Die EMRK verpflichtet ihre Mitgliedstaaten „in allen Rechtssachen, in denen sie Partei sind, das endgültige Urteil des Gerichtshofs zu befolgen“ („s’engagent à se conformer“; „undertake to abide“) (Art. 46 Abs. 1 EMRK). Zuständig für die Überwachung der Durchführung der Urteile ist nach Art. 46 Abs. 2 EMRK das Ministerkomitee. Über die Art, wie die Entscheidungen innerstaatlich umgesetzt werden sollen sowie die Wirkungen der Entscheidungen des Gerichtshofs im weiteren Sinne enthält die EMRK lediglich fragmentarische Aussagen. Allerdings hat der EGMR die Urteilswirkungen in seiner Praxis konkretisiert und weiterentwickelt. Während die Entscheidungen nach Art. 46 Abs. 1 EMRK lediglich im entschiedenen Einzelfall Bindungswirkung entfalten, ist inzwischen unbestritten, dass auch der Rechtsprechung im weiteren Sinne rechtliche Bedeutung zukommt (1.). Auch die aus den Entscheidungen im Einzelnen fließenden Pflichten hat der EGMR wesentlich konkretisiert und dabei – nicht unbestrittenermaßen, wie zu zeigen sein wird – vom rein deklaratorischen Modell weggeführt (2.).

1. Reichweite der Urteilswirkungen

1.1 Ausgangspunkt: res iudicata inter partes (Art. 46 Abs. 1 EMRK)

Nach Art. 46 Abs. 1 EMRK sind die Entscheidungen des EGMR für die am Verfahren beteiligten Parteien verbindlich (materielle Rechtskraft).Footnote 1 Dabei bezieht sich die Bindungswirkung im engeren Sinne lediglich auf den Urteilstenor.Footnote 2 Da sich alleine daraus allerdings nicht ergibt, worin das konventionswidrige Verhalten besteht, herrscht Einigkeit darüber, dass der Tenor im Lichte der rationes decidendi zu lesen ist.Footnote 3

Ein zentraler Unterschied zum interamerikanischen System besteht darin, dass im europäischen System eine interne Berufungsmöglichkeit besteht: In formelle Rechtskraft erwachsen Kammerentscheidungen erst, wenn keine der Parteien innerhalb einer bestimmten Frist eine Verweisung an die Große Kammer beantragt (Art. 44 Abs. 2 EMRK).Footnote 4

1.2. Wirkung über den Einzelfall hinaus („unechte“ Erga-omnes-Wirkung)

Die Rechtskraft der EGMR-Entscheidungen gilt nach dem Wortlaut der Konvention lediglich für die Parteien im entschiedenen Einzelfall (res iudicata inter partes).Footnote 5 Diese Regelung steht im Kontrast zu Bestimmungen wie § 31 Abs. 1 des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes, der eine Bindungswirkung sämtlicher deutscher Gerichte an den Tenor und die tragenden Gründe der Urteile des Bundesverfassungsgerichts statuiert.Footnote 6 Trotzdem wird der Rechtsprechung des EGMR auch über den entschiedenen Einzelfall hinaus Bedeutung zuerkannt. Der Gerichtshof machte schon früh deutlich, dass er seine Rolle nicht auf die Beurteilung von Einzelfällen beschränkt sieht.Footnote 7 Dies wird bereits daran deutlich, dass er sich, obwohl nicht formell dazu verpflichtet, grundsätzlich an seine eigene Rechtsprechung hält. Der EGMR betont, dass „while the Court is not formally bound to follow any of its previous judgments, it is in the interests of legal certainty, foreseeability and equality before the law that it should not depart, without cogent reason, from precedents laid down in previous cases.“Footnote 8

Von den Mitgliedstaaten und insbesondere innerstaatlichen Gerichten verlangt der EGMR, dass diese seine evolutive Auslegung der Konvention nachvollziehen.Footnote 9 Tun sie dies nicht, kann dies insofern zu einer „Sanktionierung“ führen, als dass der EGMR eine Konventionsverletzung feststellen kann.Footnote 10 In jüngerer Zeit wird deshalb vermehrt davon gesprochen, dass die Mitgliedstaaten zumindest die Pflicht träfe, die weitere Rechtsprechung des EGMR bzw. der verallgemeinerungsfähigen Teile der Urteile zu berücksichtigen.Footnote 11 Gerade wegen des dynamischen Charakters der Konventionsauslegung besteht indes keine Garantie, dass die Berücksichtigung des Entwicklungsstandes der EMRK vor einer „Verurteilung“ bewahrt.

Als Rechtfertigung für die Berücksichtigungspflicht der EGMR-Rechtsprechung wird vorgebracht, dass „erst die Judikatur […] den Text der Konvention mit Leben“ erfüllt.Footnote 12 Der Inhalt der offenen Konventionsrechte ergibt sich gleichsam erst „aus der Zusammenschau der Konvention und der dazu ergangenen Rechtsprechung“.Footnote 13 Polakiewicz spricht diesbezüglich von der „abstrakten Klärungsfunktion“ des EGMR.Footnote 14 Anders als die Befolgungspflicht im entschiedenen Einzelfall fließt die Berücksichtigungspflicht allerdings nicht aus der Bindungswirkung der Urteile des EGMR und somit nicht aus Art. 46 EMRK, sondern letztlich aus den in Rede stehenden Konventionsgarantien selbst. Die Rechtsprechung „partizipiert an der Verbindlichkeit der interpretierten Norm“.Footnote 15 Dies kommt darin zum Ausdruck, dass von res interpretata statt von res iudicata gesprochen wird.Footnote 16 Für die Parteien geht es nicht um die eigentliche Lösung von Einzelfällen und deren Umsetzung, sondern vielmehr um die Ermittlung der Konventionsgehalte. Die EMRK und die dazu ergangene Rechtsprechung werden in diesem Sinne manchmal auch als ein zusammenhängender „corpus iuris“ bezeichnet.Footnote 17

Diese Autorität des Gerichtshofs ergibt sich aus dessen besonderer Stellung als mit der Letztentscheidungsbefugnis zur Auslegung der Konvention ausgestattetes Organ. Sie gründet somit auf der Kompetenz zur Überwachung der Einhaltung der Konvention (Art. 19 EMRK), dem Letztentscheidungsrecht des EGMR in Konventionsfragen (Art. 32 EMRK) sowie der generellen Pflicht der Konventionsstaaten, die Konventionsrechte auf der innerstaatlichen Ebene zu gewährleisten (Art. 1 EMRK).Footnote 18 Es handelt sich also nicht um eine „echte“ Erga-omnes-Wirkung und damit eine Ausdehnung der Bindungswirkung, sondern vielmehr um eine Bindung an die „inhaltlich fortgebildete Konvention“.Footnote 19 Trotzdem ist die Berücksichtigungspflicht nach der hier vertretenen Ansicht de lege lata eine rechtliche – und nicht lediglich moralische,Footnote 20 faktischeFootnote 21 oder auf der Überzeugungskraft der EGMR-Urteile beruhende – Pflicht.Footnote 22 Wie zu zeigen sein wird, wenden zahlreiche Gerichte die Konvention in der Auslegung durch den EGMR an,Footnote 23 jedoch durchaus nicht immer schlicht aus Rechtsüberzeugung – im Vordergrund steht oft die Bestrebung, eine Verurteilung durch den EGMR abzuwenden.Footnote 24

1.3. Der gerichtliche Dialog als „Recht zu widersprechen“

Die Berücksichtigungspflicht oder res interpretata unterscheidet sich aber nicht nur hinsichtlich ihrer rechtlichen Grundlage, sondern auch qualitativ von der Befolgungspflicht entschiedener Urteile im Einzelfall. Denn aus der die gesamte Konvention durchziehenden Idee der Subsidiarität folgt, dass die primäre Verantwortung über die Konvention bei den innerstaatlichen Gerichten liegt. Sie sind die „principle guarantors of the Convention“, wie es im Erfordernis der Erschöpfung des innerstaatlichen Rechtsweges am deutlichsten zum Ausdruck kommt (Art. 35 Abs. 1 EMRK).Footnote 25 Die Zuständigkeit des EGMR folgt somit der Idee einer „supplementary subsidiarity“.Footnote 26 Im Rahmen der Reformbestrebungen der letzten Jahre vor dem Hintergrund der chronischen Überlastung des, aber auch der wachsenden Kritik am GerichtshofFootnote 27 rückte das Subsidiaritätsprinzip noch stärker in den Vordergrund.Footnote 28 Es wurde hervorgehoben, dass der Menschenrechtsschutz in Europa eine gemeinsame Aufgabe von EGMR und innerstaatlichen Gerichten sei („shared responsibility“),Footnote 29 was nicht zuletzt als Appell an die innerstaatliche Judikative zu verstehen ist. So wird betont, dass nationale Richter auch europäische Richter seienFootnote 30 und sogar die eigentlichen „guarantors of the respect and proper implementation“ der EMRK.Footnote 31 Auch die Group of Wise Persons hob in ihrem Bericht zu Reformen des EMRK-Systems 2006 die „überragende Wichtigkeit“ gerade oberster Gerichte im Konventionssystem hervor.Footnote 32

Aus dieser gemeinsamen Verantwortung für die Konvention folgt, dass innerstaatliche Gerichte auch aktiv an deren Weiterentwicklung beteiligt sein müssen.Footnote 33 In diesem Sinne erfolgt die Anwendung und damit immer auch Fortbildung der Konvention in einem „dialogischen Verfahren“ zwischen EGMR und innerstaatlichen Gerichten.Footnote 34 Das bedeutet, dass nationale Richter nach einer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des EGMR in gutem Glauben in eigenen Verfahren zu einem anderen Ergebnis kommen können müssen.Footnote 35 Wenn sie dies dem Straßburger Gericht in ihren Urteilen auf überzeugende Weise kommunizieren, kann es sein, dass sie diesen zum „Einschwenken“ bewegen. Insofern beinhaltet der gerichtliche Dialog bis zu einem gewissen Grad ein Recht zu widersprechen. Gerichtsurteile sind ein zentraler Schauplatz, an dem der so verstandene „Dialog der Gerichte“ stattfinden kann.Footnote 36 Dies kann als „communicative function of subsidiarity“ bezeichnet werden.Footnote 37 So gesehen ist der gerichtliche Dialog ein Instrument, das Responsivität und Legitimität erzeugen kann.Footnote 38 Die Kenntnis der Rechtsprechung des EGMR durch nationale Gerichte ist die Grundlage des gerichtlichen Dialogs.Footnote 39 Andererseits ist es für eine echte Teilhabe innerstaatlicher Gerichte an der Verantwortung im Konventionssystem unerlässlich, dass der EGMR innerstaatliche Gerichte auch tatsächlich hört. Wie wir sehen werden, legt die Praxis nahe, dass eine gewisse „cross-fertilization“ tatsächlich stattfindet. Darauf, aber auch auf die Grenzen des Dialogierens wird später zurückzukommen sein.Footnote 40

2. Die aus den EGMR-Urteilen fließenden Pflichten

2.1. Ausgangspunkt: der feststellende Charakter der EMGR-Urteile

Die EMRK äußert sich nur in aller Kürze zum Inhalt der Urteile des EGMR. So sieht die Konvention in Art. 41 vor, dass der Gerichtshof den Parteien unter Umständen eine „gerechte Entschädigung“ zusprechen kann.Footnote 41 Bei diesem Urteilsteil handelt es sich um ein Leistungsurteil im eigentlichen Sinne;Footnote 42 im Übrigen ergibt sich aus dieser Bestimmung, dass die Entscheidungen des EGMR im Wesentlichen Feststellungscharakter haben („stellt der Gerichtshof fest“).Footnote 43 Anders als die AMRK ordnet die EMRK nicht die innerstaatliche Vollstreckbarkeit bestimmter Urteilsteile an; auch enthält sie keine Bestimmung, welche dem EGMR die Kompetenz zur Anordnung bestimmter Maßnahmen in seinen Urteilen zuspricht und bleibt damit auch in diesem Punkt hinter dem interamerikanischen Modell zurück.Footnote 44

Diese Regelung widerspiegelt die starke Orientierung der EMRK am völkerrechtlichen Modell.Footnote 45 Die Konsequenz ist nicht nur, dass dem EGMR – aus heutiger Perspektive selbstverständlich, bei den Vertragsverhandlungen aber ein durchaus diskutierter PunktFootnote 46 – die Kompetenz fehlt, innerstaatliche Akte zu kassieren oder aufzuheben, sondern vielmehr, dass überhaupt die Art, wie einem EGMR-Urteil Folge gegeben wird, grundsätzlich den Mitgliedstaaten überlassen bleibt. Die Konvention konzipiert die Frage der Urteilswirkungen damit als eine Frage des nationalen Rechs; sie geht von einer „bewussten Zweiaktigkeit“ und der strikten Trennung zwischen völkerrechtlicher und innerstaatlicher Rechtssphäre aus.Footnote 47 Diese Trennung schlägt sich auch in der – ursprünglich strikten – Aufgabenverteilung zwischen dem EGMR und dem für die Überwachung der Urteilsumsetzung zuständigen Ministerkomitee – einem politischen Gremium – nieder.Footnote 48 Sie verdeutlicht, dass die Urteilsumsetzung als innerstaatliche und zudem politische Angelegenheit betrachtet wurde.Footnote 49 Insgesamt zeugt diese Regelung von einer großen Rücksichtnahme auf die nationalen Rechtsordnungen, was zusätzlich noch darin zum Ausdruck kommt, dass die EMRK es mit ihrer Schadenersatzregelung nach Art. 41 im Einzelfall erlaubt, das nationale Recht intakt zu lassen und stattdessen eine finanzielle Entschädigung zu tätigen.Footnote 50 Hinter dieser souveränitätsfreundlichen Regelung steht das Subsidiaritätsprinzip und damit der Respekt der Diversität der Rechtsordnungen im europäischen System.Footnote 51 Nicht zuletzt soll damit aber auch praktischen Schwierigkeiten vorgebeugt werden, die durch einheitliche Anordnungen „von oben“ entstehen könnten.Footnote 52

Obwohl die fehlende explizite Ermächtigung nicht zwangsläufig bedeutet, dass der EGMR nicht doch gewisse Anordnungen treffen könnte,Footnote 53 hat der Gerichtshof seine Kompetenzen lange sehr eng ausgelegt. Trotz der vielbeschriebenen Transformation der EMRK in ein „constitutional instrument of public order“Footnote 54 und des Vergleichs des EGMR mit einem VerfassungsgerichtFootnote 55 war die Rechtsprechung des Straßburger Gerichtshofs betreffend die Wirkungen seiner Urteile lange durch eine „Politik extremer Zurückhaltung“ geprägt.Footnote 56 Da er sich auf seine Gegenüber – Rechtsstaaten mit etablierten Grundrechtstraditionen – verlassen konnte, hat sich der EGMR lange damit begnügt Konventionsverstöße festzustellen und alles Weitere den Staaten zu überlassen. In seinen Urteilen betonte er stets die staatliche Freiheit in der Wahl der Umsetzungsmittel.Footnote 57 Ferner beließ der Gerichtshof es dabei, finanzielle Entschädigung anzuordnen und äußerte sich kaum zu alternativen Formen der Wiedergutmachung von Konventionsverletzungen.Footnote 58 Diese große Zurückhaltung gab der EGMR erst auf, als sich die Überlastungskrise abzuzeichnen begann, wie sogleich eingehender zu erläutern sein wird.

Allerdings sind auch die Feststellungsurteile durchaus so zu verstehen, dass die Staaten in Erfüllung der Urteile aktiv werden müssen.Footnote 59 Sie müssen sich nach den Urteilen „richten“, was sich aus der französischen und der englischen Sprachfassung deutlicher ergibt als aus der deutschen.Footnote 60 Ausgangspunkt für die Konkretisierung der sich aus den Konventionsverstößen ergebenden Pflichten bilden die allgemeinen Grundsätze über die Staatenverantwortlichkeit,Footnote 61 die mangels einer Regelung in der Konvention selbst zur Anwendung kommen.Footnote 62 Aus einer Konventionsverletzung folgen demnach dreierlei Pflichten: Der betreffende Staat hat noch andauernde Konventionsverstöße zu beenden (cessation, Art. 30 lit. a der Artikel über die Staatenverantwortlichkeit, i. F. ARSIWA), Zusicherung zu tätigen, den Verstoß nicht zu wiederholen (guarantees of non-repetition, Art. 30 lit. b ARSIWA), sowie Wiedergutmachung zu leisten (reparation, Art. 31 ARSIWA). Letztere kann in der Wiederherstellung des ursprünglichen Zustandes (restitutio in integrum), der Zahlung einer Entschädigung (compensation) sowie der Leistung von Genugtuung (satisfaction) bestehen (Art. 35–37 ARSIWA).Footnote 63

Während der EGMR dabei wie bereits erwähnt anfänglich sehr zurückhaltend und auf die Zahlung monetärer Entschädigung fokussiert war, entwickelte sich die Rechtsprechung im Laufe der Zeit stärker in Richtung eines auf restitutio in integrum ausgerichteten Wiedergutmachungsmodells. Diese Entwicklung setzte bereits Mitte der 90er-Jahre ein. Ein wichtiger Schritt weg vom Prinzip der rein pekuniären Entschädigung fand in der Entscheidung Papamichalopoulos statt.Footnote 64 Darin formulierte der Gerichtshof, die Feststellung einer Konventionsverletzung „imposes on the respondent State a legal obligation to put an end to the breach and make reparation for its consequences in such a way as to restore as far as possible the situation existing before the breach. […] If the nature of the breach allows of restitutio in integrum, it is for the respondent State to effect it […].“Footnote 65 Den entscheidenden Schritt weg von der auf finanzielle Entschädigung gerichteten Wiedergutmachung tätigte der EGMR in Scozzari, wo er statuierte, dass

„[…] a judgment in which the Court finds a breach imposes on the respondent State a legal obligation not just to pay those concerned the sums awarded by way of just satisfaction, but also to choose, subject to supervision by the Committee of Ministers, the general and/or, if appropriate, individual measures to be adopted in their domestic legal order to put an end to the violation found by the Court and to redress so far as possible the effects […].“Footnote 66

Diese Formel ist bis heute die Standardformulierung geblieben.Footnote 67 Inzwischen dürfte sich die Präferenz des EGMR gar zugunsten einer auf Wiederherstellung der Situation vor der Verletzung gerichteten Wiedergutmachung verschoben haben.Footnote 68

2.2. Eine beschränkte Wiedergutmachungspflicht (Art. 41 EMRK)

Der Wiedergutmachungspflicht sind jedoch durch die EMRK explizite Grenzen gesetzt: Aus Art. 41, wonach der EGMR der verletzten Partei eine gerechte Entschädigung zubilligen kann, wenn das innerstaatliche Recht lediglich eine unvollkommene Wiedergutmachung für die Folgen einer Konventionsverletzung erlaubt, ergibt sich, dass die EMRK grundsätzlich innerstaatlich geltende Rechtsakte respektiertFootnote 69 und insbesondere auf den „hohen Rang“, der dem Institut der Rechtskraft in manchen Staaten zuteil kommt, Rücksicht nimmt.Footnote 70 Somit liegt es bei in der Vergangenheit liegenden Konventionsverletzungen in der Hand der Mitgliedstaaten, ob restitutio in integrum möglich ist oder stattdessen eine Entschädigung zu entrichten ist. Die EMRK erlaubt also insbesondere, rechtskräftige Urteile nationaler Gerichte aufrecht zu erhalten und den Verstoß durch Geld zu kompensieren.Footnote 71 Daraus wurde auch geschlossen, dass die EMRK-Staaten nicht verpflichtet sind, Wiederaufnahmegründe für bereits abgeschlossene Gerichts- oder Verwaltungsverfahren zu schaffen.Footnote 72 Der EGMR selbst merkt zuweilen in solchen Fällen an, dass die angemessenste Form der Wiedergutmachung „im Prinzip“ in der Wiederaufnahme des Verfahrens läge.Footnote 73

In der Literatur wird vertreten, dass diese Situation unbefriedigend sei.Footnote 74 Insbesondere bei Verletzungen von Verfahrensrechten spricht der EGMR grundsätzlich keine Entschädigung zu, weil in diesen Fällen mangels Kausalzusammenhangs nicht ermittelt werden kann, ob das Ergebnis auch im Falle einer Wahrung der Garantien zu einer Konventionsverletzung geführt hätte.Footnote 75 Das Ministerkomitee hat angesichts dieses Missstandes im Jahr 2000 die Mitgliedstaaten in einer Empfehlung dazu aufgefordert, insbesondere für die Situation andauernder schwerer Folgen der Konventionsverletzung Wiederaufnahmemöglichkeiten zu schaffen.Footnote 76 Von einer echten Rechtspflicht wird indes noch immer nicht ausgegangen.Footnote 77 Es erstaunt aber nicht, dass viele Staaten in Europa inzwischen Wiederaufnahmemöglichkeiten vor allem im besonders sensiblen Bereich des Strafrechts geschaffen haben.Footnote 78

2.3. Die Anordnung konkreter Maßnahmen: breaking the box?

Während die EMRK also die Verbindlichkeit der Sachurteile des EGMR im entschiedenen Einzelfall statuiert, äußerst sie sich nicht dazu, welche Verpflichtungen für die Mitgliedstaaten daraus im Einzelnen folgen. In Einklang mit der Freiheit bei der Wahl der Mittel zur Umsetzung der EGMR-Urteile unterließ es der EGMR also während langer Zeit, die generellen Pflichten, die aus einem Konventionsverstoß folgen, zu konkretisieren und legte diesbezüglich große Zurückhaltung an den Tag. Denn die Urteilsumsetzung galt zum einen als Angelegenheit der Mitgliedstaaten und zum anderen als eine politische Frage, die in den Zuständigkeitsbereich des Ministerkomitees fällt.Footnote 79

Dies änderte sich erst, als im Zuge der institutionellen Reform von 1998,Footnote 80 die zur Einsetzung eines ständigen Gerichtshofs führte, sowie der Erweiterung der EMRK nach Zentral- und Osteuropa die Arbeitsbelastung des Gerichtshofs massiv stieg. Der Grund war nicht nur, dass nun deutlich mehr Individuen Zugang zum EGMR hatten, sondern auch, dass nun auch neuartige, oft schwere und systematische Konventionsverletzungen vor dem Straßburger Gericht landeten.Footnote 81 Bald stellte sich heraus, dass sog. „repetitive cases“, also Fälle, die aufgrund mangelhafter Behebung zugrunde liegender struktureller Probleme auf der nationalen Ebene erneut nach Straßburg gelangen, zu einer ernsthaften Bedrohung für das Funktionieren des Systems wurden. In der Folge begann der EGMR nach Techniken zu suchen, um den Herausforderungen beizukommen und die Schlagkraft seiner Entscheidungen zu erhöhen. Ein wichtiger Anstoß bildete die Einladung des Ministerkomitees an den Gerichtshof, ihm im Falle von Konventionsverletzungen systematischer Natur unter die Arme zu greifen, indem diese bereits im Urteil bezeichnet würden.Footnote 82 Dies war die Geburtsstunde der sogenannten Piloturteile.Footnote 83 In der Folge lockerte der Gerichtshof seine Rechtsprechung bezüglich der rein feststellenden Natur seiner Entscheidungen und begann, konkretere Pflichten zu formulieren, die aus Konventionsverletzungen fließen.Footnote 84

Schätzungen zufolge hat der EGMR bis zum Jahr 2014 bereits über 150 Urteile mit konkreteren Anforderungen gefällt.Footnote 85 Diese Rechtsprechung lässt sich in einen generellen Trend der Verrechtlichung und Internationalisierung des Prozesses der Urteilsumsetzung im europäischen Menschenrechtssystem einordnen.Footnote 86 Während sich der Gerichtshof dabei manchmal damit begnügt, in der Urteilsbegründung Hinweise zu geben, wie eine Konventionsverletzung am besten behoben werden könnte, ordnet er in anderen Fällen „Abhilfemaßnahmen“ („consequencial orders“) im Urteilstenor selbst an. Dabei ist die Unterscheidung zwischen reinen Empfehlungen und verbindlichen Anordnungen nicht immer eindeutig und erfordert eine systematische Auslegung des gesamten Urteils.Footnote 87 Allerdings ist der EGMR noch nicht dazu übergegangen, die Anordnung konkreter Maßnahmen zum Normalfall zu erklären; vielmehr verwendet er immer noch seine Standardformulierung und betont, dass Abhilfemaßnahmen nur in Ausnahmefällen vorgeschrieben werden können.Footnote 88

Diese forschere Herangehensweise wirft nicht nur die Frage nach den Grenzen der Kompetenzen des EGMR – horizontal gegenüber dem Ministerkomitee,Footnote 89 vertikal gegenüber den MitgliedstaatenFootnote 90 – auf. Vielmehr, und dies betrifft direkt die Fragestellung dieser Studie, stellt sich die Frage, ob diese neuere Rechtsprechung das Verhältnis des EGMR zu innerstaatlichen Gerichten grundlegend verändert. Aufgrund des lediglich feststellenden Charakters der EGMR-Urteile wurde herkömmlicherweise geschlossen, dass sich diese schon von ihrer Natur her nicht als innerstaatlich vollstreckbare Titel eignen.Footnote 91 Ändert sich daran etwas durch die Anordnung konkreter Maßnahmen? Darauf soll nun vertieft eingegangen werden. Dabei wird sich zeigen, dass sich der EGMR in seiner Rechtsprechung zuweilen an den „Einheitsstaat“ herantastet und es zaghafte Zeichen für eine Aufweichung der starren „Zweiaktigkeit“ gibt, diese jedoch nicht komplett überwunden wird. Trotzdem hat der EGMR durch diese Rechtsprechung sicherlich den Grundsteil für eine vereinfachte Durchsetzbarkeit seiner Entscheidungen vor innerstaatlichen Gerichten gelegt.

Die vom EGMR angeordneten Maßnahmen können zweierlei Gestalt annehmen: Sie sind entweder individueller oder genereller Natur. Die beiden Formen unterscheiden sich sowohl bezüglich ihrer rechtlichen Grundlage als auch in der Zielsetzung. Während individuelle Maßnahmen eine noch andauernde Konventionsverletzung beenden bzw. der restitutio in integrum in einem Einzelfall dienen sollen, sind generelle Maßnahmen zukunftsgerichtet.Footnote 92 Sie richten sich gegen strukturelle Probleme in der innerstaatlichen Rechtsordnung, deren Behebung die Wiederholung ähnlicher Konventionsverletzungen in der Zukunft verhindern soll. Generelle Maßnahmen weisen damit definitionsgemäß über den entschiedenen Einzelfall hinaus.Footnote 93 Darin kommt auch die Unterscheidung zwischen dem Schutz von Einzelinteressen im Konventionssystem („justice individuelle“) und dem Schutz darüber hinausgehender, genereller Interessen („justice quasi-constitutionelle“) zum Ausdruck.Footnote 94

a) Individuelle Maßnahmen

Den entscheidenden Schritt für die Begründung der Doktrin individueller Maßnahmen tätigte der EGMR im Fall Assanidze.Footnote 95 Darin ordnete er im Urteilstenor die sofortige Freilassung des Beschwerdeführers an.Footnote 96 Der Kontrast dieser Anordnung zu den Urteilen, in denen der EGMR lediglich einen Verstoß gegen die Konvention feststellte und alle weiteren Schlüsse den Staaten überließ, ist offensichtlich. Zwar betonte der Gerichtshof auch in dieser Entscheidung die grundsätzliche staatliche Freiheit in der Wahl der Mittel zur Umsetzung des Urteils, kam aber zum Schluss, dass im vorliegenden Fall die Konventionsverletzung keine wirkliche Wahl bezüglich der Mittel zu deren Behebung lasse.Footnote 97

Zur Anordnung konkreter Maßnahmen greift der EGMR häufig im Zusammenhang mit sog. „Dauerdelikten“,Footnote 98 d. h. mit dem Ziel, noch andauernde Konventionsverstöße zu beenden. Andere Konstellationen, in denen der Gerichtshof neben der Anordnung der Freilassung Gefangener zu diesem Mittel greift, betreffen etwa die Bedingungen Inhaftierter oder die Durchsetzung nationaler Gerichtsurteile.Footnote 99 Wie in Assanidze begründet der EGMR den Griff zur Technik der „Abhilfemaßnahmen“ regelmäßig damit, dass die Natur des in Rede stehenden Konventionsverstoßes lediglich eine Möglichkeit lasse, um diesen zu beenden („Ermessensreduktion auf Null“).Footnote 100 Damit scheint er zum Ausdruck zu bringen, nichts anderes zu tun, als ohnehin bereits feststehende Pflichten zu benennen. Aus EGMR-Sicht besteht somit keine Kompetenzausdehnung.Footnote 101 In der Literatur wird die Anordnung individueller Maßnahmen demgegenüber mit einer „Annexkompetenz“ (implied power) des EGMR begründet.Footnote 102 Cremer verweist ferner darauf, dass die EMRK-Staaten die verfahrensrechtsfortbildende Praxis des EGMR stillschweigend akzeptiert hätten.Footnote 103

Eine der heikelsten Konstellationen, wie auch die untersuchten Fälle illustrieren werden, ergibt sich, wenn der EGMR eine Maßnahme wie etwa die Freilassung eines inhaftierten Beschwerdeführers anordnet, der Ausführung auf der innerstaatlichen Ebene jedoch ein rechtskräftiges innerstaatliches Urteil entgegensteht.Footnote 104 Dauert ein Konventionsverstoß noch an, wie es gerade bei einem konventionswidrigen Freiheitsentzug der Fall ist, kann die Verletzung nicht durch eine finanzielle Entschädigung nach Art. 41 EMRK abgegolten werden, sondern den Staat trifft die Pflicht, den Verstoß zu beenden.Footnote 105 Nicht nur wäre die Zahlung einer Geldsumme in diesen Situationen unbillig,Footnote 106 sie wäre auch rechtlich unzulässig. Denn bei der Beendigungspflicht handelt es sich um eine von der Wiedergutmachungspflicht, wie sie Art. 41 EMRK im Blick hat, gesonderten Pflicht, der keine Hindernisse des nationalen Rechts entgegengehalten werden können.Footnote 107 Gerade in diesen Fällen stellt sich die Frage also besonders dringlich, ob innerstaatliche Behörden und Gerichte nicht gehalten sind, den Anordnungen des EGMR unmittelbar zu folgen – allenfalls auch entgegen innerstaatlich geltenden Rechts. Diese vermöchten dann auf den staatlichen Innenraum „durchzuschlagen“Footnote 108 und innerstaatliche Gerichte und Behörden direkt zu binden, wie es Polakiewicz schon früh vertreten hat.Footnote 109

Problematisch wäre dies in allen Fällen, in denen keine Revisionsgründe im nationalen Recht bestehen und sich die Urteile nicht durch eine völkerrechtskonforme Auslegung des innerstaatlichen Rechts vollziehen lassen. Dann kommt es zu einem echten Konflikt mit dem Prinzip der res iudicata.Footnote 110 So könnten sich innerstaatliche Gerichte und Behörden in der Situation sehen, sich in Widerspruch zu rechtskräftigen Urteilen setzen zu müssen und den „Gehorsam gegenüber innerstaatlichem (Gesetzes-)Recht“ zu verweigern.Footnote 111 Dogmatisch wäre dies grundsätzlich nur zu erreichen, indem die Konvention, ähnlich wie es für das Europarecht gilt, für innerstaatlich unmittelbar geltend erklärt und ihr darüber hinaus Vorrang vor innerstaatlichem Recht eingeräumt würde.Footnote 112

Dass dies nicht der geltenden Praxis des EGMR entspricht, dürfte vor dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen einigermaßen klar sein. Nicht zuletzt stünde diese Annahme in Widerspruch zur traditionell vom EGMR vertretenen Auffassung, wonach den Mitgliedstaaten auch bezüglich der Frage, wie sie den Konventionsgarantien innerstaatlich Wirksamkeit verleihen wollen, Freiheit zukommt. In einzelnen Beispielen scheint der EGMR zwar einen Konflikt mit innerstaatlichem Recht in Kauf zu nehmen: So hat er in der Entscheidung in der Sache Sejdovic zunächst im Urteilstenor faktisch die Wiederaufnahme des Verfahrens angeordnet, obwohl sich die innerstaatlichen Behörden dadurch in Widerspruch zur Rechtskraft hätten setzen müssen.Footnote 113 Die Große Kammer relativierte diese Entscheidung dann aber insofern, als dass sie nur noch eine Empfehlung in den Urteilsgründen formulierte.Footnote 114 In der Literatur wird denn auch geschlossen, dass der EGMR grundsätzlich Rücksicht auf die Rechtskraft nimmt und es sich bei solchen Fällen um „Ausreißer“ handelt.Footnote 115

Daraus ergibt sich, dass innerstaatliche Gerichte selbst bei einer andauernden Konventionsverletzung abgeschlossene Verfahren nur wiedereröffnen müssen, wenn diese Möglichkeit im nationalen Recht besteht. Der Consultative Council of European Judges (CCJE) ermutigte innerstaatliche Gerichte in seinem Gutachten aus dem Jahr 2006 dazu, „wherever possible, to use all resources available to them in interpreting the law or within existing procedural law […] to re-open cases if a breach of the convention occurred […].“Footnote 116 Besteht eine solche Möglichkeit nicht, gilt nach dem oben Gesagten, dass innerstaatliche Gerichte nicht verpflichtet sind, sich in Widerspruch zur innerstaatlichen Rechtskraft zu setzen. Dies gilt selbst dann, wenn der EGMR im Urteilstenor die Wiedereröffnung als individuelle Maßnahme anordnet, wie es wie gesehen in einzelnen Fällen vorgekommen ist. In solchen Fällen kommt eine Urteilsbefolgung durch die Exekutive in Frage, etwa in Form der Begnadigung.Footnote 117 So ist etwa die französische Regierung in der Folge des Urteils Mehemi contre France zur Umsetzung der Anordnungen aus Straßburg aktiv geworden.Footnote 118

Bei näherem Hinschauen und unter Berücksichtigung der gesamten Praxis ergibt sich also, dass der EGMR nicht „von Konventions wegen“ die unmittelbare Wirkung seiner individuellen Anordnungen und allenfalls gar die Missachtung von Rechtskaten durch innerstaatliche Stellen verlangt, sondern vielmehr – nach wie vor – um Rücksicht auf die innerstaatliche Rechtsordnung bemüht ist.Footnote 119 Auch in der Literatur ist die herrschende Ansicht nach wie vor, dass die EGMR-Urteile nicht „für den Rechtsanwender ‚gebrauchsfertig‘ aus- und vorgeformt“ sind und sich deren Wirkungen auf das völkerrechtliche Verhältnis beschränken.Footnote 120 Wie Cremer schreibt, würde „das interpretatorische Drehen an einer kleinen, aber wichtigen Schraube des Konventionssystems letztlich die ganze Mechanik der Verkoppelung von EMRK und nationalem Recht umbilden“.Footnote 121 Auch wenn dieser Schritt nicht ausgeschlossen ist, hat der EGMR ihn bislang nicht unternommen und es gibt gute Gründe, die dagegen sprechen, dass er dies in näherer Zukunft tun wird.

b) Generelle Maßnahmen

Neben individuellen kann der EGMR auch generelle Maßnahmen anordnen. Maßnahmen genereller Natur sind zunächst immer dann erforderlich, wenn ein Konventionsverstoß auf einem generell-abstraktem Gesetz beruht und damit sozusagen darin „programmiert“ ist.Footnote 122 Den betreffenden Staat trifft die Pflicht, die in Rede stehenden Gesetzesbestimmungen zu ändern, sofern diese nicht einer konventionskonformen Auslegung zugänglich sind.Footnote 123 Die bloße Nichtanwendung genügt in diesem Fall nicht.Footnote 124

Um der großen Zahl von Fällen beizukommen, in denen der Gerichtshof aufgrund struktureller Probleme mit gleichgelagerten Beschwerden konfrontiert ist („repetitive cases“), entwickelte er – auf Einladung des Ministerkomitees – seine Technik der Piloturteile, wie sie inzwischen in der Verfahrensordnung verankert ist (Art. 61).Footnote 125 Das Charakteristikum dieser Fälle ist, dass der EGMR das zugrunde liegende strukturelle Problem benennt und allenfalls im Urteilstenor Abhilfemaßnahmen anordnet. Die Behandlung gleichgelagerter Fälle wird suspendiert.Footnote 126

Die dahinterstehende Idee ist es, die Konventionsstaaten bei der Behebung dieser Probleme zu unterstützen.Footnote 127 Teilweise macht der Gerichtshof dabei detaillierteste Angaben darüber, was seiner Ansicht nach zur Behebung des Problems erforderlich ist. Auch wenn er dabei nicht explizit bestimmte staatliche Stellen anspricht, ergeben sich aus dem Gesamtzusammenhang zuweilen konkrete Pflichten für einzelne Teile des Staatsapparats. So beschreibt der EGMR etwa in Dimitrov und Hamanov gegen Bulgarien eingehend Kriterien einer wirksamen Beschwerde nach Art. 13 EMRK und richtet sich damit eindeutig an die Judikative. Mithilfe von Verweisen auf den Tenor partizipieren diese an der Verbindlichkeit des Urteils.Footnote 128 Dies kann als „assistance for national authorities doctrine“ bezeichnet werden.Footnote 129 Dass sich der EGMR in diesen Fällen „traut“, einzelne Staatsstellen herauszugreifen, dürfte mit dem „konsensualen Charakter“Footnote 130 des Piloturteilverfahrens zusammenhängen.

Auch über die Piloturteilstechnik hinaus ordnet der EGMR zuweilen generelle Maßnahmen an, wenn dem Konventionsverstoß ein strukturelles Problem in der Rechtsordnung zugrunde liegt („quasi-pilot judgments“ oder „Art. 46 judgments“).Footnote 131 Oft gründet der Verstoß in einem Gesetz. Der Unterschied zwischen den verschiedenen Maßnahmen ist auch hier nicht immer ganz klar.Footnote 132

Anders als konkrete Maßnahmen sind generelle Maßnahmen zukunftsgerichtet: Es geht darum, durch strukturelle Anpassungen gleichartige Verletzungen der Konvention in Zukunft zu verhindern (guarantees of non-repetition).Footnote 133 Die Wirkungen von Entscheidungen, die generelle Maßnahmen beinhalten, weisen somit definitionsgemäß über den entschiedenen Einzelfall hinaus. Dem Gerichtshof wird in diesem Zusammenhang eine quasi-verfassungsgerichtliche Funktion zugesprochen.Footnote 134 Ein weiterer zentraler Unterschied zu individuellen Maßnahmen ist, dass hier der Ermessenspielraum gerade nicht „auf Null“ reduziert ist, sondern zumeist verschiedene Möglichkeiten in Betracht kommen, um den Konventionsverstoß zu beheben. Entsprechend ordnet der EGMR in der Regel nicht an, worin genau die Maßnahmen zu bestehen haben oder nennt verschiedene Alternativen.Footnote 135

Aus der Pflicht, die Nichtwiederholung gleichartiger Verletzungen für die Zukunft zu sichern, ergibt sich, dass für konventionswidrig erklärte Gesetze nicht mehr zur Anwendung kommen dürfen. Auch hier wiederum stellt sich die Frage, ob innerstaatliche Gerichte direkt durch eine entsprechende Feststellung des EGMR gebunden sind. Die Gelegenheit, sich dazu zu äußern, hat sich dem EGMR zum ersten Mal in der Sache Vermeire geboten. Jahre vor dieser Entscheidung hatte der Gerichtshof in Marckx Bestimmungen des belgischen Erbrechts für konventionswidrig erklärt, weil diese uneheliche Kinder gegenüber ehelichen schlechterstellten. Darin erkannte er eine Verletzung von Art. 14 und 8 EMRK.Footnote 136 In der Folge strengte eine ebenfalls von diesem Gesetz Betroffene ein Verfahren vor belgischen Gerichten an, in dem sie sich auf die Entscheidung des EGMR berief. Das zuständige Gericht kam in letzter Instanz jedoch zum Schluss, dass es die Aufgabe des Gesetzgebers sei, die sich aus der EGMR-Entscheidung ergebenden Pflichten umzusetzen.Footnote 137

Der in der Folge erneut mit den Bestimmungen befasste EGMR bestätigte zwar die grundsätzliche Umsetzungsfreiheit mit Bezug auf seine Urteile, wie sie Belgien geltend gemacht hatte. Das Argument der Regierung aber, dass einzig der Gesetzgeber in der Lage sei, die Marckx-Entscheidung umzusetzen, ließ der EGMR nicht gelten. Die Freiheit in der Wahl der Mittel dürfe nicht dazu führen, dass die Anwendung der Konvention in der Zwischenzeit ausgesetzt werde.Footnote 138 Er fügte hinzu: „It cannot be seen what could have prevented the Brussels Court of Appeal and the Court of Cassation from complying with the findings of the Marckx judgment, as the Court of First Instance had done. There was nothing imprecise or incomplete about the rule which prohibited discrimination against Astrid Vermeire compared with her cousins Francine and Michel, on the grounds of the ‚illegitimate‘ nature of the kinship between her and the deceased.“Footnote 139 Damit machte er Belgien für seine Untätigkeit verantwortlich und machte, wenn auch auf etwas umständliche und verklausulierte Weise, deutlich, dass er von den belgischen Gerichten erwartet hätte, in Umsetzung seiner Urteile aktiv zu werden.

Die Vermeire-Entscheidung wurde in der Literatur als Van-Gend-en-Loos-Moment im EMRK-System bezeichnet;Footnote 140 der EGMR habe damit einen „autonomous direct effect“ seiner Urteile begründet.Footnote 141 Insbesondere wurde daraus abgeleitet, dass innerstaatliche Gerichte die Pflicht treffe, für konventionswidrig befundene Gesetze nicht mehr anzuwenden.Footnote 142 Damit würde zwar, wie erwähnt, der Konventionsverstoß nicht behoben, aber dazu beigetragen, dass es nicht zu weiteren Verletzungen auf der gleichen Grundlage kommt. Problematisch ist diese Annahme vor dem Hintergrund des Gehorsams gegenüber innerstaatlich geltendem Recht. Kommt der EMRK nicht Vorrang vor innerstaatlichem Recht zu, kann es Gerichten Schwierigkeiten bereiten, Gesetzen die Anwendung zu versagen.Footnote 143

Eindeutig ist die Aussage des EGMR keinesfalls. Auch Autoren, die von einer direkten Verpflichtung der Judikative ausgehen, räumen ein, dass der EGMR eine solche Pflicht nicht explizit statuiert.Footnote 144 Was aus dem Urteil hervorgeht, ist, dass der EGMR verlangt, dass in der Folge eines Urteils über die Konventionswidrigkeit einer Gesetzesbestimmung den betreffenden Staat vom Tag des Urteils an auch für Parallelfälle die Pflicht trifft, dafür zu sorgen, dass diese nicht mehr zur Anwendung kommt. Dem Staat kommt also keine Übergangsfrist zu, wie der EGMR in späteren Fällen bestätigt hat.Footnote 145 In diesem Sinne macht ein Urteil des EGMR das innerstaatliche Gesetz unanwendbar.Footnote 146

Statt als direkte Verpflichtung innerstaatlicher Gerichte mit der Konsequenz, dass sie sich geltendem Recht widersetzen müssen, kann die Entscheidung des EGMR auch als Verpflichtung des Gesamtstaates gelesen werden, auf welche Art und Weise auch immer dafür zu sorgen, dass seine Gerichte die Urteile respektieren können. Denn auch wenn keine völkerrechtliche Pflicht der Judikative besteht, so ist zumindest klar, dass die weitere Anwendung des Gesetzes zu erneuten Konventionsverletzungen führt. Vorstellbar wäre deshalb die Anordnung von Übergangsmaßnahmen.Footnote 147 Eine entsprechende Anweisung der Regierung an innerstaatliche Gerichte wäre demgegenüber vor dem Hintergrund der gerichtlichen Unabhängigkeit problematisch.Footnote 148

Somit ist die Aussage des Gerichtshofs, wonach seine frühere Aussage in Marckx nicht „imprecise or incomplete“ gewesen sei, nicht notwendigerweise als Kriterium dafür zu verstehen, wann innerstaatliche Gerichte zu einer direkten Befolgung von EGMR-Urteilen verpflichtet sind, wie es in der Literatur zuweilen vertreten wurde.Footnote 149 Vielmehr greift der Gerichtshof damit lediglich die Argumentationslinie der innerstaatlichen Gerichte auf. So war das erstinstanzlich mit dem Fall befasste Gericht gerade zum Schluss gekommen, dass „the prohibition on discrimination between legitimate and illegitimate children as regards inheritance rights [was] formulated in the judgment sufficiently clearly and precisely to allow a domestic court to apply it directly in the cases brought before it“.Footnote 150 Das Berufungsgericht wiederum urteilte, dass das Urteil Belgien positive Pflichten auferlege. Diesbezüglich kämen aber verschiedene Handlungsmöglichkeiten in Betracht. Deswegen sei „[…] the provision [is] no longer sufficiently precise and comprehensive and must be interpreted as an obligation to act, responsibility for which is on the legislature, not the judiciary.“Footnote 151 Dass der EGMR im Ergebnis in diesem Fall von den Gerichten verlangte, das Gesetz nicht mehr anzuwenden, ist somit nicht notwendigerweise eine verallgemeinerbare Forderung, sondern dürfte schlicht damit zusammenhängen, dass diese Möglichkeit in Belgien offensichtlich bestanden hätte. Denn es ist nichts Außergewöhnliches, dass der EGMR von den Konventionsstaaten verlangt, innerstaatlich bestehende Rechtsmittel zu ergreifen.Footnote 152

Deutlicher äußerte sich der EGMR demgegenüber jüngst in der Entscheidung Fabris gegen Frankreich.Footnote 153 Ähnlich wie in der Entscheidung Vermeire ging es auch darin um die erbrechtlichen Ansprüche nichtehelicher Nachkommen. Der EGMR hatte sich in Mazurek Jahre zuvor dazu geäußert und auch die französische Gesetzgebung für konventionswidrig befunden.Footnote 154 Der französische Gesetzgeber setzte diese Entscheidung unverzüglich um, beschränkte dessen Anwendungsbereich jedoch aus Gründen der Rechtssicherheit auf Erbteilungen ab einem bestimmten Datum. Der EGMR kam jedoch zum Schluss, dass die für die zeitliche Begrenzung vorgebrachte Begründung der Rechtssicherheit im vorliegenden Fall nicht ausreiche, um die Einschränkung der Rechte des Beschwerdeführers zu rechtfertigen. Insbesondere bezweifelte er, dass angesichts der Rechtsentwicklungen auf europäischer Ebene zur Zeit der Erbteilung legitime Ansprüche der betroffenen Halbgeschwister hätten entstehen können. Interessanterweise verwies der Gerichtshof dabei neben der gegen Frankreich ergangenen Entscheidung in Mazurek auch auf seine Jahrzehnte zuvor ergangene Marckx-Entscheidung.Footnote 155 Der Gerichtshof betonte in der Folge die Umsetzungsfreiheit bezüglich der von ihm gefundenen Konventionsverstöße, die aus der „essentially declaratory nature of the Court’s judgments“ folge. Dann fügte er aber hinzu:

„[…] it should at the same time be pointed out that the adoption of general measures requires the State concerned to prevent, with diligence, further violations similar to those found in the Court’s judgments […]. This imposes an obligation on the domestic courts to ensure, in conformity with their constitutional order and having regard to the principle of legal certainty, the full effect of the Convention standards, as interpreted by the Court.Footnote 156

Richter Popovic und Gyulumyan fügten in ihrem gemeinsamen Sondervotum hinzu, dass innerstaatliche Gerichte selbst bei Untätigkeit des Gesetzgebers aktiv werden müssten.

In dieser Entscheidung statuierte der EGMR somit eindeutig eine Pflicht für innerstaatliche Gerichte.Footnote 157 Die Formulierung erinnert stark an die interamerikanische Doktrin der Konventionalitätskontrolle (control de convencionalidad).Footnote 158 Allerdings relativiert der EGMR die Pflicht der Judikative, indem er diese auf die unter der Verfassungsordnung zulässigen Möglichkeiten beschränkt („in conformity with their constitutional order“). Ausserdem lässt er ausdrücklich Raum für Ausnahmen („having regard to the principle of legal certainty“). Richter Pinto de Albuquerque bezeichnet diesen Zusatz in seiner abweichenden Meinung als „unfortunate sentence“.Footnote 159 Seiner Meinung nach sind „all bodies and representatives of any public authority of the respondent State, at all levels of its organisation (national, federal, regional or local), [are] directly bound by the Court’s judgments […].“Footnote 160

Bevor allgemeine Schlüsse aus dieser Entscheidung gezogen werden können, wird die Bestätigung und Verfeinerung der Rechtsprechung durch den EGMR abgewartet werden müssen. So ist unklar, was genau der Gerichtshof damit meint, dass Gerichte diese Pflicht nur in Einklang mit ihrer Verfassungsordnung treffe. Sind also nur Verfassungsgerichte, denen die Kompetenz zur Aufhebung von Gesetzen zukommt, verpflichtet? Oder nur Gerichte, in deren Staat der Vorrang der Konvention vor innerstaatlichen Recht anerkannt ist? Oder ist die Entscheidung doch so zu deuten, dass der EMRK nunmehr Vorrang zumindest vor innerstaatlichem Gesetzesrecht zukommen muss? Bisher scheint der EGMR die europäische Version der Konventionalitätskontrolle nicht bestätigt zu haben. Nichtsdestotrotz scheint sich damit ein Trend zu einer verstärkten Inpflichtnahme der innerstaatlichen Judikative durch den EGMR abzuzeichnen, zumindest was die Überprüfung der korrekten Umsetzung zuvor angeordneter genereller Maßnahmen anbelangt.Footnote 161