Ziel der quantitativen Online‐Befragung war es, einen Eindruck über den Status quo «Prozessintelligenz» in Unternehmen zu gewinnen. Ausgehend von möglichen Treibern und Lösungselementen für analytische und praktische Prozessintelligenz wurde der Stand des Methoden‐ und Werkzeugeinsatzes erhoben. Das Resultat ist eine Momentaufnahme der kreativen, analytischen und praktischen Fähigkeiten, mit denen die befragten Organisationen ihre Geschäftsprozesse gestalten, ausführen, überwachen und fortlaufend weiterentwickeln.

1 Status quo «Prozessintelligenz»: Fazit aus der Online‐Befragung

Die Ergebnisse zeigen viel Licht, aber auch noch Schatten auf dem Weg zur Prozessintelligenz. Die wesentlichen Ergebnisse der Umfrage zum Status quo der kreativen, analytischen und praktischen Fähigkeiten sind in Abb. 9.1 zusammengefasst und führen zu folgendem Fazit:

Abb. 9.1
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Zusammenfassung der Ergebnisse der Online‐Befragung

Effizienz und Kundenorientierung …

stehen als wichtigste Nutzenversprechen im Fokus des Prozessmanagements, aber die Ergebnisse lassen Zweifel aufkommen, ob alle befragten Unternehmen in der Lage sind, die Erreichung dieser Ziele mit ihrem Prozessmanagement und den bis dato eingesetzten Methoden und Werkzeugen zu unterstützen. Grosse Unternehmen haben eine deutlich höhere Motivation, ihre Effizienz mit Prozessmanagement zu steigern (71 %) als kleinere und mittlere Unternehmen (45 %).

Strategische Ausrichtung und organisatorische Verankerung …

des Prozessmanagements sind im Bewusstsein der Unternehmen und auf einem guten Weg. Fast die Hälfte der Befragten betrachtet ihr Prozessmanagement als strategisch ausgerichtet und mehr als die Hälfte haben prozessbezogene Rollen implementiert.

Standardisierungs‐ und Automatisierungspotenzial …

wird von nicht einmal einem Viertel der befragten Unternehmen systematisch identifiziert. Hier scheint methodisch Nachholbedarf für das Prozessmanagement zu bestehen, um dem Ziel der Effizienzsteigerung näher zu kommen.

Transparenz …

in der Gestalt von Prozesslandkarten, ‐modellen und darin hinterlegten Kennzahlen ist für die Mehrzahl der befragten Unternehmen realisiert. Damit sind wichtige Grundlagen für die Analyse und Optimierung von Prozessen geschaffen.

Überwachung der Performanz der Prozesse …

findet bei über einem Viertel der befragten Unternehmen nicht statt. Erstaunlich vor dem Hintergrund, dass mehr als 60 % der Befragten angeben, Prozessmanagement als Hebel für Effizienzsteigerung einsetzen zu wollen. Die Zurückhaltung insbesondere bei KMU lässt sich teilweise mit der geringeren Relevanz der Effizienzsteigerung als Motivation für das Prozessmanagement erklären. Oder KMU haben schlichtweg andere Mittel und Wege, Effizienz sicherzustellen, als grosse Unternehmen, bei denen Geschäftsvolumen, Arbeitsteilung und geographische Verteilung der Mitarbeitenden in der Regel ausgeprägter sind und das Prozessmanagement gefordert ist, um Transparenz über die Prozessleistung und Konformität zu schaffen.

Operative Prozessdaten …

Werden bereits von der Hälfte der befragten Unternehmen für die Prozessüberwachung und Prozessleistungsmessung eingesetzt. Auch hier sind grosse Unternehmen im Lead. Historische Daten aus Geschäftsapplikationen und Datenbanken sind die wichtigsten Quellen. Log‐Daten aus Prozess/Workflow‐Engines sind weniger präsent und werden selbst von Unternehmen, die eine solche Engine nutzen nicht immer ausgewertet.

Synergien zwischen den Disziplinen Prozessmanagement und Business Intelligence …

werden eindeutig nicht ausgenutzt. Kleineren Unternehmen fehlen in Sachen BI‐Infrastruktur häufig die Voraussetzungen. Rund ein Drittel der Unternehmen mit weniger als 500 Mitarbeitenden hat keine BI‐Infrastruktur. Aber selbst wenn eine BI‐Infrastruktur vorhanden ist, nutzt fast die Hälfte aller befragten Unternehmen diese nicht für das Prozessmanagement. Eine Ausnahme bildet das Reporting. Mit Blick auf die strategische Ausrichtung und entscheidungsunterstützende Rolle des Prozessmanagement ist die Integration von Prozessleistungsdaten in Management‐Cockpits bei mehr als einem Drittel der Befragten realisiert.

Prozess‐Automatisierung …

findet bei deutlich mehr als einem Drittel der befragten Unternehmen nicht statt. Es stellt sich die Frage, ob die Ansatzpunkte fehlen, da das Automatisierungspotenzial kaum systematisch erhoben wird. Wenn, dann wird Automatisierung bei den meisten Unternehmen durch Systemintegration gelöst. Nur etwa ein Drittel der Befragten setzt eine Prozess‐ oder Workflow‐Engine für die Automatisierung ein.

Integrationsinfrastruktur …

ist bei mehr als einem Drittel der befragten Unternehmen nicht vorhanden. Wenn integriert wird, dann über Standardkonnektoren oder eigenentwickelte Schnittstellen mit entsprechenden Auswirkungen auf die Implementierungszeiten bei Automatisierungsprojekten. Voraussetzungen für Prozessorchestrierung und Service‐orientierte Architekturen wie Enterprise Application Integration (EAI) beziehungsweise ein Enterprise Service Bus fehlen. Die integrierte Betrachtung von Enterprise Architecture und Prozessmanagement scheint sich primär auf das Hinterlegen von Applikationen in Prozesslandkarten zu beschränken.

Geschäftsregeln …

sind etablierter als erwartet und sowohl bei grossen als auch bei kleinen und mittleren Unternehmen im Einsatz. Fast ein Drittel der befragten Unternehmen verfügt somit über eine solche (wie auch immer ausgeprägte) Grundlage für die Flexibilisierung von Prozessen.

Prozess‐Flexibilisierung …

wäre hilfreich, um das hochpriorisierte Nutzenziel der Kundenorientierung zu erreichen. Aber fast 40 % der Unternehmen setzen hierfür keine Methoden oder Werkzeuge ein. Das hat sicher auch mit dem niedrigen Automatisierungsgrad grundsätzlich zu tun, der bei gering strukturierten und wissensintensiven Prozessen mit grosser Wahrscheinlichkeit noch tiefer ist. In der IT‐Unterstützung für kollaborative wissensintensive Prozesse scheint grosses Potenzial zu liegen. Existierende Methoden wie Adaptive Case Management, ad‐hoc‐Workflows oder lernende Systeme, die Entscheide in Prozessen auf der Basis von aggregierten und analysierten Prozessdaten unterstützen können, sind bei den befragten Unternehmen kaum im Einsatz.

Kontinuierliche Verbesserung …

sieht fast ein Drittel der Befragten als festen Bestandteil ihrer Unternehmenskultur. Doch haben die Unternehmen die Voraussetzungen, um den Loop zur kontinuierlichen Verbesserung zu schliessen? Nutzen sie die Erkenntnisse, die sie aus ihren Prozessdaten gewinnen könnten, um ihre Prozesse effizienter, effektiver und flexibler zu machen? Teilweise ja, aber gerade KMUs sehen Prozessmanagement nicht als wichtigsten Hebel und/oder haben teilweise die infrastrukturellen Voraussetzungen (BI und BPM) nicht. Nutzen Organisationen Prozessintelligenz, um zu einer lernenden Organisation zu werden? Hier kann die quantitative Umfrage keine abschliessende Antwort geben. Aber die im Rahmen dieser Studie analysierten Fallstudien zeigen auf, dass Prozessmanagementinitiativen durchaus wichtige Impulse in diese Richtung geben können.

2 Best Practices «Prozessintelligenz»: Erfolgsmuster in der Praxis

Was zeichnet Organisationen mit Prozessintelligenz aus? Was machen die in den Fallstudien portraitierten Unternehmen anders oder besser als andere Organisationen? Auf welche kreativen, analytischen und praktischen Fähigkeiten greifen sie zurück, um ihre Geschäftsprozesse wirksam für die Erreichung der Geschäftsziele zu gestalten? Die Beantwortung dieser Fragen war Ziel des Praxisworkshops «Prozessintelligenz», der im Rahmen dieser Studie stattgefunden hat.

Während die Ergebnisse der Online‐Befragung ein rein quantitatives Bild vom Status quo «Prozessintelligenz» vermitteln, erlaubte der eintägige Praxisworkshop mit fünf Unternehmen einen vertieften Einblick in verschiedene Problemstellungen und Lösungsansätze für Prozessintelligenz (vgl. Abschn. II). Der Praxisworkshop hatte keinen Anspruch auf Vollständigkeit, sondern sollte ein breites Spektrum an Awendungsszenarien, Methoden und Technologien und Erfahrungen zusammenbringen. Die Debriefings im Vorfeld des Workshops, die Präsentationen und Diskussionen im Workshop sowie die Dokumentation der Fallstudien im Anschluss schärften nicht nur die Hypothesen, sondern erlauben Rückschlüsse auf mögliche Lösungselemente und Erfolgsmuster für den Einsatz von Prozessintelligenz in Unternehmen.

Organisationen mit Prozessintelligenz …

sind in der Lage, relevante Probleme und Chancen in ihren Geschäftsprozessen zu erkennen und zu adressieren.

richten die analytischen und praktischen Fähigkeiten des Prozessmanagement auf die operativen und strategischen Prämissen und letztlich auf die Erreichung der Geschäftsziele aus.

sind besser als andere Organisationen in der Lage, ihre Stärken zu nutzen und ihre Schwächen zu kompensieren.

identifizieren Automatisierungs‐ und Standardisierungspotenzial, indem sie in ständigem Dialog mit dem Business stehen und so geeignete Prozesskandidaten identifizieren.

sind mutiger, wenn es darum geht, neue oder unkonventionelle Wege zu gehen.

pflegen Prozessmodelle, die nicht nur die Struktur, sondern die Leistungsparameter, Kennzahlen und Risiken der Prozesse erfassen.

binden die Anspruchsgruppen und Prozessbeteiligten mithilfe intuitiver und kollaborativer Elemente in die Prozessmodellierung ein, um die Modelle aktuell, verständlich und handlungsrelevant zu halten und die Beteiligten in die Prozessoptimierung einzubinden.

nutzen IT‐gestützte analytische Verfahren wie Process Mining oder Simulation, um ihre Prozessanalysen zu objektivieren und die Prozessoptimierung zu unterstützen. Diese Verfahren erlauben eine «wertneutrale» Analyse von Prozessen und ergänzen klassische Methoden der Prozessanalyse wie etwa Interviews, Workshops oder Beobachtungen, die von subjektiven menschlichen Faktoren beeinflusst sind.

nutzen Simulation, um Prozesse proaktiv zu steuern und Rückschlüsse auf das reale Prozessverhalten und bestimmten Bedingungen zu ziehen. Simulationen verhelfen zu einer klaren Sicht auf die relevanten Parameter von Prozessleistung und Prozessrisiken.

führen eine Prozessanalyse immer auf der Grundlage geschäftsgetriebener Annahmen durch, da diese nur dann zu sinnvollen und handlungsrelevanten Ergebnissen führen.

scheuen den Abgleich zwischen Modell und realer Prozessausführung nicht, sondern überwachen ihre operativen Prozesse, identifizieren Abweichungen und Schwachstellen und reagieren darauf.

verfügen über die Möglichkeiten, Informationen aus und über Prozesse so zu verarbeiten und aufzubereiten, dass sie Lösungsstrategien abwägen, bessere Entscheide fällen und/oder neue Handlungsmöglichkeiten entdecken können.

nutzen operative Daten, um Transparenz über die Struktur und Leistung der realen Prozesse herzustellen. Daten aus der Prozessausführung sind sowohl für die Analytik (z. B. Process Mining) als auch für die Steuerung und Planung der Prozesse essentiell (z. B. Kapazitätsplanung, Simulation, Kontextorientierung/Flexibilisierung).

schaffen es, die Prozessausführung dem Kontext anzupassen, aber auch die Rahmenbedingungen eines Prozesses so zu verändern, dass ein Geschäftsprozess zielgerecht ablaufen kann (z. B. durch Ressourcenmanagement, IT‐Unterstützung/Automatisierung).

können die Kundenorientierung auch in standardisierten Prozessen aufrechterhalten, da sie die Bedürfnisse der Anspruchsgruppen kennen und ihre Prozesse konsequent End‐to‐End auf diese ausrichten.

setzen in ihren Lösungen Geschäftsregeln (Business Rules) ein, um die Komplexität der Geschäftslogik von den Prozessen zu entkoppeln. Auf diese Weise können sie Veränderungen (z. B. neue Tarife, Produkte etc.) rasch abbilden, ohne Prozesse anpassen zu müssen.

betreiben Ressourcenplanung integriert mit der Prozessoptimierung als Teil des Prozessmanagements und leisten so einen Beitrag zur Effizienzsteigerung und kontinuierlichen Verbesserung.

nutzen Personalentwicklung und Anreizsysteme (Mitarbeiterbeurteilung) für die Prozessoptimierung.

schaffen ein Bewusstsein für Prozesskennzahlen bei den Mitarbeitenden.

schaffen es, eine Bereitschaft für Verbesserung und Veränderung in der Unternehmenskultur zu verankern.

nehmen Einfluss auf die Aufbauorganisation und passen diese an, wenn ein neuer oder veränderter Prozess dies erfordert.

schaffen es, operative Prozessdatenspeicher als Wissensdatenbanken zu nutzen, die nicht nur für zukünftige Geschäftsfälle/Prozessinstanzen genutzt werden können, sondern auch für die Optimierung des Prozesses grundsätzlich.

betrachten Prozessintelligenz nicht als feste Grösse, sondern als Gegenstand eines permanenten Lernprozesses, der darauf abzielt die kreativen, analytischen und praktischen Fähigkeiten anforderungsgerecht zu verbessen und so zu einer Lernenden Organisation zu werden.

Die Ausgangshypothese und Arbeitsdefinition für die Studie hat sich bei der Auswertung der Fallstudien bestätigt:

Prozessintelligenz ist mehr als Datensammlung und Analytik. Prozessintelligenz umfasst die kreativen, analytischen und praktischen Fähigkeiten, mit denen eine Organisation ihre Geschäftsprozesse gestaltet, ausführt, überwacht und fortlaufend weiterentwickelt.