzueröffnen, nachgekommen. Die Beispiele legen nahe, dass der Grund die besondere Natur der in Rede stehenden Verletzungen und deren Begehen im Kontext der Diktaturen ist.

Ein Beispiel ist eine Entscheidung des bolivianischen Verfassungsgerichts, in der es eine Verfassungsbeschwerde von vier Personen ablehnte. Diese wehrten sich gegen die Wiedereröffnung von zunächst für verjährt erklärten Strafverfahren im Zusammenhang mit dem Verschwinden eines jungen Mannes im Jahr 1972 während der Diktatur. Darin erkannten sie eine Verletzung des in der Verfassung garantierten Legalitätsprinzips.Footnote 225 Die Wiedereröffnung der Verfahren erfolgte im Zuge der Entscheidung Trujillo-Oroza gegen Bolivien, in welcher Bolivien seine Verantwortlichkeit für die Verletzung des Rechts auf Leben und anderer Konventionsrechte des Betroffenen anerkannt hatte.Footnote 226 Der IAGMR hatte unter anderem angeordnet, dass Bolivien den Vorfall untersuchen und die Verantwortlichen bestrafen müsse.Footnote 227

Das Verfassungsgericht argumentierte, aufgrund der besonderen Schwere der in Rede stehenden Verletzungen handle es sich nicht um gewöhnliche Delikte. Daraus schloss es auf deren Unverjährbarkeit.Footnote 228 Dabei machte es deutlich, dass es der AMRK und dem Gerichtshof eine zentrale Rolle im Rahmen der Absicherung der Rechtsstaatlichkeit zuerkennt: Der IAGMR sei der ultimative und letzte Garant für die Achtung der Menschenrechte („último y máximo garante en el plano supranacional del respeto a los Derechos Humanos“).Footnote 229 Aus der Perspektive der bolivianischen Verfassung sei es gerade Zweck des IAGMR, zur Verwirklichung eines auf Achtung der Menschenrechte basierenden Staates beizutragen. Dabei bildeten der IAGMR und seine Rechtsprechung die Grundpfeiler dieses „Verfassungsstaates“ („Estado Constitucional“).Footnote 230

Ein weiteres Beispiel ist das Folgeurteil in der Sache Bulacio, in dem das oberste argentinische Gericht aufgrund eines Urteils des IAGMR ein rechtskräftiges Urteil aufhob und ein neues Strafverfahren zu Lasten des Betroffenen anordnete. Dem Fall lag der Tod eines Jugendlichen zugrunde, der in Polizeigewahrsam ums Leben gekommen war. Argentinien hatte seine Verantwortlichkeit in dem Fall anerkannt und der IAGMR in der Folge angeordnet, Argentinien müsse die Straftat aufklären und die Täter zur Verantwortung ziehen.Footnote 231

Das mit der Entscheidung befasste Gericht sah sich aufgrund der für Argentinien völkerrechtlich bindenden Entscheidung verpflichtet, sich nach dessen Inhalt zu richten („debe subordinar“).Footnote 232 Ein Sondervotum spezifiziert, dass aufgrund der Entscheidung des IAGMR der Entscheidungsspielraum der argentinischen Judikative erheblich eingeschränkt sei und die Verjährungsvorschriften, die ursprünglich zu einem Freispruch geführt hatten, im vorliegenden Fall nicht angewendet werden dürften.Footnote 233 Es handle sich um eine „unvermeidbare Pflicht“ („un deber insoslayable“), dass das Gericht im Rahmen seiner Zuständigkeit zur Erfüllung der völkerrechtlichen Verpflichtungen beitrage.Footnote 234 Das Gericht folgte dem IAGMR in dem Fall jedoch nicht, ohne ihn scharf zu kritisieren. Denn die Richter sahen sich gezwungen, zur Erfüllung der internationalen Vorgaben die verfassungsmäßig garantierten Verteidigungsrechte des Beschuldigten im Strafprozess zu beschneiden, und hoben das Dilemma, in dem sie sich befanden, deutlich hervor.Footnote 235

Dass das Gericht dem IAGMR trotzdem folgte, hing mit der Natur der in Rede stehenden Rechtsverletzung zusammen. Denn in einem späteren Fall, der sich nach der Diktatur ereignet hatte, weigerte sich das Gericht zunächst ausdrücklich, die in Rede stehenden Verfassungsrechte zu Gunsten der Umsetzung einer IAGMR-Entscheidung auszusetzen.Footnote 236 Es begründete dies damit, dass es sich im vorliegenden Fall gerade nicht um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelte. Seit dem Übergang zur Demokratie verfolge der argentinische Staat keine systematische Politik mehr, die Anlass zu solchen Verbrechen geben könnte. Im Bereich des ordentlichen Strafrechts, das folglich zur Anwendung kam, war das Gericht jedoch nicht dazu bereit von verfahrensrechtlichen Prinzipien abzuweichen.Footnote 237

e) Gerichte als letzter Ausweg

In einigen Fällen waren Gerichte auch dann bereit Entscheidungen umzusetzen, wenn sie für die Betroffenen quasi den letzten Ausweg bildeten. In diesen Fällen wird klar, dass sie die gerichtliche Durchsetzung als Ausnahmeinstrument ansahen, da die Umsetzung der internationalen Vorgaben in diesen Fällen eigentlich in die Zuständigkeit anderer Akteure fiel. Da diese es aber versäumt hatten die erforderlichen Schritte vorzunehmen, erachteten Gerichte sich als ermächtigt ausnahmsweise „einzuspringen“, um zu verhindern, dass die Entscheidungen unbefolgt blieben.

Das kolumbianische Verfassungsgericht etwa hielt im unmittelbaren Folgeurteil zur Entscheidung in der Sache 19 ComerciantesFootnote 238 zwar grundsätzlich die Exekutive für zuständig, die in Rede stehenden Anordnungen – die Errichtung eines Denkmals und dessen Eröffnung in einer feierlichen Zeremonie für 19 durch paramilitärische Einheiten getötete Personen – umzusetzen. Da die Regierung ihrer Pflicht allerdings nicht gebührend nachgekommen war, erachteten es die Richter als zulässig, die Entscheidung quasi ersatzweise umzusetzen. Sie stellten sich auf den Standpunkt, dass die angemessene Frist zur Umsetzung verstrichen sei und ein Einigungsversuch mit den Opfervertretern zu keinem befriedigenden Ergebnis geführt hatte.Footnote 239

Ein weiteres Beispiel ebenfalls aus Kolumbien ist das unmittelbare Folgeurteil zur Entscheidung des IAGMR in der Sache Masacres de Ituango.Footnote 240 Darin ging es um die Verantwortlichkeit Kolumbiens im Zusammenhang mit zwei von paramilitärischen Gruppen verübten Massakern und der Zerstörung von Dörfern, welche die Zwangsumsiedlung der Betroffenen zur Folge hatte. Die Vorwürfe gegen Kolumbien bestanden darin, die betroffene Bevölkerung nicht genügend geschützt und später keine ausreichende Untersuchunge der Vorfälle vorgenommen zu haben. Der IAGMR hängte seinem Urteil eine lange Liste von Maßnahmen zur Wiedergutmachung an. Unter anderem war Kolumbien gehalten, ein Wohnungsprogramm aufzustellen, medizinische Maßnahmen zur Verfügung zu stellen sowie Sicherheitsmaßnahmen zu treffen, damit Betroffene in ihre Dörfer zurückkehren konnten.Footnote 241 Weil zahlreiche Punkte des Urteils jedoch Jahre nach Ergehen nicht umgesetzt worden waren, gelangten verschiedene von dem Urteil umfasste Personen mittels Verfassungsbeschwerde an das Verfassungsgericht.

Dieses stellte fest, dass auch über drei Jahre nach dem Urteil die Erfüllung der zentralen Maßnahmen ausstand.Footnote 242 Das Problem war, dass die entsprechenden Gesetzesänderungen noch nicht vorgenommen worden waren. Deshalb ordnete das Verfassungsgericht an, dass sämtliche explizit von dem Urteil des IAGMR umfasste Personen nun unmittelbar gestützt auf die Entscheidung des IAGMR Anspruch auf die genannten Reparationsmaßnahmen hätten.Footnote 243 Es listete in seiner Folgeentscheidung die Schlussfolgerungen des IAGMR auf und druckte gar den Katalog verfügter Maßnahmen in voller Länge ab.Footnote 244 Das Gericht begründete seine Entscheidung mit den völkerrechtlichen Verpflichtungen Kolumbiens und insbesondere damit, dass innerstaatliches Recht der Erfüllung völkerrechtlicher Pflichten nicht entgegengehalten werden könne.Footnote 245 Denn Kolumbien treffe die Pflicht, die vom IAGMR angeordneten Maßnahmen nicht nur binnen nützlicher Frist, sondern auch vollständig umzusetzen. Dabei komme dem Staat keinerlei Ermessenspielraum zu.Footnote 246 Durch die Nichtumsetzung verstoße Kolumbien letztlich nicht nur gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen, sondern auch gegen die verfassungsmäßigen Grundrechte der Betroffenen.Footnote 247

Besonders eindrücklich ist der Fall des Italieners Paolo Dorigo. Dieser war 1994 im Zusammenhang mit einem Terroranschlag auf eine NATO-Anlage zu einer langen Gefängnisstrafe verurteilt worden. Ende der 90er-Jahre stellte die damalige Europäische Kommission und später das Ministerkomitee fest, dass das Verfahren unter schweren Mängeln gelitten habe, und empfahl Italien dessen Wiederaufnahme.Footnote 248 Denn es bestünden „ernsthafte Zweifel an der Gültigkeit des Urteils an sich“, und eine Entschädigung alleine vermöge die „sehr schweren negativen Konsequenzen“ für den Beschwerdeführer nicht auszugleichen.Footnote 249 Wiederholt forderte das Ministerkomitee die italienischen Behörden in der Folge auf, Maßnahmen zu ergreifen, um die Konventionsverletzung zu beheben. Da die italienische Rechtsordnung damals keine entsprechende Wiederaufnahmemöglichkeit vorsah, verwies das Ministerkomitee auch auf die Möglichkeit einer Gesetzesrevision.Footnote 250 Eine solche kam jedoch nicht zustande und die auf die Straßburger Entscheidung gestützten Beschwerden des Betroffenen blieben erfolglos. Die Gerichte stellten sich auf den Standpunkt, dass ihnen die Hände gebunden seien und es Sache des Gesetzgebers sei, der Sache beizukommen.

Jahre später, als die Freiheitsstrafe beinahe verbüßt, das Urteil aber immer noch nicht umgesetzt war, gelangte der Fall erneut an den Kassationshof. Dieser kam angesichts dieses „déni de justice flagrant“Footnote 251 zum Schluss, dass ein Zuwarten auf eine Gesetzesänderung für den Betroffenen nicht mehr länger zumutbar sei.Footnote 252 Angesichts der bereits Jahre dauernden und möglicherweise ungerechtfertigten Freiheitsberaubung sei eine unhaltbare Situation entstanden.Footnote 253 In dieser Situation sah das Gericht sein Einschreiten als angebracht, um angesichts der „andauernden Untätigkeit“ („prolungata inerzia“) des Gesetzgebers im vorliegenden Fall eine rechtmäßige Situation herzustellen.Footnote 254 Zwar sei man sich bewusst, dass im Parlament Vorstöße erfolgt seien, um eine explizite Wiederaufnahmemöglichkeit von Strafurteilen zu schaffen, wie sie in gewissen Bereichen bereits bestünden. Jedoch sei deren Verabschiedung nach wie vor nicht in Sicht, weshalb das „Gesetzesvakuum“ fortbestehe.Footnote 255 Nun sei die Situation aber dringend und eine gesetzliche Lösung könne nicht mehr abgewartet werden.Footnote 256

Um den Forderungen aus Straßburg endlich nachzukommen, griff das Gericht schließlich zu eher unorthodoxen Mitteln: Mangels einer Wiedereröffnungsmöglichkeit verpflichtete es den Vollstreckungsrichter, das Straßburger Urteil unmittelbar „anzuwenden“ („immediata applicazione della decisione della Corte di Strasburgo“).Footnote 257 Es ordnete an, dass das ursprüngliche Urteil für nicht vollstreckbar erklärt und der Beschwerdeführer sofort aus dem Gefängnis entlassen werde.

3. Fazit: Interessensabwägung statt vorgefertigte Lösungen

Gerichte sind heute in zahlreichen Fällen und Konstellationen bereit, zur Umsetzung der Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte beizutragen. Allerdings sehen sich nur wenige und vorwiegend lateinamerikanische Gerichte unmittelbar an die Menschenrechtsgerichte gebunden und damit verpflichtet deren Entscheidungen tel quel und bedingungslos umzusetzen. Die Mehrheit der Gerichte greift auf indirektere Techniken wie die völkerrechtskonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts zurück, um den internationalen Vorgaben in eigenen Verfahren gerecht zu werden. Auch dadurch gelingt es im Ergebnis oft, Entscheidungen ohne vorheriges Tätigwerden durch die Legislative nachzukommen. Dies zeigt, dass es ein breites Spektrum an Techniken und Möglichkeiten gibt, die Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte gerichtlich durchzusetzen und verdeutlicht, dass die herkömmliche Unterscheidung zwischen Befolgung und Nichtbefolgung bzw. Bindung und Nichtbindung zu eng ist und nicht die volle Bandbreite an Wirkungen zu fassen vermag, die Gerichte den Urteilen der Menschenrechtsgerichten verleihen.Footnote 258 Für viele Gerichte scheinen indirekte Techniken gar vorzugswürdig, weil sie „schonender“ scheinen und den Eindruck der Kompetenzanmaßung vermeiden. Allerdings nutzen viele Gerichte das Instrument der mittelbaren Befolgung in einer so ergebnisorientierten Weise, dass die Grenzen zwischen unmittelbarer und mittelbarer Befolgung im Ergebnis oft verschwimmen.

Trotzdem bleibt die Unterscheidung zwischen unmittelbaren und anderen, indirekteren Umsetzungstechniken wichtig. So erscheint das Instrument der unmittelbaren Befolgung insofern wirksamer und ein Stück weit radikaler, als dass es die Durchsetzung des Völkerrechts unabhängig vom oder allenfalls gar entgegen des geltenden innerstaatlichen Rechts verspricht. „International Law can best control the exercise of the public power of the state […] in states that allow for direct effect.“Footnote 259 Für das Instrument der direkten Durchsetzung („direct effect“) wird die Metapher des Schwerts bemüht, das in die innerstaatliche Rechtsordnung eindringen und allfällige Hindernisse überwinden kann.Footnote 260 Das Instrument suggeriert das Bild der effektiven Verwirklichung von Völkerrecht im innerstaatlichen Rechtsraum.

Noch wichtiger scheint indes, dass Gerichte, die Entscheidungen lediglich mittelbar umsetzen, damit immer auch zum Ausdruck bringen, dass sie sich eine Kontrolle über die Wirkungen der Entscheidungen auf der innerstaatlichen Ebene vorbehalten. Diese Entscheidungen sind somit regelmäßig auch Entscheidungen über die Grenzen der Gefolgsbereitschaft innerstaatlicher Gerichte, die sich nicht nur als „Erfüllungsgehilfen“ der Menschenrechtsgerichte, sondern auch als Hüter über die eigene Rechtsordnung verstehen und sich vorbehalten zu deren Aufrechterhaltung schützend einzugreifen.

Welche Gründe geben im Rahmen der Abwägung innerstaatlicher Gerichte nun aber den Ausschlag? Zunächst einmal zeigen die Beispiele, dass sich Gerichte auf beiden Kontinenten im Rahmen der Entscheidung, ob sie eine Entscheidung von EGMR bzw. IAGMR durchsetzen, von ganz ähnlichen Erwägungen leiten lassen. Zwar gibt es durchaus Unterschiede: So sind lateinamerikanische Gerichte deutlich offener gegenüber ihrem regionalen Pendant als die untersuchten (west-)europäische Gerichte. Diese unterschiedliche Haltung, die sich sicherlich auch vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Lebensrealitäten auf den beiden Kontinenten und entsprechend der unterschiedlichen Funktionen, welche die Menschenrechtsgerichte erfüllen, erklärt, schlägt sich allerdings nicht notwendigerweise im Ergebnis nieder. Auf beiden Kontinenten sind Gerichte wie gesehen regelmäßig bereit und gelingt es ihnen auch, den menschenrechtsgerichtlichen Entscheidungen Folge zu leisten. Es handelt sich somit eher um Unterschiede gradueller denn prinzipieller Natur.

Insbesondere zeigt die Untersuchung, dass Gerichte gerade keine kategorische Position einnehmen. Anders als bei der Beurteilung der unmittelbaren Anwendbarkeit von Völkervertragsrecht haben sie keinen eigentlichen Test entwickelt und machen die Befolgung nicht von formellen Kriterien abhängig. Vielmehr nehmen sie eine materielle Abwägung im Einzelfall vor und wählen damit eine flexible Herangehensweise. Statt von Kriterien ist es damit treffender von Faktoren zu sprechen, die für Gerichte entscheidend sind im Rahmen ihrer Entscheidung, ob sie den Menschenrechtsgerichten im Einzelfall foglen. Welche Faktoren und Erwägungen spielen im Rahmen dieser Abwägung nun aber eine Rolle?

Keine große Rolle spielen zunächst einmal rechtliche Bedingungen wie das Vorliegen von Transformations- oder Umsetzungsgesetzen oder der formelle Vorrang der völkerrechtlichen Verpflichtungen vor innerstaatlichem Recht. Vielmehr gelingt es Gerichten auch ohne solche umsetzenden Akte, den Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte Folge zu geben. Ein Grund dürfte sein, dass sich Gerichten bei dieser Art völkerrechtlicher Verpflichtungen die Frage nach deren Geltung und Rang gar nicht gleich stellt wie bei den zugrunde liegenden Verträgen. Dazu kommt aber sicherlich auch die besondere Natur der Menschenrechtskonventionen und der Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte, die oft verfassungsähnlichen Gehalt haben und von Gerichten deshalb zuweilen bevorzugt behandelt werden.

Als besonders wichtiger Faktor, der Gerichte regelmäßig dazu bewegt, einer Entscheidung auch trotz verfassungsrechtlicher Bedenken zu folgen, hat sich die Schwere der Konventionsverletzung und möglicherweise nach wie vor andauernder Folgen herausgestellt. Anders formuliert: Im Falle besonders gravierender oder sogar noch andauernder Konventionsverletzungen sind Gerichte auch bereit, tiefere Einschnitte im nationalen Recht in Kauf zu nehmen, um eine Entscheidung durchzusetzen. Darüber hinaus sind Gerichte auch dann zu weitergehenden Schritten bereit, wenn die an sich zuständigen Behörden es versäumt haben die erforderlichen Schritte zur Urteilsumsetzung vorzunehmen und sie damit für die betroffenen Individuen gleichsam den letzten Ausweg bilden, um einer Entscheidung doch noch zum Durchbruch zu verhelfen. Wenig erstaunlicherweise stammen viele der untersuchten Beispiele aus dem grundrechtssensiblen Bereich des Strafrechts.

Wie lässt sich diese unterschiedliche Herangehensweise erklären – wieso spielen die herkömmlichen Kriterien der unmittelbaren Anwendbarkeit im Zusammenhang mit Judikaten eine so viel geringere Rolle? Ein wichtiger Grund dürfte sein, dass sich die Frage der unmittelbaren „Anwendbarkeit“ für internationale Judikate schon anders stellt als für generell-abstrakte Bestimmungen des Völkerrechts. Denn internationale Urteile sind gerade keine allgemeinen, für eine unbestimmte Anzahl von Fällen formulierte Regeln, die auf einen Einzelfall angewendet werden. Vielmehr sind sie gerade das Ergebnis der Anwendung einer solchen Regel auf einen bestimmten Einzelfall. Dies kommt in der Gegenüberstellung der Begriffspaare „generell-abstrakt“ und „individuell-konkret“ zum Ausdruck. Die Verpflichtung „then appears not as a proposition of general law, but is applied to particular parties in the circumstances of a particular case.“Footnote 261

Daraus folgt, dass der Spielraum, der Gerichten bei der Rechtsanwendung typischerweise zukommt, stark eingeschränkt ist, wenn sie mit Judikaten konfrontiert sind. Nationale Richter werden hier nicht angerufen, Recht auszulegen und auf einen Fall anzuwenden, sondern ganz konkreten Rechtspositionen zum Durchbruch zu verhelfen. Es geht ganz konkret darum, ob nationale Gerichte zu „Erfüllungsgehilfen“ internationaler Gerichte werden können.Footnote 262 Dies ist auch der Grund, wieso in der Literatur für die Frage der direkten gerichtlichen Durchsetzung von Judikaten eine andere Terminologie verwendet wird. Statt von „unmittelbarer Anwendbarkeit“ ist von „unmittelbarer Durchsetzbarkeit“ die Rede.Footnote 263

Letztlich steht hinter beiden Konstellationen die gleiche Frage, nämlich die Frage nach der innerstaatlichen Funktionsaufteilung der mit Völkerrecht befassten Staatsorgane. Dabei spitzen sich die hinter der Figur der unmittelbaren Anwendbarkeit stehenden Fragen im Zusammenhang mit internationalen Judikaten allerdings zu und deren verfassungsrechtliche Dimension tritt deutlicher zu Tage.Footnote 264 Während es innerstaatlichen Gerichten im Zusammenhang mit generell-abstraktem Recht oft gelingt, die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit als rein technische Frage abzuhandeln, die von objektiven Eigenschaften einer Norm und insbesondere deren genügenden Bestimmtheit und Präzision abhängt,Footnote 265 liegen diese Eigenschaften im Fall von individuell-konkreten Judikaten in der Regel unzweifelhaft vor.Footnote 266 Damit treten die eigentlich hinter der Figur stehenden Fragen, nämlich die Frage nach dem rechtmäßigen Adressaten einer Norm und damit Fragen betreffend die Gewaltenteilung, das Demokratie- und das Legalitätsprinzip, deutlich stärker in den Vordergrund.Footnote 267 Hier geht es also direkter „an die Substanz“: Es geht nicht darum, ob Gerichte die entsprechenden Pflichten umsetzen können, sondern viel direkter, ob sie dies tun sollen.Footnote 268 Durch diese Zuspitzung aber kann es auch verstärkt zu Spannungen kommen – in jüngerer Zeit scheinbar sogar verstärkt. Darauf soll nun im folgenden Kapitel eingegangen werden.