Über die Jahre haben die beiden Menschenrechtsgerichte nicht nur die Konventionsgarantien mit Leben gefüllt, sondern auch die Wirkungen ihrer Entscheidungen und deren Umsetzung auf der innerstaatlichen Ebene entscheidend vorangetrieben. Der IAGMR, der in einem Umfeld schwach ausgeprägter rechtsstaatlicher Strukturen agierte und sich mit teils schwersten Menschenrechtsverletzungen konfrontiert sah, ging dabei deutlich weiter als der EGMR. Nicht nur sah er kaum Raum für Spielräume und begann den Mitgliedstaaten in seinen Urteilen deutlich engmaschigere Vorschriften zu machen. Darüber hinaus sah er sich gezwungen, die Schlagkraft seiner Entscheidungen zu erhöhen, indem er innerstaatliche Gerichte verpflichtete, diesen über den entschiedenen Einzelfall hinaus rechtliche Bedeutung zuzuerkennen. Insgesamt vertritt der IAGMR bis heute eine sehr hierarchische, gleichsam monistische Sichtweise auf sein Verhältnis zu den Mitgliedstaaten und ihren Gerichten.

Wenngleich deutlich später und nicht in gleich weitreichender Weise hat auch der EGMR eine Entwicklung durchgemacht, um angesichts der sich ihm stellenden Herausforderungen die Wirkkraft seiner Entscheidungen zu erhöhen. Während es im interamerikanischen System insbesondere die Schwere der Menschenrechtsverletzungen war, welche die Entwicklung vorantrieb, waren es im europäischen System die Erweiterung der Mitgliedstaaten und immer wieder auftretende ähnliche Verletzungen, welche schließlich zu einer massiven Überlastung des Gerichtshofs führten. Wenn der EGMR dabei auch nicht so weit geht wie sein Pendant jenseits des Atlantiks und das völkerrechtliche Modell nach wie vor Geltung hat, so ist doch davon auszugehen, dass auch der Straßburger Gerichtshof zur innerstaatlichen gerichtlichen Durchsetzbarkeit seiner Entscheidungen beigetragen hat.

Für den vorliegenden Kontext relevant sind insbesondere zwei Aspekte dieser Entwicklung: Zum einen die Frage, wie weit die Bindungswirkung der Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte in die Breite reicht, welche Entscheidungen mit anderen Worten berücksichtigt werden müssen; zum anderen, wie weit diese in die Tiefe geht, welche konkreten Rechtsfolgen also daraus fließen.

Mit Bezug auf den ersten Punkt haben beide Gerichte die ursprünglich strikt auf den Einzelfall begrenzte Bindungswirkung ausgedehnt. In beiden Systemen gilt heute, dass auch der weiteren Rechtsprechung rechtliche Bedeutung zukommt. Ein wesentlicher Unterschied zwischen den beiden Systemen besteht allerdings darin, dass der EGMR die Fortentwicklung der Konventionsstandards als Aufgabe sieht, die er mit den Konventionsstaaten teilt und bei welcher gerade oberen innerstaatlichen Gerichten eine wesentliche Rolle zukommt. Der IAGMR bringt innerstaatlichen Gerichten demgegenüber nach wie vor wenig Vertrauen entgegen und verlangt in der Regel, dass diese seinen „Präzedenzen“ folgen, wenn sie die „Konventionalitätskontrolle“ ausüben. Obwohl der Gerichtshof einen qualitativen Unterschied zwischen res iudicata und res interpretata macht, läuft dies im Ergebnis auf eine Erga-omnes-Wirkung seiner Rechtsprechung hinaus. In jüngerer Zeit wächst jedoch die Kritik an dieser „bevormundenden“ Haltung. Wie zu zeigen sein wird, hat diese nun auch in innerstaatlichen Gerichtsentscheidungen Eingang gefunden. Angesichts der Stabilisierung der Verhältnisse in einigen Mitgliedstaaten im interamerikanischen System und deren zunehmend selbstbewusstem Auftreten ist es durchaus möglich, dass sich der IAGMR diesbezüglich in Zukunft seinem europäischen Pendant annähern wird und diesbezüglich eine gewisse „Europäisierung“ stattfindet.

Der zweite Punkt betrifft die materiell-rechtlichen Folgen der Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte. Auch hier kommt den Staaten im interamerikanischen System ein deutlich geringerer Spielraum zu. Der IAGMR ist bekannt für die detaillierten Anordnungen, die er seinen Entscheidungen beifügt. Der EGMR demgegenüber betont nach wie vor standardmäßig, dass den Staaten die Wahl der Mittel zur Umsetzung seiner primär feststellenden Entscheidungen zusteht. Dies darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass der EGMR in den letzten Jahren einen fundamentalen Wandel vollzogen hat, was die Anordnung von Maßnahmen zur Wiedergutmachung von Konventionsverstößen und seine eigene Stellung im Rahmen der Urteilsumsetzung anbelangt. In der Literatur wird gar geschlossen, die Standardformulierung sei heute nicht mehr adäquat.Footnote 1 Insofern hat im europäischen System längst eine gewisse „Interamerikanisierung“ stattgefunden.Footnote 2 Jüngere empirische Forschung legt allerdings nahe, dass der Straßburger Gerichtshof nach wie vor Zurückhaltung übt und konkrete Vorgaben in seinen Entscheidungen die Ausnahme bleiben.Footnote 3 Angesichts des politischen Drucks, dem sich der Gerichtshof in den letzten Jahren ausgesetzt sieht, ist kaum damit zu rechnen, dass sich dies in absehbarer Zeit ändert.

Dass auch der EGMR durch konkretere Anordnungen in seinen Entscheidungen inzwischen stärker in die Phase der Urteilsumsetzung vorgreift, wird grundsätzlich positiv bewertet.Footnote 4 Dies erstaunt insofern nicht, als dass der EGMR für seine Zurückhaltung zuweilen kritisiert wurde. Tatsächlich erscheint es unbefriedigend, wenn sich ein Menschenrechtsgericht angesichts schreiender Ungerechtigkeiten mit der reinen Feststellung von Konventionsverletzungen begnügt und alle weiteren Schritte dem Ministerkomitee, einer vorderhand politischen Institution, überlässt.Footnote 5 Mit der neueren Praxis wird die Hoffnung auf eine Effektuierung des Menschenrechtsschutzes verbunden.Footnote 6 Durch die Klärung der Pflichten, die aus einem Urteil fließen, soll die Urteilsumsetzung erleichtert und die Befolgungsrate verbessert werden: Je konkreter die Angaben, desto höher die politischen Kosten der Nichtbefolgung, so das Argument.Footnote 7 Eine Studie kommt denn auch zum Schluss, dass genaue Vorgaben insbesondere in Staaten mit schwachen Strukturen eine bessere Befolgung befördern, weil in diesen Staaten zuweilen schlicht die Expertise fehle, um nachhaltige Schlüsse aus den Feststellungsurteilen des EGMR zu ziehen.Footnote 8

So gesehen ist es wenig erstaunlich, dass die detaillierten Entschädigungsentscheidungen des IAGMR in der Literatur begrüßt werden, weil sie besser geeignet seien als ein auf rein monetäre Entschädigung ausgerichtetes Modell, um die Situation vor der Menschenrechtsverletzung wiederherzustellen und die Bedürfnisse der Betroffenen einzubeziehen: „As opposed to just throwing cash at a problem, orders can be tailored to specific violations suffered by individual victims and even society at large.“Footnote 9 Antkowiak kommt aus diesem Grund zum Schluss, dass die vom IAGMR gewählte Methode derjenigen des EGMR vorzuziehen sei.Footnote 10 Darüber darf allerdings nicht vergessen werden, dass die Urteilsbefolgung gerade für den interamerikanischen Kontext eine große Herausforderung darstellt. Wie Studien belegen, variiert die Befolgungsrate nicht nur von Staat zu Staat, sondern auch zwischen den unterschiedlichen Maßnahmen, die angeordnet werden. Die höchste Befolgungsrate genießen im interamerikanischen System Maßnahmen über finanzielle Entschädigung; am wenigsten befolgt werden Anordnungen über die Abänderung von Gesetzen oder Urteilen und die effektive Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen.Footnote 11

Die proaktivere Haltung der Menschenrechtsgerichte begegnet auch Kritik. So wird zuweilen beanstandet, dass sich der IAGMR mit seinen Entschädigungsmaßnahmen teilweise allzu sehr in die inneren Angelegenheiten der Staaten einmische.Footnote 12 Im europäischen System wird zuweilen die mangelnde Transparenz über die Kriterien für die Anordnung solcher Maßnahmen bemängelt. So wird vorgebracht, dass Erwägungen wie die Schwere (andauernder) Rechtsverletzungen und damit die Dringlichkeit zu handeln in den Entscheidungsprozess einfließen und dass der EGMR Klarheit über die Relevanz dieser Gründe schaffen sollte.Footnote 13 Fundamentaler sind die Bedenken, dass zu spezifische Anordnungen gar kontraproduktiv sein können und im Extremfall in einer Haltung der Verweigerung und in „Backlash“ münden können.Footnote 14 Einzelne Studien legen nahe, dass die Möglichkeit einer „Überregulierung“ besteht.Footnote 15 Wie wir sehen werden, wächst jedenfalls das Konfliktpotenzial mit nationalem Recht, je konkreter die Anordnungen sind. Auf diesen wichtigen Punkt wird eingehender zurückzukommen sein.

Wenngleich sich der EGMR also bis zu einem gewissen Grad dem IAGMR annähert, was die Vorgabe konkreter Maßnahmen zur Umsetzung seiner Entscheidungen anbelangt, so geht er nicht so weit, innerstaatliche Organe gezielt anzusprechen und diesen Pflichten aufzuerlegen. Demgegenüber ist eines der Hervorstehungsmerkmale des interamerikanischen Systems die vom IAGMR entwickelte Doktrin der Konventionalitätskontrolle. Darin hält der Gerichtshof innerstaatliche Gerichte dazu an, nationale Rechtsakte am Maßstab der von ihm ausgelegten Konvention zu messen und allenfalls zu verwerfen. Zwar ist zuweilen auch im europäischen Kontext bereits von einer „Konventionalitätskontrolle“ durch innerstaatliche Gerichte die Rede.Footnote 16 Allerdings geht der EGMR bei Weitem nicht so weit wie der IAGMR und hat die staatliche „black box“ nur spaltweise und in Ausnahmefällen geöffnet.Footnote 17 Trotzdem ist der „gerichtliche Dialog“ auch im europäischen System tief verankertFootnote 18 und wurde inzwischen gar weiter institutionalisiert: Mit Protokoll Nr. 16 wurde die Möglichkeit geschaffen, dass höchste innerstaatliche Gerichte in einer Art „Vorabentscheidungsverfahren“ beim EGMR Gutachten über Auslegungsfragen, die sich ihnen im Rahmen eigener Verfahren stellen, einholen.Footnote 19 Das erste Gutachten unter dem erst jüngst in Kraft getretenen Zusatzprotokoll ist inzwischen ergangen.Footnote 20

Klar scheint, dass die Menschenrechtsgerichte durch ihre Rechtsprechung in beiden Systemen den Grundstein für „compliance partnerships“ gelegt haben. Dabei bleiben sie aber auf die Akzeptanz dieser Rechtsprechung und die Zusammenarbeit mit innerstaatlichen Organen angewiesen. Insofern gilt nach wie vor, dass sie „Gerichte einer anderen Ordnung“ sind.Footnote 21 Es wird Aufgabe dieser Studie sein im weiteren Verlauf zu untersuchen, inwiefern innerstaatliche Gerichte in Lateinamerika die ihnen vom IAGMR zugeteilte Rolle auch tatsächlich ausfüllen und ob andererseits Gerichte in Europa auch für sich eine Rolle in Rahmen der Urteilsumsetzung erkennen, obwohl der EGMR dies nicht in gleicher Weise fordert. Wie wir sehen werden, tun sie dies sehr wohl und agieren in zahlreichen Fällen als „Erfüllungsgehilfen“. Während der Impuls im interamerikanischen System vom IAGMR ausgeht, sind es in Europa innerstaatliche Gerichte selbst, welche, angetrieben von Individuen, die zu ihren Gunsten ergangene Entscheidungen durchsetzen wollen, dazu übergegangen sind, die staatliche „black box“ aufzubrechen. Allerdings hat der zunehmende Druck „von oben“ auch zu vermehrtem Widerstand von Seiten nationaler Gerichte geführt. Auch darauf wird zurückzukommen sein.