Lange Zeit herrschte in Einklang mit dem staatenzentrierten Völkerrechtsverständnis die Auffassung vor, dass die Umsetzung internationaler Entscheidungen auf der innerstaatlichen Ebene eine Aufgabe der Exekutive sei.Footnote 1 Innerstaatlichen Gerichten wurde lediglich da eine Rolle zuerkannt, wo es um die Vollstreckung vermögensrechtlicher Ansprüche ging. So kam Schreuer 1977 zum Schluss, dass die „Anrufung staatlicher Gerichte zur Durchsetzung oder Überprüfung von Entscheidungen internationaler Gerichte und Schiedsgerichte […] insbesondere dann sinnvoll und erfolgversprechend [erscheint], wenn die auf internationaler Ebene entschiedenen Ansprüche vermögensrechtlicher Natur sind.“Footnote 2 Jenks fand gar, dass es eindeutig undurchführbar und unangemessen sei, andere Arten von Entscheidungen vor innerstaatlichen Gerichten durchzusetzen.Footnote 3 Grund dafür ist hauptsächlich, dass bei vermögensrechtlichen Urteilen selten Umsetzungs- oder Transformationsakte erforderlich sind und die Durchsetzung daher regelmäßig im Kompetenzbereich von Gerichten liegt.Footnote 4

Die quantitative Zunahme der Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte, aber auch deren inhaltliche Veränderung und Weiterentwicklung dürften allerdings dazu beigetragen haben, dass sich Individuen mit dem Anliegen, eine zu ihren Gunsten ergangene Entscheidung innerstaatlich durchzusetzen, zunehmend an nationale Gerichte zu wenden begannen. Für Individuen sind innerstaatliche Gerichte gleichsam oft die einzige Instanz, an die sie sich zu diesem Zweck wenden können. Wie zu zeigen sein wird, belegen zahlreiche Beispiele, dass innerstaatliche Gerichte heute in fast allen erdenklichen Situationen bereit sind, zur Umsetzung der Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte beizutragen – und zwar auch in Situationen, die ein Eingreifen in die innerstaatliche Rechtsordnung erfordern und die herkömmlicherweise in den Kompetenzbereich der anderen Gewalten fielen. So werden Gerichte inzwischen nicht nur aktiv, wenn die Umsetzung einer Entscheidung durch die Anpassung der eigenen Rechtsprechung oder durch die Wiedereröffnung bereits abgeschlossener Gerichtsverfahren gelingt (2.). Vielmehr tragen sie auch zur Umsetzung von Entscheidungen bei, die ein Handeln der Exekutive erfordern (3.). Schließlich sind sie auch bereit, als negative und teilweise gar als positive Gesetzgeber zu agieren, um Entscheidungen durchzusetzen (4.). Selbst in Fällen, in denen internationale Entscheidungen negative Auswirkungen für Individuen haben, tragen Gerichte zu deren Durchsetzung bei (5.). Doch Gerichte sind heute nicht nur bereit, Entscheidungen im eigentlichen Sinne durchzusetzen; vielmehr beziehen sie die Rechtsprechung der Menschenrechtsgerichte bereits vorausschauend ein. Auf die daraus entstehenden verschiedenen Prozesskonstellationen soll im Folgenden vorab in einem ersten Schritt eingegangen werden (1.).

1. Die Reichweite der Urteilswirkungen

Aus der Unterscheidung zwischen res iudicata und res interpretataFootnote 5 folgt, dass sich innerstaatliche Gerichte in zwei Konstellationen mit einem Urteil von EGMR bzw. IAGMR konfrontiert sehen können. Zu einen, wenn sich ein Beschwerdeführer vor staatlichen Gerichten auf eine Entscheidung beruft, die er gegen seinen Staat erstritten hat. In dieser Konstellation geht es um die Durchsetzung einer internationalen Entscheidung durch nationale Gerichte im engeren Sinne. In diesen Situationen tragen Gerichte zur Erfüllung der staatlichen Pflichten nach Art. 46 Abs. 1 EMRK und Art. 68 Abs. 1 AMRK bei. Zum anderen können sich Beschwerdeführer aber auch auf internationale Präjudizien berufen, die nicht unmittelbar zu ihren Gunsten ergangen sind, aber für sie günstige Positionen beinhalten. Dies können gar Entscheidungen sein, die gegen andere Staaten ergangen sind und damit den Forumstaat nicht im strikten Sinne binden.

Heute beschränken sich viele Gerichte nicht mehr darauf, sich zu den Wirkungen von Urteilen in der ersten Konstellation auszusprechen. Vielmehr kommt es immer wieder vor, dass nationale Gerichte in entscheidungserheblicher Weise auch Urteile, die nicht im eigentlichen Sinne verbindlich sind, zur Grundlage ihrer eigenen Entscheidungen machen.Footnote 6 Die Gerichte einiger Staaten erklären gar die gesamte Rechtsprechung des jeweiligen Menschenrechtsgerichts für verbindlich und bringen die Rechtsordnung damit präventiv in Einklang mit der Rechtsprechung der Menschenrechtsgerichte.

Es lassen sich somit verschiedene Prozesskonstellationen unterscheiden, in denen innerstaatliche Gerichte mit internationalen Entscheidungen konfrontiert sein können: Verfahren, in denen es um deren eigentliche Durchsetzung geht, und Verfahren, in denen Gerichte diesen über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus Wirkungen zukommen lassen. Die erste Kategorie soll vorliegend als innerstaatliche Folgeverfahren bezeichnet werden, wobei diesbezüglich noch unterschieden wird danach, ob sich der Beschwerdeführer selbst vor innerstaatlichen Gerichten auf das von ihm „erstrittene“ Urteil beruft oder ein Dritter in einer vergleichbaren Situation (1.1.). Denn wenn Gegenstand des Streits vor dem Menschenrechtsgericht ein Gesetz war, „strahlt“ das ergangene Judikat auch auf „Parallelfälle“ aus.Footnote 7 Die zweite Kategorie, die hier als analoge Verfahren bezeichnet wird, umfasst alle anderen Fälle, in denen sich Gerichte in einer für den Ausgang des Verfahrens relevanten Weise mit Entscheidungen von IAGMR bzw. EGMR befassen und sich an diese gebunden erklären (1.2.).

1.1. Die Durchsetzung internationaler Judikate in unmittelbaren und mittelbaren Folgeverfahren

Besonders häufig kommt es vor, dass sich erfolgreiche Beschwerdeführerinnen in der Folge eines zu ihren Gunsten ergangenen Urteils an nationale Gerichte wenden, um dieses tatsächlich durchzusetzen. Denn sie sehen sich in der etwas paradoxen Situation, in der Sache zwar obsiegt und ein Urteil zu ihren Gunsten in den Händen zu haben, damit auf der innerstaatlichen Ebene zunächst aber nicht viel anfangen zu können. So kann es sein, dass die Position innerstaatlich erneut errungen werden muss.Footnote 8 Die von innerstaatlichen Gerichten in dieser gewissermaßen klassischen Konstellation erlassenen Urteile werden im Rahmen dieser Studie als unmittelbare Folgeurteile bezeichnet. Da sich innerstaatliche Gerichte in dieser Konstellation am eindeutigsten mit der Frage der Wirkungen internationaler Entscheidungen konfrontiert sehen, sind solche Verfahren für den vorliegenden Kontext besonders relevant.

Immer wieder kommt es aber auch vor, dass Personen, die sich in einer Lage befinden, über die sich eines der Menschenrechtsgerichte bereits ausgesprochen hat, selbst aber noch kein Urteil zu ihren Gunsten „erstritten“ haben, auf für sie günstige und noch nicht umgesetzte Entscheidungen berufen. Das klassische Beispiel dafür ist das Verfahren in der Sache Vermeire, in welchem sich belgische Gerichte mit der Marckx-Entscheidung des EGMR auseinanderzusetzen hatten.Footnote 9 Da die Verfahrensparteien in dieser Konstellation nicht die gleichen sind, kommt dem internationalen Urteil nicht der Status der res iudicata zu. In solchen mittelbaren Folgeverfahren stellt sich Gerichten die Frage, wann die auf den Einzelfall bezogene Bindungswirkung auch auf andere (ähnliche) Fälle „ausstrahlt“. Die Grenze zwischen einer Bindungswirkung im rechtlichen Sinne (guarantees of non-repetition) und dem in diesem Sinne überobligatorischem, „vorgreifenden“ Handeln, um weitere Urteile abzuwenden, ist dabei teilweise kaum scharf zu ziehen und hängt auch davon ab, was das betreffende Menschenrechtsgericht konkret angeordnet hat.

So entschied etwa das italienische Verfassungsgericht, ein gegen Italien gerichtetes Urteil, das kein Piloturteil war und auch keine generellen Maßnahmen anordnete, auch in einem anderen, ähnlichen Fall „anzuwenden“.Footnote 10 Denn das Gericht kam zum Schluss, dass der Konventionsverstoß in einer italienischen Gesetzesbestimmung gründete. Deshalb bestehe auch ohne explizite Aufforderung durch den EGMR die Verpflichtung, strukturelle Mängel im nationalen Rechtssystem zu beheben: „[…] it is not necessary for the judgments of the ECtHR to specify which ‚general measures‘ are to be adopted in order to conclude that, notwithstanding their discretionary configuration, they nonetheless represent a necessary consequence of the structural violation of the ECHR by national law.“Footnote 11 Denn der relevante Inhalt eines EGMR-Urteils ergebe sich nicht lediglich aus dem Tenor.Footnote 12 Zwar sei es primär Aufgabe der Legislative in solchen Situationen zu handeln; werde das Parlament jedoch nicht aktiv, dann stelle sich die Frage, wie die Folgen auch für andere Personen in dieser Situation beseitigt werden könnten.Footnote 13 Das Gericht erklärte die in Rede stehende Bestimmung schließlich – mit generellen Wirkungen – für verfassungswidrig, was dazu führte, dass alle Personen in der gleichen Situation davon profitieren konnten.Footnote 14

Auch das oberste Gericht Spaniens erließ in der Folge des Urteils der Großen Kammer in der Sache Del Rio Prada gegen Spanien und eines wegweisenden unmittelbaren Folgeurteils der Audiencia Nacional, das die sofortige Freilassung der Beschwerdeführerin anordnete, einen „accord non juridictionnel“, der allen in der gleichen Situation befindlichen Personen einen Beschwerdeweg ebnete.Footnote 15

Das peruanische Verfassungsgericht hatte sich quasi unter umgekehrten Vorzeichnen mit der Frage zu befassen: So stellte sich ein Beschwerdeführer auf den Standpunkt, dass aufgrund der auf die Tatsachen des konkreten Falls beschränkten Rechtskraft das zuvor gegen Peru ergangene IAGMR-Urteil in der Sache Barrios Altos nicht auf seinen Fall anwendbar sei. Dem Fall lag die Besonderheit zugrunde, dass der IAGMR im erwähnten Fall die in Rede stehenden peruanischen Amnestiegesetze für nichtig erklärt und somit gewissermaßen die Inter-partes-Wirkung aufgehoben hatte.Footnote 16 In der Folge dieses Urteils wurden gegen zahlreiche ehemals unter dieses Gesetz fallende Personen strafrechtliche Verfahren wieder aufgenommen, so auch zu Lasten des Beschwerdeführers.Footnote 17

Das peruanische Verfassungsgericht übernahm die Argumentation des IAGMR: In Barrios Altos sowie im darauffolgenden Urteil zur Interpretation dieses Urteils habe dieser festgestellt, dass die Amnestiegesetze aufgrund ihrer klaren Unvereinbarkeit mit der Konvention keine Rechtswirkungen erzeugten und auch in künftigen Fällen nicht zur Straflosigkeit für vergleichbare Taten in Peru führen dürften, womit die Entscheidung eine über den Einzelfall hinausgehende „generelle Wirkung“ („efectos generales“) habe.Footnote 18 Dasselbe habe der Gerichtshof später in der Entscheidung La Cantuta bestätigt.Footnote 19 Aus diesem Grund, so das Verfassungsgericht, sei Barrios Altos auf sämtliche ähnlich gelagerte Fälle „anwendbar“.Footnote 20 Damit akzeptierte das Gericht die vom IAGMR postulierten weitreichenden Wirkungen des Barrios-Altos-Urteils vollumfänglich.Footnote 21

1.2. Der „vorgreifende“ Einbezug in analogen Verfahren

Die Frage der Reichweite der Urteilswirkungen kann sich innerstaatlichen Gerichten aber auch stellen, wenn sich IAGMR oder EGMR zu einer bestimmten Rechtspraxis oder Bestimmung des nationalen Rechts in einem Staat ausgesprochen haben und ähnliche Bedenken in der eigenen Rechtsordnung bestehen. Denn auch diese Entscheidungen können vor Gerichte gebracht werden. Für diese Konstellation wird im Folgenden der Begriff analoge Verfahren verwendet. Voraussetzung ist in diesen Fällen eine gewisse Vergleichbarkeit der Situationen.Footnote 22 In den Worten des mexikanischen Höchstgerichts müssen Gerichte demnach zunächst prüfen, ob die „Kriterien“ des Menschenrechtsgerichts auf den sie beschäftigenden Fall überhaupt „anwendbar“ sind, was von der Vergleichbarkeit sämtlicher Faktoren rechtlicher und faktischer Natur abhänge.Footnote 23

In einer solchen Situation erklärte der französische Kassationshof eine Vorschrift der französischen Strafprozessordnung in der Folge zweier gegen die Türkei ergangener Urteile für unanwendbar.Footnote 24 Die Generalanwältin hatte vertreten, dass die Autorität der Entscheidung des EGMR über das Gesetz des betreffenden Staates hinausgehe, da Staaten mit ähnlichen Gesetzen sich dem Risiko ausgesetzt sähen, ebenfalls vom EGMR gerügt zu werden.Footnote 25 Das schweizerische Bundesgericht änderte seine Rechtsprechung zur Frage der Personalunion von Untersuchungsrichter und erkennendem Strafrichter, nachdem der EGMR im Urteil De Cubber die vergleichbare belgische Praxis für nicht mit Art. 6 EMRK vereinbar erklärt hatte.Footnote 26 Während das Bundesgericht in der Personalunion von Untersuchungsrichter und erkennendem Strafrichter bis anhin keine Verletzung der richterlichen Unparteilichkeit erkannt hatte, betrachtete der EGMR die belgische Praxis, die in vergleichbarer Weise die Kumulation von Funktionen im Strafverfahren zuließ, als Verletzung von Art. 6 Abs. 1 EMRK. Nach dieser Rechtsprechung genügt der (objektive) Anschein der Befangenheit für eine Verletzung der Verfahrensgarantien.Footnote 27 Als sich ein Beschwerdeführer vor Bundesgericht auf diese Rechtsprechung des EGMR berief, setzten sich die Richter ausführlich mit der Entscheidung auseinander und kamen schließlich zum Schluss, dass in deren Lichte die bisherige Praxis nicht mehr aufrecht gehalten werden könne.Footnote 28

Das oberste argentinische Gericht schließlich erklärte die argentinischen Amnestiegesetze für verfassungswidrig, nachdem der IAGMR in Barrios Altos die peruanische Rechtslage für nicht konventionskonform befunden bzw. die Amnestiegesetze gar für nichtig erklärt hatte.Footnote 29 Zwar hatte sich die interamerikanische Kommission einige Jahre zuvor bereits spezifisch zur Rechtslage in Argentinien ausgesprochen, jedoch nicht eindeutig zum rechtlichen Schicksal der Amnestiegesetze Stellung genommen.Footnote 30 Seit der Entscheidung in Barrios Altos sei indes endgültig klar, welche Verpflichtungen Staaten mit Bezug auf Amnestiegesetze träfen, um eine Verantwortlichkeit unter der AMRK abzuwenden, so das argentinische Gericht nun.Footnote 31 Die Schlussfolgerungen des IAGMR im Falle Barrios Altos müssten auch dem argentinischen Fall zugrunde gelegt werden, so das Gericht weiter: „la traslación de las conclusiones de la Corte Interamericana en ‚Barrios Altos‘ al caso argentino resulta imperativa.“Footnote 32 Richter Fayt stellte sich in seiner abweichenden Meinung demgegenüber auf den Standpunkt, dass die peruanische Situation nicht auf die argentinische Rechtslage übertragen werden könne, weil sich diese fundamental unterscheide.Footnote 33

Verschiedene lateinamerikanische Gerichte gehen gar so weit, rechtlich nicht verbindliche Auslegungen der interamerikanischen Organe einzubeziehen. In verschiedenen Urteilen bezeichnete etwa das oberste argentinische Gericht die gesamte Rechtsprechung des IAGMR als eine „wesentliche Leitlinie für die Auslegung der Pflichten aus der amerikanischen Menschenrechtskonvention“ („imprescindible pauta de interpretación de los deberes y obligaciones derivados de la Convención Americana sobre Derechos Humanos“).Footnote 34 Dies gelte aber nicht nur für Urteile des Gerichtshofs, sondern auch für die Berichte der Kommission und die Gutachten des Gerichtshofs.Footnote 35 Auch das kolumbianische Verfassungsgericht zieht die gesamte Rechtsprechung der interamerikanischen Organe mitsamt der nicht im eigentlichen Sinne verbindlichen Gutachten des IAGMR als ein „relevantes hermeneutisches Kriterium“ im Rahmen seiner eigenen Entscheidungen heran.Footnote 36 Die Verfassungskammer des obersten Gerichts Costa Ricas schließlich sieht sich gehalten, Gutachten des IAGMR zu befolgen – zumindest dann, wenn diese von Costa Rica selbst beantragt worden sind. Zwar anerkannte das Verfassungsgericht, dass Entscheidungen und Gutachten des IAGMR nicht denselben rechtlichen Status genössen. Zumindest der Staat, welcher selbst das kostspielige Verfahren vor dem IAGMR initiiert habe, müsse aber an das daraus resultierende Ergebnis gebunden sein. Wenn gar der konsultierende Staat die Folgerungen nicht respektierte, würde dies das ganze interamerikanische Menschenrechtssystem ins Leere laufen lassen, so das Gericht.Footnote 37

Das peruanische Verfassungsgericht hielt ferner fest, die Bindungswirkung beschränke sich nicht auf den Urteilstenor, sondern erstrecke sich auch auf die Urteilsgründe.Footnote 38 Das Gericht kam gar zum Schluss, dass die Nichtbeachtung der Urteile des IAGMR eine Verletzung der Verfassung oder gar ein Amtsvergehen bedeuten könne.Footnote 39 In ähnlicher Weise statuierte schließlich auch das oberste mexikanische Gericht in einer Resolution in der Folge des IAGMR-Urteils in der Sache Radilla-PachecoFootnote 40 nicht nur eine über die gegen Mexiko ergangenen Urteile hinausgehende Pflicht für mexikanische Gerichte IAGMR-Urteile zu beachten,Footnote 41 sondern auch, dass sich die Bindungswirkung auf den gesamten Urteilsinhalt beziehe. Die Gesamtheit der vom IAGMR im Einzelfall entwickelten Kriterien sei von der Judikative zu beachten.Footnote 42 Als Begründung nannte das Gericht, dass dem IAGMR qua explizitem Mandat in der AMRK das letzte Wort bei der Auslegung der Konventionsrechte zukomme.Footnote 43

Dass Gerichte den Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte auch über die in Art. 46 EMRK bzw. 68 AMRK statuierten Pflichten hinaus folgen, hat verschiedene Gründe. Einerseits kommt der Rechtsprechung des zuständigen internationalen Gerichts erhebliche Autorität zu, da die Mitgliedstaaten diesen Akteuren die Zuständigkeit zur Auslegung der Konventionen zugesprochen haben („authoritative interpretation“).Footnote 44 Da der IAGMR der „natürliche Interpret“ der Konvention sei, müsse den Entscheidungen des IAGMR „im Prinzip“ der gleiche Wert zukommen wie der Konvention selbst, so das oberste Gericht Costa Ricas.Footnote 45 Während das italienische Verfassungsgericht dem EGMR eine „herausragende interpretative Rolle“ zuerkennt,Footnote 46 bezeichnet das Verfassungsgericht Kolumbiens die Auslegungen des IAGMR als „authentische Interpretation“ („interpretación auténtica“).Footnote 47 Das deutsche Bundesverfassungsgericht spricht von der „[…] jedenfalls faktischen Orientierungs- und Leitfunktion, die der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte für die Auslegung der Europäischen Menschenrechtskonvention auch über den konkret entschiedenen Einzelfall hinaus zukommt.“Footnote 48 Diese entspreche einer „zumindest faktischen Präzedenzwirkung“.Footnote 49

Hauptgrund für eine über die res iudicata hinausgehende „Befolgung“ dürfte aber zumeist die Abwendung einer „Verurteilung“ durch das jeweilige Menschenrechtsgericht sein.Footnote 50 So erklärte das peruanische Verfassungsgericht, die gerichtliche Umsetzung der Urteile des IAGMR diene einerseits der Wiedergutmachung der Rechtsverletzung und damit einem effektiven Schutz („verdiente reparadora“), und andererseits lasse sich damit Verurteilungen Perus durch den IAGMR abwenden („verdiente preventiva“).Footnote 51 Auch das deutsche Bundesverfassungsgericht spricht von der Vermeidung von „Verurteilungen der Bundesrepublik Deutschland“.Footnote 52 Der ehemalige IAGMR-Richter Cançado Trindade fordert in diesem Sinne, dass Staaten nicht nur rückwärtsgerichtet, in Reaktion auf konkrete Urteile, sondern bereits im Vorherein und von sich aus aktiv werden sollten: „El ejercicio de la garantía colectiva por los Estados Partes en la Convención no debería ser sólo reactivo, cuando se produjera el incumplimiento de una sentencia de la Corte, sino también proactivo, en el sentido de que todos los Estados Partes adoptaran previamente medidas positivas de protección en conformidad con la normativa de la Convención Americana.“Footnote 53

Der Vorteil, wenn innerstaatliche Gerichte die gesamte Rechtsprechung der Menschenrechtsgerichte einbeziehen und bereits präventiv auf für ihre Rechtsordnung relevante Entscheidungen eingehen, ist, dass sie dann die Gelegenheit haben, sich an der Fortbildung und Weiterentwicklung der Rechtsprechung zu beteiligen. Bis zu einem gewissen Grad ist heute anerkannt, dass die Auslegung der Menschenrechtsgerichte zur res interpretata wird und deren Berücksichtigung aus Konventionsperspektive sogar verlangt ist.Footnote 54 Auf die Möglichkeiten und Grenzen des so möglicherweise entstehenden „Dialoges der Gerichte“ wird später zurückzukommen sein.

2. Auswirkungen auf Akte der Judikative

Welche Wirkungen können innerstaatliche Gerichte den Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte in der eigenen Rechtsordnung nun aber tatsächlich zukommen lassen?Footnote 55 In gewissen Konstellationen kann die Befolgung einer Entscheidung des EGMR bzw. IAGMR durch eine Rechtsprechungsänderung oder andere Anpassungsstrategien der Judikative selbst gelingen. Schon früh wurde vermutet, dass sich im EMRK-System ein „allgemeiner Rechtsgrundsatz zur vorrangigen Beachtung der Urteile des EGMR“ vor bisherigen Urteilen innerstaatlicher Gerichte zur gleichen Rechtsfrage herausbilden könnte.Footnote 56 Wie sich zeigen wird, sind Gerichte im Regelfall tatsächlich bereit ihre Rechtsprechung den Menschenrechtsgerichten anzugleichen, und zwar bereits vorausschauend und nicht erst in Reaktion auf konkrete Entscheidungen – allerdings zuweilen mit gewissen Einschränkungen und Vorbehalten (2.1.). Bereits schwieriger ist die Situation, wenn ein rechtskräftiges innerstaatliches Urteil der Umsetzung entgegensteht und keine gesetzliche Möglichkeit der Wiedereröffnung besteht. Trotzdem kommt es auch in solchen Situationen immer wieder vor, dass innerstaatliche Richter in Umsetzung der Vorgaben aus Straßburg bzw. San José aktiv werden (2.2.).

2.1. „Einschwenken“ auf die Linie der Menschenrechtsgerichte: Änderung der Rechtsprechung

Wenig erstaunlich ist zunächst, dass Gerichte bereit sind, als Konsequenz von Entscheidungen des EGMR bzw. IAGMR ihre Rechtsprechung anzupassen. Dabei bewegen sie sich im Rahmen ihrer eigenen Kompetenzen und folglich ergeben sich aus Sicht der Gewaltenteilung keine Spannungen. Nach Cremer müssten sich „richterrechtlich ausgeformte nationale Teilrechtssysteme“ in diesem Sinne „gerade besonders gut dazu eignen, die Gehalte von EGMR-Urteilen aufzunehmen“.Footnote 57

Zunächst passen Gerichte ihre Rechtsprechung regelmäßig an, wenn sie explizit „korrigiert“ werden. So änderte das schweizerische Bundesgericht seine Rechtsprechung zur Frage der Unschuldsvermutung nach Art. 6 EMRK und richtete sich ausdrücklich nach dem EGMR in der zuvor gegen die Schweiz ergangenen Entscheidung in der Sache Minelli, der das Gericht „Rechnung zu tragen“ habe.Footnote 58 Die Entscheidung in der Sache Von Hannover gegen DeutschlandFootnote 59 bewog den deutschen Bundesgerichtshof (BGH) dazu, seine langjährige Rechtsprechung zur Frage, wann die Meinungsfreiheit aus Gründen des Persönlichkeitsschutzes einschränkbar ist, zu ändern. Im Rahmen der Abwägung der kollidierenden Grundrechtsinteressen hatte der BGH bislang Personen, die unter das von ihm entwickelte Konzept der „absoluten Person der Zeitgeschichte“ fielen, nur in sehr eingeschränktem Maße erlaubt, sich auf den Schutz der Privatsphäre zu berufen.Footnote 60 Die Straßburger Richter verlangten, dass bei der Beurteilung der Zulässigkeit der Einschränkung der Persönlichkeitsrechte stärker auf den Informationswert der in Rede stehenden Veröffentlichungen abgestellt wird.Footnote 61 Dieser Forderung wurde der BGH gerecht, indem er sich von der Rechtsfigur der „absoluten Person der Zeitgeschichte“ verabschiedete und im Rahmen seiner Interessensabwägung die vom EGMR aufgestellten Parameter einbezog.Footnote 62

Zuweilen sind Gerichte jedoch nicht bereit, sich den Menschenrechtsgerichten vollkommen anzugleichen und differenzieren deren Rechtsprechung in eigenen Verfahren weiter aus. In der Folge kann sich ein veritabler gerichtlicher Dialog entspinnen – immer verbunden mit dem Risiko, dass Straßburg bzw. San José erneut eine Verletzung feststellen. Im eben genannten Beispiel aus Deutschland etwa passte der Bundesgerichtshof seine Rechtsprechung an, kam allerdings zu einem vom EGMR leicht abweichenden Ergebnis. In diesem Fall wurde dies sowohl vom Bundesverfassungsgericht als auch vom EGMR akzeptiert.Footnote 63 Ein weiteres Beispiel stammt wiederum vom schweizerischen Bundesgericht, das aufgrund des EGMR zwar seine Rechtsprechung zum Anspruch auf rechtliches Gehör änderte. Und zwar gingen die Lausanner Richter dazu über, auch das Recht, von sämtlichen innerhalb gerichtlicher Verfahren eingereichten Materialien zu erfahren und dazu Stellung zu nehmen, unter die entsprechende Garantie der Bundesverfassung zu fassen.Footnote 64 Trotzdem kam es noch während Jahren zu einem Hin- und Her zwischen Straßburg und Lausanne. Denn das Bundesgericht fürchtete, dass sich Verfahren aufgrund der extensiven Auslegung des Anspruchs auf rechtliches Gehör und sonstiger Verfahrensgrundsätze erheblich verzögern könnten.Footnote 65

Zahlreiche Gerichte beschränken sich dabei nicht darauf, auf konkret gegen ihren Staat ergangene Entscheidungen zu reagieren, sondern beziehen die gesamte Rechtsprechung der Menschenrechtsgerichte ein und gewähren dieser damit einen – wenn auch, wie wir sehen werden, nicht uneingeschränkt geltenden – Erga-omnes-Effekt.Footnote 66 Eines von vielen Beispielen ist das kolumbianische Verfassungsgericht, welches in einem „spektakulären Rechtsprechungswandel“ („modificación profunda de la tesis“)Footnote 67 die Rechtsprechung des IAGMR zum Recht auf Wahrheit von Opfern von schweren Menschenrechtsverletzungen übernahm, ohne dass diesbezüglich eine Entscheidung gegen Kolumbien ergangen wäre.Footnote 68 Die Forderung, die Rechtsprechung der Menschenrechtsgerichte mit einer „widerlegbaren Richtigkeitsvermutung“ auszustatten,Footnote 69 scheint insofern heute der Praxis vieler Gerichte zu entsprechen, wobei gerade im europäischen, zunehmend aber auch im interamerikanischen System viele Richter davon auszugehen scheinen, dass ihnen bei der Ausarbeitung und Weiterentwicklung der Konventionsstandards durchaus eine aktive Rolle zukommt.Footnote 70

Entgegenstehen können einer Änderung der Rechtsprechung allenfalls Gründe der Rechtssicherheit und Rechtsgleichheit. Damit setzte sich das kolumbianische Verfassungsgericht in der eben genannten Entscheidung explizit auseinander. In den Augen des Verfassungsgerichts müssen aus diesen Gründen gewisse Bedingungen erfüllt sein, die eine Änderung der Rechtsprechung rechtfertigen. Dazu zählt es die Situation, dass sich der „normative Referenzrahmen“ entwickelt hat.Footnote 71 Dies sah das Verfassungsgericht im vorliegenden Fall aufgrund der Entwicklungen auf internationaler Ebene im Zuge der Rechtsprechung des IAGMR als gegeben an und kam Schluss, dass die Rechtsweggarantie für Opfer von Menschenrechtsverletzungen nicht lediglich eine materielle Entschädigung, sondern vielmehr das Recht auf Wahrheit sowie die tatsächliche Verfolgung der Verantwortlichen beinhalte.Footnote 72

Ähnliche Überlegungen stellte das deutsche Bundesverfassungsgericht an, als es sich in der Folge eines EGMR-Urteils gehalten sah, seine Position zur Verfassungsmäßigkeit der strafprozessualen Bestimmungen zur Sicherungsverwahrung zu ändern. In einem früheren Verfahren hatten sich die Karlsruher Richter bereits zu den in Rede stehenden Bestimmungen des deutschen Strafrechts geäußert und diese für mit der Verfassung vereinbar erklärt. Diese sog. „Vereinbarkeitserklärung“ stand der erneuten Überprüfung dieser Vorschriften nach dem Urteil des EGMR, der diese Vorschriften als nicht mit der EMRK vereinbar erklärt hatte, als Prozesshindernis entgegen. Dieses vermochte das Gericht zu umgehen, indem es das Urteil des EGMR in einer völkerrechtsfreundlichen Auslegung als „rechtserhebliche Änderung der Sach- und Rechtslage“ qualifizierte.Footnote 73 Auch wenn Entscheidungen des EGMR als feststellende Judikate keine unmittelbare Änderung der Rechtslage herbeiführten, könnten sie einer solchen Änderung zumindest gleichstehen und für die Auslegung des Grundgesetzes rechtserhebliche Bedeutung erlangen, so das Gericht. Denn aufgrund der Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes versuche das Bundesverfassungsgericht, Konventionsstöße zu vermeiden, sofern entsprechende verfassungsrechtliche Auslegungsspielräume eröffnet seien.Footnote 74

2.2. Auswirkungen auf das Institut der Rechtskraft

Bereits schwieriger ist die Situation für Gerichte, wenn der Umsetzung eines Urteils von EGMR oder IAGMR ein innerstaatlich rechtskräftiges Urteil entgegensteht. Lässt das nationale Recht die Wiedereröffnung von Verfahren im Zuge internationaler (menschenrechtlicher) Urteile nicht (explizit) zu, stehen Gerichte hier regelmäßig vor dem Dilemma, entweder das Prinzip der Rechtskraft und die dahinter stehenden Interessen der Rechtssicherheit und Stabilität zu verletzen, oder aber eine möglicherweise noch andauernde Konventionsverletzung nicht zu beenden. Besonders oft stellt sich diese Frage im Zuge von Entscheidungen zu konventionswidrigen innerstaatlichen Strafverfahren. Hier kann die fehlende Möglichkeit der Wiedereröffnung von Verfahren zur Folge haben, dass eine Haftstrafe nicht überprüft werden kann und eine Person in ungerechtfertigter Weise eine Freiheitsstrafe verbüßt. Relevant wird das Prinzip der Rechtskraft aber auch in der Konstellation, dass internationale Urteile zu Lasten von Individuen gehen, d. h. wenn etwa bereits abgeschlossene Strafverfahren, die in lediglich milden Strafen gemündet hatten (sog. „sham trials“), wiedereröffnet werden, um Menschenrechtsverletzungen wirksam zu verfolgen. Das Prinzip der Rechtskraft wird von den Betroffenen in dieser Konstellation regelmäßig zum Schutze vorgebracht und dient als Verteidigungsrecht im Strafprozess. In diesem Fall tritt die individualschützende Komponente besonders zutage. Diese Konstellation wird aufgrund der besonderen Fragen, die sich Gerichten dabei stellen, in einem Abschnitt gesondert behandelt.Footnote 75

Wie auch in anderen Bereichen besteht in dieser Konstellation ein wichtiger Unterschied zwischen den beiden Menschenrechtssystemen. Wie im ersten Teil dieser Studie dargestellt herrscht im europäischen System nach wie vor die Auffassung vor, dass die EMRK nicht verlangt, dass Wiederaufnahmegründe im nationalen Recht geschaffen werden müssen, was aus Art. 41 EMRK hergeleitet wird.Footnote 76 Gerade im Falle andauernder Freiheitsstrafen erscheint die reine Zahlung einer Entschädigung aber unbillig und die Rechtslage wurde immer wieder kritisiert.Footnote 77 Denn auch eine Urteilsumsetzung durch die Exekutive ist in dieser Situation nicht immer ein zureichender Ausgleich, da etwa durch eine Begnadigung nicht alle negativen Folgen einer strafrechtlichen Verurteilung beseitigt werden können.Footnote 78 Zahlreiche Staaten haben inzwischen denn auch entsprechende Rechtsänderungen vorgenommen und insbesondere im Bereich des Strafrechts Wiederaufnahmegründe geschaffen.Footnote 79 Im interamerikanischen System gelten die im EMRK-System insbesondere aufgrund von Art. 41 EMRK bestehenden Beschränkungen nicht und der IAGMR ordnet regelmäßig an, dass konventionswidrige Gerichtsentscheidungen aufgehoben und die negativen Folgen beseitigt werden müssen. Dies dürfte allerdings nicht als direkt an die Judikative, sondern primär den Gesetzgeber gerichtete Pflicht zu verstehen sein.Footnote 80

Vor dem Hintergrund der damit verbundenen Folgen für die Betroffenen erstaunt es wenig, dass sowohl dies- als auch jenseits des Atlantiks Gerichte in zahlreichen Fällen auch ohne explizite gesetzliche Ermächtigung die Wiedereröffnung von Verfahren erlaubt und damit sprichwörtlich das Prinzip der Rechtskraft durchbrochen haben. So hob etwa das oberste Gericht Guatemalas eine bereits rechtskräftige Entscheidung auf, nachdem der IAGMR diese für nicht konventionskonform befunden und die Anordnung der Todesstrafe in diesem Fall untersagt hatte.Footnote 81 Ein weiteres Beispiel ist die Entscheidung des obersten panamaischen Gerichts in der Sache Tristán Donoso. In der Folge des IAGMR-Urteils in der gleichen Sache sah sich dieses gehalten, den Beschwerdeführer freizusprechen und dessen Strafe zu annullieren.Footnote 82 Der IAGMR hatte durch das Strafurteil die Meinungsfreiheit von Donoso als verletzt angesehen und im Tenor verlangt, Panama müsse das Urteil gegen Donoso innerhalb eines Jahres aufheben und dafür sorgen, dass sämtliche Auswirkungen des Urteils beseitigt würden.Footnote 83 Der italienische Kassationshof wiederum entschied in einem Fall, dass bei Vorliegen eines EGMR-Urteils die Wiedereröffnung von Strafverfahren möglich sein müsse, auch wenn dies bedeute, die „Unantastbarkeit“ („l’intangibilità“) innerstaatlicher Urteile in Frage zu stellen.Footnote 84 Der res iudicata komme in der italienischen Rechtsordnung keine absolute Geltung zu.Footnote 85 In diesem Sinne sei es nicht zulässig, eine mögliche restitutio in integrum unter Berufung auf die Endgültigkeit eines Urteils zu verweigern. Denn aufgrund des Erfordernisses der Rechtswegerschöpfung stehe jedem die Verletzung von Verfahrensgarantien feststellenden Urteil des EGMR notwendigerweise ein bereits rechtskräftiges innerstaatliches Urteil entgegen.Footnote 86

In vielen Fällen ist die Wiedereröffnung allerdings kein Automatismus. So betont etwa der italienische Verfassungshof, dass das Prinzip der Rechtskraft unabdingbarer Ausdruck von Rechtssicherheit und Stabilität sei.Footnote 87 In diesem Sinne bilde die Rechtskraft prinzipiell eine Schranke für die Durchsetzung von EGMR-Urteilen: „[…] as a matter of principle, the obligation to comply with Convention requirements, in the meaning stipulated by the Strasbourg Court, does not apply to cases […] in which the judgment has become final for the purposes of internal law […].“Footnote 88 Tatsächlich gibt es auch Gerichte, die eine Wiedereröffnung ohne explizite gesetzliche Ermächtigung ablehnen. Jedoch konnten in den meisten der untersuchten Fälle negative Folgen für die betroffenen Individuen im Ergebnis umgangen werden, so dass sich die Frage stellt, ob die Gerichte andernfalls nicht doch zugunsten der Wiedereröffnung geurteilt hätten.Footnote 89

Viele Gerichte lösen das Dilemma dadurch, dass sie die verschiedenen Interessen im Einzelfall gegeneinander abwägen bzw. eine Durchbrechung der Rechtskraft nur zulassen, wenn bestimmte qualifizierte Gründe vorliegen. Ein Beispiel dafür ist das spanische Verfassungsgericht, welches auch vor der Gesetzesrevision, die zur Einführung von Wiederaufnahmegründen im Zuge von EGMR-Entscheidungen führte,Footnote 90 die Durchbrechung der Rechtskraft in gewissen Fällen zuließ. Und zwar erkannte das Gericht in der Nichtwiedereröffnung von Verfahren ausnahmsweise eine Verletzung von Verfassungsrechten. Demnach konnte die Wiedereröffnung von Verfahren angezeigt sein, wenn der EGMR eine Konventionsverletzung festgestellt hatte, die gleichzeitig eine noch andauernde Verletzung der spanischen Verfassung bedeutete („Violación-actual-Doktrin“).Footnote 91 In diesen Situationen war es folglich möglich, Urteile des EGMR mittels Verfassungsbeschwerde durchzusetzen. Denn das Fehlen einer entsprechenden Gesetzesbestimmung könne das Verfassungsgericht nicht daran hindern, im Rahmen seiner Kompetenzen zur Durchsetzung von EGMR-Urteilen beizutragen, wie es ein oberes Strafgericht ausdrückte.Footnote 92 Überwiegende Gründe für die Neubeurteilung von Urteilen erkannte das Verfassungsgericht im Ergebnis aber nur in Fällen noch andauernder Freiheitsstrafen, die trotz eines Urteils des EGMR nicht überprüft werden konnten. Maßgeblich scheint damit insbesondere die Schwere der Folgen einer andauernden Verletzung für das betroffene Individuum zu sein, obwohl das Verfassungsgericht dies nicht ausdrücklich sagt.Footnote 93

Eine ähnliche Doktrin hat auch das oberste estnische Gericht entwickelt, das eine Wiedereröffnung im Ergebnis aber eher zuzulassen scheint als das spanische Verfassungsgericht. Das Gericht etablierte seine Doktrin im Zuge eines unmittelbaren Folgeverfahrens zu einem Urteil, in dem der EGMR festgestellt hatte, dass Estland gegen das Verbot rückwirkender Strafen verstoßen hatte.Footnote 94 Zuvor war der Beschwerdeführer wegen Steuerbetrugs zu einer Gefängnisstrafe verurteilt worden. Das mit einem Gesuch um Wiedereröffnung des Verfahrens konfrontierte oberste Gericht ging davon aus, dass Estland die Pflicht treffe, die Möglichkeit der Wiederaufnahme von Verfahren zu gewährleisten, die der EGMR als konventionswidrig befunden hatte. Gleichzeitig stellte es fest, dass diese Möglichkeit nach geltendem Recht nicht bestehe. Selbst eine weite Auslegung der existierenden Gründe, welche die Durchbrechung der Rechtskraft erlaubten, würden kein neues Verfahren zulassen.Footnote 95 Das Gericht kam in der Folge zum Schluss, dass die geeignetste Form, dieser Pflicht nachzukommen, das Gesetzgebungsverfahren wäre.Footnote 96 Daraus dürfe aber wiederum nicht geschlossen werden, dass es dem obersten Gericht nicht zustehe, die Beschwerde zu hören.Footnote 97 Denn die Erfüllung der Pflichten aus der EMRK, die innerstaatlich geltendes Recht sei und darüber hinaus Vorrang vor nationalem Recht genieße, sei auch Aufgabe der Judikative („duty of the judicial power“).Footnote 98 Zwar bilde das Urteil des EGMR selbst keinen Wiederaufnahmegrund („the judgment […] does not directly give rise to the right to re-opening of a proceeding“), so das Gericht weiter. Trotzdem könne sich in bestimmten Situationen die Gewährung eines neuen Verfahrens aus dem Recht, von einem Richter gehört zu werden (Art. 15 der estnischen Verfassung), ergeben. Dies ist nach dieser Rechtsprechung insbesondere dann der Fall, wenn eine andauernde Konventionsverletzung von einer bestimmten Schwere vorliegt.Footnote 99

3. Auswirkungen auf Akte der Exekutive

Gerichte befassen sich auch mit Entscheidungen, deren Umsetzung in den Bereich der Exekutive fällt. Dies belegt etwa das Folgeurteil des kolumbianischen Verfassungsgerichts zu der Entscheidung in der Sache 19 Comerciantes. Darin hatte der IAGMR unter anderem die Errichtung eines Denkmals für 19 von paramilitärischen Einheiten getötete Personen sowie das Abhalten einer feierlichen Zeremonie angeordnet.Footnote 100 Nachdem die Behörden dieser Anordnung auch Jahre nach Ergehen des Urteils nicht vollständig nachgekommen waren, wandten sich die Angehörigen der Opfer an das Verfassungsgericht und machten eine Verletzung ihrer Rechte aufgrund der Nichtumsetzung geltend. Das Verfassungsgericht kam zwar zum Schluss, dass die gerichtliche Durchsetzung des Urteils des IAGMR mittels Verfassungsbeschwerde grundsätzlich nicht der richtige Weg sei. Primär angesprochen sei vielmehr das Außenministerium.Footnote 101 In gewissen Situationen jedoch könne ein Einschreiten der Judikative erforderlich sein, wenn die „ordentlichen Mittel“ nicht zielführend gewesen seien.Footnote 102 Im vorliegenden Fall ließ das Gericht die Verfassungsbeschwerde im Ergebnis zu und ordnete an, dass das zuständige Ministerium innerhalb von 48 Stunden tätig werden müsse. Es setzte diesem eine Frist von einem Monat, um die zur vollständigen Umsetzung des Urteils erforderlichen Schritte zu unternehmen.Footnote 103

4. Auswirkungen auf legislative Akte

Schließlich kommt es immer wieder vor, dass ein Konventionsverstoß in einem generell-abstrakten Gesetz gründet. In dieser Situation ist der betreffende Staat zur Änderung der Rechtslage verpflichtet.Footnote 104 Den Menschenrechtsgerichten kommt dabei eine Funktion zu, die weit über die klassische Funktion der Streitbeilegung hinausgeht. Ihre Entscheidungen entfalten in diesen Fällen über den Einzelfall hinaus Wirkungen; sie verlieren bis zu einem gewissen Grad ihren Charakter als individuell-konkrete Akte und werden zu „tools for challenging laws and practices“,Footnote 105 denen ein „life as law-like rules“Footnote 106 zukommt. Die Menschenrechtsgerichte erfüllen in diesen Situationen gleichsam eine verfassungsgerichtliche Funktion.Footnote 107

Es ist klar, dass für die erforderlichen gesetzlichen Anpassungen grundsätzlich die Legislative zuständig ist. Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte haben denn auch zu zahlreichen Gesetzesänderungen Anlass gegeben.Footnote 108 Wie sollen sich aber Gerichte verhalten, wenn sie in Folgeverfahren mit konventionswidrigen Gesetzen befasst sind? Während der IAGMR verlangt, dass Gerichte die entsprechenden Bestimmungen in nachfolgenden Verfahren nicht mehr anwenden, war der EGMR diesbezüglich bislang zurückhaltender – was ihn indes nicht davon abgehalten hat, erneut Konventionsverstöße festzustellen, wenn Gerichte noch nicht geänderte konventionswidrige Gesetze weiterhin angewendet haben.Footnote 109

Bereits das Verhältnis innerstaatlicher Gerichte, insbesondere von Verfassungsgerichten, zur Legislative, dem demokratisch gewählten Gesetzgebungsorgan, ist bekanntlich seit jeher spannungsgeladen. Genau aus diesem Grund erlegt sich etwa das Bundesverfassungsgericht zu Gunsten der Legislative grundsätzlich Zurückhaltung auf, wenn die Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes auf mehrere Arten behoben werden kann.Footnote 110 Geht es um den Einfluss eines internationalen Gerichts auf in demokratischen Verfahren erlassene Gesetze, spitzt sich dieses Spannungsverhältnis nur noch zu.Footnote 111 So wird regelmäßig darauf verwiesen, dass die zuständigen Organe auf der internationalen Ebene im Falle einer EGMR-Entscheidung, anders als bei nationalem Recht, gerade nicht die Möglichkeit hätten, durch Anpassung des internationalen Instruments zu reagieren.Footnote 112 Der Präsident des obersten englischen Gerichts bezeichnete die Vorstellung, der EGMR könne Akte des Parlaments aufheben, gar als „little short of offensive to our notions of constitutional propriety“.Footnote 113

Trotzdem tragen Gerichte auch dann regelmäßig zur Umsetzung internationaler Entscheidungen bei, wenn innerstaatliches Gesetzesrecht entgegensteht. Dies gelingt zunächst dadurch, dass sie die entsprechenden Bestimmungen entweder nicht mehr anwenden oder, wenn ihnen die entsprechende Kompetenz zukommt, gar aufheben. Gerichte agieren in diesen Situationen also gleichsam als negative Gesetzgeber im kelsianischen Sinne.Footnote 114 Wie zu zeigen sein wird, bringen zahlreiche Gerichte die Rechtsordnung bereits präventiv in Einklang mit den internationalen Standards und lassen den Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte dabei weit über den entschiedenen Einzelfall hinaus Wirkungen zukommen (4.1.). Doch nicht nur dies: In verschiedenen Situationen sind Gerichte gar dazu bereit, als positive Gesetzgeber zu agieren und das innerstaatliche Recht anzupassen oder gar zu ergänzen (4.2.).

4.1. Gerichte als negative Gesetzgeber

a) Nichtanwendung oder Aufhebung konventionswidriger Gesetzesbestimmungen

Liegt der Grund für einen Konventionsverstoß in einem generell-abstrakten Akt des nationalen Rechts, können sich Gerichte gehalten sehen, das entsprechende Gesetz entweder im Einzelfall oder generell nicht mehr anzuwenden oder, sofern sie über die entsprechenden Kompetenzen verfügen, gar aufzuheben. So entschied das kolumbianische Verfassungsgericht in der Folge der Entscheidung Masacres de ItuangoFootnote 115 eine Gesetzesbestimmung nicht mehr anzuwenden, weil sie sich im vorliegenden Fall als ein unüberwindbares Hindernis („un obstáculo insalvable“)Footnote 116 für die Umsetzung der vom IAGMR festgelegten Reparationsmaßnahmen erwiesen habe.Footnote 117 Die „zusätzlichen Anforderungen“ („requisitos adicionales previstos en la legislacion interna para el acceso a las medidas de reparacion previstas por la Corte Interamericana“), welche das kolumbianische Recht im konkreten Fall an die Durchsetzung des IAGMR-Urteils knüpfte, sei für ausdrücklich im IAGMR-Urteil genannte Personen nicht mit den Forderungen des IAGMR vereinbar.Footnote 118 In einem anderer Fall wendete ein guatemaltekisches Gericht in Folge der IAGMR-Entscheidung in der Sache Fermín Ramirez, welche die Umwandlung der Todesstrafe des vor dem IAGMR obsiegenden Beschwerdeführers verlangte, eine Bestimmung des geltenden Rechts nicht mehr an.Footnote 119 Konkret ging es um eine Bestimmung des Strafgesetzbuches, wonach das Verhängen der Todesstrafe von der Gefährlichkeit des Täters abhängt. Die darin vorgesehene Art der Bemessung der Gefährlichkeit verletzte nach Ansicht des IAGMR das in Art. 9 AMRK verankerte Legalitätsprinzip.Footnote 120 Er hatte deshalb angeordnet, dass die Bestimmung nicht mehr angewendet werden dürfe und revidiert werden müsse.Footnote 121 Das oberste mexikanische Gericht wiederum akzeptierte in der Folge der Entscheidung in der Sache Radilla-Pacheco formell die Pflicht zur Durchführung einer Konventionalitätskontrolle durch innerstaatliche Gerichte und kam zum Schluss, dass es konventionswidrige Gesetze künftig nicht mehr anwenden werde.Footnote 122 In dem Fall ging es um eine Bestimmung über die Zuständigkeit der militärischen Gerichtsbarkeit, die der IAGMR im Falle der Involvierung ziviler Personen an Verfahren für konventionswidrig befunden hatte.Footnote 123 Der IAGMR lobte die Entscheidung und strich hervor, dass inzwischen in Mexiko eine Reihe von Fällen von der Militärgerichtsbarkeit an ordentliche Gerichte überwiesen worden seien.Footnote 124 In einer späteren Entscheidung erklärte das oberste Gericht die in Rede stehende Bestimmung für verfassungswidrig und hob sie auf.Footnote 125

Gerichte, denen diese Kompetenz zukommt, heben konventionswidrige Gesetze zuweilen gar auf. Damit verhelfen sie den Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte dazu über den entschiedenen Einzelfall hinaus Wirkungen zu entfalten. Sie kommen damit quasi anstelle des Gesetzgebers den Forderungen des zuständigen internationalen Gerichts nach.Footnote 126 So hob etwa das Bundesverfassungsgericht in der Folge der Entscheidung M. gegen DeutschlandFootnote 127 die vom EGMR für konventionswidrig befundenen strafprozessualen Bestimmungen auf.Footnote 128

Ein weiterer Aspekt innerstaatlich-gerichtlicher Urteilsumsetzung in diesen Fällen ist, dass mittels nationaler Gerichte die Wirkungen der internationalen Entscheidungen „internalisiert“ und dadurch legitimiert werden. So erklärte etwa das peruanische Verfassungsgericht Amnestiegesetze in der Folge deren „Nichtigkeitserklärung“ durch den IAGMR formell für verfassungswidrig und hob sie auf.Footnote 129 Wichtig ist dabei, dass das Gericht den Erwägungen des IAGMR großes Gewicht beimaß und sich explizit auf diesen stützte, gleichzeitig aber betonte, dass es die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit als seine Aufgabe versteht und sich dabei vorbehält eine eigenständige Rolle zu spielen.Footnote 130 Laut Kommentatoren liegt die Relevanz des Urteils denn gerade in der Erklärung, dass die Gesetze innerstaatlich verfassungswidrig seien.Footnote 131 Denn damit verdeutlicht das Gericht nicht nur die Akzeptanz der internationalen Vorgaben, sondern leistet einen Beitrag zur Stabilisierung der Rechtsstaatlichkeit in der eigenen Rechtsordnung. Die eigenständige Prüfung der Verfassungsmäßigkeit durch nationale Gerichte kann folglich aber auch dazu führen, dass nationale Gerichte zu einem anderen Ergebnis als ihre internationalen Pendants kommen. Darauf wird zurückzukommen sein.Footnote 132

b) Präventiver Einbezug zur Abwendung von Verurteilungen

Zahlreiche Gerichte beschränken sich heute nicht mehr darauf, im Verfahren der Gesetzeskontrolle gegen den eigenen Staat ergangene Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte einzubeziehen. Vielmehr sind viele dazu übergegangen, in „vorauseilendem Gehorsam“ nach Straßburg beziehungsweise San José zu blicken und ihre Rechtsordnungen präventiv in Einklang mit den internationalen Vorgaben zu bringen, um einer „Verurteilung“ zuvorzukommen.Footnote 133 So hob etwa das peruanische Verfassungsgericht aufgrund einer gegen Nicaragua ergangenen Entscheidung eine Bestimmung der Verfassungsprozessordnung auf, weil diese keine gerichtliche Überprüfung bestimmter Akte vorsah.Footnote 134 Das oberste argentinische Gericht erklärte in der Meilensteinentscheidung Simón die argentinischen Amnestiegesetze hauptsächlich deshalb für verfassungswidrig, weil der IAGMR ähnliche peruanische Gesetze in Barrios Altos für ganz grundlegend mit der Konvention unvereinbar erklärt hatte.Footnote 135

Auch der französische Kassationshof erklärte in der Folge zweier gegen die Türkei ergangener Entscheidungen eine vergleichbare Bestimmung der französischen Strafprozessordnung für unanwendbar.Footnote 136 Diese Entscheidung ist nicht nur angesichts des in Frankreich vorherrschenden strikten Verständnisses der „souveraineté de la loi“ und der damit verbundenen traditionellen Zurückhaltung der JudikativeFootnote 137 bemerkenswert. Brisant ist sie auch deshalb, weil der Verfassungsrat die in Rede stehende Bestimmung zuvor zwar bereits für verfassungswidrig erklärt, aber eine übergangsweise Weitergeltung angeordnet und dem Gesetzgeber eine Frist zur Anpassung eingeräumt hatte.Footnote 138 Aus Gründen der Gewaltenteilung sprach sich auch die Generalanwältin vor dem Kassationshof gegen die sofortige Nichtanwendung und für das Abwarten einer Gesetzesreform aus: „[…] le juge ne peut se faire pour autant législateur et prétendre à poser les conditions de l’exercise du nouveau droit consacré.“Footnote 139 Die verschiedenen Gewalten müssten im Interesse des Gemeinwohls zusammenarbeiten.Footnote 140 Der Kassationshof verwarf diese Argumentation jedoch, weil die Rechte der betroffenen Individuen den Prinzipien der Rechtssicherheit und der guten Verwaltung der Justiz („sécurité juridique et les nécessités d’une bonne administration de la justice“) vorgehen müssten.Footnote 141 Die EMRK-Mitgliedstaaten seien gehalten, die Entscheidungen des EGMR zu befolgen, ohne eine eigene Verurteilung oder Änderung der Rechtslage durch den Gesetzgeber abzuwarten.Footnote 142

Auch in der Schweiz begann das Bundesgericht aufgrund des EGMR, eine Art Konventionalitätskontrolle von Gesetzen durchzuführen, um es gar nicht erst zu Verfahren gegen die Schweiz kommen zu lassen.Footnote 143 Dies, obwohl dem Bundesgericht diese Rolle ursprünglich nicht zugedacht war: Aufgrund der seit jeher bestehenden Befürchtung einer zu starken Judikative („gouvernement de juges“)Footnote 144 sind nach Art. 190 der Bundesverfassung Bundesgesetze und Völkerrecht für das Bundesgericht und die anderen rechtsanwendenden Behörden „maßgebend“, was bedeutet, dass sie angewendet werden müssen, selbst wenn sie der Verfassung widersprechen.Footnote 145 Damit ist eine Verfassungskontrolle von Gesetzen ausdrücklich ausgeschlossen. Das Hinzukommen eines internationalen Gerichts, das quasi über breitere Kompetenzen verfügt als es selbst, stellte das Bundesgericht aber zunehmend vor Probleme und hatte zur Konsequenz, dass das Gericht zu einer reinen „Durchlaufinstanz“ auf dem Weg nach Straßburg zu verkommen drohte. So konnte das Bundesgericht etwa die Beschwerde, wonach das damals im Zivilgesetzbuch vorgesehene Wiederverheiratungsverbot gegen die Ehefreiheit verstoße, nicht beurteilen, worauf die Beschwerdeführer vor den EGMR gelangten, der wiederum die Praxis in F. gegen die Schweiz als konventionswidrig beurteilte.Footnote 146 In einer späteren Entscheidung führte das Anwendungsgebot gar dazu, dass der EGMR in Burghartz gegen die Schweiz vom Kriterium des Erfordernisses der Rechtswegerschöpfung absah, weil das Bundesgericht keine Gesetzeskontrolle durchzuführen bereit war.Footnote 147

Dies bewog das Bundesgericht schließlich zu einem Kurswechsel. In einer Entscheidung aus dem Jahr 1991 begründete es seine Rechtsprechung, wonach konventionswidrigen Gesetzen die Anwendung versagt werden kann.Footnote 148 Es spreche nichts dagegen, „dass der Richter die Bundesgesetze auf ihre Übereinstimmung mit der Konvention prüft. Natürlich kann er nicht eine Gesetzesbestimmung aufheben, weil sie dem Völkerrecht widerspricht; er könnte höchstens im konkreten Einzelfall die betreffende Norm nicht anwenden, wenn sie sich als völkerrechtswidrig erweist und zu einer Verurteilung der Schweiz führen könnte.“Footnote 149

Das Bundesgericht begründete dies letztlich mit dem Vorrang des Völkerrechts. Möglich war dies, weil das verfassungsmäßige Anwendungsgebot neben Bundesgesetzen auch Völkerrecht nennt, das „maßgebend“, d. h. anzuwenden, ist. Das Gericht kam zum Schluss, dass die Bestimmung aber den Konfliktfall zwischen den beiden Rechtsquellen gerade nicht regle. Mit völkerrechtlichen Argumenten löste es diesen in der Folge grundsätzlich zu Gunsten des Völkerrechts. Interessanterweise sah das Bundesgericht dabei insbesondere Rechtfertigungsbedarf gegenüber der für die internationalen Angelegenheiten zuständigen Exekutive und weniger gegenüber der Legislative. Einen richtiggehenden „Einbruch in den Grundsatz der Gewaltenteilung“ verneinte es jedoch, denn es sei die Pflicht aller Behörden, im Rahmen ihrer Kompetenzen zur „Harmonisierung von Landesrecht und durch die Schweiz abgeschlossenen Völkerrechtsverträgen“ beizutragen.Footnote 150

c) Konventionalitätskontrolle im Rahmen der Verfassungskontrolle von Gesetzen

Viele Gerichte haben die Rechtsprechung der Menschenrechtsgerichte gar zum eigentlichen Prüfungsmaßstab im Rahmen der Verfassungskontrolle von Gesetzen erhoben. Sie nutzen dabei regelmäßig Verfassungsklauseln, welche die Offenheit der Staatlichkeit gegenüber dem Völkerrecht statuieren,Footnote 151 als „Eingangstor“, um die Menschenrechtskonventionen und insbesondere die dazu ergangene Rechtsprechung zum Prüfungsmaßstab für die Kontrolle innerstaatlichen Rechts zu erheben.Footnote 152 Damit „konstruieren“ sie das innerstaatliche Recht im Lichte der internationalen VorgabenFootnote 153 und führen im Ergebnis gestützt auf die Verfassung eine Konventionalitätskontrolle durch.Footnote 154 Erleichtert wird dies dadurch, dass Verfassungen oft menschenrechtliche Verträge besonders hervorheben bzw. ihnen gar eine Sonderstellung einräumen.Footnote 155 So machte sich etwa das italienische Verfassungsgericht Art. 117 der Verfassung zu Nutze, wonach italienische Gesetze die sich aus den völkerrechtlichen Verträgen Italiens ergebenden Verpflichtungen beachten müssen.Footnote 156 In seinen berühmten „Zwillingsentscheidungen“ statuierte das Gericht, dass Gesetze, die nicht in Einklang mit der EMRK in der Auslegung des EGMR stünden, quasi indirekt Art. 117 verletzten und deshalb aufgehoben werden müssten.Footnote 157

Zwar sprach sich das Verfassungsgericht in diesen Entscheidungen zunächst explizit gegen die unmittelbare gerichtliche Durchsetzbarkeit von EGMR-Urteilen durch die Judikative aus.Footnote 158 Trotzdem sah sich das Gericht gehalten, die Rechtsprechung des EGMR im Rahmen seiner Tätigkeit einzubeziehen. Innerhalb der völkerrechtlichen Verträge, die selbst weiterhin den Rang des sie inkorporierenden Gesetzes behielten, käme der EMRK eine besondere Stellung zu, so das Verfassungsgericht.Footnote 159 Dies führte das Gericht nicht nur auf den verfassungsähnlichen Gehalt der Konventionsrechte zurück,Footnote 160 sondern auch und gerade auf die Tatsache, dass der Vertrag mit einem Interpretationsorgan ausgestattet ist.Footnote 161 Deswegen sah es das Gericht im Ergebnis als notwendig an, im Rahmen seiner „Konventionalitätskontrolle“ auch auf die Interpretation durch Straßburg zu schauen. Dabei beschränkte es sich nicht auf gegen Italien ergangene Entscheidungen, sondern verwendete die gesamte Konvention in der Auslegung der Straßburger Richter,Footnote 162 betonte jedoch auch, dass EGMR-Entscheidungen lediglich ein Gesichtspunkt im Rahmen seiner eigenen Prüfung sind. Außerdem behielt sich das Gericht eine Prüfung im Einzelfall vor, ob es dem Straßburger Gericht folgt oder nicht.Footnote 163 Tatsache ist aber, dass diese Rechtsprechung es ermöglichte, den Entscheidungen des EGMR weitreichende Wirkungen in der italienischen Rechtsordnung zukommen zu lassen, und zwar weit über den entschiedenen Einzelfall hinaus.Footnote 164

In Lateinamerika gehen viele Gerichte gar noch weiter. Begünstigt wird dies dadurch, dass zahlreiche der im Zuge der demokratischen Transition neu entstandenen Verfassungen als Antwort auf die schweren Menschenrechtsverletzungen während der Diktaturen Völkerrecht und insbesondere menschenrechtlichen Instrumenten gegenüber in besonderem Maße offen ausgestaltet wurden.Footnote 165 In der Literatur wird, in Anlehnung an die deutsche Terminologie, diesbezüglich von „estatalidad abierta“, offener Staatlichkeit, gesprochen.Footnote 166 Diese Offenheit ist insbesondere dadurch gekennzeichnet, dass den menschenrechtlichen Instrumenten mittels verschiedener Techniken Verfassungsrang gewährt wird, sie also „konstitutionalisiert“ oder, anders betrachtet, die Verfassungen „interamerikanisiert“ werden.Footnote 167 Diese Verfassungen wählen also sozusagen einen „cosmopolitan approach to rights“.Footnote 168 Die menschenrechtlichen Verträge wurden so als „rechtliche Verkörperung demokratischer Werte, die auf der Achtung der Würde der menschlichen Person beruhen“, verstanden.Footnote 169 Insbesondere in Staaten, die menschenrechtliche Verträge durch eine Referenznorm explizit in die Verfassung inkorporieren, dienen die menschenrechtlichen Garantien der längerfristigen Absicherung der Rechtsstaatlichkeit in den noch jungen Demokratien („Lock-in-Argument“).Footnote 170 Wie der Fall Venezuelas zeigt, reicht dies alleine aber nicht aus, und es spielen andere, zusätzliche Faktoren wie die richterliche Unabhängigkeit eine wichtige Rolle für die effektive Aufrechterhaltung rechtsstaatlicher Standards.Footnote 171

Gestützt auf diese offenen Verfassungen lassen Gerichte der AMRK und insbesondere auch der Rechtsprechung des IAGMR regelmäßig großes Gewicht in der eigenen Rechtsordnung zukommen. In einigen Staaten erklären Gerichte die AMRK in der Auslegung des Gerichtshofs gar zum Teil des sogenannten „bloque de constitucionalidad“ und gewähren ihr Verfassungs- und zum Teil gar Überverfassungsrang.Footnote 172 Ein Beispiel ist das oberste argentinische Gericht.Footnote 173 Erleichtert wurde diese Entwicklung dadurch, dass im Zuge der Verfassungsreform in Argentinien die AMRK und andere menschenrechtliche Verträge mittels Referenznorm explizit in die Verfassung integriert wurden (Art. 75 Abs. 22).Footnote 174 Bereits vor der Reform hatte sich das oberste argentinische Gericht in der Leitentscheidung Miguel Angel Ekmekdjian zur innerstaatlichen Wirkung der Rechtsprechung der interamerikanischen Organe ausgesprochen.Footnote 175 Es hielt fest, dass sich Gerichte im Rahmen der Anwendung der Konvention von der Rechtsprechung des IAGMR zu leiten hätten („debe […] guiarse por la jurisprudencia de la Corte“).Footnote 176 Dabei stützte es sich zur Lösung des Falles auf ein nicht verbindliches Gutachten des Gerichtshofs.Footnote 177 Nun hielt das Gericht darüber hinaus fest, dass die AMRK innerstaatlich so zu gelten habe, wie sie auf der internationalen Ebene tatsächlich angewendet werde.Footnote 178 Daraus folgerte das Gericht, dass die gesamte interamerikanische Rechtsprechung als Richtschnur im Rahmen der Auslegung der Konventionsrechte herangezogen werden müsse („guía para la interpretación de los preceptos convencionales“).Footnote 179

In anderen Staaten waren es innerstaatliche Gerichte, welche die AMRK durch ihre Rechtsprechung auf Verfassungsstufe hoben. In Kolumbien etwa spielte zwar die Verfassungsreform von 1991, mit der die innerstaatliche Stellung von menschenrechtlichen Verträgen gestärkt wurde und die zudem überhaupt erst zur Einsetzung des Verfassungsgerichts führte, eine zentrale Rolle für den Einbezug der interamerikanischen Rechtsprechung und führte ganz grundlegend zu einer Änderung der Haltung gegenüber menschenrechtlichen Instrumenten.Footnote 180 Ausgangspunkt dieser Entwicklung bildete Art. 93 der neuen Verfassung, wonach den notstandsfesten Garantien in den von Kolumbien ratifizierten menschenrechtlichen Verträgen Vorrang vor innerstaatlichen Gesetzen zukommt (Abs. 1). Der zweite Absatz schreibt vor, dass die Verfassung in Einklang mit den menschenrechtlichen Verträgen Kolumbiens auszulegen ist.Footnote 181 Es war aber das Verfassungsgericht, welches gestützt auf diese Bestimmung 1995 zunächst gewisse menschenrechtliche Verträge auf Verfassungsstufe hob, indem es diese durch eine völkerrechtsfreundliche Leseart der Verfassung als Teil des „bloque de constitucionalidad“ qualifizierte.Footnote 182 Dies kann als „judicial constitutionalization“ – im Gegensatz zur Konstitutionalisierung durch den Verfassungsgeber selbst – bezeichnet werden.Footnote 183 In einem zweiten Schritt bezog das Gericht explizit auch die internationale Rechtsprechung ein.Footnote 184 Im Grunde geht es dabei davon aus, dass diese ein Parameter für die Bestimmung der Reichweite des sog. „bloque de constitucionalidad“ ist. So hält es in ständiger Rechtsprechung fest, dass die Rechtsprechung des IAGMR eine „relevante Richtschnur“ im Rahmen der Auslegung der Konvention und der kolumbianischen Verfassung sei und von allen kolumbianischen Behörden und insbesondere dem Verfassungsgericht gewürdigt („valorada“) werden müsse.Footnote 185 Die Folge ist wiederum, dass es dadurch auf indirekte Weise Entscheidungen der interamerikanischen Organe bei der Verfassungskontrolle von Gesetzen einbeziehen kann. Die vorherrschende Meinung in Kolumbien ist, dass das Gericht extensiv Gebrauch macht von der Rechtsprechung des IAGMR.Footnote 186 Jedoch ergibt sich aus der Rechtsprechung auch, dass sich das Verfassungsgericht nicht absolut gebunden sieht an die internationalen Präjudizien, sondern diese als – wenn auch wichtige – Orientierungshilfe betrachtet.Footnote 187

Immer wieder nutzen Gerichte die offenen Verfassungen nicht nur, um eigentliche Entscheidungen des IAGMR einzubeziehen, sondern berücksichtigen gar die nicht rechtsverbindlichen Gutachten des Gerichtshofs. So legte besagtes kolumbianisches Verfassungsgericht im Jahr 2000 seiner Entscheidung zur Frage, ob ein neues Radiogesetz der Meinungsfreiheit standhielt, ein zu ähnlichen Fragen ergangenes Gutachten des IAGMR zugrunde und erklärte gestützt darauf Teile des in Rede stehenden Gesetzes für verfassungswidrig.Footnote 188 Das costa-ricanische Verfassungsgericht folgte jüngst einem Gutachten des Gerichtshofs, in welchem dieser zum Schluss gekommen war, das Diskriminierungsverbot verbiete jegliche Ungleichbehandlung aufgrund der sexuellen Orientierung. Aus diesem Grund verlange die AMRK, dass gleichgeschlechtlichen Partnerschaften vollumfänglich die gleichen Rechte einzuräumen seien wie andersgeschlechtlichen Paaren.Footnote 189 Das Verfassungsgericht stellte in der Folge den verfassungswidrigen Zustand der costa-ricanischen Rechtslage fest, welche die „Ehe für alle“ gerade nicht vorsieht. Aufgrund der weitreichenden Folgen der Änderung hob es das Gesetz allerdings nicht auf, sondern verpflichtete den Gesetzgeber zur Behebung binnen einer Frist von 18 Monaten.Footnote 190

Wichtig ist allerdings hervorzuheben, dass es auch Gerichte gibt, die explizit keine Konventionalitätskontrolle vornehmen, und dies, obwohl ihnen dies rechtlich möglich wäre. So bildete Art. 10 Abs. 2 der spanischen Verfassung, wonach die spanische Verfassung in Einklang mit den menschenrechtlichen Verpflichtungen Spaniens auszulegen ist,Footnote 191 ein wichtiges Vorbild für zahlreiche Verfassungen in Lateinamerika.Footnote 192 Das spanische Verfassungsgericht aber hält in ständiger Rechtsprechung fest, dass die EMRK und die Rechtsprechung des EGMR gerade nicht Maßstab zur Prüfung der Verfassungsmäßigkeit bilden. Es stellt sich auf den Standpunkt, ihm stehe es lediglich zu, über Verstöße gegen Grundrechte nach der Verfassung – und nicht den völkerrechtlichen Verträgen Spaniens – zu befinden.Footnote 193 Trotzdem gesteht das Gericht der EMRK und dem EGMR als zuständiges Auslegungsorgan einen besonderen Status („especial papel“) zu.Footnote 194 Gestützt auf diese Bestimmung der Verfassung hielt das Verfassungsgericht ferner fest, dass die gesamte Rechtsprechung des EGMR ein „interpretatives Kriterium bei der Anwendung von Verfassungsgrundsätzen zum Schutz der Grundrechte“ sei („criterio interpretativo en la aplicación de los preceptos constitucionales tuteladores de los derechos fundamentales“).Footnote 195

Auch der französische Verfassungsrat hat sich in seiner IVG-EntscheidungFootnote 196 aus dem Jahr 1975 gegen eine „Konventionalitätskontrolle“ ausgesprochen.Footnote 197 Obwohl die französische Rechtsordnung mit Art. 55 der Verfassung, der den Vorrang von Völkervertragsrecht vor Gesetzesrecht sichern soll,Footnote 198 eine ähnliche Vorschrift wie die italienische kennt, nimmt er gerade keine Kontrolle von Gesetzen gestützt auf die EMRK vor. Eine Konventionalitätskontrolle ist damit in Frankreich aber nicht komplett ausgeschlossen; vielmehr „delegierte“ der Verfassungsrat diese an die Fachgerichte, die konventionswidrigen Gesetzen allenfalls die Anwendung versagen können.Footnote 199 Dadurch kann es zu Situationen kommen, in denen der Verfassungsrat die Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes feststellt, ein Fachgericht später aber zum Schluss kommt, dass dieses gegen die EMRK verstößt und es aus diesem Grund nicht anwendet.Footnote 200 Dies führte etwas paradoxerweise dazu, dass der Verfassungsrat sich de facto dennoch an der Rechtsprechung des EGMR zu orientieren begann, um genau solche Widersprüche zu verhindern und außerdem einer Verurteilung Frankreichs durch den EGMR zuvorzukommen.Footnote 201 Im Ergebnis bestehen zwischen der Rechtsprechung des Verfassungsrats und derjenigen des EGMR „des similtudes troublantes“,Footnote 202 und es handelt sich lediglich der Form, nicht jedoch dem Inhalt nach um eine Missachtung des EGMR („mépris formel“).Footnote 203 Dies wird als „dialogue sans paroles“ bezeichnet.Footnote 204 Mathieu spricht diesbezüglich von einer „prise en compte discrète mais réelle“Footnote 205 und Jouanjan konstatiert, „dass die Verfassung trotz ihres herausgehobenen Rangs im innerstaatlichen Normengefüge zunehmend unter dem Einfluss der europäischen Gerichte steht […].“Footnote 206

4.2. Gerichte als positive Gesetzgeber

a) Extensive Auslegung von Gesetzen

Um Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte nachzukommen, agieren innerstaatliche Gerichte zuweilen auch als „positive Gesetzgeber“, indem sie nationales Recht extensiv auslegen oder manchmal gleichsam ergänzen. Ein bekanntes Beispiel für eine Anpassung an Straßburg durch extensive Auslegung stammt aus Frankreich. In der Folge der Entscheidung B contre France entschied der französische Kassationshof – nota bene ohne explizit auf den EGMR einzugehen – einen Gesetzesspielraum auszunutzen und das Recht Transsexueller auf Änderung des Personenstandes durch eine geänderte Auslegung der Bestimmung eigenhändig anzuerkennen, ohne eine Gesetzesänderung abzuwarten.Footnote 207 Diverse untere Gerichte sowie auch der EGMR waren zum Schluss gekommen, dass es nach geltendem Recht in Frankreich möglich sei, einen Vermerk des Geschlechtswandels auf der Geburtsurkunde anzubringen.Footnote 208 Der EGMR hatte Frankreich auch nicht zu einer Gesetzesänderung angehalten, sondern lediglich festgestellt, dass Frankreich verschiedene Möglichkeiten habe, den Konventionsverstoß zu beheben.Footnote 209

In unmittelbarer Folge zum Urteils des EGMR und der dazu ergangenen Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts in der Sache Görgülü sah sich auch der deutsche Bundesgerichtshof gezwungen, die – inzwischen aufgehobene – Bestimmung des Bürgerlichen Gesetzbuches zur Frage, wann dem Vater eines Kindes die elterliche Sorge übertragen werden kann, großzügig auszulegen. Die Vorschrift sah vor, dass bei getrennt lebenden Eltern der Vater nur mit Zustimmung der Mutter, der das originäre Sorgerecht zustand, die alleinige elterliche Sorge beantragen konnte, und ferner nur unter der Bedingung, dass dies dem Wohl des Kindes diente.Footnote 210 Nun kam der Bundesgerichtshof jedoch zum Schluss, im Lichte der Entscheidung des EGMR sei eine weite Auslegung dieser Bestimmung geboten.Footnote 211 Denn die vom Bundesverfassungsgericht entwickelte Berücksichtigungspflicht von EGMR-Urteilen durch deutsche Gerichte verlange, dass die Erkenntnisse des EGMR bei der Auslegung des deutschen materiellen Rechts einbezogen würden.Footnote 212 Daraus folge, dass in Fällen wie dem vorliegenden, in denen die Mutter das Kind zur Adoption freigegeben habe, dem Begehren des Vaters „bereits unter weniger strengen Voraussetzungen zu entsprechen“ sei.Footnote 213 Eine Zustimmung der Mutter erachtete das Gericht in dieser Konstellation als nicht erforderlich. Dem Antrag des Vaters sei ferner bereits dann stattzugeben, „wenn die Übertragung der elterlichen Sorge dem Wohl des Kindes nicht widerspricht.“Footnote 214 Im Ergebnis lehnte das Gericht die Übertragung des Sorgerechtes im vorliegenden Fall jedoch ab, weil es aufgrund des bislang kaum vorhandenen tatsächlichen Umgangs zwischen Vater und Kind diese Voraussetzung als noch nicht gegeben erachtete.Footnote 215

b) Interpretative Ergänzung von Gesetzen

In anderen Fällen sind innerstaatliche Gerichte quasi zur Ergänzung von aus der Konventionsperspektive lückenhaften Gesetzen geschritten. So füllte das oberste Gericht Panamas in unmittelbarer Folge zur IAGMR-Entscheidung in der Sache Tristán Donoso eine Lücke im Prozessrecht, um die Vorgaben des IAGMR durchzusetzen. Es ging um die Aufhebung eines Strafurteils, wie sie der IAGMR wegen Verletzung der Meinungsäußerungsfreiheit verlangt hatte.Footnote 216 Um das bereits rechtskräftig gewordene innerstaatliche Urteil aufzuheben, bediente sich die Strafkammer einer Bestimmung des Prozessrechts, nach welcher bereits für vollstreckbar erklärte Urteile revidiert werden können, wenn entweder ein späteres Gesetz oder eine Verfassungsbeschwerde den Verurteilten besser stellt. Das Gericht argumentierte, dass darunter auch Urteile des IAGMR fallen müssten, die Verurteilte begünstigen. Dies sei im Fall von Donoso unzweifelhaft der Fall.Footnote 217 Im Ergebnis fügte das Gericht der Bestimmung durch eine völkerrechtsfreundliche Leseart quasi einen neuen, ungeschriebenen Revisionsgrund hinzu.

Das kolumbianische Verfassungsgericht sah sich im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde mit einer Bestimmung der Strafprozessordnung konfrontiert, welche die Wiedereröffnung von rechtskräftigen Strafurteilen regelte. Die Bestimmung listete zwar eine Reihe von Gründen auf, welche die Durchbrechung der Rechtskraft erlaubten, kannte diese Möglichkeit aber nicht, wenn die Wiedereröffnung zu Lasten des Verurteilten ging (reformatio in peius).Footnote 218 Darin erkannte der Beschwerdeführer im Lichte der interamerikanischen Rechtsprechung einen Konflikt mit dem Recht auf Wahrheit der Opfer schwerer Menschenrechtsverletzungen.Footnote 219 Um diesen Konflikt zu entschärfen, ergänzte das Verfassungsgericht die Bestimmung um einen zusätzlichen Wiederaufnahmegrund. So sei die Bestimmung nur insofern verfassungsmäßig, als dass sie zum Zwecke einer effektiven Aufklärung schwerster Menschenrechtsverletzungen die Durchbrechung der Rechtskraft auch dann zulasse, wenn die betroffenen Individuen im Ursprungsprozess freigesprochen worden waren.Footnote 220

Auch der italienische Kassationshof erachtete es in Dorigo als zulässig bzw. gar erforderlich, selbst in Umsetzung der zugrunde liegenden EGMR-Entscheidung, welche die Neubeurteilung eines Falles verlangte, tätig zu werden. Er begründete dies damit, dass es die Legislative während Jahren versäumt hatte, Wiederaufnahmemöglichkeiten für möglicherweise unfaire Strafurteile zu statuieren.Footnote 221 Ähnlich wie das kolumbianische Verfassungsgericht erklärte schließlich das italienische Verfassungsgericht die Vorschrift der Strafprozessordnung, welche Wiederaufnahmegründe für bereits abgeschlossene Verfahren begründet (Art. 630 der Strafprozessordnung), genau deshalb für verfassungswidrig, weil sie keine Möglichkeit der Wiederaufnahme vorsieht, um Urteile des EGMR umzusetzen.Footnote 222 Es hielt fest, dass die punktuelle „Vollstreckung“ von EGMR-Urteilen durch Gerichte, wie sie auch der Kassationshof vorgenommen hatte, nur eine „unvollständige Lösung“ darstelle und im Prinzip der Gesetzgeber gehalten sei zu handeln und einen konventionskonformen Zustand herzustellen.Footnote 223 Allerdings stimmte es dem Kassationshof insofern zu, als dass es den Handlungsbedarf als derart dringend erachtete, dass ein weiteres Zuwarten nicht mehr zumutbar sei. Es verlangte von der italienischen Judikative deshalb eine Leseart von Art. 630 der Strafprozessordnung,Footnote 224 welche die Wiedereröffnung von Urteilen erlaubt, wenn dies zur Umsetzung von Urteilen des EGMR erforderlich sei und ergänzte die in Rede stehende Bestimmung. Damit setzte es sich quasi an die Stelle des Gesetzgebers.Footnote 225 Es handelt sich um einen Anwendungsfall der in Italien gerade aus diesem Grund nicht unumstrittenen sentenze additive („ergänzende Urteile“).Footnote 226

4.3. Probleme und Schwierigkeiten

Die gerichtliche Umsetzung von internationalen Entscheidungen mit Auswirkungen auf generell-abstrakte Akte birgt also gewisse Schwierigkeiten und Spannungen zum Prinzip der Gewaltenteilung. Die Schwierigkeiten können zunächst ganz praktischer Natur sein: So warnte das in der Folge der Entscheidung in der Sache M. gegen Deutschland mit der Verfassungsmäßigkeit der Regelung zur Sicherungsverwahrung befasste Bundesverfassungsgericht vor Regelungslücken, die – wie im Verfahren der Verfassungskontrolle von Gesetzen überhaupt – aufgrund der Nichtanwendung von Gesetzen entstehen können.Footnote 227 Aus diesem Grund hob es in dem Fall die für konventionswidrig befundenen Gesetzesbestimmungen zwar auf – und dies, obwohl es in einem früheren Urteil auf deren Verfassungsmäßigkeit geschlossen hatte. Gleichzeitig ordnete es aber deren Weitergeltung während einer Übergangsfrist von zwei Jahren an, wenn auch in modifizierter Form.Footnote 228 Nach der bisherigen Rechtsprechung der Karlsruher Richter kann dies zulässig sein, um ein „rechtliches Vakuum“ bzw. Regelungslücken, die möglicherwiese chaotische Zustände zur Folge hätten, zu verhindern.Footnote 229 Vorliegend wollte das Gericht damit dem Problem begegnen, dass andernfalls auch potenziell gefährliche Täter sofort hätten freigelassen werden müssen.Footnote 230 Der EGMR lässt solche Übergangsregelungen bis zu einem gewissen Grad zu,Footnote 231 was aus der Perspektive eines reibungslos funktionierenden Zusammenspiels zwischen Rechtsordnungen begrüßenswert scheint.

Die Nichtanwendung von Gesetzesbestimmungen im Zuge von Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte kann ferner zur Folge haben, dass auch innerstaatliche Gerichtsurteile, welche gestützt auf diese Bestimmungen ergangen sind, aufgehoben werden müssen. Dies zeigt eine Entscheidung des belgischen Kassationshofs, der in der Folge der Entscheidung Taxquet contre Belgique, in welcher der EGMR die belgische Praxis zur Begründung von Strafurteilen als nicht mit den Verfahrensgarantien von Art. 6 EMRK vereinbar erklärt hatte und noch bevor diese Entscheidung definitiv wurde,Footnote 232 in einem Folgeurteil die Nichtanwendung der in Rede stehenden Bestimmungen der Strafprozessordnung anordnete.Footnote 233 Er hob das Urteil der Vorinstanz, die diese Bestimmung noch angewandt hatte, auf und schickte den Fall zur Neubeurteilung zurück. Damit verlieh das Gericht der Entscheidung des EGMR eine gewisse Rückwirkung. In der Literatur wurde dieses Vorgehen teils kritisiert, da es zu großen praktischen Schwierigkeiten führen könne, wenn gestützt auf die in Rede stehende Bestimmung eine große Zahl an Urteilen ergangen ist, die in der Folge neu beurteilt werden müssen.Footnote 234

Spannungen zum Prinzip der Gewaltenteilung treten besonders dann auf, wenn Gerichte innerstaatliches Recht extensiv auslegen oder gar ergänzen. Zwar gilt die völkerrechtskonforme Auslegung nationalen Rechts als eine sehr schonende Art und Weise, die verschiedenen Rechtsordnungen zu harmonisieren.Footnote 235 Gerichte nutzen dieses Instrument in Umsetzung der Vorgaben von EGMR bzw. IAGMR wie gesehen jedoch regelmäßig in einer instrumentellen Art und Weise und strapazieren dabei zuweilen die Wortlautgrenze. Auch wenn der Tätigkeit des Auslegens bekanntlich immer ein kreatives Element innewohnt, gehen Gerichte teilweise selbst davon aus, extra legem zu entscheiden und rechtfertigen ihre Entscheidungen entsprechend.Footnote 236 So begründete etwa der Generalanwalt in seinen Schlussanträgen im Folgeverfahren zur Entscheidung B contre FranceFootnote 237 ausführlich, wieso die geänderte Lesart im vorliegenden Fall zulässig und gar geboten sei. So es sei gerade Aufgabe des Richters, „d’apporter des solutions aux problèmes que le législateur n’a pas prévus et que révèle la vie sociale, sinon la vie tout court.“Footnote 238 Darüber hinaus sei es auch nicht wünschenswert, dass sich der Gesetzgeber dem Thema annehme, da eine generell-abstrakte Regelung bald wieder vom wissenschaftlichen Fortschritt überholt wäre und zudem aufgrund der marginalen praktischen Bedeutung auch gar nicht erforderlich sei: „Il ne semble pas davantage souhaitable de renvoyer un dossier aussi complexe, aussi mouvant et aussi sensible que celui du transsexualisme au législateur.“Footnote 239

Das Bundesverfassungsgericht machte in der Folgeentscheidung zum Urteil in M. gegen DeutschlandFootnote 240 aus Gründen der Gewaltenteilung demgegenüber gerade nicht Gebrauch von der Möglichkeit, das Recht durch urteilskonforme Interpretation selbst in Einklang mit den internationalen Vorgaben zu bringen. Es sei den Gerichten verwehrt „an Stelle des Gesetzgebers die grundsätzliche Entscheidung zu treffen, ob die nachträgliche Sicherungsverwahrung vollständig abgeschafft werden soll.“Footnote 241 Die „Fiktion, eine Einzelfallentscheidung des EGMR stelle ein innerstaatliches (Parlaments-)Gesetz dar“, verstoße „gegen die grundgesetzlich vorgegebene Art und Weise der innerstaatlichen Wirkung der EMRK ebenso wie gegen den Grundsatz der Gewaltenteilung“.Footnote 242 Alleine der Gesetzgeber sei in der Lage, „unter Ausschöpfung seiner Gestaltungsmöglichkeiten und mit der notwendigen Detailliertheit die Voraussetzungen dafür zu normieren, unter denen eine weitere Sicherungsverwahrung verfassungsrechtlich zulässig ist.“Footnote 243 Der Bundesgerichtshof war demgegenüber davon ausgegangen, der in Rede stehende § 2 Abs. 6 StGB enthalte einen Interpretationsspielraum, der es erlaube, die internationalen Vorgaben einzubeziehen. Die Vorschrift sieht vor, dass über Maßregeln der Sicherung und Besserung nach dem Gesetz zu entscheiden sei, welches zur Zeit der Entscheidung gilt, „wenn gesetzlich nichts anderes bestimmt ist“. Der BGH hatte diese Vorschrift so interpretiert, dass Art. 7 Abs. 1 EMRK in der Auslegung des EGMR in M. gegen Deutschland eine „derartige andere Bestimmung“ und damit eine Ausnahme von der allgemeinen Regel darstelle.Footnote 244

Insgesamt ist nicht zu verkennen, dass die stärkere Involvierung von Gerichten bei der Umsetzung der Konventionsstandards sich in zahlreichen Staaten erheblich auf das innerstaatliche Gewaltengefüge ausgewirkt und insgesamt zu einer Stärkung der Judikative geführt hat.Footnote 245 Zweifellos ist die „revolutionäre Wirkung“ der Konventionssysteme zuweilen unterschätzt worden.Footnote 246 Ein besonders illustratives Beispiel ist die Schweiz, wo die Möglichkeit der Individualbeschwerde an den EGMR gar dazu geführt hat, dass das Bundesgericht das auf Bundesebene geltende Verbot, Gesetze zu überprüfen, aufgelockert hat. Obwohl dem höchsten Gericht der Schweiz nach wie vor nicht die Kompetenz zukommt, eine eigentliche Verfassungskontrolle von Gesetzen vorzunehmen und diese aufzuheben, ist es dazu übergegangen, konventionswidrigen Gesetzen die Anwendung zu versagen, um nicht zur bloßen „Durchlaufinstanz“ nach Straßburg zu verkommen.Footnote 247 In der Literatur ist von einer Einführung der „Verfassungsgerichtsbarkeit durch die Hintertür“Footnote 248 oder „Ersatz-Verfassungsgerichtsbarkeit“Footnote 249 die Rede.

Die Einbindung in die Konventionssysteme kann darüber hinaus aber auch Fragen bezüglich der innerstaatliche Gerichtsorganisation und der Zuständigkeitsverteilung zwischen verschiedenen Gerichten aufwerfen. So begannen in Italien untere Gerichte teilweise eigenständig Gesetzen, die nicht in Einklang mit Urteilen des EGMR standen, die Anwendung zu versagen.Footnote 250 Das Verfassungsgericht schob dieser aufkeimenden Praxis der diffusen Normenkontrolle, wie sie für unionsrechtswidriges Recht gilt,Footnote 251 aber den Riegel und zog die Zuständigkeit dafür an sich. Untere Gerichte hätten nicht die Kompetenz, Gesetze in Widerspruch zur EMRK in der Auslegung durch die Straßburger Richter zu beseitigen. Vielmehr falle dies in die „exklusive Zuständigkeit“ des Verfassungsgerichts.Footnote 252 Denn es stelle sich über den Umweg von Art. 117 der Verfassung die Frage der Verfassungsmäßigkeit solcher Gesetze,Footnote 253 deren Beurteilung in die ausschließliche Kompetenz des Verfassungsgerichts fällt. Sobald untere Gerichte Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit im Lichte der Rechtsprechung der Straßburger Richter hätten, müsse das Verfassungsgericht angerufen werden.Footnote 254

Das oberste mexikanische Gericht erklärte in seiner bereits erwähnten Resolution zur Umsetzung der Entscheidung in Radilla-Pacheco demgegenüber, dass sämtliche mexikanische Richter zur Durchführung der vom IAGMR verlangten Konventionalitätskontrolle verpflichtet seien – und dies, obwohl Mexiko traditionell ein konzentriertes Modell der Verfassungskontrolle kennt.Footnote 255 Es stütze sich dabei auf das Pro-persona-Prinzip nach Art. 1 der Verfassung in Verbindung mit einer Bestimmung, welche den Vorrang von Bundesrecht vor gliedstaatlichem Recht vorschreibt.Footnote 256 Allerdings unterscheide sich die von allen Gerichten vorzunehmende Konventionalitätskontrolle von der eigentlichen Verfassungskontrolle von Gesetzen: So stehe es unteren Gerichten nicht zu, Gesetze aufzuheben, weil dies die Verfassung alleine dem Verfahren der Verfassungskontrolle vorbehalte. Vielmehr müssten Gerichte konventionswidrigen Gesetzen lediglich die Anwendung versagen.Footnote 257 Im Nebeneinander von diffuser und zentraler Normenkontrolle erkannte das Gericht kein Problem;Footnote 258 ebenso wenig erachtete es das Prinzip der Gewaltenteilung oder des Föderalismus als verletzt, obwohl es anerkannte, dass die Judikative dadurch faktisch gestärkt wurde.Footnote 259

5. Urteilsumsetzung zu Lasten von Individuen

Bislang wurden vornehmlich Fälle behandelt, in denen sich Individuen auf internationale Urteile berufen haben, aus denen sie für ihre Rechtsposition Vorteile ziehen konnten. Doch auch das Gegenteil ist möglich: Urteile können zu Lasten von Individuen ausfallen. Dies kommt insbesondere im interamerikanischen System immer wieder vor, wenn der IAGMR die nachträgliche (strafrechtliche) Aufarbeitung schwerer Menschenrechtsverletzungen verlangt. Zwar urteilen die Menschenrechtsgerichte, anders als internationale Strafgerichte, nicht direkt über die individuelle Verantwortlichkeit von Individuen. Sowohl der EGMR als auch der IAGMR und auch das UN-Menschenrechtskomitee haben aber aus der Pflicht, Menschenrechte effektiv zu gewährleisten („to ensure“), gewisse strafrechtliche Pflichten von Staaten im Zuge schwerer Menschenrechtsverletzungen entwickelt.Footnote 260 Dabei handelt es sich um eine „radikale neue Dimension“ von Menschenrechten.Footnote 261 Beim EGMR und auch dem Menschenrechtskomitee beschränkt sich diese Dimension grundsätzlich auf (prozedurale) Pflichten, die aus einer Konventionsverletzung von einer bestimmten Schwere folgen können. Der EGMR leitet diese aus dem verletzten Recht in Verbindung mit der allgemeinen Verpflichtung unter Art. 1 EMRK, die Menschenrechte zu achten, ab. Dahinter stehen gesamtgesellschaftliche Überlegungen general-präventiver Natur.Footnote 262

Der IAGMR hingegen hat angesichts massivster und systematischer Menschenrechtsverletzungen eine weitergehende Rechtsprechung entwickelt. In einer Region, die immer noch von impunidad, Straflosigkeit, geprägt ist, nehmen die interamerikanischen Organe eine Sonderstellung ein.Footnote 263 So rückte in der Rechtsprechung des IAGMR immer stärker die Perspektive des Opfers in den Mittelpunkt.Footnote 264 Der Gerichtshof hat im Laufe der Zeit aus dem Recht auf eine wirksame Beschwerde im Falle schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen ein individuelles Recht auf strafrechtliche Aburteilung entwickelt.Footnote 265 Strafrechtliche Anordnungen sind nach dieser Logik auch Maßnahmen zur Wiedergutmachung im Einzelfall.Footnote 266 Der IAGMR stützt dies zum einen auf das Recht auf ein faires Verfahren nach Art. 8 AMRK, das er hier nicht im Sinne von Verfahrensgarantien des Angeklagten, sondern als Recht des Opfers auf (strafrechtliche) Gerechtigkeit und Wahrheit versteht.Footnote 267 Zum anderen leitet er den Anspruch auf strafrechtliche Aburteilung von Tätern aus dem Recht auf eine wirksame Beschwerde ab (Art. 25 AMRK).Footnote 268 Entsprechend ordnet der IAGMR die verlangten Maßnahmen regelmäßig auch im Urteilstenor explizit an, wie sich an den Beispielen zeigen wird. Das Menschenrechtskomitee und der EGMR lehnen demgegenüber ein solches individuelles „Recht auf Gerechtigkeit“ ab.Footnote 269

Diese weitgehende interamerikanische Rechtsprechung hat Anlass zu zahlreichen Folgeprozessen auf der innerstaatlichen Ebene gegeben, in denen sich Individuen vor innerstaatlichen Gerichten gegen die Konsequenzen dieser Entscheidungen wehren. Erstaunlich ist dies insofern nicht, als dass sich die Interessen von Opfer und Beschuldigtem in dieser Konstellation diametral gegenüberstehen. Insbesondere die ergebnisorientierte, auf strafrechtliche Bestrafung zielende Anordnung von Maßnahmen birgt erhebliches Konfliktpotenzial mit oft auf Verfassungsebene und auch in der AMRK garantierten und geschützten Verfahrensrechten des Angeklagten im Strafprozess.Footnote 270 So haben sich Betroffene zu ihrem Schutz vor einer (erneuten) Verurteilung auf das Prinzip der res iudicata und daraus fließende Verteidigungsrechte im Strafprozess berufen, etwa auf das Legalitätsprinzip oder das Doppelbestrafungsverbot (ne bis in idem). Einer Verfolgung entgegenstehen können ferner Verjährungsvorschriften oder das Gebot des Abschlusses von Strafverfahren innert angemessener Frist. Der IAGMR verlangt dabei zwar keine Verurteilung um jeden Preis, legt aber relativ strenge Maßstäbe an innerstaatliche Strafverfahren an. Im Grunde wählt er einen Standard, der an denjenigen unter dem Römer Statut erinnert, und betrachtet sog. „sham trials“, also Verfahren, die lediglich dazu dienen, die betreffende Person vor strafrechtlicher Verantwortlichkeit zu schützen, als unzulässig.Footnote 271 Wie die Entwicklung der Rechtsprechung nahelegt, erachtet der IAGMR auch innerstaatliche Amnestien als grundsätzlich unzulässig.Footnote 272 Im Ergebnis kann dies dazu führen, dass der IAGMR gleichsam die strafrechtliche Verurteilung von Einzelpersonen verlangt.

Diese Rechtsprechung stellt Gerichte aufgrund der weitreichenden Folgen für die Betroffenen vor besonders schwierige Fragen. Nicht selten müssen sie zwischen verfassungsmäßig garantierten Individualrechten und dem Interesse an der Durchführung effektiver Strafverfahren, wie sie der IAGMR verlangt hat, abwägen. Wie zu zeigen sein wird, sind Gerichte selbst in diesen Konstellationen bereit, die Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte bzw. in diesem Fall des IAGMR umzusetzen – zuweilen allerdings nicht, ohne den Gerichtshof scharf zu kritisieren. Hier zeichnen sich also bereits deutliche Grenzen der Befolgungsbereitschaft ab.

Im Folgenden sollen zunächst Fälle dargestellt werden, in denen sich innerstaatliche Gerichte mit dem besonderen Fall von Amnestiegesetzen im Lichte der Rechtsprechung des IAGMR auseinanderzusetzen hatten (5.1.). In einem zweiten Schritt geht es um weitere Fälle, in denen der IAGMR die effektive (strafrechtliche) Aufarbeitung schwerer Menschenrechtsverletzungen verlangt hat (5.2.).

5.1. Wiedereröffnung von Verfahren nach dem Wegfall von Amnestien

Die weitreichende Rechtsprechung des IAGMR zur Unzulässigkeit von Amnestiegesetzen, insbesondere in der Entscheidung Barrios Altos gegen Peru,Footnote 273 hat zu zahlreichen Folgeprozessen in lateinamerikanischen Staaten Anlass gegeben. Die Rechtsprechung hat sich damit nicht nur auf die unmittelbar adressierten Staaten, sondern auch auf Drittstaaten ausgewirkt.Footnote 274 Im Folgenden soll zunächst darauf eingegangen werden, wie peruanische Gerichte mit der Leitentscheidung umgegangen sind (5.1. a)), um in einem weiteren Schritt auf die Reaktionen einiger weiterer Gerichte einzugehen (5.1. b)).

a) Aufnahme durch peruanische Gerichte

Nachdem der IAGMR in seiner Meilensteinentscheidung in der Sache Barrios Altos die peruanischen Amnestiegesetze, die noch während des Fujimori-Regimes erlassen worden waren,Footnote 275 für nichtig erklärt hatte,Footnote 276 wurden in Peru zahlreiche Strafverfahren gegen Personen, die von diesen Vorschriften profitiert hatten, wieder aufgenommen.Footnote 277 Davon betroffen war auch Santiago Martin Rivas, ein ehemaliges Mitglied der paramilitärischen Gruppe La Colina, die gemäß der IAGMR-Entscheidung in La CantutaFootnote 278 für schwerste Menschenrechtsverletzungen während der Diktatur von Alberto Fujimori verantwortlich zeichnete. Rivas war zunächst 1995 von einem Militärgericht gestützt auf die Amnestiegesetze freigesprochen worden. Nun wehrte er sich mittels Verfassungsbeschwerde gegen die Wiedereröffnung seines Verfahrens. Er brachte die Amnestiegesetze und daraus resultierende, auf Verfassungsstufe verankerte Rechte sowie das Prinzip der res iudicata zu seinem Schutze vor.

Das Verfassungsgericht ließ die Einwände nicht gelten. Es führte auf diesem Weg eine nachträgliche Verfassungskontrolle der Gesetze durch. Denn Gesetze müssten nicht nur das Erfordernis der rechtlichen Gültigkeit erfüllen, sondern darüber hinaus auch verfassungsmäßig legitim sein.Footnote 279 Dazu stütze sich das Gericht auf die Entscheidung des IAGMR in La Cantuta, worin dieser statuiert hatte, das Prinzip der res iudicata sei nicht einwendbar, wenn es sich um „betrügerische“ res iudicata handle, d. h. Rechtskraft, die aus einem Verfahren resultiert, dessen einziger Zweck es gewesen war, Urheber schwerer Verletzungen von Menschenrechten von der Verantwortlichkeit zu befreien.Footnote 280

Auch das oberste Gericht Perus sah sich mit Beschwerden von Individuen befasst, die sich gegen strafrechtliche Verfolgung wehrten. Die Beschwerdeführer waren ebenfalls ehemalige Mitglieder von La Colina und von Militärgerichten zu milden Strafen verurteilt worden. Auch dieses Gericht folgte der Sache nach dem IAGMR: Es könne keine Rechtskraft eintreten, wenn kein faires Verfahren stattgefunden habe.Footnote 281 Die Verfahren vor den Militärgerichten hätten lediglich dazu gedient, in Anwendung der inzwischen für ungültig erklärten Amnestiegesetze die Strafverfolgung der betroffenen Individuen zu verhindern.Footnote 282 Der IAGMR habe deutlich gemacht, dass unter der Amnestiegesetzgebung ergangene Urteile nicht gültig seien. Entsprechend sei davon auszugehen, dass die erste Verurteilung erst nach Aufhebung der Amnestiegesetze stattgefunden habe.Footnote 283

Allerdings beurteilte das Gericht die in Rede stehenden Delikte zunächst nicht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit, weil sie gegen Terroristen und nicht die Zivilbevölkerung begangen worden seien.Footnote 284 Dies führte dazu, dass gewisse Forderungen der Anklage als verjährt erklärt und die ausgesprochenen Strafen reduziert wurden. Der IAGMR kritisierte dies in einer darauffolgenden Resolution,Footnote 285 worauf das Gericht seine Entscheidung nur zwei Monate später aufhob und die von der Colina-Gruppe begangenen Taten als Verbrechen gegen die Menschlichkeit qualifizierte.Footnote 286 Insgesamt gehen Beobachter davon aus, dass die peruanische Judikative die weitreichenden Entscheidungen des IAGMR vollumfänglich akzeptiert habe.Footnote 287

b) Reaktionen weiterer Gerichte

In Simón befasste sich auch das oberste argentinische Gericht mit der Verfassungsmäßigkeit der argentinischen Amnestiegesetzgebung im Lichte der interamerikanischen Rechtsprechung. Der Beschwerdeführer war ein ehemaliger Polizist, dem vorgeworfen wurde, während der Militärdiktatur in Argentinien im Jahr 1978 an der Folter eines Ehepaares sowie der Entführung deren Tochter beteiligt gewesen zu sein. Weil der Betroffene von Amnestien profitierte, die der argentinische Gesetzgeber erlassen hatte, blieb er lange Jahre unbehelligt. Kurz nach der Jahrtausendwende wurde jedoch ein Strafverfahren eröffnet. Das mit dem Fall befasste untere Gericht hatte die Amnestiegesetzgebung wegen schwerer Verstöße gegen internationales Recht und die argentinische Verfassung für unanwendbar erklärt.Footnote 288

Simón wehrte sich gegen seine strafrechtliche Verfolgung und wandte die Amnestiegesetze ein. Er berief sich darauf, dass die Eröffnung eines Strafverfahrens die strafrechtliche Ausformung des Legalitätsprinzips (nullum crimen sine lege) sowie das Rückwirkungsverbot verletze – Rechte, welche in der Verfassung verankert seien.Footnote 289 Ferner könnten Verfassungsbestimmungen nicht von generellen Prinzipien des Völkerrechts verdrängt werden.Footnote 290

Das oberste Gericht erachtete die Berufung auf diese Rechte allerdings als nicht mit der AMRK vereinbar. Seit der Entscheidung Barrios Altos gegen Peru sei klar, welche Verpflichtungen Staaten träfen, um die Verantwortlichkeit unter der AMRK abzuwenden.Footnote 291 Der IAGMR hatte unter anderem statuiert, dass Amnestiegesetze sowie jegliche andere Bestimmungen des nationalen Rechts, welche es zum Ziel hätten, die Verfolgung und Bestrafung der für schwerste Menschenrechtsverletzungen wie Folter und Zwangsverschleppungen Verantwortlichen zu verhindern, unzulässig seien.Footnote 292 Diese würden gegen Art. 8 und 25 in Verbindung mit Art. 1. Abs. 1 und 2 der Konvention verstoßen und stünden in klarem Widerspruch zum Geiste der Konvention.Footnote 293

Daraus schloss das Gericht, dass es zwingend sei, auch die argentinischen Gesetze aufzuheben. Ferner dürften aus den konventionswidrigen Gewährleistungen keinerlei rechtliche Hindernisse mehr erwachsen, die einer strafrechtlichen Verfolgung entgegenstünden, wie der IAGMR klargestellt habe.Footnote 294 Entsprechend dürften sich die von den Amnestien Begünstigten nicht auf daraus fließende Rechte berufen. Die Unterwerfung unter die Gerichtsbarkeit des IAGMR verbiete die Einwendung von Rechten, die zur Nichtbefolgung der menschenrechtlichen Verpflichtungen führe.Footnote 295

Während die Mehrheitsmeinung also den menschenrechtlichen Verpflichtungen den Vorrang vor den in Rede stehenden Verfassungsprinzipien gab, waren verschiedene Richter in Sondervoten bemüht, darzulegen, dass durch die Entscheidung gar keine Verfassungsnormen beschnitten wurden. So legte etwa Richter Boggiano dar, dass es sich seiner Ansicht nach bei den in Rede stehenden Menschenrechtsverletzungen um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handle, die Garantien von Ius-cogens-Qualität verletzen.Footnote 296 Für solche Verbrechen aber fänden gesetzliche Beschränkungen der Strafverfolgung keine Anwendung.Footnote 297 Den Vorwurf der rückwirkenden Anwendung von Strafbestimmungen und der Verletzung des Legalitätsprinzips konterte er, indem er auf den völkergewohnheitsrechtlichen Status der in Rede stehenden Normen verwies. Diese würden „seit Menschengedenken“ („desde tiempo inmemorial“) gelten.Footnote 298

Scharfe Kritik übte demgegenüber Richter Fayt in seiner abweichenden Meinung. Er sah durch die rückwirkende Anwendung der in Rede stehenden Strafbestimmungen die Verfassung verletzt. Bei der in Art. 18 der Verfassung verankerten strafrechtlichen Ausformung des Legalitätsprinzips, dem Prinzip nullum crimen nulla poena sine lege praevia, handle es sich gar um eines der wichtigsten Verfassungsprinzipien („uno de sus más valiosos“).Footnote 299 Zudem wehrte er sich dagegen, dass menschenrechtliche Verpflichtungen der Verfassung vorgingen.Footnote 300 Auf keinen Fall aber dürfe die Anwendung internationalen Rechts zur Verletzung verfassungsmäßiger Prinzipien des öffentlichen Rechts führen, wozu der Nullum-crimen-Grundsatz zweifellos zähle.Footnote 301

Auch das kolumbianische Verfassungsgericht ließ die Amnestierechtsprechung des IAGMR in seine Rechtsprechung einfließen. Es sah sich damit im Rahmen der Verfassungskontrolle einer Bestimmung der Strafprozessordnung, welche die Wiedereröffnung von rechtskräftigen Strafurteilen regelt, konfrontiert. Die Strafprozessordnung listete eine Reihe von Gründen auf, welche die Durchbrechung der Rechtskraft erlaubten, sah hingegen keine Möglichkeit vor, Urteile zu Lasten von Verurteilten wiederzueröffnen.Footnote 302

Im Lichte der interamerikanischen Rechtsprechung erkannte das Verfassungsgericht darin einen Konflikt mit dem Recht auf Wahrheit von Opfern schwerer Menschenrechtsverletzungen.Footnote 303 In Fällen schwerer Verletzungen von Menschenrechten oder des humanitären Völkerrechts sei die Beeinträchtigung dieses Rechts aufgrund der fehlenden Möglichkeit, Verfahren wiederzueröffnen, unverhältnismäßig.Footnote 304 Dies sei insbesondere der Fall, wenn der Staat in stoßender Weise gegen seine Untersuchungspflichten verstoßen habe („omisión protuberante del deber del Estado de investigar“).Footnote 305 Auch das kolumbianische Verfassungsgericht scheint damit eine Verbindung zu staatlichem Verhindern der Aufarbeitung schwerer Menschenrechtsverletzungen und Scheinverfahren herzustellen. Weil die betroffenen Personen in diesen Fällen in Wirklichkeit gar nie ernsthaft abgeurteilt worden seien, liege darin ferner keine schwere Beeinträchtigung des Doppelbestrafungsverbots.Footnote 306 Solche Situationen verlangten eine Beschränkung der Rechte der Angeklagten, schloss das Verfassungsgericht.Footnote 307 Die Straflosigkeit verletze in diesen Fällen nicht nur die Menschenwürde der betroffenen Opfer, sondern gefährde auch die Realisierung einer gerechten Rechtsordnung.Footnote 308 Aus diesem Grund hätte der Gesetzgeber eine Revisionsmöglichkeit vorsehen müssen. Weil also eine Gesetzeslücke („omisión legislativa“) vorliege, fühlte sich das Gericht ermächtigt, die Bestimmung mittels richterlicher Rechtsschöpfung um einen entsprechenden Tatbestand zu erweitern.Footnote 309

Um die Wiedereröffnung in Ausgleich mit dem Prinzip der Rechtssicherheit und dem Verbot der Doppelbestrafung (ne bis in idem) zu bringen, erachtete es allerdings gewisse Einschränkungen als erforderlich. Denn dabei handle es sich um verfassungsmäßige Werte, die eines besonderen Schutzes bedürften.Footnote 310 Die staatliche Pflicht, Menschenrechtsverletzungen aufzuklären, stehe in diesen Fällen in einem klaren Spannungsverhältnis zu den Rechten des Verurteilten.Footnote 311 Um willkürlichen Wiedereröffnungen („acciones de revisión caprichosas“) vorzubeugen, verlangte das Gericht demnach, dass die für die Wiedereröffnung von Prozessen nach dem Strafprozessrecht geltenden Bestimmungen mutatis mutandis angewendet werden müssten. Daraus folgt, dass Verfahren nur wiedereröffnet werden können, wenn neue Tatsachen oder Beweise auftauchen.Footnote 312 Dabei baute das Gericht jedoch einen zusätzlichen Schutzmechanismus ein: Es verlangt das Vorliegen eines gerichtlichen – nationalen oder internationalen – Urteils, welches das Versagen des kolumbianischen Staates, die zugrunde liegenden Menschenrechtsverletzungen zu untersuchen, feststellt.Footnote 313 Eine solche Entscheidung rechtfertige die Durchbrechung der Rechtskraft auch zu Lasten des Betroffenen.Footnote 314

5.2. Wiedereröffnung anderer konventionswidriger Verfahren zu Lasten der Betroffenen

Auch jenseits des Anwendungsbereichs von Amnestiegesetzen ist es immer wieder vorgekommen, dass Individuen sich vor Gerichten gegen die Folgen von IAGMR-Urteilen gewehrt haben. Ein erstes Beispiel ist das unmittelbare Folgeurteil zur Entscheidung des IAGMR in der Sache Trujillo-Oroza gegen Bolivien, in der sich Bolivien bereit erklärt hatte, die in Rede stehenden schweren Menschenrechtsverletzungen aufzuklären.Footnote 315 In der Folge sah sich das bolivianische Verfassungsgericht gehalten, die Verfassungsbeschwerden von vier Betroffenen, die sich gegen die Wiedereröffnung ihrer Strafverfahren wehrten, abzulehnen.

Die vier Beschwerdeführer standen im Verdacht, am Zwangsverschwinden von José Carlos Trujillo-Oroza im Jahr 1972, während der Diktatur von Hugo Banzar Suárez, beteiligt gewesen zu sein. 2005 hatte ein Gericht die Strafanklage gegen die Betroffenen für verjährt erklärt; in der Folge der Entscheidung des IAGMR wurde dieses Urteil jedoch aufgehoben und ein neues Verfahren initiiert. Vor Verfassungsgericht stellten sich die Beschwerdeführer nun auf den Standpunkt, ihr Recht auf Abschluss von Strafverfahren innerhalb angemessener Zeit, garantiert durch die Strafprozessordnung und die AMRK, sei dadurch verletzt. Dies widerspreche dem Verfassungsgrundsatz der Rechtssicherheit sowie dem Legalitätsprinzip.

Um die Entscheidung des IAGMR umzusetzen, nahm das Verfassungsgericht eine Beschneidung der Verfahrensrechte der Betroffenen in Kauf. Die Bestimmungen der Strafprozessordnung seien auf den vorliegenden Fall aufgrund der Entscheidung nicht anwendbar.Footnote 316 Das Verfassungsgericht schien dabei zu versuchen, den Normkonflikt zu entschärfen, indem es Entscheidungen des IAGMR als Teil des „bloque de constitucionalidad“ nach Art. 410 der VerfassungFootnote 317 qualifizierte.Footnote 318 Daraus folgte gemäß den Richtern, dass das innerstaatliche Recht unterhalb der Verfassungsstufe sich danach auszurichten habe und in deren Lichte auszulegen sei.Footnote 319 Das Gericht umging hingegen vollständig die Frage des Rechtskonflikts mit der AMRK sowie den Garantien auf Verfassungsebene. Dies legt nahe, dass das Gericht die Entscheidung des IAGMR um jeden Preis befolgen wollte. Eine gewichtige Rolle dürfte dabei die Tatsache gespielt haben, dass es sich bei den zugrunde liegenden Konventionsverletzungen um schwerste Menschenrechtsverletzungen handelte. So verwies das Gericht explizit darauf, dass es sich bei den fraglichen Verletzungen nicht um gewöhnliche Delikte handelte.Footnote 320 Es ging auch von deren Unverjährbarkeit aus.Footnote 321

Im Ergebnis ähnlich wie das bolivianische Verfassungsgericht urteilte das oberste argentinische Gericht im zweiten Beispiel. Dieses sah sich in Folge einer Entscheidung des IAGMR außerstande, dem Betroffenen die aus den Verjährungsvorschriften fließenden Garantien zu gewähren. Das Gericht folgte dem IAGMR damit im Ergebnis zwar, tat dies jedoch nicht, ohne diesen heftig zu kritisieren.

Kern der Kontroverse war, dass der IAGMR in der Entscheidung Bulacio angeordnet hatte, Argentinien müsse die der Konventionsverletzung zugrunde liegende Straftat aufklären und die Täter zur Verantwortung ziehen.Footnote 322 In dem Fall, für den Argentinien seine völkerrechtliche Verantwortlichkeit anerkannt hatte, ging es um Menschenrechtsverletzungen im Zusammenhang mit dem Tod des Jugendlichen Walter David Bulacio, der in Polizeigewahrsam ums Leben gekommen war. In seiner Entscheidung hatte der IAGMR betont, dass Argentinien keine innerstaatlichen Rechtsinstrumente, welche die Strafverfolgung beschränken, geltend machen dürfe: „[…] extinguishment provisions or any other domestic legal obstacle that attempts to impede the investigation and punishment of those responsible for human rights violations are inadmissible.“Footnote 323 Denn innerstaatliches Recht dürfe zur Nichterfüllung völkerrechtlicher Verpflichtungen nicht geltend gemacht werden.Footnote 324 Zwar war es in Argentinien zuvor zu einem strafrechtlichen Verfahren gekommen, dieses wurde allerdings jahrelang verschleppt und schließlich durch ein unteres Gericht für verjährt erklärt.

Das argentinische Gericht brachte deutlich zum Ausdruck, dass es die Ansicht des IAGMR zur Frage, wann Verteidigungsrechte vorgebracht werden können, nicht teilte.Footnote 325 Durch die Anordnung des IAGMR würde das Versagen der argentinischen Behörden, das Verfahren zügig zu einem Abschluss zu bringen, wie es Gegenstand im Verfahren vor dem IAGMR gebildet hatte, direkt auf den Beschuldigten zurückfallen. Dadurch entstehe eine Einschränkung der verfassungsmäßigen Verteidigungsrechte des Betroffenen im Strafprozess, die in Anbetracht der Unantastbarkeit, welche die Verfassung für diese Rechte vorsehe, kaum zu rechtfertigen sei.Footnote 326 Zwar könne die Einschränkung dieser Rechte angezeigt sein, um die Verantwortlichkeit Argentiniens zu begründen, nicht jedoch in einem Verfahren, in dem es um die strafrechtliche Verantwortlichkeit eines Individuums gehe, das in diesem internationalen Verfahren nicht einmal die Möglichkeit gehabt habe, sich zu äußern.Footnote 327 So entstehe die paradoxe Situation, dass den völkerrechtlichen Verpflichtungen nur gefolgt werden könnte, wenn gleichzeitig die Verteidigungsrechte des Betroffenen im Strafprozess und das Recht auf ein Verfahren innert angemessener Zeit nach der AMRK stark eingeschränkt würden.Footnote 328

Während sich in Miguel Angel Espósito die entscheidende Mehrheit trotz der damit einhergehenden Implikationen für die Befolgung des IAGMR-Urteils aussprach, äußerte sich eine Mindermeinung dezidiert dagegen. So stellte sich Richter Fayt in seinem abweichenden Votum auf den Standpunkt, dass das Gericht nicht an die Schlussfolgerungen des IAGMR gebunden sei.Footnote 329 Nie dürften die Folgen eines internationalen Urteils direkt zu Lasten des Betroffenen gehen („recaer directamente sobre el imputado“).Footnote 330 Denn der IAGMR sei nicht mit einem innerstaatlichen Strafgericht höchster Instanz zu verwechseln, wie der Gerichtshof auch selbst anerkenne.Footnote 331 Es stehe diesem also nicht zu, innerstaatlichen Gerichten Handlungsanweisungen zu erteilen, wie sie eine Rechtsfrage zu lösen hätten.Footnote 332 Es stehe ausschließlich den (innerstaatlichen) Fachgerichten zu, über die Verjährung im Strafprozess zu befinden.Footnote 333 Die unmittelbare Befolgung des internationalen Urteils würde im Umkehrschluss dazu führen, dass dem IAGMR zugestanden würde, über die strafrechtliche Schuld eines Individuums zu urteilen.Footnote 334 Damit einher gingen aber empfindliche Einschränkungen der Verteidigungsrechte im Strafprozess, so der Richter weiter. Denn Individuen hätten gerade nicht die Möglichkeit, sich in einem Verfahren vor dem IAGMR zu äußern.Footnote 335

Mit Blick auf das Argument, dass das nationale Recht nicht zur Nichterfüllung internationaler Pflichten vorgebracht werden könne, machte Fayt geltend, dass dies nur insofern gelte, als dass innerstaatlich nicht Prinzipien der öffentlichen Ordnung verletzt würden.Footnote 336 Genau dies sei hier aber zweifelslos der Fall. Richter Fayt ging davon aus, dass gewisse strafrechtliche Verteidigungsrechte zu den Grundlagen der öffentlichen Ordnung gehören.Footnote 337

Dass das Gericht in dieser Situation einer Grundrechtskollision im Ergebnis der Befolgung des Urteils des IAGMR höheres Gewicht als den entgegenstehenden, in der argentinischen Rechtsordnung als grundlegend geltenden Rechten einräumte, dürfte letztlich damit zusammenhängen, dass es bei den in Rede stehenden Menschenrechtsverletzungen um schwerste Verletzungen ging. Denn wie wir sehen werden, war das Gericht in anderen Fällen durchaus bereit, dem IAGMR die Stirn zu bieten und seinen Anordnungen nicht zu folgen.Footnote 338

6. Fazit: Eine Stärkung von Gerichten mit verfassungsrechtlichen Implikationen

Die untersuchten Beispiele zeigen eindrücklich, dass innerstaatliche Gerichte heute in fast allen erdenklichen Situationen bereit sind, zur Umsetzung der Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte beizutragen und diesen weitreichende Wirkungen im innerstaatlichen Recht zu gewähren. Sie sind zu ganz zentralen Akteuren im Rahmen der Urteilsumsetzung und wichtigen Partnern der Menschenrechtsgerichte geworden. Dies gilt, obwohl ihnen diese Rolle ursprünglich nicht zugedacht war. Vielmehr herrschte lange die Auffassung vor, dass sich die Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte an die Staaten als „black box“ richten und es im Regelfall den politischen Organen zusteht, diese auf die innerstaatliche Ebene zu „übersetzen“. Nach dieser Ansicht eignen sich nationale Gerichte lediglich dann zur Durchsetzung internationaler Entscheidungen, wenn es um vermögensrechtliche Ansprüche geht – alle anderen Entscheidungen müssen zunächst operationalisiert und damit durchsetzbar gemacht werden.

Die Beispiele belegen, dass diese Ansicht überholt ist – Gerichte sind in vielen Fällen nicht nur geeignet zur Durchsetzung der Forderungen der Menschenrechtsgerichte zumindest beizutragen; sie nehmen diese Rolle auch tatsächlich war. Sie wirken nicht nur dabei mit, konkreten Maßnahmen Folge zu geben und dadurch zur Beendigung andauernder Konventionsverstöße oder Wiedergutmachung von Konventionsverletzungen beizutragen. Vielmehr kommt ihnen auch eine Rolle dabei zu, strukturellen Problemen in der Rechtsordnung beizukommen und dadurch künftigen Konventionsverletzungen vorzubeugen. Auch die Tatsache, dass der Judikative im nationalen Recht oft keine explizite Kompetenz im Zusammenhang mit der Umsetzung der Vorgaben aus Straßburg oder San José zukommt, hat diese Entwicklung nicht aufgehalten. In verschiedenen Staaten kann die unvollständige Umsetzung von Urteilen der Menschenrechtsgerichte inzwischen gar auf dem Weg der Verfassungsbeschwerde eingefordert werden, so etwa in Deutschland und in gewissen Situationen in Kolumbien und Spanien. In diesen Staaten wird die korrekte Umsetzung der internationalen Urteile damit zu einer Verfassungsfrage.

Dazu, dass sich das Rollenverständnis grundlegend gewandelt hat, haben sicherlich die Menschenrechtsgerichte selbst durch ihre Rechtsprechung, wie sie in Weite und Tiefe alle Erwartungen übertroffen hat, beigetragen. Auch dank ihres Beitrages ist die Urteilsumsetzung heute stark „verrechtlicht“ und wird selbst im europäischen System nicht mehr als rein politische Angelegenheit betrachtet, wie dies bis vor noch nicht allzu langer Zeit der vorherrschenden Auffassung entsprach.Footnote 339 Damit rücken innerstaatliche Gerichte auch in der Phase der Urteilsumsetzung als relevante Akteure stärker in den Vordergrund. Dies geht einher mit dem generellen Trend, nationalen Gerichten, den eigentlichen „‚natural‘ judges of international law“,Footnote 340 eine zentrale Rolle im Völkerrecht zuzuerkennen.Footnote 341 Wie gezeigt nimmt der IAGMR eine solche Rolle stärker in Anspruch als der EGMR, indem er explizit gewisse Aufgaben an innerstaatliche Gerichte delegiert.Footnote 342 Doch auch im EMRK-System, in dem es der EGMR immer noch oft den Staaten überlässt, die Schlüsse aus seinen Feststellungsurteilen zu ziehen, sehen sich Gerichte in einer breiten Palette von Fällen in der Lage, zur Umsetzung dieser Entscheidungen beizutragen.

Neben den Menschenrechtsgerichten haben zu diesem Wandel insbesondere aber auch die an den Verfahren beteiligten Individuen beigetragen. Durch die Verfolgung ihrer eigenen Interessen treiben diese die tatsächliche Durchsetzung der Entscheidungen voran und verleihen den Systemen eine besondere Dynamik.Footnote 343 Individuen fungieren in diesem Sinne als eine Art „private Generalanwälte“Footnote 344 und tragen maßgeblich zur Dekonstruktion der Idee des Staates als Einheit oder „black box“ bei.Footnote 345

Bereits an dieser Stelle deutet sich an, dass nicht alle Gerichte gleich weit gehen, um den Menschenrechtsgerichten zu folgen. Gerichte in Lateinamerika scheinen ein Stück weit offener gegenüber dem IAGMR zu sein als ihre Pendants in Europa und auch bereit, weitergehende Rechtsfolgen im innerstaatlichen Recht zu gewähren. Darauf wird eingehender zurückzukommen sein. Auch hat sich bereits gezeigt, dass es Gerichten nicht in jeder Situation möglich ist, Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte vollständig umzusetzen. Zum einen spielt die innerstaatliche Kompetenzverteilung natürlich eine Rolle: Gerichte aus Staaten, die keine eigentliche Verfassungsgerichtsbarkeit kennen, werden strukturelle Konventionsverstöße nicht eigenständig beheben können, da sie den betreffenden Gesetzesbestimmungen zwar die Anwendung versagen, sie aber nicht aufheben können. Auch stoßen Gerichte an gewisse faktische Grenzen, etwa, wenn bestimmte Realakte der Exekutive erforderlich sind zur Umsetzung der internationalen Vorgaben. Hier können auch innerstaatliche Gerichte zwar Anordnungen treffen; die tatsächliche Umsetzung muss letztlich aber an anderer Stelle erfolgen.

Nicht zuletzt zeichnen sich bereits an dieser Stelle deutliche Schwierigkeiten rechtlicher Natur ab, mit denen sich innerstaatliche Gerichte konfrontiert sehen können. Zwar lassen sich eigentliche Rechtskonflikte durch eine völker- bzw. konventionskonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts regelmäßig vermeiden. Insofern ist die mittelbare, d. h. durch innerstaatliches Recht vermittelte Umsetzung der menschenrechtsgerichtlichen Entscheidungen ein sehr wirksames Instrument zur Umsetzung der internationalen Vorgaben. Die Tatsache, dass viele Verfassungen den Konventionsbestimmungen nachgebildete Garantien enthalten, ist sicherlich ein für die Aufnahme der Entscheidungen von EGMR und IAGMR begünstigender Faktor.Footnote 346 Trotzdem lassen sich auch durch diese scheinbar schonende Art und Weise, Völkerrecht im innerstaatlichen Recht einzupassen, Spannungen zu verfassungsrechtlichen Prinzipien und insbesondere dem Prinzip der Gewaltenteilung nicht immer vermeiden, zumal Gerichte dieses Instrument regelmäßig in einer instrumentellen, zweckgerichteten Weise nutzen mit dem Ziel, den Vorgaben aus Straßburg bzw. San José auf unkomplizierte Weise nachzukommen.Footnote 347

Bereits die Anpassung der Rechtsprechung innerstaatlicher Gerichte an die Menschenrechtsgerichte kann zu gewissen Spannungen führen. Wie gesehen lassen sich Bedenken bezüglich einer möglicherweise entstehenden Rechtsunsicherheit in der Praxis oft ausräumen; viele Gerichte sind jedoch nicht dazu bereit, die Rechtsprechung der Menschenrechtsgerichte blind zu übernehmen und bestehen darauf, einen eigenen Beitrag an die Weiterentwicklung der Konventionsgarantien zu leisten. In jüngerer Zeit scheint sich dies in beiden Systemen gar zu verstärken, wie später zu zeigen sein wird.

In allen anderen Konstellationen kann es zu Situationen kommen, in denen sich verfassungsrechtliche Prinzipien wie Rechtssicherheit, Legalität oder Individualrechte von Drittpersonen und die effektive Umsetzung der Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte gegenüberstehen. Hier drohen echte Konflikte und Spannungen, die sich nicht einfach ausräumen lassen. Dies zeigt sich bereits, wenn Gerichte ohne explizite gesetzliche Grundlage innerstaatlich bereits rechtskräftige Verfahren wiedereröffnen, weil diese den Konventionsstandards nicht genügten. Wie gesehen kommt dies insbesondere im grundrechtssensiblen Bereich des Strafrechts immer wieder vor. Dies erstaunt insofern nicht, als dass die Alternative in diesen Situationen – eine Urteilsbefolgung durch die Exekutive, etwa durch Begnadigung – aus der Perspektive der Betroffenen nicht immer vollständig zu befriedigen vermag, weil damit die Unschuld im strafrechtlichen Sinne gerade nicht erwiesen ist und negative Konsequenzen fortbestehen können. In diesen Situationen wägen Gerichte also ab und gewichten das Interesse an der Umsetzung der Vorgaben der Menschenrechtsgerichte regelmäßig höher als die hinter der Rechtskraft stehenden Prinzipien der Rechtssicherheit und Stabilität.

Deutlich zeigen sich Spannungen zu verfassungsrechtlichen Prinzipien und insbesondere dem Prinzip der Gewaltenteilung auch, wenn Gerichte in Umsetzung der internationalen Vorgaben Legislativfunktionen wahrnehmen. Wenn Gerichte ihre Kompetenzen zur Ausübung einer Verfassungskontrolle nutzen, um die eigene Rechtsordnung in Ausgleich mit den Konventionsanforderungen zu bringen, handeln sie zwar durchaus im Rahmen ihrer Kompetenzen. In einigen Staaten wie der Schweiz aber haben erst die Konventionssysteme dazu geführt, dass Gerichte dazu übergegangen sind Gesetze zu kontrollieren und nicht mehr anzuwenden. Die Menschenrechtssysteme haben also zu einer Erweiterung des Aufgabekatalogs innerstaatlicher Gerichte und zuweilen zur Einführung der Verfassungskontrolle „durch die Hintertür“ geführt.

Im Rahmen der Verfassungskontrolle werden den Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte zudem regelmäßig besonders weitreichende Folgen gewährt, und zwar wie gesehen oft über den entschiedenen Einzelfall hinaus. Denn viele Verfassungsgerichte nutzen ihre Kompetenzen nicht nur, um nachträglich internationale Urteile im engeren Sinne durchzusetzen, sondern sie beziehen oft die gesamte Rechtsprechung der Konventionsorgane ein. Bei der Konventionalitätskontrolle im Rahmen der Verfassungskontrolle handelt es sich also um ein Instrument sowohl zur eigentlichen Befolgung von Urteilen als auch zur präventiven Anpassung der Rechtsordnung an Entwicklungen auf der internationalen Ebene im weiteren Sinne. Nationale Gerichte verleihen internationalen Entscheidungen in diesen Fällen quasi in doppelter Hinsicht erweiterte Wirkungen: Über den entschiedenen Einzelfall hinaus und mit Wirkung erga omnes, d. h. für sämtliche Rechtsunterworfene und unabhängig von deren Beteiligung am Verfahren. Dadurch verhelfen nationale Gerichte den Menschenrechtsgerichten nahezu zu Durchgriffswirkungen auf die innerstaatliche Ebene, die diesen alleine nicht zukommen würden. Damit ließe sich sagen, dass Demokratie- und Legitimitätsdefizite der Menschenrechtsgerichte auf die nationale Ebene übertragen werden. Auf diesen Punkt wird zurückzukommen sein.

Am offensichtlichsten aber treten Spannungen und Rechtskonflikte zu Tage, wenn nationale Gerichte Entscheidungen zu Lasten von Individuen umsetzen, wie es im interamerikanischen System aufgrund der weitereichenden Rechtsprechung des Gerichtshofs immer wieder vorkommt. Solche Entscheidungen stellen innerstaatliche Gerichte vor besonders schwierige Situationen. Die Befolgung der Anordnungen des IAGMR kann eine Beschneidung von strafrechtlichen Verteidigungsrechten zur Folge haben, die in vielen Rechtsordnungen als zentrale rechtsstaatliche Garantien gelten. In dieser Konstellation können sich also verschiedene Vorstellungen von Rechtsstaatlichkeit gegenüberstehen: die innerstaatliche und diejenige des IAGMR.

In zahlreichen Fällen haben Gerichte den Anordnungen aus San José dennoch Folge gegeben, was von einer bemerkenswerten Offenheit und Akzeptanz zeugt und sicherlich auch vor dem Hintergrund der besonderen Rolle des Gerichtshofs im Rahmen der Aufarbeitung der Gräueltaten der Vergangenheit und der Stabilisierung der Rechtsstaatlichkeit in der Region zu lesen ist, wie später ausführlicher zu zeigen sein wird. Einige Gerichte sind dem IAGMR jedoch nicht gefolgt, ohne ihn offen zu kritisieren. So brachte etwa ein argentinischer Richter in einem Sondervotum vor, dass gewisse Rechte im Strafprozess in Argentinien zu den Grundlagen der Rechtsstaatlichkeit gehörten und wandte sich dagegen, diese im Namen des internationalen Menschenrechtsschutzes zu untergraben. Denn ein Problem dieser Rechtsprechungslinie des IAGMR sei, dass die Entscheidungen des IAGMR faktisch strafrechtliche Auswirkung auf Personen hätten, die keine Möglichkeit zur Teilnahme am Verfahren hatten. Auch in der Literatur wurde der IAGMR gerade deswegen von Strafrechtlern kritisiert, weil seine Rechtsprechung zur Einschränkung von verfassungsmäßig garantierten Rechten des Angeklagten im Strafprozess führen kann.Footnote 348 Die Rechtsprechung des obersten argentinischen Gerichtes, die es später noch eingehender zu beleuchten gelten wird, deutet denn auch darauf hin, dass dieses Gericht nur im Falle schwerster Menschenrechtsverletzungen, wohl sogar nur bei Verbrechen gegen die Menschlichkeit, zur Beschneidung dieser Rechte bereit ist.Footnote 349

Zusammenfassend lässt sich damit sagen, dass nationale Gerichte in zahlreichen Situationen und Konstellationen bereit sind, zur Umsetzung der Entscheidungen der beiden Menschenrechtsgerichte beizutragen – und zwar zum Teil auch dann, wenn sie dafür verfassungsrechtliche Grundsätze beschneiden müssen. Allerdings zeichnen sich bereits hier gewisse Grenzen der Gefolgsbereitschaft ab. Die Gründe für die Nichtbefolgung scheinen regelmäßig aber nicht in der fehlenden expliziten Ermächtigung zur Umsetzung der internationalen Vorgaben zu liegen. Vielmehr scheinen es oft inhaltliche Gründe wie die Schwere einer Konventionsverletzung bzw. des Eingriffs in innerstaatliches Recht zu sein, die den Ausschlag dafür geben, ob Gerichte den Menschenrechtsgerichten folgen oder nicht. Statt sich hinter formalen Positionen zurückzuziehen, wägen Gerichte regelmäßig die verschiedenen Interessen gegeneinander ab und entscheiden für den Einzelfall. Auf die Grenzen ihrer Bereitschaft den Menschenrechtsgerichten zu folgen sowie auf die Erwägungen, die im Rahmen ihrer Abwägung relevant sind, gilt es in den folgenden Kapiteln vertieft einzugehen.