In der dezentralen internationalen Ordnung wird innerstaatlichen Gerichten großes Potenzial im Rahmen der tatsächlichen Durchsetzung von Völkerrecht beigemessen. Nationale Gerichte sind heute unbestrittenermaßen wichtige Akteure auch auf der völkerrechtlichen Ebene, die maßgeblich zur Durchsetzung von Völkerrecht beitragen können.Footnote 1 Wie im letzten Kapitel gesehen gilt dies inzwischen auch für die Umsetzung internationaler Entscheidungen, die traditionellerweise als eine politische Aufgabe in den Händen vorwiegend der Exekutive betrachtet wurde.

Trotz dieser Erstarkung innerstaatlicher Gerichte auf der internationalen Ebene bleiben Gerichte in der eigenen Rechtsordnung verwurzelt und an nationales Recht gebunden. Sie bleiben gleichsam „answerable to the dictates of applicable domestic law“Footnote 2 und sind auch im innerstaatlichen Recht für die Aufrechterhaltung der Rechtsordnung und die Wahrung rechtsstaatlicher Prinzipien verantwortlich. Innerstaatliche Gerichte sind damit gleichzeitig völkerrechtliche Erfüllungsgehilfen und Hüter über die eigene Rechtsordnung.Footnote 3

Diese Doppelfunktion wird auch bei der Umsetzung der Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte deutlich und kann zu Spannungen führen. Denn wie im vorausgehenden Kapitel dargestellt gelingt die gerichtliche Durchsetzung der Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte nicht immer problemlos. Vielmehr können dem „Download“ einer internationalen Entscheidung „unerwartete technische Probleme“ begegnen.Footnote 4 In gewissen Situationen kann die Durchsetzung eines internationalen Judikats nationale Richter vor ein wahrhaftes Dilemma stellen: Sie können sich gehalten sehen, entweder nationales Recht zu verletzen oder aber eine internationale Entscheidung nicht oder zumindest nicht vollständig umzusetzen.Footnote 5 Besonders brisant ist dies, wenn es um die Beendigung noch andauernder Konventionsverletzungen geht, womit zuweilen weitreichende Folgen für die betroffenen Personen verbunden sind. Auch wenn man nicht die – inzwischen wohl überholte – Ansicht vertreten mag, dass die Loyalität innerstaatlicher Gerichte immer der nationalen Rechtsordnung gilt und diese von vorherein primär nationale Interessen vertreten,Footnote 6 kommt man nicht umhin einzugestehen, dass die Durchsetzung sich aus internationalen Judikaten ergebender Pflichten innerstaatliche Gerichte vor erhebliche Schwierigkeiten stellen kann.Footnote 7

Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass sich zahlreiche Gerichte auch zu den Grenzen der Umsetzbarkeit internationaler Judikate ausgesprochen und Schranken für deren Rezeption herausgearbeitet haben. Auf diese Grenzen soll im vorliegenden Kapitel eingegangen werden. Grob lassen sich zwei Arten von Begründungsmustern unterscheiden, die Gerichte vorbringen, um die Befolgbarkeit einer internationalen Entscheidung zu verneinen: Zum einen berufen sich Gerichte auf Gründe, die mit der Beschaffenheit einer Entscheidung zusammenhängen (1.). Zum anderen gehen viele Gerichte davon aus, dass das innerstaatliche Recht gewisse Rezeptionsschranken enthält und gleichsam als Filter fungiert (2.).

1. Nichtbefolgung aufgrund der Beschaffenheit einer Entscheidung

Immer wieder weigern sich Gerichte den Menschenrechtsgerichten zu folgen, weil sie eine bestimmte Entscheidung für falsch halten. Ein Beispiel dafür ist die Entscheidung des schweizerischen Bundesgerichtes in Folge des Urteils in der Sache Quaranta contre Suisse.Footnote 8 Das Bundesgericht bezieht im Rahmen von Beschwerden gestützt auf die EMRK und die Verfassung standardmäßig die gesamte Rechtsprechung des EGMR ein und gilt Straßburg gegenüber grundsätzlich als loyal.Footnote 9 In diesem Fall ist das Bundesgericht der in Rede stehenden EGMR-Entscheidung jedoch nicht gefolgt und hat keine Praxisänderung vorgenommen, weil es die Ansicht des EGMR, wann ein unentgeltlicher Rechtsbeistand in strafrechtlichen Verfahren erforderlich ist, nicht teilte. Das Gericht kam zum Schluss, die Lesart des EGMR widerspreche dem „Sinn und Zweck“ der in Rede stehenden Verfahrensrechte unter der Bundesverfassung und der EMRK.Footnote 10

Das italienische Verfassungsgericht hielt eine Entscheidung des EMGR für nicht befolgungswürdig, weil die Straßburger Richter inkonsistent geurteilt hätten. Zudem kam das Gericht in diesem Fall zum Schluss, dass sich das in Rede stehende EGMR-Urteil für den italienischen Kontext wenig eigne („proves to be little suited to Italy“).Footnote 11 Im Ausgangsverfahren war es um ein illegal erstelltes Bauwerk gegangen, das ohne strafrechtliches Urteil in der Sache behördlich eingezogen worden war. Die zugrunde liegende Bestimmung des italienischen Baurechts setzt für die Einziehung solcher Bauten ein definitives Urteil eines strafrechtlichen Gerichts voraus, das deren Illegalität feststellt. Italienische Behörden hatten diese Bestimmung aber so angewendet, dass auch dann Bauwerke eingezogen werden konnten, wenn die Verantwortlichkeit der betroffenen Person zwar festgestellt, der Tatbestand jedoch verjährt war und es also nicht zu einer Verurteilung in der Sache gekommen war. In Varvara gegen Italien hatte der EGMR festgehalten, dies komme einer Bestrafung ohne Gesetz gleich und verletze Art. 7 EMRK.Footnote 12

In der Folge warfen untere Gerichte die Frage der Verfassungsmäßigkeit der Baurechtsbestimmung auf. Das Verfassungsgericht war aber der Ansicht, das Varvara-Urteil eigne sich nicht als Maßstab der Verfassungskontrolle und damit zur Aufhebung der Bestimmung. Zum einen kam es zum Schluss, der EGMR habe in dem Fall Besonderheiten der italienischen Rechtsordnung nicht genügend berücksichtigt. Insbesondere aber warfen die Richter dem EGMR vor, inkonsistent und missverständlich geurteilt zu haben. Konkret kritisierten sie, dass – zumindest nach der wörtlichen Leseart der vorlegenden Gerichte – der EGMR im vorliegenden Fall zu formalistisch argumentiert habe, indem er das formelle Vorliegen eines Strafurteils verlange, während er gewöhnlich einen breiteren, funktionalen Ansatz verfolge.Footnote 13 Ferner fanden die Richter, dass das Urteil unklar und verschiedenen Interpretationen zugänglich sei.Footnote 14 Unklare und widersprüchliche Urteile des EGMR müssten aber so gelesen werden, wie es der „herkömmlichen Logik der Rechtsprechung“ entspreche.Footnote 15 Es habe nicht vom EGMR beabsichtigt sein können, ein „Element der Disharmonie“ in seiner Rechtsprechung einzuführen.Footnote 16

Schließlich kommt es vor, dass Gerichte den Menschenrechtsgerichten nicht folgen, wenn sie zum Schluss kommen, eine Entscheidung sei in Überschreitung deren Kompetenzen ergangen. Ein erstes Beispiel betrifft den zeitlichen Aspekt des Umfangs der Prüfungsbefugnis des EGMR. So ist das schweizerische Bundesgericht dem EGMR in einer Folgeentscheidung zum Urteil Udeh contre SuisseFootnote 17 nicht gefolgt, weil der EGMR die Schweiz gestützt auf Tatsachen „verurteilt“ habe, die sich nach der innerstaatlich letztinstanzlichen Entscheidung zugetragen hätten.Footnote 18 Damit aber würden die Straßburger Richter das Gebot der Rechtswegerschöpfung – und damit das Subsidiaritätsprinzip – mit Füßen treten, so die Richter.Footnote 19 Interessanterweise und wie um die Tragweite der Nichtbefolgung zu relativieren, betonte das Gericht dabei, dass es sich bei der Straßburger Entscheidung nicht um eine Grundsatzentscheidung gehandelt habe.Footnote 20

Ganz deutlich formulierte den Ultra-vires-Vorwurf in einem jüngeren Fall das oberste argentinische Gericht, als es mit der Durchsetzung der IAGMR-Entscheidung in der Sache Fontevecchia und D’Amico befasst war. Der Entscheidung lag eine Beschwerde zweier Journalisten zugrunde, die in Argentinien wegen der Berichterstattung über einen möglichen unehelichen Sohn des damaligen Präsidenten Menem auf dem Zivilweg wegen Verletzung der Persönlichkeitsrechte zur Zahlung von Schadenersatz verurteilt worden waren. Darin erkannte der IAGMR eine Verletzung der Meinungsfreiheit und ordnete unter anderem an, dass das Verfahren wiedereröffnet werden müsse.Footnote 21

Damit habe der IAMGR seine Kompetenzen überschritten, urteilte nun das oberste Gericht.Footnote 22 Es stellte sich – in rechtlich wenig überzeugender Weise – auf den Standpunkt, dass die Anordnung nicht vom Konventionstext gedeckt sei.Footnote 23 Würde der Anordnung des IAGMR Folge gegeben, führte dies dazu, dass dem IAGMR der Status eines Gerichts „vierter Instanz“ zuerkannt würde, das innerstaatliche Entscheidungen aufheben könne, so das Gericht.Footnote 24 Dies sei aber nicht vereinbar mit dem Subsidiaritätsprinzip, auf dem das Konventionssystem fuße.Footnote 25 Darüber hinaus sah das Gericht durch die Anordnung den Verfassungskern verletzt, worauf im folgenden Abschnitt einzugehen sein wird.

2. Nichtbefolgung aus Gründen des nationalen Rechts

Viele Gerichte gehen zudem davon aus, dass das nationale Recht gewisse Schranken für die Rezeption internationaler Entscheidungen in der eigenen Rechtsordnung beinhaltet. Insbesondere stellen sich zahlreiche Gerichte auf den Standpunkt, dass die Verfassung insgesamt oder ein bestimmter Kern verfassungsmäßiger Werte, die als besonders wichtig erachtet werden, vor „Eingriffen“ durch internationale Gerichte und auch die Menschenrechtsgerichte geschützt werden müssen (2.1.). Zudem erachten zahlreiche Gerichte die Wahrung verfassungsmäßiger Rechter Dritter als Grenze der Umsetzbarkeit von Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte (2.2.).

2.1. Schutz der Verfassung bzw. eines Verfassungskerns

Das italienische Verfassungsgericht etwa sieht die Verfassung als solche als Grenze für den Einbezug von Entscheidungen des EGMR. Bereits in seinen „Zwillingsentscheidungen“, die den Weg für den systematischen Einbezug der Straßburger Rechtsprechung im Rahmen der Verfassungskontrolle von Gesetzen ebneten,Footnote 26 machte das Gericht deutlich, dass dies nur insoweit gelte, als dass nicht die Verfassung entgegenstehe. Weil die EMRK in der Auslegung durch die Straßburger Richter unterhalb der Verfassungsstufe stehe, müsse diese die Verfassung respektieren. Das Gericht machte klar, dass es verfassungswidrigen EGMR-Entscheidungen nicht folgen und den Teil des Umsetzungsgesetzes, der Italien zu deren Befolgung verpflichtet, für verfassungswidrig erklären würde.Footnote 27 Bislang hat das italienische Verfassungsgericht davon gegenüber dem EGMR noch nie Gebrauch gemacht und zu „weniger drastischen“ Maßnahmen gegriffen, um die Wirkungen der Straßburger Entscheidungen zu beschränken, wenn es zum Schluss kam, diese stünden in einem Spannungsverhältnis zur Verfassung.Footnote 28

Ein Beispiel dafür ist das Folgeurteil zur Entscheidung des EGMR in der Sache Maggio gegen Italien. Das Gericht hielt diese Entscheidung als nicht geeignet für die italienische Rechtsordnung und berief sich auf Gerechtigkeitserwägungen. Gegenstand der Entscheidung bildete eine Gesetzesbestimmung, die eine neue Berechnungsmethode für Renten von während einer Zeitspanne des Berufslebens in der Schweiz tätigen Personen einführte. Diese konnte im Ergebnis nota bene zu einer Minderung der Rentenhöhe führen. Die Gesetzesbestimmung war vom Verfassungsgericht 2008 als verfassungsmäßig beurteilt worden;Footnote 29 der EGMR hingegen kam zum Schluss, dass die Anwendung der Bestimmung auch auf bereits laufende Verfahren eine Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK darstellte.Footnote 30 Dabei habe es sich um eine unzulässige Einmischung des Staates in laufende Verfahren gehandelt, um das Ergebnis zu seinen Gunsten zu beeinflussen.Footnote 31

Das in der Folge erneut mit dem Fall befasste Verfassungsgericht betonte zwar, dass es sich nicht an die Stelle des EGMR setze und die Auslegung der EMRK in dessen Zuständigkeit liege. In seinen eigenen Zuständigkeitsbereich hingegen falle es, die Auswirkungen auf die italienische Verfassungsordnung zu beurteilen.Footnote 32 Während der EGMR nur eine isolierte Beurteilung der Lage aus der Perspektive eines einzelnen Individualrechts vornehme und damit lediglich einen Ausschnitt betrachte, obliege dem Verfassungsgericht die Verantwortung für das Gesamtbild: „[…] in contrast to the European Court, this Court carries out a systemic and not an isolated assessment of the values affected by the provisions reviewed from time to time […].“Footnote 33 Im Ergebnis gewichtete das Verfassungsgericht das Interesse an einem ausgeglichenem Finanzhaushalt höher und sah die Einschränkung der in Rede stehenden Grundrechte (Art. 25 der italienischen Verfassung) damit als gerechtfertigt an.Footnote 34 Dabei berief es sich auf die verfassungsmäßigen Prinzipien von Gleichheit und Solidarität, denn Ziel des Gesetzes sei es gewesen, in Anbetracht der Tatsache, dass die Beitragssätze in der Schweiz viermal niedriger seien als diejenigen in Italien, einen gerechten Ausgleich zu schaffen.Footnote 35

Die Konsequenz dieser Entscheidung war zwar nicht die Verfassungswidrigkeit des Urteils des EGMR. Trotzdem hat das Verfassungsgericht damit einen ersten Schritt unternommen, die Reichweite der in den „Zwillingsentscheidungen“ entwickelten Doktrin einzuschränken. Insgesamt deutet die jüngere Rechtsprechung des Verfassungsgerichts auf einen weitaus weniger „offenen“ Kurs hin, als nach den „Zwillingsentscheidungen“ zu vermuten war,Footnote 36 und verdeutlichen, dass das Verfassungsgericht einen „automatischen“ Nachvollzug der EGMR-Rechtsprechung ablehnt und eine gewisse Prüfung durch nationale Gerichte für erforderlich hält. Darauf wird im anschließenden Kapitel ausführlicher einzugehen sein.

Andere Gerichte beschränken sich in ihrer Prüfung auf bestimmte fundamentale Prinzipien der eigenen Rechtsordnung. So verwies das Bundesverfassungsgericht in seiner Entscheidung zur Sicherungsverwahrung auf die „absolute Grenze des Kerngehalts der Verfassungsidentität des Grundgesetzes“.Footnote 37 Das oberste Gericht Venezuelas argumentierte, IAGMR-Entscheidungen müssten einem Mindestmaß an Anforderungen der innerstaatlichen Rechtsordnung genügen („estándar mínimo de adecuación al orden constitucional interno“).Footnote 38 Entscheidungen könnten dann nicht befolgt werden, wenn sie die Souveränität Venezuelas oder grundlegende Rechte des Staates („derechos fundamentales de la República“) verletzten.Footnote 39 Genau dies bejahte das Gericht in dem Fall.Footnote 40

Auch das oberste argentinische Gericht sprach sich jüngst dafür aus, dass gewisse fundamentale Bestimmungen der Verfassung eine Schranke für die Rezeption von IAGMR-Entscheidungen bildeten.Footnote 41 Damit folgte es einer Meinung, die einer der Richter bereits Jahre zuvor in Sondervoten vertreten hatte. Bislang war das oberste Gericht dem IAGMR grundsätzlich gefolgt, und dies sogar dann, wenn es nicht einverstanden war mit dessen Entscheidung oder diese gar als verfassungsrechtlich problematisch erachtete.Footnote 42 Richter Fayt hatte sich demgegenüber gerade in verfassungsrechtlich heiklen Konstellationen dezidiert gegen eine unbeschränkte Durchsetzbarkeit von IAGMR-Urteilen ausgesprochen. Er argumentierte, dass der Verfassungsrang bestimmter menschenrechtlicher Verträge in Argentinien nicht bedeute, dass diesen in streng monistischer Manier („monismo en su concepción más extrema“) bedingungsloser Vorrang zukomme. Die Anerkennung eines schrankenlosen und unkontrollierten Vorrangs dieser völkerrechtlichen Instrumente wäre unhaltbar („resulta totalmente inaceptable en el sistema constitucional argentino“).Footnote 43 Vielmehr hätten völkerrechtliche Verpflichtungen gewisse Grundprinzipien des öffentlichen Rechts („principios de derecho público“) zu respektieren, um in Argentinien Beachtung finden zu können. Er stützte sich dabei auf Art. 27 der argentinischen Verfassung, wonach die Regierung völkerrechtliche Verträge in Einklang mit den Prinzipien des öffentlichen Rechts abzuschließen habe.Footnote 44 Dabei hatte er weitgehend im Dunkeln gelassen, welche Garantien seiner Meinung nach zu diesen unantastbaren Prinzipien gehörten und verwies lediglich auf eine Aufzählung souveränitätsbezogener Rechte im Schrifttum.Footnote 45 Unzweifelhaft gehörten aber die in diesem Fall diskutierten Verteidigungsrechte im Strafprozess nach Art. 18 der Verfassung dazu, so Fayt.Footnote 46

In seiner jüngsten Entscheidung griff nun auch das Gesamtgericht eben diese Bestimmung auf, um die Wirkungen der in Rede stehenden IAGMR-Entscheidung zu beschränken. Zum einen hatte es die zur Kontroverse Anlass gebende Anordnung des IAGMR, ein konventionswidriges Zivilurteil wiederzueröffnen, bereits als Kompetenzüberschreitung qualifiziert.Footnote 47 Zum anderen erkannte es darin eine Verletzung der Verfassung. Die Umsetzung des Urteils sei nicht mit Grundprinzipien der argentinischen Rechtsordnung vereinbar („juridicamente imposible a la luz de los principios fundamentales del derecho publico argentino“).Footnote 48 Denn das Gericht kam zum Schluss, die Anordnung des IAGMR würde seine Stellung als oberstes Gericht Argentiniens, wie es in der Verfassung ausdrücklich verankert sei (Art. 108 der argentinischen Verfassung), in Frage stellen.Footnote 49 Die Tatsache, dass das oberste Gericht – und nicht der IAGMR – an der Spitze der argentinischen Judikative stehe („órgano supremo y cabeza del Poder Judicial“), gehöre zweifellos zu den nicht derogierbaren Prinzipien („principios inconmovibles“) nach Art. 27 der Verfassung.Footnote 50

2.2. Vermeidung der Herabsetzung des Grundrechtsstandards (Art. 53 EMRK; Art. 29 AMRK)

Verschiedene Gerichte stellen sich ferner auf den Standpunkt, dass sie Urteile nicht umsetzen, wenn dies im Ergebnis zu einer Herabsetzung des Schutzsstandards unter der Verfassung – und den Konventionen selbst – führen würde. Regelmäßig beziehen sie sich dabei auf die Bestimmungen in den Konventionen, die gerade dies verhindern wollen: Nach Art. 53 EMRK ist die Konvention „[…] nicht so auszulegen, als beschränke oder beeinträchtige sie Menschenrechte und Grundfreiheiten, die in den Gesetzen einer Hohen Vertragspartei oder in einer anderen Übereinkunft, deren Vertragspartei sie ist, anerkannt werden.“ Die AMRK enhält mit Art. 29 eine ähnliche Bestimmung.Footnote 51

Das italienische Verfassungsgericht hält eine gewisse Nachkontrolle von EGMR-Entscheidungen für unerlässlich, um sicherzustellen, dass ein Grundrechtsschutz sichergestellt wird, der „mindestens gleichwertig mit demjenigen unter der Verfassung“ sei („at least equivalent to the level guaranteed by the Italian Constitution“).Footnote 52 Das oberste mexikanische Gericht leitete aus dem in der Verfassung verankerten Pro-persona-Prinzip ab, dass dem IAGMR nicht blind zu folgen sei, sondern im Einzelfall geprüft werden müsse, welche Auslegung einen weitergehenden menschenrechtlichen Schutz beinhalte. Ziel sei es nicht, dass die Rechtsprechung des IAGMR die nationale ersetze und die innerstaatlichen Richter diese „unkritisch anwendeten“ („aplicada en forma acrítica“).Footnote 53 Vielmehr sei es gerade Aufgabe der mexikanischen Gerichte zu determinieren, welches aus menschenrechtlicher Perspektive die vorteilhaftere Position sei. Dabei könne das Resultat in beide Richtungen ausfallen: „Esta operación podrá concluir con el favorecimiento de un criterio del Poder Judicial de la Federación o de uno emitido por la Corte Interamericana de Derechos Humanos, pero cualquiera que sea el criterio aplicado, el resultado debe atender a la mejor protección de los derechos humanos de las personas.“Footnote 54 Das Pro-persona-Prinzip dient somit dem Einbezug der Feststellungen des IAGMR, bildet gleichzeitig aber auch dessen Grenze.

Fälle, die für Konflikte zwischen verschiedenen Rechten besonders „anfällig“ sind, sind sogenannte „mehrpolige Grundrechtsverhältnisse“. Damit hat das Bundesverfassungsgericht treffend Situationen umschrieben, in denen sich mehrere Grundrechtsträger in einem Interessenskonflikt gegenüberstehen. In diesen Konstellationen bedeute „[…] das ‚Mehr‘ an Freiheit für den einen Grundrechtsträger zugleich ein ‚Weniger‘ für einen anderen“.Footnote 55 Das Pro-persona-Prinzip hilft in diesen Situationen also gerade nicht, um Konflikte zu lösen.

Nach dem Bundesverfassungsgericht können Rechte Dritter zu einem „Rezeptionshemmnis“Footnote 56 werden, wie es bereits in Görgülü statuierte. Denn sofern eine Entscheidung Grundrechte dritter, nicht am Verfahren beteiligter Personen betreffe, könnten im Rahmen von Individualbeschwerdeverfahren vor dem EGMR „Rechtspositionen und Interessen möglicherweise nicht vollständig“ abgebildet werden.Footnote 57 Insbesondere in „ausbalancierten Teilsystemen“ wie etwa dem Familien- oder Ausländerrecht, in denen verschiedene Grundrechtspositionen miteinander in Ausgleich zu bringen sind, erachtet das Bundesverfassungsgericht ein Eingreifen deutscher Gerichte potenziell als erforderlich, um eine internationale Entscheidung in der deutschen Rechtsordnung „einzupassen“.Footnote 58 Konkret ging es in dem Fall um eine familienrechtliche Streitigkeit um das Sorge- und Obhutsrecht über ein Kind zwischen dem leiblichen Vater und den Pflegeeltern; die Gerichte hatten also die Interessen insgesamt dreier Grundrechtsträger zu berücksichtigen. Die vom Bundesverfassungsgericht in dieser Entscheidung geschaffene Möglichkeit vom EGMR abzuweichen wurde in der Literatur kritisiert, da der EGMR die Argumente der in den innerstaatlichen Verfahren involvierten gegnerischen Parteien durchaus berücksichtige und in seiner Abwägung einbeziehe.Footnote 59 Darüber hinaus muss die EMRK in der deutschen Rechtsordnung bereits bei der systematischen Auslegung im Rahmen der Rechtsanwendung Berücksichtigung finden. Vor diesem Hintergrund lasse sich aus der Warte des deutschen Rechts ein durch formelle Bundesgesetze normiertes Teilrechtssystem niemals in der Weise als „ausbalanciert“ begreifen, dass die Berücksichtigung der EMRK die Balance störe. Denn vielmehr beziehe jedes Teilrechtssystem die Konvention immer bereits mit ein und sei gerade deshalb „ausbalanciert“.Footnote 60

Im interamerikanischen Kontext finden sich demgegenüber Beispiele, in denen sich solche Grundrechtskollisionen tatsächlich realisiert haben. Dies hat nicht zuletzt damit zu tun, dass der IAGMR mit seinen Forderungen deutlich weiter geht als der EGMR. Zu Konflikten zwischen verschiedenen Grundrechtsträgern kam es denn insbesondere in Fällen, in denen der IAGMR die strafrechtliche Verurteilung von Einzelpersonen angeordnet hatte. Wie dargestellt stehen sich in diesen Konstellationen die Interessen von Opfern und Tätern von Menschenrechtsverletzungen diametral gegenüber.Footnote 61 Ähnlich zugespitzte Fälle sind im europäischen System kaum denkbar.

Ein illustratives Beispiel ist das unmittelbare Folgeurteil zur Entscheidung Bueno Alvez,Footnote 62 in der das oberste argentinische Gericht die Umsetzung einer IAGMR-Anordnung zunächst verweigerte. Es handelte sich dabei bereits um das zweite Urteil, in welchem das Gericht den IAGMR für seine strafrechtliche Rechtsprechung und insbesondere deren Folgen für die Betroffenen schwer kritisierte. Im ersten Fall war die Corte Suprema dem IAGMR im Ergebnis aber trotzdem auf Anhieb gefolgt.Footnote 63

Der Betroffene, zu dessen Gunsten die Beschwerde vor dem IAGMR im zweiten Fall erging, war 1988, d. h. bereits einige Jahre nach Ende der Diktatur, von Polizeibeamten verhaftet und in der Nacht während seines Gewahrsams geschlagen und daran gehindert worden, seine Medikamente einzunehmen. Zu einer strafrechtlichen Aufarbeitung kam es nicht; 2004 erklärte ein argentinisches Gericht die in Rede stehenden Delikte schließlich für verjährt und schloss den Fall.Footnote 64 Nach dem Urteil des IAGMR, der die gegen den Beschwerdeführer verübten Menschenrechtsverletzungen als Folter qualifiziert und Argentinien dazu angehalten hatte, strafrechtliche Untersuchungen wieder aufzunehmen,Footnote 65 legte das Opfer Bueno Alvez außerordentlichen Rekurs ein und ersuchte um Wiedereröffnung des Verfahrens.

Obwohl Argentinien seine Verantwortlichkeit unter der AMRK anerkannte und die Regierung nach Ergehen des Urteils die vom IAGMR festgelegten Zahlungen an das Opfer tätigte,Footnote 66 war das höchste Gericht nicht bereit, das für verjährt erklärte Verfahren aufzuheben, um der geforderten Wiedereröffnung des Verfahrens stattzugeben. Das Gericht war der Ansicht, die Umsetzung des Urteils würde zu einem Verstoß gegen zentrale Verteidigungsrechte im Strafprozess führen.

Im Kern ging es darum, dass das Gericht nicht dazu bereit war, im Bereich des ordentlichen Strafrechts von verfahrensrechtlichen Prinzipien abzuweichen. Im Fall von Verbrechen gegen die Menschlichkeit hatte es die Unverjährbarkeit gelten lassen. Es unterschied den Fall deshalb ausdrücklich von der Konstellation, welche dem Urteil Simón zugrunde gelegen hatte,Footnote 67 und machte damit deutlich, dass es den vorliegenden Fall von Fällen schwerster Menschenrechtsverletzungen unterschied.Footnote 68 Bei den vorliegenden Vorwürfen handle es sich gerade nicht um Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Seit dem Übergang zur Demokratie verfolge der argentinische Staat keine systematische Politik mehr, die Anlass zu solchen Verbrechen geben könnte.Footnote 69

Zwar teilte es die Einschätzung des IAGMR, dass Rechtsinstrumente, deren einziger Zweck es sei, die Verfolgung schwerster Menschenrechtsverletzungen zu verhindern, unzulässig seien. Dies dürfe im Umkehrschluss aber dazu nicht führen, dass die im Strafverfahren geltenden (rechtsstaatlichen) Prinzipien ausgehebelt würden.Footnote 70 Dabei betonte das Gericht in einem fast belehrenden Ton die Wichtigkeit dieser Prinzipien: Das Instrument der Verjährung und andere Rechtsinstitute seien geschaffen worden, um die staatliche Strafgewalt einzuschränken und selbst von grundrechtlichem Gehalt.Footnote 71 Es bestehe im vorliegenden Fall auch kein Grund zur Annahme, dass sie lediglich dem Schutz vor strafrechtlicher Verantwortlichkeit dienten.Footnote 72 Die Pflicht, Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen und allenfalls zu ahnden, gelte im Rahmen des Rechtsstaats und stehe nicht über diesem.Footnote 73 Die Verletzung der Pflichten Argentiniens aus der AMRK nahm das Gericht in der Folge bewusst in Kauf: Es gehe nicht an, ein strafrechtliches Verfahren contra legem durchzuführen, um eine mögliche völkerrechtliche Verantwortlichkeit Argentiniens abzuwenden.Footnote 74

Nach einer Resolution des IAGMR, in der dieser das Urteil kritisierte,Footnote 75 kam das oberste Gericht jedoch auf seine Entscheidung zurück. Es begründete dies nicht weiter, sondern hielt lediglich fest, dass es dies in „strikter Befolgung“ des vom IAGMR Verlangten tue.Footnote 76 Richter Fayt kritisierte diese Entscheidung in seiner abweichenden Meinung einmal mehr: Der IAGMR bringe Argentinien in die „paradoxe Situation“, durch die Erfüllung der aus dem Urteil fließenden Pflichten weitere grundrechtliche Bestimmungen zu verletzen.Footnote 77 Dies widerspreche nicht zuletzt der AMRK selbst.Footnote 78

Auch im unmittelbaren Folgeurteil zur Entscheidung in der Sache Cantos gegen ArgentinienFootnote 79 entschied das oberste argentinische Gericht, dass es die Forderungen des IAGMR wegen entgegenstehender Rechte von Drittbetroffenen nicht umsetzen könne. Der Ursprung dieses Verfahrens lag bereits in den frühen 70er-Jahren, als eine Staatsstelle zahlreiche wichtige Unterlagen und Dokumente des Geschäftsmanns José Maria Cantos beschlagnahmt hatte. Cantos erlitt dadurch einen schweren Verlust und setzte sich jahrelang für eine Entschädigung ein, bis schließlich 1996 das oberste Gericht entschied, dass die Forderung verjährt sei. Darüber hinaus auferlegte das Gericht dem Beschwerdeführer die Gerichtskosten sowie Kosten für die befragten Experten in der Höhe von insgesamt 140 Mio. amerikanischen Dollars.

Darin erkannte der schließlich mit dem Fall befasste IAGMR eine unverhältnismäßige Einschränkung des Rechts auf Zugang zu einem Gericht nach Art. 8 und 25 AMRK und verlangte unter anderem, dass Argentinien die Gerichtsgebühren streichen und die Expertengebühr reduzieren müsse, indem eine „angemessene Summe“ festgelegt werde.Footnote 80 Das mit dieser Entscheidung befasste oberste Gericht kam in der Folge jedoch zum Schluss, dass die Durchsetzung dieser Entscheidung gegen die verfassungs- und konventionsmäßig gewährleisteten Grundrechte der betroffenen Experten, deren Gehälter betroffen waren, verstoßen würde: Zum einen das Eigentumsrecht und zum anderen gegen Verfahrensgarantien, da die Betroffenen nicht die Möglichkeit der Teilnahme am Verfahren vor dem IAGMR gehabt hätten.Footnote 81 Sie hätten also keine Möglichkeit gehabt, sich gegen die Forderungen von Cantos zu wehren („sin darles siquiera la posibilidad de resistir una eventual petición del interesado“).Footnote 82 So würde unter dem Vorwand der Umsetzung der IAGMR-Entscheidung paradoxerweise erneut die Konvention verletzt.Footnote 83 Als Hüter über die Verfassung sei es aber gerade seine Aufgabe, über die Einhaltung der Verfassungsrechte zu wachen, so das Gericht weiter. Aus diesem Grund könne dem Ersuchen nicht nachgekommen werden („no puede ser atendida“).Footnote 84

Richter Boggiano forderte in seiner abweichenden Meinung die Umsetzung der Entscheidung. Nach seiner Meinung sollte der Staat die Expertenkosten übernehmen.Footnote 85 Er stimmte der Mehrheit jedoch insofern zu, als dass die IAGMR-Entscheidung, so wie sie formuliert sei, die Rechte von Dritten verletze. Da dies nicht das Ziel des Gerichtshofs gewesen sein könne,Footnote 86 müsse deren wahrer Sinn ermittelt werden („corresponde indagar su verdadero sentido“).Footnote 87 Er legte die Entscheidung also zu Gunsten der Drittbetroffenen aus und sprach sich gegen die Kürzung der Gebühren aus. Richter Maqueda setzte sich demgegenüber für die vollständige Umsetzung der Entscheidung ein und gab damit der effektiven Durchsetzung der Forderungen des IAGMR Vorrang vor den entgegenstehenden Verfassungsrechten.Footnote 88

3. Fazit: Keine grenzenlose Befolgung

In zahlreichen Fällen und Konstellationen folgen innerstaatliche Gerichte heute den Menschenrechtsgerichten und verhelfen deren Entscheidungen damit auch auf der innerstaatlichen Ebene zu Wirksamkeit. Allerdings wird bei näherem Betrachten klar, dass Gerichte sich keineswegs als simple „Erfüllungsgehilfen“ der Menschenrechtsgerichte verstehen und ihre Gefolgsbereitschaft nicht grenzenlos ist. Vielmehr haben zahlreiche Gerichte Grenzen der Umsetzbarkeit internationaler Entscheidungen herausgearbeitet und betonen, dass sie sich auch als Hüter über die eigene Rechtsordnung verstehen.

Die Gründe, die innerstaatliche Gerichte für die Nichtumsetzung von Entscheidungen vorbringen, sind vielfältig. Zum einen behalten sich Gerichte vor, Entscheidungen nicht zu folgen, die sie aus in dieser Entscheidung selbst liegenden Gründen für nicht befolgungswürdig halten. Zum anderen gehen viele davon aus, dass das nationale Recht der Umsetzbarkeit internationaler Entscheidungen gewisse Grenzen setzt. Während manche Gerichte wie das italienische Verfassungsgericht die gesamte Verfassung als Schranke betrachten, gehen andere davon aus, dass zumindest bestimmte zentrale Bestimmungen oder Prinzipien der Verfassung nicht angetastet werden dürfen. Eine Reihe von Gerichten sieht ferner da die Grenze der Umsetzbarkeit erreicht, wo Rechte von Drittpersonen verletzt würden.

Dabei fällt auf, dass im Zusammenhang mit internationalen Entscheidungen die klassischen „avoidance techniques“, welche Gerichte oft vorbringen, um die tatsächliche Anwendung von Völkerrecht zu verhindern,Footnote 89 kaum eine Rolle spielen. Dies gilt insbesondere auch für den Test der unmittelbaren Anwendbarkeit, mittels dessen Gerichte prüfen, ob völkerrechtliche Normen gewisse formelle Eigenschaften wie ausreichende Klarheit oder Vollständigkeit aufweisen. Vielmehr nehmen Gerichte im Zusammenhang mit Entscheidungen eine eigentliche inhaltliche Prüfung der internationalen Entscheidungen vor und machen deren Umsetzbarkeit davon abhängig, dass sie gewissen materiellen Anforderungen genügen. Es geht also weniger darum, ob ein Judikat noch ausführungsbedürftig ist, bevor nationale Gerichte damit etwas anfangen können, als vielmehr darum, ob es ausführungswürdig ist. Dies erinnert an das Prozedere der Anerkennung ausländischer Entscheidungen, die regelmäßig gewisse Anforderungen erfüllen müssen, um in der anerkennenden Rechtsordnung tatsächlich vollstreckt zu werden. Darauf wird zurückzukommen sein.