Innerstaatliche Gerichte sind in den letzten Jahren zunehmend in den Fokus der Völkerrechtswissenschaft gerückt. Während lange Zeit bezweifelt wurde, dass Gerichte völkerrechtliche Aufgaben wahrnehmen können, da ihre Loyalität primär nationalen Interessen gelte und sie oft nicht die faktischen Möglichkeiten und Ressourcen hätten, internationale Fragestellungen bearbeiten zu können,Footnote 1 gilt es heute als unbestritten, dass Gerichte wichtige Akteure in der internationalen Ordnung sind und im Sinne eines „dédoublement fonctionnel“Footnote 2 zur Weiterentwicklung und Durchsetzung des Völkerrechts gerade da beitragen können, wo entsprechende internationale Mechanismen fehlen. „The future of international law is domestic“, so die Schlussfolgerung, die unlängst gezogen wurde.Footnote 3 Mit Gerichten wird die Hoffnung auf eine Effektuierung des Völkerrechts und eine Stärkung der Rechtsstaatlichkeit auch auf völkerrechtlicher Ebene verbunden.Footnote 4 Heute ist also klar, dass die Rolle von Gerichten nicht mehr auf den innerstaatlichen Rechtsraum beschränkt ist. Sie sind Teil einer „global community of courts“;Footnote 5 gerade auch die Internationalisierung des Rechts hat dazu geführt, dass heute bisweilen sogar von einer herrschenden „juristocracy“ die Rede ist.Footnote 6

Wenig zu diesem Bild passt, dass gerade in jüngerer Zeit immer wieder Entscheidungen für Schlagzeilen sorgen, in denen sich nationale Gerichte weigern Völkerrecht zu befolgen und sich internationalen Institutionen gar regelrecht in den Weg stellen. Das wohl bekannteste Beispiel ist die Kadi-Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union, der unter Berufung auf grundrechtliche Standards die Umsetzung der Sicherheitsratsresolution 1333 (2000), die Staaten zur Umsetzung von Maßnahmen gegenüber Individuen ohne die Möglichkeit gerichtlicher Überprüfung verpflichtete, verweigerte.Footnote 7 Unlängst hat die Entscheidung des italienischen Verfassungsgerichts für Diskussionen gesorgt, das im Ergebnis eine Entscheidung des Internationalen Gerichtshofs (IGH) für nicht mit der italienischen Verfassung vereinbar erklärte.Footnote 8 Inzwischen scheinen sich die Beispiele nur so zu häufen: So hat das russische Verfassungsgericht eine Rechtsprechung entwickelt, die es erlaubt, Entscheidungen des Europäischen Menschenrechtsgerichtshofs (EGMR) systematisch auf ihre Vereinbarkeit mit der russischen Verfassung zu überprüfen;Footnote 9 gestützt darauf hat es bereits zwei EGMR-Entscheidungen für verfassungswidrig und damit nicht umsetzbar erklärt.Footnote 10 Und auf der anderen Seite des Atlantiks hat das oberste argentinische Gericht entschieden, dass eine Entscheidung des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs (IAGMR) gegen Grundprinzipien der argentinischen Rechtsordnung verstoße.Footnote 11

„Community of courts“ oder Kampf der Gerichte? Zwar ist die Debatte über die Rolle innerstaatlicher Gerichte im Völkerrecht bereits alt; in Zeiten globalen Regierens und einer erstarkten internationalen Gerichtsbarkeit hat sie aber nichts an ihrer Aktualität eingebüßt.Footnote 12 Die Digitalisierung hat es zudem möglich gemacht, dass heute eine Vielzahl von Entscheidungen von Gerichten aus aller Welt über das Internet verfügbar sind; neue Datenbanken eröffnen ganz neue Forschungsmöglichkeiten. So ist es heute möglich, die Rolle innerstaatlicher Gerichte im Völkerrecht systematisch zu untersuchen und herkömmliche Annahmen empirisch zu testen.

Hier setzt die vorliegende Studie an, die untersucht, welche Rolle innerstaatliche Gerichte bei der Umsetzung der Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) und des Interamerikanischen Menschenrechtsgerichtshofs (IAGMR) wahrnehmen. Welche Wirkungen sind innerstaatliche Gerichte bereit den Entscheidungen von EGMR und IAGMR in eigenen Verfahren zu gewähren? Wann sind sie bereit ihre Pendants in Straßburg bzw. San José bei der Umsetzung ihrer Entscheidungen zu unterstützen, und wo ziehen sie Grenzen und rote Linien?

Der Grund für die Wahl der Menschenrechtsgerichte ist nicht nur, dass diese zu den gegenwärtig aktivsten internationalen Gerichten zählen. Die Beteiligung von Individuen an den Verfahren vor diesen GerichtenFootnote 13 hat darüber hinaus dazu geführt, dass individuelle Beschwerdeführerinnen in unzähligen Fällen an nationale Gerichte gelangt sind, um zu ihren Gunsten ergangene Entscheidungen auf der nationalen Ebene durchzusetzen. Innerstaatliche Gerichte sahen sich in der Folge in den letzten Jahren in einer Vielzahl von Fällen mit Entscheidungen der beiden Menschenrechtsgerichte konfrontiert und es gibt zahlreiche Beispiele, in denen sich Gerichte zu den Wirkungen äußern, die sie den Entscheidungen dieser beiden Institutionen zu gewähren bereit sind. Die beiden Menschenrechtssysteme eignen sich damit besonders gut dafür nachzuzeichnen, wie die Interaktion zwischen Gerichten verschiedener Ebenen bzw. Rechtssysteme funktioniert.

Dass innerstaatliche Gerichte internationale Gerichte bei der Durchsetzung ihrer Entscheidungen unterstützen, ist zunächst einmal gar nicht so selbstverständlich. Denn internationale Judikate sind regelmäßig als klassische völkerrechtliche Pflichten ausgestaltet, die sich an den Gesamtstaat richten.Footnote 14 Dies kommt etwa in Art. 94 UN-Charta zum Ausdruck, wonach sich „jedes Mitglied der Vereinten Nationen“ – also Staaten – verpflichtet, „bei jeder Streitigkeit, in der es Partei ist, die Entscheidungen des Gerichtshofs zu befolgen.“Footnote 15 Daraus folgt, dass die Verbindlichkeit internationaler Entscheidungen zunächst einmal auf die völkerrechtliche Ebene beschränkt ist, woraus traditionellerweise geschlossen wurde, dass internationale Entscheidungen die für internationale Angelegenheiten zuständige Exekutive – und nicht innerstaatliche Gerichte – adressieren.Footnote 16 Dazu kommt, dass – obwohl internationale Gerichte in der dezentralen internationalen Ordnung für Rechtsdurchsetzung stehenFootnote 17 – internationale Entscheidungen oft keiner simplen Vollstreckung zugänglich sind, sondern aktive Umsetzungsschritte erfordern.Footnote 18 Die Frage, wie die Umsetzung innerstaatlich vonstatten geht, lassen die Statute vieler Gerichte offen – sie halten sich damit an den alten Grundsatz, wonach es den Staaten überlassen bleibt, auf welche Art und Weise sie völkerrechtlichen Verpflichtungen im innerstaatlichen Rechtsraum nachkommen. Nach diesem Verständnis sind völkerrechtliche Pflichten grundsätzlich als „obligations of result“ ausgestaltet, die „an der Schwelle der Staatsmaschinerie halt machen“.Footnote 19 In diesem Sinne kann Völkerrecht „insert its demands in the box, requiring certain results to come out of it; however, it cannot determine how these results are reached within the box.“Footnote 20 Den Staaten verbleibt somit eine gewisse Freiheit in der Wahl der Mittel zur Umsetzung dieser Pflichten im innerstaatlichen Rechtsraum; das „micro-management“ wird sozusagen ihnen überlassen.Footnote 21 Ihre Grenze findet diese „Umsetzungsfreiheit“ darin, dass sich Staaten nicht auf ihr innerstaatliches Recht berufen können, um die Nichterfüllung der Pflichten zu rechtfertigen.Footnote 22 Die Nichterreichung des geforderten Ergebnisses führt zur völkerrechtlichen Verantwortlichkeit.Footnote 23 Trotzdem bedeutet dies, dass die Frage, ob und unter welchen Bedingungen nationale Gerichte eine Rolle bei der Anwendung und Durchsetzung von Völkerrecht spielen, grundsätzlich eine Frage des nationalen Rechts ist.

Nichts anderes gilt für die beiden Menschenrechtsgerichte, die – wie wir sehen werden – erst einmal auch vom klassischen völkerrechtlichen Modell ausgehen. Dies führt zu der etwas paradoxen Situation, dass Individuen in Straßburg bzw. San José zwar Urteile zu ihren Gunsten erstreiten können, mit diesen innerstaatlich zunächst aber nicht viel anfangen können. Werden die politischen Behörden in der Folge eines Urteils von EGMR bzw. IAGMR nicht von sich aus aktiv, kommt es folglich immer wieder vor, dass in Straßburg bzw. San José erfolgreiche Beschwerdeführerinnen sich an innerstaatliche Gerichte wenden, um den zu ihren Gunsten ergangenen Entscheidungen tatsächliche Geltung zu verschaffen. Da nur wenige Staaten das Prozedere der innerstaatlichen Umsetzung internationaler Entscheidungen explizit geregelt haben,Footnote 24 stellt sich nationalen Gerichten in der Folge immer wieder die Frage, ob es ihnen überhaupt möglich ist, den aus den Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte fließenden Rechten direkt Folge zu geben oder ob diese zunächst durch den Gesetzgeber operationalisiert und damit auf der innerstaatlichen Ebene „durchsetzbar“ gemacht werden müssen. Mit anderen Worten stellt sich die Frage, ob internationale Entscheidungen „self-executing“, also einer direkten Durchsetzung durch innerstaatliche Gerichte zugänglich, sind.

Die Frage der „self-executingness“ oder unmittelbaren Anwendbarkeit, wie es im deutschen Sprachgebrauch zumeist heißt, ist eine altbekannte Frage, die sich herkömmlicherweise mit Bezug auf Völkervertrags- oder Verfassungsrecht stellt. In Zeiten massiv gesteigerter Aktivität internationaler Gerichte taucht sie allerdings zunehmend auch mit Bezug auf individuell-konkrete Judikate auf. Letztlich geht es bei der Frage darum, ob innerstaatliche Gerichte befugt sind, Normen unmittelbar anzuwenden und damit vielfach zugleich durchzusetzen, ohne dass diese zuvor durch andere innerstaatliche Organe – zumeist die politischen Organe – weiter spezifiziert bzw. „ausgeführt“ worden sind. Es geht also letztlich um die Frage, wer innerstaatlich rechtmäßiger Adressat einer völkerrechtlichen Pflicht ist und damit eine Frage der Gewaltenteilung. Betroffen sind aber auch das Legalitäts- und das Demokratieprinzip.Footnote 25

Die Frage ist von großer praktischer Relevanz, weil von ihrer Beantwortung maßgeblich die Wirksamkeit des Völkerrechts auf der innerstaatlichen Ebene abhängt. Die unmittelbare Anwendbarkeit nimmt damit eine zentrale Stellung an der Schnittstelle zwischen Rechtsordnungen ein. Die Radikalität der Figur liegt darin, dass sie gerade da internationalen Normen zum Durchbruch verhelfen kann, wo andere Organe bei der Umsetzung versagen. Gerichte können damit Völkerrecht gerade auch entgegen der politischen Kräfte zum Durchbruch verhelfen.Footnote 26 Auf dem Spiel steht nicht zuletzt die „effective performance of international obligations, and thus the maintenance of the international rule of law.“Footnote 27 Insofern erstaunt es nicht, dass auch die Frage, ob den einzelnen Konventionsrechten unmittelbare Anwendbarkeit zukommt, in Europa lange Jahre Gegenstand intensiver Diskussion war.Footnote 28 Mittels der Figur der unmittelbaren Anwendbarkeit kann Völkerrecht also wie ein „Schwert“ den nationalen Souveränitätspanzer durchdringen und sich gegenüber nationalem Recht durchsetzen. Gleichzeitig aber zählt die Rechtsfigur zu den „avoidance techniques“Footnote 29 und kann nationalen Gerichten dazu dienen, die tatsächliche Anwendung von Völkerrecht zu verhindern und das nationale Recht von in ihren Augen zu weitreichenden Folgen „abzuschirmen“.Footnote 30 Die Entscheidung über eine unmittelbare Anwendbarkeit hat damit immer auch eine gewisse politische Komponente.Footnote 31 Die Frage, ob eine Norm unmittelbar anwendbar ist oder nicht, hat auch beträchtliche Auswirkungen auf die Stellung des Individuums im Völkerrecht.Footnote 32 Dies hat sich besonders eindrücklich am Beispiel des Todeszelleninsassen José Ernesto Medellín gezeigt, zu dessen Gunsten Mexiko eine Entscheidung vor dem IGH wegen Verletzung des Wiener Übereinkommens über konsularische Beziehungen erstritten hatte.Footnote 33 Diese wurde vom in der Folge von Medellín angerufenen Supreme Court als nicht „self-executing“ beurteilt, weshalb die amerikanischen Behörden zur Hinrichtung des Beschwerdeführers schritten.Footnote 34

Bevor allerdings untersucht werden kann, welche Wirkungen innerstaatliche Gerichte bereit sind den Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte zu gewähren und ob sie bereit sind, diese unmittelbar „anzuwenden“, stellt sich die Frage, welche Wirkungen den Entscheidungen von EGMR bzw. IAGMR aus völkerrechtlicher Perspektive zukommen. Denn wie erwähnt gehen die Statuten der beiden Menschenrechtsgerichte ursprünglich vom klassischen völkerrechtlichen Modell aus und überlassen die Frage der Urteilswirkungen den Mitgliedstaaten. Allerdings wurde die Tatsache, dass Völkerrecht zunächst den „Test“ der unmittelbaren Anwendbarkeit bestehen muss, schon vor geraumer Zeit als „Kinderkrankheit“ des Völkerrechts beschrieben und prognostiziert, dass die Rechtsentwicklung dieses Erfordernis überholen werde.Footnote 35 In der Europäischen Union hat der Gerichtshof als „bold gamechanger“Footnote 36 die Vorzeichen quasi umgekehrt und die Frage der Wirkungen des Unionsrechts an sich gezogen, wodurch er maßgeblich zur Transformation dieses Rechtssystems beigetragen hat.Footnote 37 Auch im Bereich der Menschenrechte wird das klassische völkerrechtliche Modell schon länger kritisiert und als überholt oder gar als Hindernis für die tatsächliche Umsetzung der Entscheidungen bezeichnet.Footnote 38 Tatsächlich haben die beiden Menschenrechtsgerichte durch ihre Rechtsprechung maßgeblich zur Weiterentwicklung auch der Frage der Wirkungen ihrer Entscheidungen beigetragen. Wie sieht also die Rechtslage heute aus der Perspektive der beiden Menschenrechtssysteme aus? Diese Frage soll im ersten Teil der Abhandlung untersucht werden.

Der zweite Teil widmet sich dann der eigentlichen Hauptforschungsfrage, nämlich der Frage, wie innerstaatliche Gerichte mit dieser Entwicklung umgehen und welche Wirkungen sie bereit sind, den Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte zukommen zu lassen – und zwar genau dann, wenn sich das innerstaatliche Recht nicht dazu äußert. Unter welchen Umständen sind Gerichte bereit, Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte unmittelbar „anzuwenden“ und damit gleichsam umzusetzen? Lässt sich diesbezüglich ein Muster ausmachen, oder kristallisieren sich, ganz ähnlich wie beim Test der unmittelbaren Anwendbarkeit von Völkervertragsrecht, gar eigentliche Kriterien heraus?

Dabei sollen insbesondere aber auch die Probleme und Herausforderungen untersucht werden, die sich innerstaatlichen Gerichten im Rahmen der Urteilsumsetzung stellen und die sie gegebenenfalls dazu veranlassen können, eine Entscheidung nicht zu befolgen. Thematisiert werden sollen damit auch die Grenzen, die innerstaatliche Gerichte den Wirkungen von Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte in eigenen Verfahren setzen – und die in jüngerer Zeit eine zunehmende Rolle zu spielen scheinen. Zu untersuchen wird damit auch sein, ob die Haltung verschiedener Gerichte tatsächlich im Wandel begriffen ist und ob diese zu einer defensiveren, weniger völkerrechtsfreundlichen Haltung übergehen, wie einige Beispiele vermuten lassen.

Insgesamt wird sich zeigen, dass hinter der vermeintlich technischen Ausgangsfrage fundamentale Fragen verfassungsrechtlicher Natur stehen und sich am Beispiel der Menschenrechtsgerichte einige der zentralen Schwierigkeiten und Probleme zeigen, wie sie beim Zusammenspiel von Rechtsordnungen in Zeiten globalen Regierens entstehen. Dies rückt die Frage in den Vordergrund, welche Rolle innerstaatliche Gerichte an der Schnittstelle zwischen Rechtsordnungen spielen sollen. Diese normative Frage bildet Gegenstand des letzten Kapitels.

1. Begriffsbestimmung

In einem ersten Schritt sind nun allerdings einige zusätzliche Erläuterungen erforderlich. Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die Frage, ob und wann innerstaatliche Gerichte die Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte unmittelbar „anwenden“. Wie erwähnt handelt es sich dabei um eine altbekannte Frage, die sich regelmäßig stellt, wenn Gerichte mit Völkerrecht befasst sind. Allerdings stellt sich die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit mit Bezug auf internationale Entscheidungen nicht genau gleich wie mit Bezug auf generell-abstraktes Recht. Bevor aber auf die Unterschiede im Einzelnen eingegangen werden kann, sind zunächst einige grundsätzliche Ausführungen und eine genaue Begriffsbestimmung erforderlich.

1.1. Unmittelbare Anwendbarkeit von Völkervertragsrecht

Die Frage der Ausführungsbedürftigkeit („self-executingness“) ist, wie bereits erwähnt, insbesondere im Zusammenhang mit Völkervertragsrecht bekannt. Sie ist aber auch im nationalen Recht, insbesondere im Verfassungsrecht, relevant.Footnote 39 Die in diesem Zusammenhang aufgeworfenen Fragen werden gemeinhin unter dem Begriff der „unmittelbaren Anwendbarkeit“ („direct applicability“; „applicabilité immédiate“) gebündelt. Zuweilen ist diesbezüglich auch von „direkter Wirkung“ („direct effect“; „effet direct“) die Rede, obwohl dies im deutschen Sprachgebrauch weniger geläufig ist. In diesem Zusammenhang wurde schon vor einiger Zeit eine „babylonische Sprachverwirrung“ beklagt, deren Klärung nottue.Footnote 40 Ob sich die Situation heute verbessert hat, mag allerdings bezweifelt werden.Footnote 41 Erschwerend kommt hinzu, dass die Terminologie im Recht der Europäischen Union ganz eigen besetzt ist.Footnote 42

a) Definition

Nach dem hier zugrunde gelegten Verständnis ist mit unmittelbarer Anwendbarkeit die Fähigkeit einer Norm gemeint, ohne weiteres Zutun auf nationaler Ebene, d. h. ohne weitere Ausführung oder Konkretisierung insbesondere durch den Gesetzgeber, die Grundlage von Entscheidungen nationaler Behörden und Gerichte im Einzelfall bilden zu können. Die Konsequenz davon kann sein, dass innerstaatlich geltendes Recht verdrängt wird.

Als Geburtsstunde der Doktrin wird oft das Urteil des US Supreme Court in Foster v. NeilsonFootnote 43 genannt, worin dieser Völkervertragsrecht als „self-executing“ definierte, „whenever it operates of itself without the aid of a legislative provision“.Footnote 44 Vereinfacht gesagt geht es also um die Frage, ob innerstaatliche Gerichte und Behörden eine Norm tel quel anwenden können oder ob es zunächst weiterer ausführender Maßnahmen durch andere innerstaatliche Organe (zumeist den Gesetzgeber) bedarf, bevor diese Grundlage der Rechtsanwendung im Einzelfall bilden kann. Es handelt sich damit insbesondere auch um eine Frage, welche die Gewaltenteilung betrifft: Ist eine Norm an den Gesetzgeber gerichtet und damit quasi als Gesetzgebungsauftrag zu verstehen, oder ist sie bereits „anwendungsbereit“ für die rechtsanwendenden Behörden?

Die mittelbare Anwendbarkeit ist nur insofern ein Gegenbegriff, als dass völkerrechtliche Normen von Gerichten oder rechtsanwendenden Behörden in diesem Fall nicht direkt angewendet, sondern quasi indirekt im Rahmen der Auslegung des innerstaatlichen Rechts einbezogen werden. Das Ergebnis einer mittelbaren Anwendung oder völkerrechtskonformen Auslegung ist demgegenüber grundsätzlich das gleiche wie einer unmittelbaren Anwendung: Das Instrument dient ebenfalls der Verwirklichung von Völkerrecht im innerstaatlichen Rechtsraum.Footnote 45

Im allgemeinen Völkerrecht zeichnet sich die Doktrin der unmittelbaren Anwendbarkeit ferner gerade dadurch aus, dass es sich um eine Frage des innerstaatlichen – und nicht des internationalen – Rechts handelt.Footnote 46 Es ist damit jeder Rechtsordnung überlassen, zu entscheiden, ob und unter welchen Bedingungen die unmittelbare Anwendung von Völkervertragsrecht möglich ist, auch wenn die Kriterien in vielen Staaten im Ergebnis nicht stark divergieren.Footnote 47 Allerdings bleibt das Völkerrecht für die Bestimmung seiner Anwendbarkeit nicht ohne jeden Einfluss. Diesbezüglich ist von der „gemischter Natur“Footnote 48 des Konzepts die Rede. Letztlich geht es nämlich um eine Auslegungsfrage, die maßgeblich von der Qualität und den Eigenschaften der zugrunde liegenden völkerrechtlichen Norm abhängt. Der US Supreme Court sprach in seinem Medellín-Urteil von „our obligation to interpret treaty provisions to determine whether they are self-executing.“Footnote 49 Die Frage nach der unmittelbaren Anwendbarkeit von Völkervertragsrecht ist eine Frage, deren Antwort also nicht alleine im nationalen, sondern auch im Völkerrecht liegt.Footnote 50 Im Rahmen dieser Studie wird zu überlegen sein, inwiefern dies auch für internationale Judikate gilt.

Die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit im so verwendeten Sinne ist nicht zu verwechseln mit der Frage der Einbeziehung von Völkerrecht in der innerstaatlichen Rechtsordnung und damit zu trennen von der Frage nach dessen Geltung.Footnote 51 Die beiden Fragen werden gerade im angelsächsischen Raum jedoch oft vermischt, so etwa auch im bereits erwähnten Fall des US Supreme Court. Die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit kann sich aber unabhängig von der Art der Einbeziehung des internationalen Rechts im innerstaatlichen Recht stellen; die Geltung einer Norm ist vielmehr eine Vorbedingung für deren Anwendung durch innerstaatliche Stellen.Footnote 52 Damit wird aber auch klar, dass die Fragen sich bei der Rechtsanwendung regelmäßig zusammen stellen und miteinander verbunden sind.

Die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit ist damit auch in dualistischen Staaten relevant, insbesondere dann, wenn der Transformationsakt leidglich in einer generellen Geltungsanordnung (generelle Transformation) besteht und es keines eigentlichen Gesetzes bedarf, das die einzelnen Vorschriften ins innerstaatliche Recht transformiert (spezielle Transformation).Footnote 53 Aber selbst wenn der Völkerrechtstext mehr oder weniger wörtlich in einem nationalen Gesetz übernommen wird, kann sich die Frage stellen – zwar ist die Rechtsquelle formell nicht mehr eine völkerrechtliche, aber die Bestimmungen haben sich in ihrer Substanz nicht verändert.Footnote 54 Um die automatische Inkorporation von Völkerrecht in monistischen Staaten zu umschreiben, wird im Folgenden der Begriff der unmittelbaren Geltung verwendet.

Auch vom Bestehen subjektiver Rechte sollte die unmittelbare Anwendbarkeit getrennt werden.Footnote 55 Zwar wird das Vorhandensein subjektiver Rechte in vielen Staaten gerade als Kriterium der unmittelbaren Anwendbarkeit verwendet.Footnote 56 Konzeptuell ist die Frage der Ausführungsbedürftigkeit einer Norm indes nicht zu verwechseln mit der Frage, ob eine Norm die Rechtsstellung des Individuums regelt. Der Gehalt subjektiver Rechte bezieht sich auf den Inhalt einer Norm, während die Ausführungsbedürftigkeit sich grundsätzlich unabhängig vom Inhalt einer Norm stellen kann und dahinter wie erwähnt die Frage nach dem von der Norm adressierten Organ steht. Dies lässt sich illustrieren am Beispiel einer (hypothetischen) Verfassungsbestimmung, die den Staat zum Schutze der Umwelt und zur Nachhaltigkeit anhält. Bei einer solchen Norm stellt sich die Frage nach deren unmittelbaren Anwendbarkeit auch unabhängig vom Bestehen subjektiver Rechte. Allerdings stellt sich auch die Frage, ob eine Einzelperson die Bestimmung gerichtlich durchsetzen könnte, was neben der mangelnden Bestimmtheit auch an der fehlenden Prozesslegitimation scheitern könnte. Dies ist jedoch in abstracto nicht zu beurteilen und hängt vom jeweiligen innerstaatlichen Recht ab. Bei der Frage nach subjektiven Rechten geht es damit um die Anrufbarkeit (invocability) einer Norm, die zumeist in den Zusammenhang der Legitimation zur Führung eines Prozesses gehört und eine Einschränkungsfunktion erfüllt. In der Praxis dürften die Fragen der Anrufbarkeit und der Anwendbarkeit regelmäßig zusammenfallen, da sich Individuen im Regelfall auf Normen berufen, die ihre Rechtsstellung regeln.Footnote 57

Schließlich handelt es sich bei der Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit konzeptuell auch um eine andere Frage als diejenige nach dem Rang des Völkerrechts in der innerstaatlichen Normenhierarchie. Zwar trifft es zu, dass das Instrument der unmittelbaren Anwendbarkeit wirkungslos bleibt, wenn es zu einem echten Normenkonflikt kommt und das innerstaatliche Recht vorgeht.Footnote 58 Allerdings kann eine unmittelbare Anwendbarkeit in zahlreichen Situationen zu Rechtsfolgen führen, ohne dass es zu einem Konflikt mit innerstaatlichem Recht kommt, etwa, indem aufgrund der in Rede stehenden Pflicht ein an sich bestehender Ermessensspielraum innerstaatlicher Behörden aufgehoben wird.Footnote 59 Aus eben diesem Grund wird in der vorliegenden Studie die Frage der Rechtsfolgen der unmittelbaren Anwendbarkeit von der Frage der Art des Einbezugs im innerstaatlichen Recht separat behandelt.

b) Kriterien der unmittelbaren Anwendbarkeit

Obwohl die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit ebenso wie die Fragen der innerstaatlichen Geltung und des Rangs von Völkerrecht im innerstaatlichen Rechtsraum wie erwähnt grundsätzlich eine Frage des nationalen Rechts ist, besteht eine erstaunliche Kongruenz zwischen den verschiedenen Rechtsordnungen, was die Kriterien einer unmittelbaren Anwendbarkeit anbelangt.Footnote 60

Manche Autoren unterscheiden diesbezüglich zwischen subjektiven und objektiven Kriterien. Unter dem ersten Titel wird als ein Kriterium regelmäßig der Wille der Vertragsparteien genannt; unter dem zweiten machen zahlreiche innerstaatliche Gerichte die Fähigkeit einer Norm zur unmittelbaren Anwendbarkeit von deren Präzision oder „Vollständigkeit“ abhängig. Dahinter steht die Frage der Justiziabilität einer Norm: So wird davon ausgegangen, dass unbestimmte Normen zunächst durch die Legislative konkretisiert werden müssen, bevor Gerichte sie anwenden können.Footnote 61 In diesem letzten Kriterium, das zuweilen als ausschlaggebendes Kriterium qualifiziert wird,Footnote 62 kommt somit besonders das Spannungsverhältnis zum Ausdruck, das bei der Entscheidung über eine unmittelbare Anwendbarkeit zwischen innerstaatlichen Gerichten und der Legislative entstehen kann.Footnote 63

1.2. Zur Verwendung des Begriffs im Zusammenhang mit internationalen Entscheidungen

Wie bereits erwähnt stellt sich nationalen Richtern die Frage, ob eine völkerrechtliche Norm Grundlage einer Entscheidung bilden kann, nicht genau gleich, wenn sie mit sich aus internationalen Judikaten ergebenden Pflichten befasst sind. Denn in diesem Fall geht es gerade nicht um eine Anwendung einer generell-abstrakten Regel in einem bestimmten Einzelfall, sondern die Durchsetzung konkreter Rechte und Pflichten in einem viel engeren Sinne. Der eigene Handlungsspielraum von Gerichten ist reduziert und sie fungieren quasi als „Erfüllungsgehilfen“.

In der spärlichen Literatur zu dieser FrageFootnote 64 wird gefordert, im Zusammenhang mit individuell-konkreten Judikaten nicht von unmittelbarer Anwendbarkeit zu sprechen. Vereinzelt wurde dieser Begriff auch da verwendet,Footnote 65 ist aber insofern irreführend, als dass sich der Begriff der „Anwendung“ nach dem herkömmlichen Sprachgebrauch gerade auf die Anwendung einer generell-abstrakten Regel auf konkrete Einzelfälle bezieht.Footnote 66 Aufgrund dieser Bedenken und in Anlehnung an Iwasawa werden im Rahmen der vorliegenden Studie die Begriffe der mittelbaren und unmittelbaren Durchsetzbarkeit (enforceability) verwendet, um den erwähnten Unterschieden gerecht zu werden. Während Iwasawa den Begriff der direct enforceability benutzt, soll hier aber „unmittelbar“ und „mittelbar“ beibehalten werden. Denn während im englischen Sprachgebrauch oft von direct effect die Rede ist, wird das Wort „direkt“ im Deutschen in diesem Zusammenhang weniger verwendet.

1.3. Urteilsdurchsetzung, Umsetzung und Befolgung

Ebenfalls wichtig ist es, das Verhältnis zwischen den Begriffen der mittel- und unmittelbaren Durchsetzung, der Erfüllung der zugrunde liegenden völkerrechtlichen Pflichten und der Effektivität internationaler Gerichtsbarkeit zu klären.

In den Rechtswissenschaften wird Rechtsbefolgung („compliance“) herkömmlicherweise als Übereinstimmung zwischen einer Rechtspflicht und dem Verhalten der Rechtsunterworfenen – im vorliegenden Fall von Staaten – definiert.Footnote 67 Wenn das enge Konzept der Befolgung auch nicht sämtliche Auswirkungen, die internationale Gerichte auf die nationalen Rechtsordnungen haben können, zu beschreiben vermag und nicht deckungsgleich mit der darüber hinausgehenden Frage der Effektivität internationaler Gerichtsbarkeit ist,Footnote 68 so hat es dennoch seine Berechtigung. Rechtsbefolgung wird als „the essence of legality“ beschrieben;Footnote 69 Nichtbefolgung kann sich negativ auf die Autorität eines internationalen Gerichts auswirken.Footnote 70 Sowohl der EGMR als auch der IAGMR haben darüber hinaus erklärt, dass die effektive Befolgung ihrer Urteile ein integraler Teil des Rechts ist, von einem Gericht gehört zu werden.Footnote 71

Die Befolgung der Urteile internationaler Gerichte ist ein Thema, das die Völkerrechtswissenschaft seit langem beschäftigt.Footnote 72 Zu jedem internationalen Gericht besteht inzwischen eine Fülle an Literatur.Footnote 73 Gemeint ist mit Urteilsbefolgung nach dem herkömmlichen Verständnis die Ausführung darin getätigter Anordnungen, was auch als Durchsetzung („enforcement“) bezeichnet wird. Das innerstaatliche Prozedere zur Befolgung eines internationalen Judikats wird herkömmlicherweise als Durchführung oder Umsetzung („implementation“) bezeichnet.Footnote 74

Dabei gilt es zu betonen, dass Befolgung keine Entweder-oder-Frage ist: Wie wir sehen werden, können Entscheidungen von EGMR und IAGMR ganz unterschiedliche Anordnungen und Verpflichtungen enthalten. Während nationale Gerichte in manchen Fällen sämtliche Anordnungen zu erfüllen in der Lage zu sein vermögen, dürfte es ihnen gerade im interamerikanischen System in der Mehrheit der Fälle lediglich möglich sein, einzelnen Anordnungen nachzukommen. Innerstaatliche Gerichte werden somit selten ein Urteil von EGMR bzw. IAGMR vollumfänglich befolgen können.Footnote 75

Befolgen können in konkreten Urteilen getroffene Anordnungen und Feststellungen nach dem engen Verständnis lediglich die Verfahrensparteien.Footnote 76 Denn Befolgung setzt eine entsprechende Pflicht voraus. Wie wir sehen werden, besteht eine Pflicht zur Urteilsbefolgung de lege lata sowohl im europäischen als auch im interamerikanischen Menschenrechtssystem lediglich inter partes. Drittstaaten, die ihre Rechtsordnung Entscheidungen von EGMR bzw. IAGMR anpassen, handeln so gesehen überobligatorisch. Wie wir sehen werden, gibt es allerdings gute Gründe, die konventionsrechtliche Rechtsprechung im weiteren Sinne zumindest zu berücksichtigen – die Menschenrechtsgerichte verlangen dies auch.Footnote 77 Dabei geht es oft aber nicht primär um die eigentliche Umsetzung von Entscheidungen, sondern sie Anwendung der Konvention in der Auslegung durch den EGMR oder IAGMR. In dieser Konstellation ließe sich wiederum von der „unmittelbaren Anwendbarkeit“ sprechen, wie verschiedene innerstaatliche Gerichte es denn auch tun. Denn die Entscheidungen von EGMR bzw. IAGMR können so zu über den entschiedenen Einzelfall hinaus Bedeutung erlangenden, quasi generell-abstrakten Standards werden. Die verallgemeinerungsfähigen Teile der Urteile von EGMR und IAGMR werden gleichsam zu „generellen Prinzipien und Standards“.Footnote 78 Für die Situation, dass innerstaatliche Gerichte die Entscheidungen von IAGMR und EGMR in einem weiteren Sinne einbeziehen und sich grundsätzlich nach diesen Gerichten ausrichten, ist im Rahmen dieser Studie zumeist von der Rechtsprechung im weiteren Sinne die Rede.

2. Methode

2.1. Ziel und Herangehensweise

Ziel dieser Abhandlung ist es zu untersuchen, welche Wirkungen innerstaatliche Gerichte bereit sind den Entscheidungen der beiden Menschenrechtsgerichte zu gewähren, und zwar gerade dann, wenn sich das nationale Recht dazu nicht äußert. Dabei interessiert nicht der Urteilsteil betreffend die finanzielle Entschädigung, sondern die darüberhinausgehenden Pflichten und Konsequenzen, die sich aus den Urteilen ergeben und deren Umsetzung klassischerweise nicht als Aufgabe der innerstaatlichen Judikative angesehen wird. Anhand der aus diesen Situationen „geborenen“ Leitentscheidungen sollen die Dynamiken untersucht werden, die aus diesem Zusammenwirken von Individuen und Gerichten entstanden sind und die zuweilen nicht ohne Auswirkungen auch auf das innerstaatliche Gewaltengefüge bleiben.

Die gewählte Methode ist dabei primär eine deskriptive. Ziel ist es aber nicht, im Sinne einer klassisch rechtsvergleichenden Studie den Status von Entscheidungen in einzelnen Staaten zu ermitteln. Vielmehr geht es darum, auf der Basis einer repräsentativen Anzahl von Fällen aus den unterschiedlichsten Rechtsordnungen in systematischer Weise Gemeinsamkeiten und Probleme herauszuarbeiten und zu untersuchen, mit welchen Gerichte in Europa und Lateinamerika bei der Umsetzung von Judikaten des EGMR bzw. IAGMR konfrontiert sind. Die Studie bewegt sich also auf der Mikroebene und verfolgt eine empirisch-induktive Herangehensweise. Die innerstaatlichen Entscheidungen dienen als Grundlage für die Erarbeitung eines Modells gerichtlicher Interaktion über verschiedene Rechtsebenen hinweg. Auf der Basis dieser Erkenntnisse folgen in einem zweiten Schritt einige normative Überlegungen dazu, welche Rolle innerstaatliche Gerichte bei der Umsetzung innerstaatlicher Entscheidungen und an der Schnittstelle zwischen Rechtsordnungen in Zeiten globalen Regierens generell wahrnehmen sollten.

2.2. Ermittlung des Fallmaterials

Ausgangspunkt der Untersuchung bildet die Situation eines Regelungsvakuums, d. h. die Lage, dass sich das nationale Recht nicht zum Status internationaler Entscheidungen allgemein oder einem einzelnen internationalen Judikat äußert. Zwar gibt es Beispiele von Gesetzen, die den Umgang mit internationalen Entscheidungen bzw. Teilen davon regulieren; einige davon sollen im Folgenden kurz dargestellt werden. Um den Regelfall handelt es sich dabei aber nicht.

So ist die niederländische Verfassung mit Art. 93 ein seltenes Beispiel einer Verfassungsbestimmung, die sich explizit auch zu den Wirkungen von Sekundärrecht in der innerstaatlichen Rechtsordnung äußert.Footnote 79 Beobachter machen geltend, dass darunter auch Entscheidungen internationaler Gerichte fallen.Footnote 80 Auch einige streng dualistische Staaten wie England haben Bestimmungen erlassen, die sich auch zu internationalen Entscheidungen äußern, da diesen innerstaatlich sonst kaum rechtliche Bedeutung zukommen könnte. So statuiert etwa Art. 2 des englischen Human Rights Act, dass englische Gerichte Entscheidungen des EGMR „berücksichtigen“ müssten („take into account“).Footnote 81

Einige Staaten insbesondere in Lateinamerika haben darüber Bestimmungen zur Umsetzung der Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte erlassen, insbesondere mit Bezug auf die Zahlung finanzieller Entschädigung.Footnote 82 Ein besonderer Fall ist Peru, das ein Gesetz zur Umsetzung der Entscheidungen des IAGMR generell kennt.Footnote 83 Interessanterweise lässt das Gesetz die Hauptrolle in diesem Prozedere der innerstaatlichen Judikative zukommen. Das Gesetz regelt nicht nur die innerstaatliche Umsetzung des finanziellen Aspekts internationaler Urteile, sondern auch aller anderer Maßnahmen. Ist das Urteil einer Umsetzung durch die Judikative zugänglich, ist es laut dem Gesetz an dieser, die nötigen Schritte vorzunehmen. Wenn dies nicht der Fall ist, sieht das Gesetz vor, dass das zuständige Gericht die entsprechenden Stellen und Behörden zur Vornahme der erforderlichen Akte anweist (Art. 4). Damit anerkennt das Gesetz, dass die Urteilsumsetzung durch Gerichte Grenzen hat, führt aber nicht weiter aus, wo diese verlaufen und wann innerstaatliche Gerichte die zur eigentlichen Umsetzung zuständigen Organe sind. Damit lässt es die wesentlichen Fragen offen.

Andere Staaten kennen Bestimmungen, welche die Urteilsumsetzung lediglich in bestimmten Konstellationen regeln; so haben insbesondere zahlreiche europäische Staaten vor allem im Bereich des Strafrechts Tatbestände eingeführt, welche die Durchbrechung der Rechtskraft im Zuge von Entscheidungen des EGMR zulassen.Footnote 84 So erlaubt etwa die deutsche Strafprozessordnung die Wiederaufnahme bereits rechtskräftiger Urteile zugunsten von verurteilten Personen, „wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte eine Verletzung der Europäischen Konvention zum Schutze der Menschenrechte und Grundfreiheiten oder ihrer Protokolle festgestellt hat und das Urteil auf dieser Verletzung beruht.“Footnote 85 Die Schweiz kennt gar einen allgemeinen Wiederaufnahmetatbestand.Footnote 86

Zu erwähnen ist schließlich das jüngst in Russland erlassene Gesetz, das quasi in umgekehrter Weise das Prozedere der Umsetzung von EGMR-Urteilen regelt: Eine 2015 eingeführte Gesetzesänderung sieht vor, dass das Verfassungsgericht in gewissen Situationen dafür zuständig ist, Entscheidungen des EGMR für verfassungswidrig und damit nicht umsetzbar zu erklären.Footnote 87

Zahlreiche Staaten kennen aber keine Bestimmungen, die sich zu internationalen Judikaten äußern. Insbesondere diese Konstellation ist es, welche die vorliegende Studie im Blick hat. Nicht Gegenstand der Untersuchung bilden damit zum einen Fälle, in denen innerstaatliche Gerichte gestützt auf eine Bestimmung des nationalen Rechts, welche explizit die Möglichkeit der Revision innerstaatlicher Urteile in der Folge eines Urteils des zuständigen Menschenrechtsgerichts vorsieht, aktiv werden. Zwar können sich auch dabei nicht minder spannende Rechtsfragen stellen, so etwa die Frage, ob und wann innerstaatliche Gerichte gehalten sind, bestehende Revisionsbestimmungen im Zuge einer Entscheidung von EGMR bzw. IAGMR tatsächlich im Sinne einer Wiedereröffnung zu nutzen.Footnote 88 Diese Fragen sind aber anders gelagert und könnten Gegenstand einer eigenen Studie bilden.

Aus demselben Grund werden auch Fälle aus streng dualistischen Staaten ausgeklammert. Wie oben dargestellt kann sich die Frage der unmittelbaren Anwendbarkeit von Völkerrecht zwar grundsätzlich auch in dualistischen Staaten stellen, was insbesondere für Staaten gilt, die den völkerrechtlichen Bestimmungen durch einen pauschalen Anwendungsbefehl zur innerstaatlichen Geltung verhelfen. In streng dualistischen Staaten ist die Situation mit Bezug auf internationale Judikate aber eine besondere; ein allfälliges Transformationsgesetz umfasst nicht notwendigerweise auch den „dynamischen“ Teil, der aus den Entscheidungen der zuständigen internationalen Instanzen besteht. Aus diesem Grund findet sich etwa im bereits erwähnten Human Rights Act der berühmte Hinweis, dass englische Richter die Entscheidungen des EGMR zu berücksichtigen hätten.Footnote 89 Auch für diese Fälle gilt, dass die sich stellenden Rechtsfragen zweifelsohne untersuchungswürdig sind, sie aufgrund der anders gelagerten Ausgangslage für die damit befassten Richterinnen im Rahmen der vorliegenden Studie aber grundsätzlich ausgeklammert werden.

Wie erfolgte nun aber die Suche und Auswahl des untersuchten Fallmaterials? Ein erster Satz an Entscheidungen lieferte die Datenbank International Law in Domestic Courts (ILDC).Footnote 90 Diese Datenbank sammelt Entscheidungen innerstaatlicher Gerichte zu völkerrechtlichen Fragen aus der ganzen Welt und stellt sie in englischer Zusammenfassung und teils gar Übersetzung zur Verfügung. Analysen von Rechtsexperten aus der jeweiligen Rechtsordnung erleichtern die Kontextualisierung. Die Auswahl wurde durch in den so ermittelten Entscheidungen enthaltene Verweise auf weitere Leitentscheidungen sowie mithilfe von Sekundärquellen erweitert. Dabei bildete außerhalb der mittels der Datenbank gesammelten Entscheidungen die Sprache eine natürliche Barriere. Aufgrund der Detailanalyse des Fallmaterials, auf welcher die Studie basiert, konnten nur in einer der Autorin verständlichen Sprache verfasste bzw. übersetzte Urteile Berücksichtigung finden. Einbezogen wurden damit Entscheidungen, die auf Deutsch, Englisch, Französisch, Spanisch und Italienisch verfasst bzw. übersetzt verfügbar sind. Nicht berücksichtigt werden konnten hingegen insbesondere Entscheidungen aus Brasilien sowie etwa verschiedenen osteuropäischen Staaten, die nicht in englischer Übersetzung verfügbar sind. Der Umfang der Studie ist damit notwendigerweise ein limitierter. Dank der beachtlichen Zahl an Entscheidungen aus den unterschiedlichsten Rechtsordnungen, die über ILDC auffindbar sind, können dennoch relevante Aussagen getroffen werden.

2.3 Auswahlkriterien der Fälle

Am direktesten stellt sich innerstaatlichen Gerichten die Frage nach den Wirkungen internationaler Entscheidungen, wenn sie mit deren eigentlichen Durchsetzung auf der innerstaatlichen Ebene befasst sind, d. h. wenn sich in Straßburg bzw. San José erfolgreiche Beschwerdeführerinnen an innerstaatliche Gerichte wenden, um ihrer Rechtsposition Geltung zu verschaffen. Diese Konstellation ist aber bei weitem nicht die einzige, in denen sich nationale Gerichte mit internationalen Judikaten konfrontiert sehen. So können sich Beschwerdeführer etwa auch auf Urteile berufen, die zwar gegen Drittstaaten ergangen sind, aber für sie vorteilhafte Positionen enthalten.

Viele Gerichte haben sich, wie zu zeigen sein wird, nicht darauf beschränkt, sich zu den Wirkungen der Entscheidungen, die sich gegen den eigenen Staat richten und damit im eigentlichen Sinne verbindlich sind, zu äußern. Damit soll nicht gesagt sein, dass die Unterscheidung zwischen den am Verfahren beteiligten Parteien und Drittstaaten obsolet geworden wäre. Es ist mit anderen Worten nicht das Ziel der vorliegenden Studie, eine Erga-omnes-Wirkung der Urteile der Menschenrechtsgerichte nachweisen zu wollen. Vielmehr ist die Unterscheidung gerade im Falle der Menschenrechtskonventionen nach wie vor zentral, wie zu zeigen sein wird. Sich aber nur auf Fälle zu beschränken, in denen es um die Befolgung von Urteilen des EGMR bzw. IAGMR im strikten Sinne geht, würde der Rechtsrealität nicht gerecht werden. Selbst wenn die Rechtsprechung im weiteren Sinne nicht in gleicher Weise wie Urteile im entschiedenen Einzelfall verbindlich ist – was angesichts der zentralen Rolle innerstaatlicher Gerichte im Konventionssystem auch nicht uneingeschränkt wünschenswert erscheint – so behandeln nationale Gerichte die internationalen „Präjudizien“ in zahlreichen Fällen wie verbindliche Urteile und geben ihnen Folge. Dies ist schlicht die Folge davon, dass innerstaatlichen Gerichten die „Interpretationshoheit“ über völkerrechtliche Instrumente nicht mehr alleine zukommt, sondern sie diese mit internationalen Instanzen teilen, was ihre Freiheit bei der Anwendung dieser Instrumente unweigerlich einschränkt.Footnote 91 Selbst wenn die Menschenrechtsgerichte keine Gerichte „vierter Instanz“ sind, wie sie selbst betonen,Footnote 92 so kommt es heute im Ergebnis häufig vor, dass sie – untechnisch gesprochen – Entscheidungen nationaler Gerichte bis zu einem gewissen Grad „nachprüfen“.Footnote 93

Wie bereits erwähnt soll maßgebendes Kriterium dafür, wann Entscheidungen nationaler Gerichte einbezogen werden, die in Umsetzung von gegen andere Staaten ergangenen Entscheidungen der Menschenrechtsgerichte ergehen, sein, dass die internationale Entscheidung erkennbar das ausschlaggebende Moment war.

Allerdings äußern sich nicht alle innerstaatlichen Gerichte gleich explizit zu den Wirkungen, die sie internationalen Judikaten zukommen lassen, wenn sie in eigenen Verfahren damit konfrontiert sind. Zum einen gibt es zahlreiche Fälle, in denen innerstaatliche Gerichte den internationalen „Präjudizien“ ganz selbstverständlich und ohne großen Aufhebens folgen. Das österreichische Verfassungsgericht etwa bezieht grundsätzlich die gesamte EGMR-Rechtsprechung ohne weitere Erläuterungen in eigenen Verfahren ein und folgt dem EGMR im Regelfall.Footnote 94 Auch das schweizerische Bundesgericht nimmt standardmäßig und über den entschiedenen Einzelfall hinaus auf den EGMR Bezug und folgt diesem im Regelfall, ohne sich vertieft mit den rechtlichen Wirkungen der Urteile auseinanderzusetzen.Footnote 95

Zum anderen gibt es Gerichte, die sich ganz bewusst nicht explizit dazu äußern, wenn sie internationale Vorgaben umsetzen. So ist etwa die französische Judikative für ihre „stillschweigende Anpassung“Footnote 96 oder „implizite Befolgung“Footnote 97 bekannt. Ein illustratives Beispiel für eine solche „stillschweigende“ Befolgung lieferte der Kassationshof in einem Fall aus dem Jahr 1992, in welchem die Vollversammlung in der Folge eines gegen Frankreich ergangenen Urteils des EGMR einen „spektakulären Rechtsprechungswandel“Footnote 98 vorgenommen hat, ohne mit einem Wort auf das vorausgegangene Verdikt aus Straßburg Bezug zu nehmen. Darin hat der Kassationshof, nachdem der EGMR im Fall B contre France eine Verletzung von Art. 8 EMRK festgestellt hatte,Footnote 99 das Recht Transsexueller auf Änderung ihres Personenstandes anerkannt.Footnote 100 Die Relevanz des Straßburger Judikats für den Richtungswechsel des Kassationshofs ergibt sich lediglich aus den Schlussfolgerungen des Generalanwalts, der jedoch auch festhält, dass die französischen Gerichte nicht formell an die Urteile des EGMR gebunden seien.Footnote 101 Während die Tatsache, dass die vorausgegangene EGMR-Entscheidung nicht explizit thematisiert wird, sicherlich mit dem französischen Rechtsprechungsstil und den sehr kurz gefassten Urteilen zusammenhängt, wird die Haltung in der Literatur durchaus mit einem gewissen Nationalstolz in Verbindung gebracht und teilweise heftig kritisiert.Footnote 102 Zwar habe diese „Technik“ den Vorteil, dass dadurch mögliche innerstaatliche Friktionen umgangen werden können; eine solche Vorgehensweise lasse jedoch auch eine gewisse „Ehrlichkeit und Offenheit“ vermissenFootnote 103 und bilde damit keine gute Basis für einen gerichtlichen Dialog.Footnote 104

Wenn es auch aus einer ergebnisorientierten Perspektive nicht darauf ankommen mag, ob innerstaatliche Gerichte den Menschenrechtsgerichten implizit oder explizit folgen, soll der Schwerpunkt vorliegend auf den Fällen liegen, in denen sich innerstaatliche Gerichte ausdrücklich mit internationalen Judikaten auseinandersetzen. Diese Fälle sind für die untersuchte Fragestellung besonders aufschlussreich: So interessiert gerade auch, wie die Gerichte mit möglichen Problemen und Schwierigkeiten umgehen, die sich bei der Umsetzung der internationalen Vorgaben ergeben und wo sie die Grenze der Umsetzbarkeit als erreicht ansehen. Wie wir sehen werden, variieren allerdings die Aussagen über die Bindungswirkung von Urteilen teilweise auch von Fall zu Fall oder zwischen verschiedenen Gerichten im selben Staat.