Auch dem IAGMR kommt die Kompetenz zu, bindende Entscheidungen zu fällen. Dabei gelten gegenüber dem europäischen System jedoch zwei fundamentale Unterschiede: Zum einen haben nicht alle Mitgliedstaaten der Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) die AMRK ratifiziert; auch nicht alle AMRK-Mitgliedstaaten haben sich zudem der Gerichtsbarkeit des IAGMR unterworfen.Footnote 1 Zum anderen sind individuelle Beschwerdeführer nicht direkt Partei im Verfahren vor dem IAGMR, wie sich aus Art. 61 AMRK ergibt. Vielmehr können Individuen in Einklang mit Art. 44 der Konvention lediglich an die interamerikanische Kommission gelangen. Diese nimmt eine wichtige Filterfunktion wahr, indem sie zunächst eine einvernehmliche Lösung zwischen den Parteien anstrebt (Art. 48 Abs. 1 lit. f AMRK).Footnote 2 Kommt eine solche nicht zustande, verfasst sie entweder einen Schlussbericht (Art. 51 Abs. 1 AMRK und Art. 47 der Verfahrensordnung)Footnote 3 oder leitet den Fall an den Gerichtshof weiter. Die Entscheidung, wann ein Fall vor den Gerichtshof gebracht wird, liegt „solely and autonomously“ in den Händen der Kommission, wie der IAGMR bestätigt hat.Footnote 4 Die Kommission hat dafür Kriterien entwickelt, die nun in der Verfahrensordnung niedergelegt sind. Demnach spielt die Position des Beschwerdeführers eine Rolle, aber auch die Schwere und Natur der Verletzung sowie die Erforderlichkeit der Entwicklung oder Klärung der Rechtsprechung und die künftigen Auswirkungen der Entscheidung.Footnote 5 In dem Verfahren vor dem Gerichtshof selbst ist eine Verfahrensbeteiligung von Individuen ausgeschlossen; einzig die Kommission und Mitgliedstaaten können formell als Verfahrenspartei auftreten (Art. 61 Abs. 1 AMRK).

Im Übrigen statuiert Art. 68 Abs. 1 der Konvention fast wortgleich mit der EMRK, dass sich die Konventionsstaaten verpflichten, in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen („undertake to comply with the judgment of the Court in any case to which they are party“; „se comprometen a cumplir la decisión de la Corte en todo caso en que sean partes“). Zwar spricht die AMRK, wie zu zeigen sein wird, dem Gerichtshof weiterreichende Kompetenzen zur Anordnung konkreter Maßnahmen in seinen Urteilen zu als die EMRK. Trotzdem lässt die rechtliche Ausgangslage nicht die Reichweite und Tiefe der Rechtsprechung des IAGMR erahnen. Vor dem Hintergrund der schwierigen Bedingungen, in denen er agiert, sah sich dieser gezwungen, zu kreativen Methoden zu greifen und den Staaten für die Effektuierung des Menschenrechtsschutzes deutlich stärker unter die Arme zu greifen als der EGMR, der auf die Zusammenarbeit mit gut funktionierenden Demokratien bauen konnte.Footnote 6 So übernahm der IAGMR im Prozess des Aufbaus und der Etablierung rechtsstaatlicher Strukturen eine führende Rolle.Footnote 7 Der IAGMR konnte gleichsam „act as a moral ‚superior‘ because there was a moral ‚inferior‘.“Footnote 8 Wie weit die Rechtsprechung des IAGMR reicht, zeigt sich in beiden vorliegend relevanten Bereichen: Zum einen lässt der Gerichtshof seinen Entscheidungen quasi Erga-omnes-Wirkungen zukommen und verlangt von den Mitgliedstaaten, dass sie seine gesamte Rechtsprechung beachten (1.). Zum anderen hat der IAGMR mit dem Ziel die Umsetzung seiner Entscheidungen zu erleichtern die staatliche „black box“ so weit aufgebrochen, dass das klassisch völkerrechtliche Modell im interamerikanischen System inzwischen als überwunden gelten dürfte (2.).

1. Reichweite der Urteilswirkungen

1.1. Ausgangspunkt: res iudicata inter partes (Art. 68 Abs. 1 AMRK)

Die Urteile des IAGMR sind nach Art. 67 AMRK endgültig („final and not subject to appeal“); sie erwachsen somit in formelle Rechtskraft.Footnote 9 Eine interne Möglichkeit, das Urteil an eine übergeordnete Kammer zu verweisen, wie sie im europäischen System vorgesehen ist, existiert nicht. Besteht Uneinigkeit über die Bedeutung oder Reichweite eines Urteils, können die Parteien zur Klärung über Auslegungsfragen innerhalb von 90 Tagen erneut an den Gerichtshof gelangen (Art. 67 Satz 2 AMRK). Daraus folgt, dass „[…] no other domestic or international court – even the Inter-American Court itself – in another subsequent trial can rule again on the object of the proceedings.“Footnote 10

Nach dem Wortlaut ist die Rechtskraft der Urteile wie im europäischen System auf die Parteien und den entschiedenen Einzelfall begrenzt (res iudicata inter partes). Der IAGMR hat in seiner Rechtsprechung jedoch Ausnahmen davon begründet und einigen seiner Urteile über den Einzelfall hinausgehende Wirkungen zugesprochen. Darauf wird vertieft einzugehen sein. Ferner geht der IAGMR davon aus, dass der Urteilstenor im Lichte des gesamten Urteils gelesen werden muss. Er statuierte gar, dass das Urteil in seiner Gesamtheit bindend sei: „The binding effect of the Judgment is not limited to the operative paragraphs, but rather includes all its grounds, reasoning, implications and effects; in other words, the Judgment as a whole is binding for the State, including its ratio decidendi.“Footnote 11

1.2. Wirkung über den Einzelfall hinaus („unechte“ Erga-omnes-Wirkung)

Auch die AMRK erkennt den Urteilen des IAGMR keinen formellen Präzedenzcharakter zu. Vielmehr beschränkt sich die Bindungswirkung nach Art. 68 Abs. 1 AMRK auf die Fälle, in denen die Staaten Partei sind.Footnote 12 Dennoch hat der IAGMR seinen Urteilen, deutlicher als der EGMR, explizit eine über den entschiedenen Einzelfall hinausgehende Bedeutung zuerkannt. So verlangt er in seiner Doktrin der Konventionalitätskontrolle, die später eingehender zu erläutern sein wird, dass die innerstaatliche Judikative die gesamte interamerikanische Rechtsprechung bei der Anwendung der Konvention einbezieht. Dies kommt darin zum Ausdruck, wenn vom interamerikanischen corpus iuris oder „block of conventionality“ die Rede ist.Footnote 13

Dabei hat der IAGMR ein sehr breites Verständnis davon, was seine Rechtsprechung konstituiert. Darunter fällt nicht nur die im Rahmen seiner Urteilstätigkeit im streitigen Verfahren getätigte Auslegung der Konvention, sondern auch seine Gutachten, da deren Zweck gerade die Klärung von die Konvention betreffenden Fragen sei, sowie auch Anordnungen zu provisorischen Maßnahmen und gar im Verfahren der Urteilsüberwachung ergangene Resolutionen.Footnote 14

Formell unterscheidet der Gerichtshof ebenfalls zwischen Befolgungs- und Berücksichtigungspflicht. Wie die Richter im europäischen System geht auch der IAGMR davon aus, dass sich der Gehalt der Konventionsrechte erst zusammen mit seiner Rechtsprechung gelesen ergibt.Footnote 15 Während bei gegen einen Staat gerichteten Entscheidungen eine strikte Befolgungspflicht im Sinne einer „internationlen res iudicata“ bestehe, die dazu verpflichte, das Urteil „fully and in good faith“ zu befolgen,Footnote 16 seien Staaten im zweiten Fall zwar nicht an die Urteile als solche, aber an die Konvention in der Auslegung des Gerichtshofs gebunden.Footnote 17 Bei der Anwendung der Konvention haben sie entsprechend die wesentlichen Rechtsprechungslinien zu berücksichtigen („bearing in mind the treaty and, as appropriate, the jurisprudential precedents and guidelines of the Inter-American Court“).Footnote 18 Auch im interamerikanischen System kommt den Urteilen über den entschiedenen Einzelfall hinaus damit eine „unechte“ Erga-omnes-Wirkung zu, die auf der Verbindlichkeit der Konvention und der Stellung des Gerichtshofs als für die Auslegung der Konvention in letzter Instanz zuständiges Organ beruht.Footnote 19 Die vom IAGMR ausgelegte Konvention wird gleichsam zur res interpretata.

1.3. Dialog oder Monolog?

Auch der IAGMR betont, dass seinen Urteilen, ähnlich wie im europäischen System, ein anderes Gewicht zukomme je nach dem, ob der betreffende Staat Verfahrenspartei war oder nicht.Footnote 20 Die Praxis legt jedoch nahe, dass es sich dabei eher um ein Lippenbekenntnis handelt.

Richter Ferrer Mac-Gregor konkretisierte in seinem Sondervotum im Fall Gelman, worin der qualitative Unterschied zwischen der Befolgungspflicht der res iudicata und der Berücksichtigungspflicht der res interpretata besteht. Im ersten Fall spricht er von „eficacia vinculante“ und im zweiten von „eficacia vinculante indirecta“.Footnote 21 Den Entscheidungen kämen gleichsam verschiedene „Verbindlichkeitsgrade“ („grado de vinculación“) zu.Footnote 22 Im ersten Fall besteht eine „direkte, vollständig und absolute Bindung“,Footnote 23 die keinen Spielraum für Interpretation belasse.Footnote 24 Der res interpretata komme demgegenüber eine relative Bindungswirkung zu. In diesem Fall kommt dem Staat ein Beurteilungsspielraum zu.Footnote 25 Allerdings besteht dieser Spielraum lediglich „nach oben“: So können innerstaatliche Gerichte von der Rechtsprechung nur abweichen, sofern dies zu einem höheren Schutz führt.Footnote 26

Dies macht deutlich, dass der IAGMR stärker als der EGMR davon ausgeht, dass es seiner Rolle entspricht, verbindliche Standards zu setzten, die von innerstaatlichen Gerichten zu übernehmen sind.Footnote 27 So fußt zwar auch die AMRK auf dem Subsidiaritätsprinzip und dem Verständnis, dass es in erster Linie Sache der Mitgliedstaaten ist, den Konventionsschutz zu gewährleisten. In diesem Sinne geht auch die AMRK davon aus, dass der internationale Schutz den innerstaatlichen lediglich ergänzt („complement“).Footnote 28 In Einklang damit ist die Zuständigkeit der interamerikanischen Organe erst eröffnet, wenn der innerstaatliche Rechtsweg erschöpft ist.Footnote 29 In diesem Sinne kommen die interamerikanischen Organe erst zum Zug, wenn innerstaatliche Gerichte ihre Chance, Konventionsverletzungen zu beheben und vorzubeugen, „verspielt“ haben.Footnote 30 Dass der IAGMR nationalen Organen allerdings einen bedeutend geringeren Spielraum einräumt als der EGMR, kommt schon darin zum Ausdruck, dass im interamerikanischen System breitere Möglichkeiten bestehen, vom Erfordernis der Erschöpfung der innerstaatlichen Rechtsmittel abzuweichen.Footnote 31

Auch im „Dialog der Gerichte“ sieht der IAGMR weniger Spielraum für nationale Gerichte und vertritt insgesamt eine weitaus hierarchischere Sichtweise auf sein Verhältnis zum innerstaatlichen Recht als der EGMR.Footnote 32 Die Rolle innerstaatlicher Gerichte sieht der Gerichtshof primär darin, über das noch zu erläuternde Instrument der Konventionalitätskontrolle als „Erfüllungsgehilfen“ den hauptsächlich von ihm entwickelten Standards Wirksamkeit zu verleihen und weniger einen eigenen Beitrag zur Fortentwicklung der Konvention zu leisten.Footnote 33 Der frühere Gerichtspräsident brachte das in einem Sondervotum deutlich zum Ausdruck: Dort beschrieb er die zentrale Rolle innerstaatlicher Gerichte im Konventionssystem, sah diese aber maßgeblich auf eine Übertragung der internationalen Standards auf die nationale Ebene beschränkt.Footnote 34 Zuweilen ist diesbezüglich von einer „roboterhaften Umsetzung“ die Rede.Footnote 35

Der Raum für eigene Interpretationen innerstaatlicher Gerichte ist damit stark reduziert.Footnote 36 Zuweilen ist gar von einem „Monolog“ anstelle eines gerichtlichen Dialogs die Rede.Footnote 37 Die Gründe dafür sind wiederum, dass der IAGMR anfänglich nicht auf starke innerstaatliche Institutionen setzen konnte und sich verpflichtet fühlte, diesen stärker unter die Arme zu greifen. Angesichts schwerwiegender Menschenrechtsverletzungen und dem Unwillen oder teils auch Unvermögen innerstaatlicher Behörden, diesen beizukommen, sah der IAGMR wenig Raum für Zurückhaltung.Footnote 38 Nicht zuletzt geht es ihm dabei um Effektivitätserwägungen: Mit seinen bescheidenen Mitteln kann der Gerichtshof nur eine beschränkte Zahl von Fällen behandeln. Deswegen hat er ein Interesse daran, seinen Urteilen eine größtmögliche Schlagkraft zu verleihen. Vor dem Hintergrund der Entwicklungen der letzten Jahre wird die Haltung des IAGMR jedoch zunehmend kritisiert und gefordert, dieser solle den „Dialog der Gerichte“ ernster nehmen und stärker auf innerstaatliche Gerichte eingehen.Footnote 39

Wie auch der EGMR betont der IAGMR schließlich zwar auch, dass er kein Gericht vierter Instanz sei.Footnote 40 So falle es nicht in die Zuständigkeit der interamerikanischen Organe, Fehler in der Feststellung des Sachverhalts oder Rechtsfehler innerstaatlicher Gerichte zu korrigieren. Vielmehr stehe es diesen lediglich zu, über Verletzungen der Konvention zu befinden.Footnote 41 Bis zu einem gewissen Grad müsse ihm dabei allerdings erlaubt sein, Entscheidungen innerstaatlicher Gerichte auf deren Vereinbarkeit mit der Konvention zu überprüfen, so der IAGMR.Footnote 42 Auch dabei vertritt er jedoch ein enges Verständnis davon, wann die Zulässigkeitsbeschränkung gilt. Während der EGMR grundsätzlich davon ausgeht, dass innerstaatliche Behörden besser geeignet seien, die Konventionsmäßigkeit innerstaatlicher Akte zu prüfen (Better-placed-Formel) und gerade mit Bezug auf die Überprüfung der Erwägungen oberer innerstaatlicher Gerichte mit Zurückhaltung agiert,Footnote 43 ist der IAGMR auch hier weniger zurückhaltend. Er stellt sich auf den Standpunkt, der Einwand der Verletzung der „fourth instance rule“ sei nur dann begründet, wenn ein Beschwerdeführer den IAGMR dazu anhalte „to review the decision of the domestic court, based on its incorrect assessment of the evidence, the facts or domestic law without, in turn, alleging that such decision was a violation of international treaties over which the Court has jurisdiction.“Footnote 44 Für die Zerstreuung des Einwands scheint es somit auszureichen, wenn ein Bezug zur Konvention hergestellt ist.Footnote 45

2. Die aus den IAGMR-Urteilen fließenden Pflichten

2.1. Ausgangspunkt: das Potenzial von Art. 63 AMRK

Der Wortlaut der AMRK deutet darauf hin, dass diese ursprünglich ebenfalls vom klassischen völkerrechtlichen Modell ausging und den Urteilen des IAGMR innerstaatlich keine direkten Wirkungen zukommen sollten. Denn im Unterschied zur EMRK enthält die AMRK gewisse Vorgaben zum Status der Urteile im nationalen Rechtsraum: So kommt dem Teil der IAGMR-Entscheidungen zur finanziellen Entschädigung innerstaatlich die Wirkung eines vollstreckbaren Titels zu (Art. 68 Abs. 2 AMRK).Footnote 46 Insofern wurde diesbezüglich vertraglich eine „Öffnung der nationalen Rechtsordnung für direkte Entscheidungswirkungen“ vereinbart,Footnote 47 wie sie für internationale Entscheidungen typischerweise bei vermögensrechtlichen Ansprüchen besteht.Footnote 48 Im Übrigen richten sich die interamerikanischen Urteile wie beim EGMR formell an die „States Parties“ („Los Estados Partes“). Das explizite Schweigen der AMRK über die Wirkungen der anderen Urteilsteile lässt somit keinen anderen Schluss zu, als dass die Vertragsparteien diesen innerstaatlich keine direkten Wirkungen zukommen lassen wollten.Footnote 49

Auch der IAGMR selbst nahm anfänglich eine klassische „Black-box-Haltung“ ein.Footnote 50 So betonte er in einem frühen Gutachten, dass eine ein innerstaatliches Gesetz betreffende Frage lediglich dessen Wirkungen aus völkerrechtlicher Perspektive betreffen könne. Denn es sei „[…] not appropriate for the Court to rule on its domestic legal effect within the state concerned. That determination is within the exclusive jurisdiction of the national courts and should be decided in accordance with their laws.“Footnote 51

Wie zu zeigen sein wird, hat sich der Gerichtshof davon jedoch inzwischen weit entfernt. Während der EGMR auf der Grundlage der EMRK nach wie vor vom Grundsatz ausgeht, dass es den Staaten zusteht, die zur innerstaatlichen Umsetzung seiner Urteile erforderlichen Mittel zu wählen,Footnote 52 enthält bereits die AMRK mit Art. 63 eine weitergehende Kompetenznorm. Dies allein vermag allerdings nicht zu erklären, dass der IAGMR sein Mandat deutlich weiter verstanden hat als der EGMR. Vielmehr ist auch diese Entwicklung vor dem Hintergrund der Tatsache zu sehen, dass der IAGMR sich im Lichte der schwachen rechtsstaatlichen Strukturen auf dem Kontinent sowie den schweren Menschenrechtsverletzungen gehalten sah, den Mitgliedstaaten stärker unter die Arme zu greifen.

Art. 63 Abs. 1 AMRK listet, anders als die EMRK, explizit die aus einem Konventionsverstoß folgenden Konsequenzen auf. Die AMRK spricht dem Gerichtshof zum einen die Kompetenz zu, im Falle einer Konventionsverletzung anzuordnen, dass der betreffende Staat sicherstellen muss, dass dem verletzten Individuum künftig die Ausübung seines Rechts ermöglicht wird (Art. 63 Abs. 1 erster Satz).Footnote 53 Dies entspricht der Pflicht zur Beendigung andauernder Verletzung sowie zur Unterlassung des konventionswidrigen Verhaltens in der Zukunft im Sinne der Grundsätze der Staatenverantwortlichkeit nach den ILC-Artikeln (cessation und non-repetition).Footnote 54 Weiter kann der IAGMR „wenn angebracht“ festlegen, dass die Konsequenzen der Rechtsverletzung behoben werden und gerechte Entschädigung geleistet werden muss (Art. 63 Abs. 1 zweiter Satz).Footnote 55 Dies entspricht dem völkergewohnheitsrechtlichen Prinzip, dass aus jeder Völkerrechtsverletzung, die einen Schaden verursacht, die Pflicht einer angemessenen Wiedergutmachung erwächst.Footnote 56 Wenn auch diese Bestimmung die Kompetenzen des IAGMR nicht klar umschreibt, so ergibt sich immerhin aus der Entstehungsgeschichte, dass es der Absicht entsprach, dem IAGMR weite Befugnisse zuzusprechen.Footnote 57

Der IAGMR hat das „beachtliche Potenzial“Footnote 58 von Art. 63 Abs. 1 denn auch genutzt und ein weltweit einzigartiges System der Wiedergutmachung für Menschenrechtsverletzungen entwickelt.Footnote 59 Er war schon früh auf einen „victim-centered“ – im Gegensatz zu einen auf finanzielle Entschädigung fokussierten – Ansatz bedacht.Footnote 60 Primäres Ziel ist damit die restitutio in integrum.Footnote 61 Sein besonderer Ansatz kennzeichnet sich dadurch, dass er seinen Urteilen lange und detaillierte Listen von Maßnahmen hinzufügt, die als Folge einer Konventionsverletzung zu erfüllen sind. Bemerkenswert vor dem Hintergrund der hier untersuchten Fragestellung ist, dass die vom IAGMR angeordneten Maßnahmen in einer Mehrheit der Fälle ein Aktivwerden der innerstaatlichen Judikative erfordern.Footnote 62 So verlangte der IAGMR etwa in Fermín Ramírez, dass Guatemala dem zu Tode verurteilten Beschwerdeführer ein neues Strafverfahren gewähren müsse, da das Ausgangsverfahren gegen die Grundsätze eines fairen Verfahrens verstoßen habe.Footnote 63 Zuweilen ordnet der Gerichtshof auch an, dass der betreffende Staat dafür zu sorgen habe, dass die Folgen von gegen die Konvention verstoßenden Strafurteilen in ihrer Gesamtheit beseitigt werden.Footnote 64

Die bunte Palette von Anordnungen des IAGMR lässt sich, in Anlehnung an die im europäischen System vorherrschende Kategorisierung, in Maßnahmen individueller und genereller Natur untergliedern.Footnote 65 Individuelle Maßnahmen dienen dazu, andauernde Verletzungen zu beenden und in der Vergangenheit liegende Konventionsverstöße zu kompensieren bzw. wiedergutzumachen. Dabei können solche Maßnahmen, anders als die Bezeichnung vermuten ließe, nicht nur einzelnen Personen, sondern ganzen Gemeinschaften zugute kommen, etwa im Falle von gegen diese verübten Massakern.Footnote 66 Dadurch wird die auf den entschiedenen Einzelfall beschränkte Rechtskraft jedoch nicht gesprengt, da es sich immer noch um ein und denselben vom Gerichtshof entschiedenen Fall handelt.Footnote 67 Generelle Maßnahmen zielen demgegenüber auf strukturelle Änderungen, um Wiederholung in der Zukunft zu verhindern.

a) Individuelle Maßnahmen

Unter dem ersten Titel lassen sich etwa die Freilassung illegal inhaftierter GefangenerFootnote 68 oder die Ermöglichung der Rückkehr aus ihren Dörfern vertriebener Personen subsumieren.Footnote 69 Ebenfalls darunter fallen sog. „Rehabilitationsmaßnahmen“, die medizinische und psychologische Behandlungen von Opfern von Menschenrechtsverletzungen beinhalten.Footnote 70 Neben finanzieller EntschädigungFootnote 71 ordnet der IAGMR regelmäßig Maßnahmen zur Genugtuung („satisfaction“) von Opfern von Menschenrechtsverletzungen an, so etwa öffentliche Zeremonien zur offiziellen EntschuldigungFootnote 72 oder die Errichtung von Denkmälern.Footnote 73 Darunter fällt schließlich auch die Pflicht, Familienangehörige über das Schicksal von Menschenrechtsopfern zu informieren und die sterblichen Überreste verschleppter Personen ausfindig zu machen.Footnote 74

Anders als die EMRK enthält die AMRK keine Bestimmung, die innerstaatliche Akte vor der Konvention „immunisiert“ (Art. 41 EMRK).Footnote 75 Vielmehr muss die Rechtsordnung in Einklang mit der AMRK gebracht werden (Art. 2 AMRK). Entsprechend ordnet der IAGMR auch an, dass konventionswidrige Gerichtsentscheidungen aufgehoben und die negativen Folgen beseitigt werden müssen.Footnote 76 Für nationale Gerichte dürfte dies bedeuten, dass sie bestehende Ausnahmegründe zum Prinzip der Rechtskraft so weit wie möglich konventionskonform auszulegen haben.Footnote 77

Schließlich hat der IAGMR auch eine ganz eigene Rechtsprechung entwickelt, was die Aufarbeitung schwerster Menschenrechtsverletzungen anbelangt. Er verlangt, dass solche Taten effektiv untersucht und die dafür Verantwortlichen strafrechtlich verfolgt, einem Gerichtsverfahren unterzogen und allenfalls bestraft werden (obligation to investigate, prosecute, and punish).Footnote 78 Auch diese Pflichten versteht er als einen Teil der Wiedergutmachung.Footnote 79 Auf diese Art von Reparationsmaßnahmen wird zu einem späteren Zeitpunkt vertieft einzugehen sein. Wie zu zeigen sein wird, hat gerade diese Art von Anordnung zu zahlreichen Folgeprozessen auf der innerstaatlichen Ebene Anlass gegeben.Footnote 80

b) Generelle Maßnahmen

Wie im europäischen System können unter dem Titel der generellen Maßnahmen Urteile des IAGMR subsumiert werden, in denen dieser strukturelle Probleme in der nationalen Rechtsordnung anprangert. So ordnet der IAGMR etwa Menschenrechtstrainings für PolizeibehördenFootnote 81 oder Reformen des Gefängniswesens an.Footnote 82 Insbesondere fällt darunter aber auch der Erlass, die Änderung oder Aufhebung von Gesetzen, wenn die Konventionsverletzung in diesen „programmiert“ ist.Footnote 83 Diese Pflicht wird im interamerikanischen System durch Art. 2 AMRK noch verstärkt. Diese Bestimmung, die kein Pendant in der EMRK kennt, ordnet ausdrücklich an, dass Staaten diejenigen gesetzlichen Anpassungen vorzunehmen haben, die für die Ausübung der Konventionsrechte erforderlich sind.Footnote 84 Die Pflicht gilt unabhängig vom Rang der betreffenden Norm: So ist der IAGMR auch nicht davor zurückgeschreckt, die Anpassung der Verfassung anzuordnen.Footnote 85 Dabei betont er aber, dass er keine abstrakte Normenkontrolle vornehme.Footnote 86

Bei generellen Maßnahmen spezifiziert der IAGMR im Gegensatz zu individuellen Maßnahmen nicht, wie die gesetzlichen Anpassungen auszusehen haben, sondern belässt den Konventionsstaaten diesbezüglich einen Spielraum.Footnote 87 In einigen Fällen ist er allerdings sogar so weit gegangen zu erklären, dass bestimmte konventionswidrige Gesetze von vorherein nichtig seien und hat seine Kompetenzen damit erheblich ausgedehnt. Darauf wird nun vertieft einzugehen sein.

2.2. Materiell-rechtliche Folgen der Entscheidungen des IAGMR

Trotz der weitreichenden Kompetenzen, die dem IAGMR zur Anordnung von Maßnahmen zukommt, sind wie erwähnt auch die Urteile nach der AMRK als vorderhand völkerrechtliche Urteile konzipiert. Lediglich dem Urteilsteil über finanzielle Entschädigung kommt innerstaatlich ein eigentlicher Status kraft AMRK zu.Footnote 88 Anders als im europäischen System hat sich die Rechtsprechung des IAGMR jedoch deutlich vom klassischen völkerrechtlichen Modell wegentwickelt. In seinen Anordnungen hat der Gerichtshof die Grenzen zwischen den Rechtsordnungen zuweilen so stark verwischt, dass dies Anlass zu Diskussionen darüber gegeben hat, ob der Gerichtshof seinen Entscheidungen gar Gestaltungswirkung zukommen lässt und sich als veritables Verfassungsgericht gebärdet.Footnote 89 Diese starken, in einem besonderen Kontext getätigten Aussagen hat der Gerichtshof jedoch seither nicht mehr wiederholt, sondern die für das interamerikanische System charakteristische Doktrin der Konventionalitätskontrolle entwickelt. Damit greift er insbesondere innerstaatliche Gerichte aus dem Gesamtstaat heraus und nimmt diese explizit in die Pflicht. Diese Entwicklung soll nun kurz nachgezeichnet werden.

a) Gestaltungswirkung der IAGMR-Urteile in Ausnahmesituationen?

In einigen Situationen hat der IAGMR zu besonders weitreichenden Mitteln gegriffen und für sich in Anspruch genommen, seinen Urteilen Gestaltungswirkung verleihen zu können. Entwickelt hat er diese weitreichende Rechtsprechung im Zusammenhang mit einem in Lateinamerika weitverbreiteten Problem: Nationalen Gesetzen, die Amnestien selbst für schwerste Menschenrechtsverletzungen etablieren.Footnote 90

Den entscheidenden Schritt tätigte der Gerichtshof in der Entscheidung Barrios Altos gegen Peru. Richter Cançado Trindade bezeichnete diese als „a new and great qualitative step forward“, um das Problem der Straflosigkeit („impunidad“) zu überwinden.Footnote 91 Einige Jahre später beschrieb er, wie er beim Erlass dieser Entscheidung persönlich berührt gewesen sei und fügte hinzu, die Entscheidung sei inzwischen „recognized […] as a landmark in the history of International Human Rights Law.“Footnote 92

In der Entscheidung war der Gerichtshof mit der Frage der Konventionsmäßigkeit zweier peruanischer Amnestiegesetze konfrontiert (Gesetze Nr. 26479 und 26492). Diese waren noch unter der Fujimori-Diktatur ergangen und immunisierten Angehörige der paramilitärischen Einheit „La Colina“, der die Verantwortlichkeit für staatlich verordnete Massaker zugeschrieben wurde, vor strafrechtlicher Verfolgung.Footnote 93 Der Gerichtshof kam zum Schluss, dass Gesetze, deren ausgemachtes Ziel es sei, die Verantwortlichkeit für schwerste Menschenrechtsverletzungen wie Folter, außergesetzliche Tötungen und das Verschwindenlassen von Personen zu verhindern, unzulässig seien.Footnote 94 Darin erkannte er einen Verstoß gegen die Rechte der Opfer bzw. ihrer Angehöriger, von einem Gericht gehört zu werden und dadurch gegen das Recht auf eine effektive Beschwerde (Art. 8 und Art. 25 AMRK). Schließlich habe Peru auch seine generellen Pflichten unter der AMRK nach Art. 1 und 2 verletzt, wonach es zur Gewährleistung der Konventionsrechte und der Anpassung seiner Rechtsordnung verpflichtet sei. Die Amnestiegesetze verunmöglichten aber gerade eine Untersuchung und Aufarbeitung der Geschehnisse.Footnote 95

Interessant ist nun insbesondere die Konsequenz, die der IAGMR daraus zog. So beschränkte er sich nicht darauf, die Amnestiegesetze für nicht mit der AMRK vereinbar zu erklären und Peru dazu anzuhalten, diese aufzuheben. Vielmehr ging er einen Schritt weiter und statuierte, dass diese wegen ihrer offensichtlichen Unvereinbarkeit mit der Konvention nichtig seien:

„Owing to the manifest incompatibility of self-amnesty laws and the American Convention on Human Rights, the said laws lack legal effect and may not continue to obstruct the investigation of the grounds on which this case is based or the identification and punishment of those responsible, nor can they have the same or a similar impact with regard to other cases that have occurred in Peru, where the rights established in the American Convention have been violated.“Footnote 96

Diese Aussage wiederholte der Gerichtshof im Urteilstenor, ohne Peru zu weiteren Schritten anzuhalten.Footnote 97 Geht der IAGMR damit tatsächlich davon aus, direkt auf die innerstaatliche Rechtsordnung „durchgreifen“ und die betreffenden Gesetze aufheben zu können? Oder folgt daraus doch vielmehr, ähnlich wie im Kontext des EGMR, lediglich die Pflicht des Staates, auf innerstaatlicher Ebene dafür zu sorgen, dass die Gesetze keine Wirkungen mehr entfalten können? Die Richter scheinen von Ersterem auszugehen, wie die Sondervoten nahelegen. So schreibt Cançado Trindade, die in Rede stehenden Bestimmungen „have no legal validity at all“.Footnote 98 García Ramirez fügte hinzu, die Gesetze seien „null and void“ und „cannot produce the legal effects inherent in laws promulgated normally and which are compatible with the international and constitutional provisions that engage the State of Peru.“Footnote 99

Auch in der Literatur wird die Entscheidung teilweise so gedeutet. Nach Cassese handelt es sich um „la première fois qu’une juridiction internationale déclare que des lois nationales son dépourvues d’effets juridiques à l’intérieur du system étatique où elles ont été adoptées, et oblige par conséquence l’État à agir comme si ces lois n’avaient jamais été dictées.“Footnote 100 Andere schreiben, der IAGMR habe seinen Urteilen supranationale Wirkungen verliehen und wie ein Verfassungsgericht gehandelt.Footnote 101

Der Gerichtshof selbst wiederholte seine Aussagen in der gleichen Weise jedoch nicht. Um Klärung der Urteilsreichweite gebeten, nachdem sich peruanische Stellen geweigert hatten, dem Urteil über den entschiedenen Einzelfall hinaus Folge zu leisten, beteuerte er zwar, dass seine Anordnung in Barrios Altos aufgrund der Natur der Verletzung „generic effects“ habe.Footnote 102 Bestätigt hat er die Aufhebung des Gesetzes damit aber nicht, sondern sich lediglich zu den über den entschiedenen Einzelfall hinausgehenden Wirkungen ausgesprochen. Der Grund dafür ist jedoch nicht eine mögliche Durchgriffswirkung auf die nationale Rechtsordnung, sondern lediglich, dass der Konventionsverstoß in einem generell-abstrakten Gesetz gründet, wie es auch der Rechtsprechung des EGMR entspricht.Footnote 103

Die Gelegenheit, sich erneut zu der Rechtsfrage auszusprechen, ergab sich einige Jahre später, als der IAGMR erneut mit einem Fall konfrontiert war, in welchem die besagten Amnestiegesetze zum Zuge gekommen waren; dieses Mal mit Bezug auf ein an der Universität „La Cantuta“ verübtes Massaker. Denn in Peru herrschte Verwirrung über den Status der Gesetze: Zwar hatten innerstaatliche Gerichte diese, in Einklang mit dem internationalen Urteil, nicht mehr angewendet, was der Gerichtshof auch anerkannte und entsprechend keinen erneuten Verstoß gegen die Konvention mit Bezug auf diesen Punkt feststellte.Footnote 104 Allerdings waren die Gesetze innerstaatlich nie zusätzlich zum interamerikanischen Urteil formell aufgehoben worden. Angesichts der Entscheidung in Barrios Altos stellte sich die Frage, ob dies überhaupt erforderlich war bzw. das reine Fortbestehen dieser Gesetze erneut einen Konventionsverstoß darstellte. Die Kommission hatte verlangt, dass die Gesetze aufgehoben werden müssten; Experten wiesen demgegenüber darauf hin, dass dies ein Widerspruch wäre, da die Gesetze mit dem Urteil des IAGMR bereits aufgehoben seien.Footnote 105

Auch in diesem Fall ist die Antwort des IAGMR nicht restlos klar. Zwar wiederholte der Gerichtshof, dass die Amnestiegesetze in Barrios Altos ab initio für nicht konventionskonform befunden worden seien, woraus er schloss, dass „such ‚laws‘ have not been capable of having effects, nor will it have them in the future.“Footnote 106 Er ordnete auch im Tenor nicht die formelle Aufhebung an und schien sich damit zu begnügen, dass Gerichte diese nicht mehr anwendeten. Allerdings zeigte er gleichzeitig minutiös auf, wie sein Urteil unter peruanischem Recht Teil der innerstaatlichen Rechtsordnung geworden war und benutzte dies als Argument für den Geltungsanspruch des Urteils. Dies spricht wiederum gegen die Annahme von vom innerstaatlichen Recht losgelösten direkten völkerrechtlichen Durchgriffswirkungen.Footnote 107 Auch die Richter selbst scheinen sich nicht vollends einig zu sein: So betonte einerseits Richter Cançado Trindade in seinem Sondervotum, die Gesetze „are flawed with nullity, ex tunc nullity and ab initio nullity, therefore lacking any and all legal effect.“Footnote 108 Richter García Ramirez dagegen zählte die verschiedenen Möglichkeiten auf, wie mit den Gesetzen umgegangen werden könnte und stellte sich auf den Standpunkt, dass es nicht am Gerichtshof sei, darüber zu befinden, sondern alleine Peru zustehe.Footnote 109

Der Gerichtshof wendete diese Rechtsprechung in der Folge auch in anderen Fällen an, in denen er mit Amnestiegesetzen konfrontiert war.Footnote 110 In der Literatur ist die Frage, ob der IAGMR auf die innerstaatliche Rechtsordnung durchgreift, unterschiedlich bewertet worden.Footnote 111 Angesichts der Tatsache, dass der IAGMR weder rechtlich noch faktisch über die Möglichkeiten verfügt, im innerstaatlichen Rechtsraum rechtsgestaltend tätig zu werden, sondern für die Wirksamkeit seiner Urteile auf die Zusammenarbeit mit innerstaatlichen Stellen angewiesen bleibt, scheint die Lesart am sinnvollsten, wonach sich der IAGMR lediglich über die Ungültigkeit der Amnestiegesetze auf der internationalen Ebene ausspricht.Footnote 112 Dass er dabei eine besonders starke Formulierung wählt, ließe sich damit erklären, dass er angesichts der Schwere der in Rede stehenden Menschenrechtsverletzungen keinerlei Zweifel am zu erreichenden Ergebnis aufkommen lassen wollte.Footnote 113 Dafür spricht auch, dass er seine Rechtsprechung zur „Nichtigkeit“ nationaler Akte auf schwerste Menschenrechtsverletzungen und den besonders problematischen Bereich nationaler Amnestien beschränkt.Footnote 114

Wenn auch Fragen offen bleiben, so wird aus dieser Rechtsprechung zumindest eines klar: Der IAGMR verlangt, dass konventionswidrige Gesetze nicht mehr zur Anwendung kommen, und richtet sich dabei explizit an die innerstaatliche Judikative. Bereits in La Cantuta deutet der Gerichtshof, unter Verweis auf die kurz zuvor ergangene Entscheidung in Almonacid-Arrellano,Footnote 115 an, dass er innerstaatliche Gerichte für unter der AMRK verpflichtet hält, eine Konventionalitätskontrolle durchzuführen – auch wenn er diese in diesem Fall noch „consistency control“ nennt.Footnote 116 Damit war der Grundstein für die für das interamerikanische System charakteristische Doktrin der Konventionalitätskontrolle gelegt, die nun im folgenden Abschnitt dargestellt werden soll.

b) Rechtsfolgen bei konventionswidrigen Akten: ex officio Konventionalitätskontrolle

Im eben erwähnten Fall Almonacid-Arrellano, in dem es dieses Mal um die chilenische Amnestiegesetzgebung ging, sprach sich der Gerichtshof zum ersten Mal über die Pflicht innerstaatlicher Gerichte, eine Konventionalitätskontrolle („control de convencionalidad“) durchzuführen, aus. Dies war die Geburtsstunde einer inzwischen ausgefeilten und für das interamerikanische System charakteristischen Doktrin.Footnote 117

Gegenstand der Kontroverse bildete in diesem Fall eine Beschwerde, die sich gegen das 1978 während der Militärdiktatur erlassene chilenische Gesetzesdekret Nr. 2191 richtete, welches weitgehende Amnestien enthielt und die Aufarbeitung und Verfolgung der außergesetzlichen Tötung des Betroffenen nach dem Militärcoup von 1973 verunmöglichte.Footnote 118 Es stellte sich die Frage, ob Chile gegen seine Pflichten unter der AMRK verstoßen hatte, indem das Gesetz auch nach Beitritt zur AMRK 1990 noch zur Anwendung gekommen war. Der Gerichtshof bejahte dies unter Verweis auf seine Leitentscheidung in Barrios Altos. Er unterstrich, dass es sich bei der gegen das Opfer verübten Tat um Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelte, weshalb der Einwand von Strafbeschränkungen unzulässig sei.Footnote 119

Die Schlüsse, die der Gerichtshof daraus zog, waren aber etwas anders als bislang. So befand der IAGMR, dass die Legislative verpflichtet gewesen wäre, nach Beitritt zur AMRK die Gesetzgebung zu ändern. Komme diese ihrer Pflicht aber nicht nach, dann falle es der Judikative zu, dafür zu sorgen, dass Gesetze, die aufgrund der Rechtsprechung des IAGMR als konventionswidrig gelten müssen, ihre Wirkungen nicht mehr entfalten können, indem sie diesen die Anwendung versagen.Footnote 120 Er folgerte:

„[…] the Judiciary must exercise a sort of ‚conventionality control‘ between the domestic legal provisions which are applied to specific cases and the American Convention on Human Rights. To perform this task, the Judiciary has to take into account not only the treaty, but also the interpretation thereof made by the Inter-American Court, which is the ultimate interpreter of the American Convention.“Footnote 121

Die Formulierung einer Pflicht der innerstaatlichen Gerichte zur Nichtbeachtung konventionswidriger Gesetze verdeutlicht zum einen, dass der IAGMR die Berücksichtigung seiner Standards aktiv einfordert. Zum anderen kann die Entscheidung als Abwendung von der Idee der Gestaltungswirkung der eigenen Urteile gelesen werden. Sie verdeutlicht, dass sich der IAGMR bewusst ist, in welchem Maße er auf die Zusammenarbeit mit innerstaatlichen Akteuren angewiesen ist, um seinen Urteilen Wirksamkeit zu verleihen. Gleichzeitig hat der Gerichtshof damit die Idee des Staates als Adressat seiner Urteile endgültig überwunden und ist in einen direkten Dialog mit innerstaatlichen Stellen und insbesondere der Judikative getreten.Footnote 122

Der IAGMR hat die Pflicht zur Konventionalitätskontrolle in der Folge in einer Reihe von Entscheidungen bestätigt und in eine eigentliche Doktrin umgewandelt.Footnote 123 So fügte er in einer weiteren Entscheidung zwei Punkte hinzu: Innerstaatliche Gerichte müssten die Kontrolle ex officio, also von sich aus vornehmen; dabei verlangt er jedoch nicht, dass sie die bestehende Kompetenzordnung verletzen.Footnote 124 Inzwischen ist die Konventionalitätskontrolle längst eine generelle, vom ursprünglichen Kontext der Amnestiegesetze losgelöste Pflicht.Footnote 125 Beachten müssen innerstaatliche Gerichte demnach nicht nur die AMRK in ihrer Auslegung durch den Gerichtshof, sondern den gesamten interamerikanischen corpus iuris oder „block of conventionality“,Footnote 126 d. h. auch andere interamerikanische Instrumente, die in den Zuständigkeitsbereich des IAGMR fallen und von den jeweiligen Staaten ratifiziert wurden.Footnote 127

Im Laufe der Zeit hat der Gerichtshof die Pflicht, eine Kontrolle der Konformität des innerstaatlichen Rechts mit dem interamerikanischen coprus iuris vorzunehmen, auf weitere innerstaatliche Behörden ausgeweitet. Während in Almonacid-Arrellano noch von der „judiciary“ als Adressat der Pflicht die Rede war, weitete der Gerichtshof die Pflicht zur Konventionalitätskontrolle später auf sämtliche mit der Rechtspflege befassten OrganeFootnote 128 und schließlich auf sämtliche öffentliche Behörden aus.Footnote 129 Ausgerechnet der frühere Richter García Ramírez, der als Begründer der Doktrin gilt, kritisierte diese Ausweitung in der Folge als impraktikabel.Footnote 130 Primärer Adressat der Pflicht ist aber nach wie vor die Judikative.Footnote 131

Der IAGMR stützt sich zur Begründung der Doktrin insbesondere auf die allgemeine Pflicht von Art. 2 AMRK, die Rechtsordnung an die AMRK anzupassen, sowie auf die Prinzipien des Guten Glaubens und pacta sunt servanda.Footnote 132 Deutlich formulierte er dies in Heliodoro Portugal, wo er unter Verweis auf Art. 2 AMRK festhielt, dass „a State that has concluded an international agreement, must introduce the necessary modifications in its domestic law to ensure compliance with its undertakings.“Footnote 133 Er unterstrich diese Pflicht unter Berufung auf das Prinzip des effet utile. Daraus folge nicht nur, dass der Staat Gesetze erlassen müsse, um die Ausübung der Konventionsrechte sicherzustellen, sondern eben auch, dass konventionswidrige Gesetze aufgehoben werden müssten. Dabei falle es jedem Richter zu, für die effektive Geltung der Konventionsgarantien zu sorgen.Footnote 134

Hinter der Doktrin steht letztlich das Subsidiaritätsprinzip und die Idee, dass innerstaatliche Gerichte ihre Rolle im Konventionssystem effektiv ausüben müssen, indem sie im ersten Zugriff ihre Rechtsordnung bereinigen.Footnote 135 In den Worten von Richter Ferrer Mac-Gregor macht das Instrument nationale Richter zu interamerikanischen Richtern, „the first and true guardian of the American Convention“.Footnote 136 Damit gemeint ist aber nicht, dass nationalen Richtern eine Teilhabe an der Anwendung und Fortentwicklung der Konvention zukommt. Vielmehr reduziert diese Sichtweise innerstaatliche Gerichte zu „Erfüllungsgehilfen“. Der IAGMR vertritt damit eine weitaus engere Sichtweise der res interpretata als der EGMR.Footnote 137 So stellte sich Richter García Ramírez, noch bevor sich der Gerichtshof dazu geäußert hatte, auf den Standpunkt, dass die AMRK, einmal vom IAGMR interpretiert, in der Folge in dieser Form von den innerstaatlichen Gerichten und Behörden anzuwenden sei. Er verteidigte damit vor dem Hintergrund der beschränkten Mittel des Gerichtshofs, der nicht sämtliche Fälle entscheiden könne, quasi eine echte Erga-omnes-Wirkung der Rechtsprechung des IAGMR und delegierte die primäre Verantwortung für die Wahrung der interamerikanischen Standards an die nationale Ebene.Footnote 138 Der Gerichtshof selbst hob den so verstandenen Zusammenhang zwischen der Konventionalitätskontrolle und dem Subsidiaritätsprinzip später explizit hervor.Footnote 139

Doch die Konventionalitätskontrolle dient nicht nur dazu, der Konvention in der Auslegung durch den Gerichtshof größtmögliche Wirksamkeit zu verleihen, sondern ist auch ein Instrument dafür, ganz gezielt einzelne Entscheidungen des IAGMR durchzusetzen und damit der Befolgungspflicht nach Art. 68 AMRK nachzukommen.Footnote 140 In dieser Rolle sind Gerichte zur strikten Befolgung des vom IAGMR Angeordneten verpflichtet, was bedeutet, dass ihnen diesbezüglich kein Spielraum zukommt.Footnote 141

c) Probleme der direkten Organbindung

Auch wenn sich die direkte Adressierung insbesondere der Judikative gerade im Bereich der problematischen Amnestiegesetze als hilfreiches Mittel erwiesen hat, um den Erkenntnissen des IAGMR zum Durchbruch zu verhelfen, stellt der IAGMR innerstaatliche Gerichte dadurch vor erhebliche Probleme, die sich durch das direkte „Aufeinanderprallen“ von internationaler und nationaler Rechtsordnung ergeben können. Denn dem Gerichtshof steht ein ganzes „Mosaik“ verschiedener Verfassungsordnungen gegenüber.Footnote 142 Dadurch können sich Umsetzungsschwierigkeiten auf der nationalen Ebene ergeben, was als „Achillesferse“ der Doktrin bezeichnet wurde.Footnote 143

Der IAGMR erkennt dies auch an, wie zum Ausdruck kommt, wenn er in Almonacid-Arrellano davon spricht, er sei sich bewusst „that domestic judges and courts are bound to respect the rule of law, and therefore, they are bound to apply the provisions in force within the legal system.“Footnote 144 Er betont, dass innerstaatliche Gerichte lediglich im Rahmen ihrer Kompetenzen zu handeln hätten,Footnote 145 und dass er den Staaten ferner kein bestimmtes Verfassungsmodell auferlegen wolle.Footnote 146 Bis zu einem gewissen Grad ist dies aber unvermeidbar, wenn die „black box“ wirklich aufgebrochen wird. Denn indem der IAGMR verlangt, dass sämtliche Gerichte konventionswidrige Gesetze nicht mehr anwenden, ignoriert er, dass die verlangte Kontrolle nicht in allen Staaten in gleicher Weise vorgenommen werden kann. Denn zum einen verlangt dies, dass es Gerichten möglich sein muss, der Konvention Vorrang vor innerstaatlichem Recht zu geben.Footnote 147 Zum anderen begünstigt der IAGMR dadurch letztlich ein diffuses Modell der Normenkontrolle. So verweist wiederum der frühere Gerichtspräsident und „Vater“ der Doktrin auf Umsetzungsschwierigkeiten insbesondere in Staaten, die über ein zentrales Modell der Verfassungskontrolle verfügen.Footnote 148

Ferrer MacGregor begegnet diesen Bedenken in seinem Sondervotum in der Entscheidung Montiel Flores, indem er betont, dass die Kontrolle in denjenigen Staaten intensiver ausfallen könne, in denen Gerichte Bestimmungen für ungültig erklären könnten.Footnote 149 Dies sei aber nicht als Beschränkung des Erfordernisses eine Kontrolle durchzuführen zu verstehen, sondern vielmehr „as a way to ‚calibrate‘ its intensity“.Footnote 150 So könnten in Staaten, die ein diffuses Modell der Verfassungskontrolle kennen, alle Gerichte auch eine Konventionalitätskontrolle von großer Intensität durchführen. In Staaten, in denen nur das Verfassungsgericht Gesetze für nicht anwendbar bzw. ungültig erklären kann, sei die Kontrolle für alle anderen Gerichte von geringerer Intensität. Untere Gerichte seien dann gehalten, eine konventionskonforme Interpretation anzustreben und allenfalls das zuständige Gericht mit der Frage zu befassen.Footnote 151 Nicht in Frage komme demgegenüber, dass gar kein innerstaatliches Gericht die Möglichkeit habe, eine Kontrolle in der Form vorzunehmen, dass dem betreffenden Gesetz allenfalls die Anwendung versagt werden kann.Footnote 152

Durch diese streng monistische Sichtweise greift der IAGMR tief in die Verfassungsordnungen ein und rückt in die Nähe des in der Europäischen Union geltenden Modells.Footnote 153 Erleichtert und gar begünstigt wird die Durchführbarkeit der Konventionalitätskontrolle durch den vorherrschenden Monismus in Lateinamerika und die Tatsache, dass viele Staaten die AMRK hochrangig, oft gar im Verfassungsrang, im innerstaatlichen Recht inkorporiert haben.Footnote 154 Auch wenn der IAGMR innerstaatliche Akte nach wie vor nicht selbst angreifen kann, nähert er sich einem Durchgriff auf die innerstaatliche Ebene stark an. Er wurde dafür als „supranationales Kassationsgericht“Footnote 155 oder „Verfassungsgericht“ bezeichnet.Footnote 156 Die Doktrin der Konventionalitätskontrolle wird als wichtiger Beitrag zur Fortentwicklung eines ius constitutionale commune im Bereich der Menschenrechte in Lateinamerika begrüßt.Footnote 157 Allerdings erfährt die „bevormundende“ Haltung des IAGMR auch zunehmend Kritik. So wird darauf hingewiesen, dass angesichts der Entwicklungen der letzten Jahre und der Tatsache, dass sich der Gerichtshof inzwischen einer Reihe starker und gut etablierter Höchstgerichte gegenüber sieht, das allzu hierarchische Verständnis heute nicht mehr angebracht sei und dieser stärker auf innerstaatliche Gerichte als Partner setzten sollte.Footnote 158 Es könne seiner Legitimität nur zuträglich sein, das Subsidiaritätsprinzip und den vielgepriesenen gerichtlichen Dialog ernst zu nehmen und auf legitim vorgebrachte Kritik innerstaatlicher Gerichte stärker einzugehen.Footnote 159

Zwar betont auch der IAGMR in seiner jüngeren Rechtsprechung, dass die Konventionalitätskontrolle ein „joint dynamic and complementary“ Unterfangen zwischen innerstaatlichen und interamerikanischen Organen sei, deren Ziel es sei „to develop and harmonize decision-making criteria“. Er verweist dabei auch auf verschiedene innerstaatliche Entscheidungen, um zu untermalen, dass er diese zur Kenntnis nimmt.Footnote 160 In der Literatur wird allerdings kritisiert, dass es sich dabei lediglich um ein Lippenbekenntnis handle und der Gerichtshof in der Praxis innerstaatlichen Gerichten kaum Spielraum einräume. Dies gelte auch für die Konstellation mehrpoliger Grundrechtsverhältnisse, in welcher der EGMR aufgrund der besonderen Konstellation zuweilen lediglich prüft, ob Gerichte eine ausreichende Kontrolle vorgenommen haben und die Abwägung nicht im Einzelnen nachprüft.Footnote 161 Ferner zitiere er jeweils nur nationale Präjudizien, die seine Rechtsprechung getreu befolgten. Für einen echten Dialog im Sinne eines „reciprocal intellectual give and take“ müsse der Gerichtshof demgegenüber stärker auch auf kritische Stimmen unter den nationalen Gerichten eingehen.Footnote 162 Davon hänge längerfristig seine Akzeptanz ab, auf die er letztlich angewiesen ist.Footnote 163

Erste Indizien, dass der Dialog künftig stärker wechselwirkend sein könnte und dass der IAGMR einigen Gerichten mehr Vertrauen entgegenbringt, finden sich in einzelnen Entscheidungen und abweichenden Meinungen.Footnote 164 So ließ der IAGMR eine kolumbianische Entscheidung stehen, obwohl diese vom IAGMR abweichende Kriterien verwendet hatte. Der IAGMR machte klar, dass er nur einschreite, wenn die innerstaatliche Entschädigungsentscheidung den Kriterien der „objectivity, reasonableness and effectiveness“ nicht genüge.Footnote 165 García-Sayan verwies in seinem Sondervotum explizit auf das Subsidiaritätsprinzip.Footnote 166 Ferrer Mac-Gregor, inzwischen Präsident des Gerichtshofs, wies in seiner abweichenden Meinung in Gelman darauf hin, dass das Konventionssystem ein „integriertes System“ sei, das nicht nur aus den interamerikanischen, sondern „especially and concomitantly, all the domestic authorities of the States Parties to the Pact of San José“ bestehe, die eine aktive Rolle spielen sollten.Footnote 167 An anderer Stelle äußert er den Wunsch, dass sich der gerichtliche Dialog in Zukunft durch das Instrument der Konventionalitätskontrolle vereinfachen und intensivieren möge.Footnote 168