Nationale Gerichte haben sich also als effektives Mittel erwiesen, um die Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte innerstaatlich umzusetzen. Aber lässt sich dies auch normativ rechtfertigen? Nachdem bislang in vornehmlich deskriptiver Weise die Herangehensweise und Haltung innerstaatlicher Gerichte in den Konventionssystemen beschrieben wurde, soll diese Praxis abschließend aus einer normativen Perspektive betrachtet und bewertet werden. Mit anderen Worten soll in diesem letzten Kapitel der Frage nachgegangen werden, welche Rolle innerstaatliche Gerichte im Konventionsgefüge idealerweise einnehmen sollten.Footnote 1 Dabei wird argumentiert, dass auch aus einer normativen Perspektive gute Gründe dafür sprechen, dass innerstaatliche Gerichte heute eine Rolle bei der Umsetzung der Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte spielen (1.). Gleichzeitig wird vorgebracht, dass die offene und flexible Haltung, die zahlreiche Gerichte einnehmen, wenn sie mit Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte konfrontiert sind, sich besser zur Bewältigung der pluralistischen und komplexen Rechtsrealität eignet als die systematische Überprüfung und Neubeurteilung von Fällen, welche die Menschenrechtsgerichte bereits entschieden haben (2.).

1. Normative Gründe für eine aktive Rolle von Gerichten bei der Urteilsumsetzung

Gute Gründe sprechen dafür, Gerichten heute auch eine Rolle bei der Umsetzung der Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte zukommen zu lassen. So ist die stark dualistische Sichtweise, wonach völkerrechtliche Verpflichtungen sich lediglich an den Gesamtstaat richten und immer zunächst durch die politischen Behörden auf die innerstaatliche Ebene „übersetzt“ werden müssen, heute bereits konzeptuell nicht mehr überzeugend. Diese Sicht stammt aus Zeiten, in denen das Völkerrecht primär zwischenstaatliche Sachverhalte regelte und lässt sich schon angesichts des strukturellen Wandels des Völkerrechts kaum mehr halten.Footnote 2 Umso mehr gelten muss dies für die Menschenrechte, die gerade nicht auf zwischenstaatliche, sondern individuelle Rechte (und Pflichten) zielen. Auch die Asymmetrie, die dadurch entsteht, wenn Individuen auf der internationalen Ebene zwar Urteile zu ihren Gunsten erstreiten, diese innerstaatlich aber nicht durchsetzen können, ist kaum zu rechtfertigen und sollte bei entsprechenden Erwägungen einbezogen werden.Footnote 3

Die Untersuchung hat ferner gezeigt, dass die Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte, anders als lange angenommen,Footnote 4 in zahlreichen Situationen einer direkten gerichtlichen Umsetzung zugänglich sind – wozu nicht zuletzt die Menschenrechtsgerichte selbst beigetragen haben. Selbst wenn weitere Umsetzungsakte etwa tatsächlicher Natur – wie die Errichtung eines Denkmals – erforderlich sind, zeigen die Beispiele, dass Gerichte zur Umsetzung mindestens beitragen können. Dies dürfte insbesondere dann gelten, wenn sich eine Entscheidung umsetzen lässt, ohne dass dafür positive Anpassungen des innerstaatlichen Rechts erforderlich sind, wenn die Umsetzung also etwa durch die Nichtanwendung konventionswidriger Gesetzesbestimmungen möglich ist. Auch dies spricht dafür, Gerichten eine Rolle im Rahmen der Urteilsumsetzung zuzuerkennen. In manchen Fällen dürfte das gerichtliche Verfahren gar die bevorzugte Option sein, da sich das schwerfällige Gesetzgebungsverfahren zur Herstellung von individueller Gerechtigkeit kaum eignet.

Diese Position ist auch verfassungsrechtlich nicht problematisch, und zwar auch dann nicht, wenn Gerichte ohne explizite Ermächtigung handeln. So hat der einflussreiche amerikanische Richter Breyer im Zusammenhang mit der Frage, ob der Supreme Court befugt sei, eine Entscheidung des IGH umzusetzen, vorgeschlagen, statt auf eine explizite Ermächtigung darauf abzustellen, ob die in Rede stehende Aufgabe typischerweise gerade von Gerichten wahrgenommen wird. Denn in diesen Fällen drohe weder ein verfassungsmäßiger Konflikt mit den anderen Gewalten, noch werde von einem Gericht verlangt, außergerichtlich tätig zu werden, so dass auch kein neuer Handlungsspielraum geschaffen werde.Footnote 5 Bei der vom IGH angeordneten Überprüfung und Neubeurteilung von Strafverfahren kam Breyer zum Schluss, dass diese von Gerichten vorgenommen werden könne:

„The specific issue before the ICJ concerned ,review and reconsideration‘ of the ,possible prejudice‘ caused in each of the 51 affected cases by an arresting State’s failure to provide the defendant with rights guaranteed by the Vienna Convention. […] This review will call for an understanding of how criminal procedure works, including whether, and how, a notification failure may work prejudice. […] As the ICJ itself recognized, ,it is the judicial process that is suited to this task.‘ […] Courts frequently work with criminal procedure and related prejudice. Legislatures do not. Judicial standards are readily available for working in this technical area. Legislative standards are not readily available. Judges typically determine such matters, deciding, for example, whether further hearings are necessary, after reviewing a record in an individual case. Congress does not normally legislate in respect to individual cases. Indeed, to repeat what I said above, what kind of special legislation does the majority believe Congress ought to consider?“Footnote 6

Problematischer kann die Umsetzung dann sein, wenn positive gesetzliche Schritte – die Anpassung oder Ergänzung generell-abstrakten Rechts – erforderlich sind. Denn in solchen Situationen wird es regelmäßig verschiedene Möglichkeiten und Wege geben, um eine Entscheidung umzusetzen und die Rechtsordnung in Einklang mit den internationalen Vorgaben zu bringen. In solchen Situationen wird die Urteilsumsetzung tatsächlich wieder zu einer politischen Frage und eine gerichtliche Umsetzung würde den Spielraum beschneiden, der dem demokratisch legitimierten Gesetzgeber zusteht. Verschiede Verfassungsgerichte sind aus diesem Grund in gewissen Fällen nicht bereit, Gesetze im Verfahren der Verfassungskontrolle aufzuheben, und zwar auch in Fällen, in denen es nicht um die Umsetzung von Vorgaben aus Straßburg bzw. San José geht.Footnote 7

Allerdings hat sich selbst in solchen Situationen gezeigt, dass Gerichte bereit sein können, in Umsetzung der Urteile der Menschenrechtsgerichte aktiv zu werden. Der Grund dafür ist das Selbstverständnis von Gerichten, für die Aufrechterhaltung und Durchsetzung von Rechten einzustehen. Gerade in Situationen, in denen die anderen, im ersten Zugriff zuständigen Organe ihren (positiven) Pflichten nicht nachkommen und die Schritte, die zur Urteilsumsetzung erforderlich wären, während längerer Zeit nicht wahrnehmen, können sich Gerichte gehalten sehen, quasi ersatzweise „einzuspringen“ und den Urteilen zum Durchbruch zu verhelfen. (Obere) innerstaatliche Gerichte können für die Betroffenen in diesen Situationen der letzte Ausweg sein, um ihrer Rechtsposition Geltung zu verschaffen.Footnote 8 Dies ist Gerichten bewusst, und in solchen Situationen scheinen sie zuweilen bereit, zu weitergehenden Maßnahmen als üblicherweise zu greifen. Gerade wenn die anderen Gewalten ihren Teil zur Urteilsumsetzung nicht beitragen und abhängig von der Schwere der in Rede stehenden Rechtsfolgen scheint es damit gerechtfertigt, wenn innerstaatliche Gerichte den in Rede stehenden Rechten tatsächlich Geltung verschaffen. Dies gilt umso mehr, wenn die betroffenen Individuen Minderheiten angehören und keine Chance haben, sonst überhaupt je gehört zu werden.

Normative Gründe sprechen darüber hinaus sogar dafür, dass innerstaatliche Gerichte die Rechtsprechung der Menschenrechtsgerichte über die eigentliche Durchsetzung von Entscheidungen im bindenden Einzelfall hinaus beachten. Denn innerstaatliche Gerichte entscheiden heute nicht mehr alleine und in Isolation darüber, was das Recht ist. Vielmehr besteht in einer vernetzten Welt, in der Entscheidungen auf verschiedenen Entscheidungsebenen getroffen werden, ein Interesse an einem funktionierenden System der Gerichtsbarkeit über Grenzen und Systeme hinweg. Das gegenseitige Zuhören führt also nicht nur zu umfassenderen und vielfältigeren Lösungen, sondern hat auch eine wichtige systemische Funktion.Footnote 9

2. Richter über internationale Gerichte?

Umgekehrt bedeutet dies aber nicht, dass innerstaatliche Gerichte den Menschenrechtsgerichten blind zu folgen hätten. Längst hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass angesichts der Defizite des Völkerrechts die Forderung nach dessen unbedingtem Vorrang („supremacy“) vor innerstaatlichem Recht weder der Rechtsrealität entspricht, noch normativ wünschenswert ist. Ebenso wie es heute nicht mehr überzeugt von Gerichten zu verlangen, Entscheidungen alleine gestützt auf nationales Recht zu fällen, scheint es problematisch davon auszugehen, dass internationalen Institutionen in jedem Fall der Vorrang vor innerstaatlichem Recht zukommen soll. Schon früh wurde für innerstaatliche Gerichte ein gewisser Spielraum gefordert, wenn sie zum Schluss kommen, eine internationale Entscheidung sei fehlerhaft oder ungerecht. Das Argument lautet, dass nicht nur ein wichtiges Mittel zur Korrektur vergangener Fehler beseitigt, sondern dem Völkerrecht auch ein wertvolles Element der Klärung und Entwicklung vorenthalten würde, wenn diese Möglichkeit verneint würde.Footnote 10

In den letzten Jahren hat sich angesichts des zunehmenden Einwirkens des Völkerrechts auf die nationalen Rechtsordnungen und dessen anhaltender Legitimationsdefizite die Einsicht durchzusetzen begonnen, dass der Ruf nach dem absoluten Vorrang des Völkerrechts nicht mehr wünschenswert ist.Footnote 11 Zahlreiche Stimmen haben die Sorge geäußert, dass die viel beschworene Verrechtlichung des Völkerrechts, zu der gerade auch internationale Gerichte beigetragen haben,Footnote 12 nicht nur zu einer Stärkung von Rechtsstaatlichkeit auf der internationalen Ebene führt, sondern gleichzeitig auch die Legitimitätsbedenken im Zusammenhang mit globalem Regieren verschärft und zuspitzt.Footnote 13 Vor diesem Hintergrund fordern immer mehr Stimmen sogar ein „verfassungsmäßiges Widerstandsrecht“Footnote 14 gegen völkerrechtliche Akte, die Gerichte als rechtsstaatlich problematisch erachten.Footnote 15 „Ungehorsam“Footnote 16 in diesem Sinne ist ein Instrument, das dazu beiträgt, die „Nebenwirkungen“ globalen Regierens zu mildern und das Zusammenspiel zwischen verschiedenen Rechtsordnungen zu erleichtern – und nicht zu stören, wie man auf den ersten Blick annehmen könnte.

Aufgrund der offensichtlichen Risiken, die mit einem solchen „Widerstandsrecht“ verbunden sind, betonen zahlreiche Autorinnen dessen Ausnahmecharakter und knüpfen seine Ausübung an zusätzliche Bedingungen. So macht Peters die Legitimität von Widerstand davon abhängig, dass dieser ultima ratio, im Sinne einer „Notbremse“, und gutgläubig ausgeübt wird. Die Hoffnung ist somit, dass innerstaatliche Gerichte durch ihre Zurückweisung illegitimen Völkerrechts Druck aufbauen, um längerfristig zur Weiterentwicklung des Völkerrechts in Richtung von mehr Rechtsstaatlichkeit beizutragen. „Heilsam“ könne Widerstand in diesem Sinne dann sein, „wenn nationale Akteure diesen Druck in Treu und Glauben ausüben, im Ton verbindlich bleiben und das übergeordnete Ziel der internationalen Kooperation als Leitgesichtspunkt einstellen.“Footnote 17 Im Ergebnis in eine ähnliche Richtung geht von Bogdandy, der von Gerichten im Einzelfall eine Abwägung zwischen den verschiedenen involvierten Interessen wie internationaler Kooperation und demokratischer Legitimität verlangt.Footnote 18

Doch auch wenn der Missachtung von Völkerrecht nur in Ausnahmefällen eine legitimierende Wirkung zuerkannt wird, bleiben damit Gefahren verbunden. Zwar bedeuten einzelne Fälle der Nichtbefolgung internationaler Entscheidungen wie bereits gesagt kaum eine existenzielle Bedrohung für internationale Gerichte.Footnote 19 Trotzdem wird damit quasi die „Büchse der Pandora“ geöffnet und es besteht das Risiko eines Dominoeffekts. Dass dieses Risiko durchaus real ist, belegt die Tatsache, dass das russische Verfassungsgericht sich auf verschiedene andere europäische Höchstgerichte berufen hat, um seine höchst umstrittene und problematische Rechtsprechung zur Überprüfung verbindlicher EGMR-Entscheidungen zu begründen.Footnote 20

Um diese Risiken einzuschränken, wurden immer wieder Versuche unternommen Kriterien zu entwickeln, die dabei helfen sollen legitimen von illegitimem Widerstand zu unterscheiden und das komplizierte Verhältnis zwischen Rechtsordnungen in einer voraussehbaren Weise zu ordnen. So wurde etwa vorgeschlagen, danach zu unterscheiden, ob Gerichte lediglich die Praxis eines internationalen Gerichts kritisieren oder dessen Existenz als solche in Frage stellen.Footnote 21 Auf echte Fälle angewendet stellt sich dieser Vorschlag jedoch als wenig hilfreich heraus: Abgesehen von ganz wenigen Beispielen wie etwa demjenigen des obersten venezolanischen Gerichts, dessen Unabhängigkeit inzwischen als nicht mehr gegeben erachtet wird,Footnote 22 gibt es kaum Beispiele, in denen Gerichte ein Menschenrechtsgericht oder die Teilnahme am Menschenrechtssystem grundlegend in Frage gestellt haben. Und trotzdem scheint von der fast systematischen Kontrolle der internationalen Rechtsprechung, wie verschiedene Gerichte sie inzwischen vornehmen, ebenfalls eine gewisse Gefahr auszugehen.

Im Ergebnis nicht weiterführend ist auch der Vorschlag, Widerstand dann als legitim anzusehen, wenn sich Gerichte statt auf nationales (Verfassungs-)Recht auf gemeinsame Werte berufen, wenn sie also Völkerrecht selbst und insbesondere internationale Menschenrechtsgarantien vorbringen, um ihr Abweichen von Völkerrecht zu rechtfertigen. Aus völkerrechtlicher Perspektive sei ein solches Vorgehen akzeptabler, so das Argument, denn damit sei der Vorwurf des Nationalismus leichter ausgeräumt.Footnote 23 Diese Vorgehensweise hat sicherlich den Vorteil, dass sie Völkerrecht und innerstaatliches Recht nicht gegeneinander ausspielt und besser widerspiegelt, dass es auch auf völkerrechtlicher Ebene zu Rechtskonflikten kommen kann. Allerdings hat die Untersuchung gezeigt, dass die Konflikte, die in der Praxis tatsächlich entstehen, oft gar nicht so sehr Rechtskonflikte im engeren Sinne sind, sondern vielmehr durch unterschiedliche Auslegungen derselben Normen entstehen. Und in den Fällen, in denen es zu echten Normkonflikten gekommen ist, wie etwa in den argentinischen Fällen, in denen der IAGMR aus der Sicht des obersten Gerichts in rechtsstaatlich bedenklicher Weise die Neuaufnahme von Strafrechtsverfahren verlangt hat,Footnote 24 führt auch die Berufung auf die entsprechenden Konventionsgarantien oder das Pro-persona-Prinzip nicht zu klaren Lösungen. Denn der zu lösende Konflikt ist in diesen komplexen Dreiecksverhältnissen auch einer zwischen verschiedenen Konventionsgarantien.Footnote 25 In diesem Sinne lassen sich Konflikte auch nicht einfach unter Berufung auf rechtsstaatliche Prinzipien lösen, denn es stehen sich gerade mehrere Verständnisse davon gegenüber, was Rechtsstaatlichkeit gebietet. So wird die strafrechtliche Rechtsprechung des IAGMR von vielen als Meilenstein in der Aufarbeitung der blutigen Vergangenheit auf dem Kontinent gefeiert, einzelne Entscheidungen aber etwa von Strafrechtlern kritisiert, weil sie zu einer Beschneidung von Verfahrensgarantien im Strafprozess führen kann.Footnote 26

Besser geeignet, um die komplexe und pluralistische Rechtsrealität zu bewältigen, scheint der flexible Mittelweg, den zahlreiche Gerichte wie oben beschrieben gewählt haben.Footnote 27 Statt klare Vorrangregeln und starre Kriterien zu formulieren, erlaubt diese Vorgehensweise, in flexibler Weise die verschiedenen Interessen einzubeziehen und im Einzelfall zu entscheiden, welchen der Vorrang zukommen soll. Dies erlaubt es Gerichten bis zu einem gewissen Grad, ihre unterschiedlichen Rollen an der Schnittstelle zwischen Rechtsordnungen in Ausgleich zu bringen. Denn wie gesehen vermag die binäre Betrachtung von Gerichten entweder als Vollstrecker des Völkerrechts oder Hüter über die innerstaatliche Legalität nicht die komplexe Rolle zu umschreiben, die diese an der Schnittstelle zwischen Rechtsordnungen tatsächlich wahrnehmen, noch erscheint dies normativ wünschenswert. Entsprechend wurde gefordert, Gerichte als Träger verschiedener Identitäten zu betrachten.Footnote 28 Sie sind heute Teil eines umspannenden Netzwerkes, einer „global community of courts“,Footnote 29 und sollten als solche auch das umfassendere systemische Interesse an einem „interlocking system of adjudication“ berücksichtigen.Footnote 30 Statt als Hüter über eine bestimmte Rechtsordnung scheint es also vorzugswürdig, Gerichte als Mediatoren zwischen Rechtsordnungen zu sehen.Footnote 31

Der flexible Mittelweg, den viele Gerichte gewählt haben, wenn sie mit Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte konfrontiert waren, scheint diesem pluralistischen Ideal am besten zu entsprechen. Obwohl Gerichte in diesen Fällen regelmäßig betont haben, dass sie sich eine gewisse Kontrolle vorbehalten, haben sie im Ergebnis selbst in den Fällen eine Lösung gefunden, in denen innerstaatliches Recht einer Umsetzung entgegenstand. Die absolute Grenze mag für viele Gerichte der Fall eines klaren Konflitks mit der Verfassung bzw. einem Verfassungskern sein; die Beispiele zeigen aber, dass solche Konflite selten sind und Gerichte selbst in solchen Fällen eine Abwägung nicht komplett ausschließen. Insgesamt zeigen die Beispiele, dass Gerichte oft eine ergebnisorientierte, ja pragmatische Position einnehmen. Statt über den Einzelfall hinausgehende Regeln und Prinzipien zu formulieren, waren die Gerichte in diesen Fällen bestrebt, ganz im Sinne von Sunsteins „minimalist jurisprudence“Footnote 32 gerechte Lösungen für den konkreten Fall zu finden. Statt als Richter einer bestimmten Rechtsordnung zu agieren, scheint Gerichte in diesen Situationen tatsächlich ihre richterliche Funktion zu einen.

Im Gegensatz dazu steht die jüngere Rechtsprechung einiger Gerichte, die darauf hindeutet, dass sich das Selbstbild dieser Gerichte in Richtung einer nationaleren Vision ihrer Rolle zu wandeln scheint.Footnote 33 Das offensichtlichste Beispiel ist das russische Verfassungsgericht mit seiner jüngsten Theorie zum Abweichen von internationalen Urteilen. Die Tatsache, dass das Gericht die Vollstreckung internationaler Urteile völlig ausschließt, wenn es einen Konflikt mit der Verfassung feststellt, steht im Widerspruch zu dem gerade beschriebenen pluralistischen Ideal. Zwar schließen pluralistische Ansätze nicht aus, dass sich in einigen Fällen nationale Normen gegenüber völkerrechtlichen durchsetzen können. Allerdings sind sie der Ansicht, dass nationale Werte, auch wenn sie in der Verfassung verankert sind, nicht aus Prinzip vorgehen sollten. Vielmehr sollten alle verschiedenen Interessen, die im jeweiligen Fall auf dem Spiel stehen, gegeneinander abgewogen werden. Die vom russischen Verfassungsgericht entwickelte Lösung schließt dieses Abwägen jedoch im Falle eines Verfassungskonflikts völlig aus. Dieser weithin kritisierte Ansatz geht eindeutig über eine Überprüfung hinaus, die darauf abzielt, exzessive Ergebnisse zu vermeiden und negative Nebenwirkungen globalen Regierens abzumildern. Vielmehr erlegt das russische Verfassungsgericht dem EGMR die Werte der russischen Rechtsordnung auf. Die Tatsache, dass das Gericht seine Befugnisse weit auslegt, bestärkt diese Schlussfolgerung noch.

In eine ähnliche Richtung geht die Rechtsprechung des obersten argentinischen Gerichts, das nun verlangt, dass Urteile des IAGMR „Grundprinzipien der öffentlichen Ordnung“ respektieren müssten. Auch wenn unklar ist, wie weitreichend und systematisch die vom obersten Gericht durchgeführte Kontrolle sein wird, ist die deutliche Änderung des Tenors der Entscheidung ebenso bemerkenswert wie die Tatsache, dass das Gericht zuvor viele Jahre die weitreichende Spruchpraxis des IAGMR akzeptiert hatte.

Weitere Beispiele für Gerichte, die in jüngerer Zeit eine stärkere Kontrolle ausüben, sind das italienische Verfassungsgericht und das deutsche Bundesverfassungsgericht.Footnote 34 Dabei gilt es zu betonen, dass es in beiden Fällen nicht um die Durchsetzung von Urteilen im engeren Sinne ging, sondern um die Beantwortung der Frage, wie mit der Rechtsprechung des EGMR im weiteren Sinne umzugehen ist. Auch wenn die Einschränkung, die das deutsche Gericht vornimmt, recht beträchtlich ist – es fordert, nur die „Grundwertung“ des EGMR zu berücksichtigen – führt das Gericht keine harten Kriterien ein und vieles wird von der Anwendung dieser verfeinerten Rechtsprechung auf weitere Fälle abhängen.

Anders verhält es sich mit der jüngeren Rechtsprechung des italienischen Verfassungsgerichts. Obwohl das Gericht den EGMR nicht gänzlich ignoriert und in gewissem Maße auch eine Abwägung im Einzelfall möglich bleibt, dürften die entwickelten Kriterien eine echte Auseinandersetzung mit dem Straßburger Gerichtshof behindern. Die zweite wichtige Folge der neueren italienischen Position ist, dass das Verfassungsgericht quasi die Vorzeichen umgekehrt hat: Während nach den „Zwillingsentscheidung“ der Grundsatz lautete, dass dem Straßburger Gerichtshof zu folgen ist,Footnote 35 wird nun von den italienischen Gerichten erwartet, dass sie systematisch prüfen, ob eine Entscheidung des EGMR befolgungswürdig ist oder nicht. Die Vermutung scheint nun eher dahingehend zu lauten, dass dem EGMR nicht gefolgt werden sollte.

Zwar wäre es verfrüht von einer Änderung der Einstellung innerstaatlicher Gerichte zum Völkerrecht zu sprechen, aber die jüngsten Entwicklungen spiegeln ein eher nationales Selbstverständnis ihrer Rolle wider. Und während zahlreiche Fälle gerichtlicher Kritik an den Menschenrechtsgerichten als Reaktionen auf deren Erstarken gedeutet werden können, was in gewissem Maße auch von Problemen zeugt, wie sie in Zeiten globalen Regierens und intensivierter Interaktion zwischen Rechtsordnungen entstehen können,Footnote 36 fehlt es bei dem Versuch, die pluralistische Rechtswirklichkeit durch die Wiedereinführung starrer Regeln und Hierarchien zu bewältigen, an der Offenheit und Flexibilität, die erforderlich ist, um der heutigen komplexen rechtlichen Realität wirksam zu begegnen. Es kann keine zufriedenstellende Antwort sein auf die Probleme, die sich aus dem Zusammenspiel von Rechtsordnungen ergeben, wenn nationale Gerichte systematisch neu über bereits von den Menschenrechtsgerichten entschiedene Angelegenheiten urteilen. Internationale Urteile sind keine ausländischen Urteile, für die regelmäßig gewisse Vorbehalte bestehen; sie sind verbindliche Entscheidungen, und nationale Gerichte können einen wichtigen Beitrag zu ihrer Umsetzung leisten. Richter sollten anerkennen, dass sie zu wichtigen Akteuren an der Schnittstelle zwischen Rechtsordnungen geworden sind und dass das Funktionieren des Gesamtsystems langfristig weitgehend von ihnen abhängt.