Den Bereitstellungsprozess in globalen klinischen Studien optimal zu steuern, ist eine anspruchsvolle Aufgabe mit herausfordernden Zielkonflikten. Auf der einen Seite gilt es, das Risiko von «Stock‐outs» (Fehlmengen) zu reduzieren, auf der anderen Seite will man, Mehrkosten durch eine Überproduktion an Studienmedikation («Overage») vermeiden. Die vorliegende Fallstudie demonstriert, wie das Simulation-Team bei F. Hoffmann LaRoche Global Clinical Demand and Supply Management durch die Vorhersage optimaler Produktions‐ und Liefermengen wertvolle Entscheidungsgrundlagen liefert. Dabei geht der Einsatz von Simulation über die operative Prozesssteuerung hinaus und liefert Impulse für die kontinuierliche Verbesserung der Prozesskette, indem der Bereitstellungsprozess auf der Grundlage der Simulationsergebnisse fortlaufend optimiert und standardisiert wird.

1 Ausgangssituation und Rahmen

Der zentrale Punkt in den Zulassungsvoraussetzungen in der Entwicklung von Medikamenten ist der Nachweis deren Sicherheit und therapeutischer Wirksamkeit. Diese werden für die einzelnen Entwicklungsphasen in klinischen Studien überprüft. Um möglichst valide statistische Aussagen zu erhalten, werden klinische Studien weltweit und mit unterschiedlichen Patientenkollektiven durchgeführt. Die Marktzulassung kann nur nach erfolgreichem Abschluss aller notwendigen Voraussetzungen erfolgen. Dabei gilt es für Roche, für mehrere hundert Studien gleichzeitig eine effiziente und effektive klinische Supply Chain sicherzustellen, die nicht nur den definierten Service Levels, sondern auch internationalen Standards und regulatorischen Anforderungen entspricht.

Im Rahmen eines Studienprotokolls erhalten die teilnehmenden Patienten den Wirkstoff nach einem bestimmten Dosierungsschema und in einer festgelegten Darreichungsform. Komplexität und Kosten klinischer Studien variieren je nach Anzahl der eingeschlossenen Patienten, geographischer Verteilung und Art der Medikation. Beispiele für mögliche Kostentreiber sind:

  • die Benutzung spezieller Kühlbehältnisse, die eine konstante Temperatur während des gesamten Transports gewährleisten, um thermische Einflüsse auf die Studienmedikation zu verhindern.

  • der Ankauf zum Marktpreis einer Arznei von einer Drittfirma zum Vergleich der Wirksamkeit der Behandlungen.

Den potentiell sehr hohen Herstellungs‑, Beschaffungs‐ und Distributionskosten steht ein schwer vorhersehbarer Bedarf an Studienmedikation gegenüber, da der Rekrutierungsprozess von Patienten zufälligen Schwankung unterworfen ist, die eine exakte Planung deutlich erschweren.

Eine Möglichkeit, den beschriebenen Schwankungen und Unsicherheiten des Bereitstellungsprozesses zu begegnen, ist die modellhafte Beschreibung des Prozesses. Ein Prozessmodell ermöglicht die Simulation von verschiedenen Szenarien, deren Ergebnisse wieder in die Prozessplanung einfliessen.

Abb. 6.1 beschreibt den Bereitstellungsprozess. Die Simulation umfasst die Prozessschritte von der Produktion des Wirkstoffes bis zum Versand an den Versuchsleiter. Die Einnahme durch den Patienten ist nicht Gegenstand der Simulation.

Abb. 6.1
figure 1

Bereitstellungsprozess

Eine nicht optimale Wahl der Prozessparameter kann zu folgenden Situationen führen:

  1. 1.

    Mehrkosten durch Überschuss von Studienmedikation: Aufgrund regulatorischer Vorschriften kann die überschüssige Studienmedikation nicht in jedem Fall zurückgerufen und wiederverwendet werden. Durch eine zu konservative Wahl der Prozessparameter werden Mehrkosten generiert.

  2. 2.

    Mehrkosten durch Studienverzögerungen: Falls auf Basis der Schätzung zu wenig Medikation produziert wird, können Patienten nicht ausreichend mit Studienmedikation versorgt werden. In extremen Fällen wird die Studie erheblich verzögert. Im Falle einer verzögerten Markteinführung entstehen erhebliche Umsatz‐ und Gewinneinbussen.

Bei der Wahl der optimalen Prozessparameter existieren also Zielkonflikte. Zum einen gilt es, das Risiko zu minimieren, die eingeschlossenen Patienten aufgrund von «Stockouts» (Fehlmengen) nicht ausreichend mit Studienmedikation versorgen zu können. Zum anderen soll durch den Versand einer möglichst geringen Menge der sogenannte «Overage» (die Überproduktion) begrenzt werden, um die Studienkosten möglichst tief zu halten.

Die zentrale Herausforderung in der Prozessplanung ist eine möglichst exakte Vorhersage des Rekrutierungsverlaufs, um daraus eine Vorhersage des Bedarfs an Studienmedikation ableiten zu können.

2 Motivation und Fokus

Die Motivation, den Bereitstellungsprozess modellhaft zu fassen und durch Simulation sukzessive zu optimieren, ist im Wesentlichen die Kontrolle von Kosten und Risiken. Auf der einen Seite werden möglichst niedrige Herstellungs‐ und Distributionskosten angestrebt. Dem gegenüber steht die Aufrechterhaltung des Service‐Levels, der trotz Kostendruck nicht reduziert werden darf. Es soll unbedingt vermieden werden, Studienteilnehmer nicht mit Medikation versorgen zu können.

Der Begriff «optimal» hat für verschiedene Prozessbeteiligte unterschiedliche Bedeutungen:

  • Clinical Operation (Studienleiter): Optimal sind möglichst hohe Puffermengen.

  • Lagerhaltung: Optimal ist, wenig Lagerplatz zu belegen.

  • Distribution: Optimal bedeutet, wenige Lieferungen zu Depots und Spitälern zu haben.

  • Finance: Optimal ist, wenig Medikation herzustellen oder einzukaufen.

3 Problemlösungsfähigkeit und Entscheidungsqualität

Um den Bereitstellungsprozess und seine Prozessparameter abzubilden und strategische Supply‐Entscheide durch Simulationsergebnisse zu unterstützen, wird eine speziell entwickelte Software eingesetzt. Die Simulationssoftware deckt folgende Schritte des Bereitstellungsprozesses ab (vgl. Abb. 6.1):

  • Produktion des Wirkstoffes

  • Verpackung

  • Verteilung an die Depots

  • Versand an den Versuchsleiter.

In die Anforderungen an die Simulationssoftware flossen die in der Vergangenheit gemachten Simulations‐Erfahrungen ein:

  • Abwägen von Risiko gegen Kosten – unter Berücksichtigung des Service‐Levels

  • Bedarfs‐ und Beschaffungsplanung für klinische Studien

  • Optimieren von Parametern für die prozessausführenden Softwaresysteme, wie SAP R/3 etc.

  • Evaluation und Vergleich verschiedener Szenarien

  • Standardisierung der Planung und Aufwandsschätzung von klinischen Studien

  • Was‐wäre‐wenn‐Analysen zur Beurteilung unterschiedlicher Lieferstrategien

Abb. 6.2 zeigt das Kosten‐Risiken‐Diagramm, in dem die optimalen Supply‐Strategien qualitativ dargestellt sind. Die gesuchten Optima der Supply‐Strategien liegen im Grenzbereich des Kosten‐Risiko‐Diagramms.

Abb. 6.2
figure 2

Kosten‐Risiken‐Diagramm

In Abb. 6.3 ist der zeitliche Verlauf des zu erwartenden Medikationsbedarfs der Studie dargestellt. Aufgrund der bereits erwähnten Unsicherheiten im Bereitstellungsprozess, z. B. «Drop Outs» von Patienten oder Schwankungen im Rekrutierungsprozess, weisen die Simulationsergebnisse eine gewisse Variabilität, um den zu erwartenden Mittelwert auf. Dieses zentrale Ergebnis erlaubt Rückschlüsse auf den zu erwartenden Medikationsbedarf, auf die optimale Lieferhäufigkeit und die zu empfehlenden Produktmengen. In der Simulation werden ebenfalls die Haltbarkeitsdaten der zu liefernden Medikation berücksichtigt.

Abb. 6.3
figure 3

Zeitlicher Verlauf des kumulierten Medikationsbedarfs. (Quelle: n‐side)

In Abb. 6.4 sind die aus der Simulation ermittelten Trigger‐ und Resupply‐Level dargestellt. Die Simulation zeigt den zeitlichen Verlauf der Lagerbestände eines Depots und signalisiert, ab welchem Bestand eine Nachbestellung ausgelöst werden muss, um die Versorgung der Patienten mit Studienmedikation zu gewährleisten.

Abb. 6.4
figure 4

Trigger‐ und Resupply‐Level eines spezifische Depots zur Steuerung der Supply‐Chain. (Quelle: n-side)

Erneute Simulation

Die Simulation einer Studie beginnt mit dem Eintritt des ersten Patienten und endet mit dem Austritt des letzten Patienten. Während der Laufzeit einer Studie kann der Bereitstellungsprozess mit Hilfe der Ergebnisse einer erneuten Simulation in gewissen Grenzen beeinflusst werden. Die während der Studie erhobenen Ist‐Prozessdaten ermöglichen eine erneute Simulation, um folgende Faktoren zu beeinflussen:

  • Anpassung des Produktionsplans anhand von realen Rekrutierungszahlen von Studienteilnehmenden («competitive recruitment strategy»)

  • Vermeiden von Versorgungsengpässen und damit die Einhaltung des geforderten Service Levels

  • Antizipieren von Lieferverzögerungen und Ermitteln von Strategien für eine rechtzeitige Lieferung

  • Anpassen der Lieferstrategie, um dem «Overage» von Studienmedikation zu begegnen.

Kommunikation der Ergebnisse mit beteiligten Prozesspartnern

Ein wichtiger Aspekt der Simulation ist die Kommunikation mit den beteiligten Prozesspartnern. Vor diesem Hintergrund stellt die Simulationssoftware die Möglichkeit zur automatisierten Erstellung von Berichten zur Verfügung. Die Berichte können in verschiedenen Detaillierungsgraden und in verschiedenen Formaten generiert werden. Die Berichte ermöglichen neben der Visualisierung der Simulationsergebnisse den Vergleich verschiedener Lieferstrategien, den detaillierten Kostenvergleich und den Vergleich verschiedener Prozessfaktoren.

Modelle und deren Simulation

Den Kern von Computersimulationen bilden sogenannte System‐Modelle, mit Hilfe derer die in der Realität beobachteten Prozesse formal beschrieben werden. Abhängig vom Komplexitätsgrad und der Art des erstellten Modells existiert eventuell keine geschlossene mathematische Lösung.

Ein allgemein bekanntes und gleichzeitig sehr komplexes Beispiel sind Wettermodelle, die zur Vorhersage des Wettergeschehens eingesetzt werden. Da für diese komplexen Modelle keine geschlossenen analytischen Lösungen existieren, kommen numerische Simulationsmethoden zum Einsatz.

Die im Rahmen dieser Fallstudie eingesetzte Software basiert auf einer Simulations‐Engine, die ereignisorientierte Simulationen, sogenannte «discrete‐event simulations» unterstützt. Dabei werden Entitäten (z. B. Packeinheiten, Patienten, Hospitäler) und Beziehungen zwischen diesen Entitäten (z. B. der Versand der Packeinheiten, die Rekrutierung von Patienten, der Verbrauch von Studienmedikation) modelliert, um den Ablauf einer klinischen Studie möglichst realitätsnah abbilden zu können (Abdelkafi et al. 2009). Dabei werden auch stochastische, d. h. zufällige Aspekte mit aufgenommen, um die Unwägbarkeiten im Verlauf einer klinischen Studie abzubilden. Zu nennen wäre hier etwa die zufällige Verteilung der Ankunftszeiten von Patienten in der Rekrutierungsphase der Studie. Die zufälligen/stochastischen Grössen eines Systems können als Zufallsvariablen aufgefasst werden, deren Wahrscheinlichkeitsverteilung mit in die Simulation einfliessen. Nach einer ausreichenden Anzahl von Simulationen können die Ergebnisse mit statistischen Methoden beurteilt werden. Die wiederholte Durchführung von Simulationen zur Gewinnung statistisch gesicherter Erkenntnisse wird auch als Monte‐Carlo‐Simulation bezeichnet (Hedtstück 2013, S. 21). Darüber hinaus verfügt die Simulations‐Engine über die Möglichkeit, zu jeder Zeit Re‐Simulationen durchzuführen, um neue Erkenntnisse über den Prozess und dessen Parameter zu gewinnen. Hierbei werden die gewonnenen Erkenntnisse aus dem bisherigen Studienverlauf mit einbezogen, um die Genauigkeit der Annahmen z. B. in Bezug auf Rekrutierungsraten oder Dropout‐Raten zu erhöhen.

Simulation

Simulation wird im Kontext des Geschäftsprozessmanagements als Analysemethode sowohl für das Design als auch für die Steuerung und die Optimierung von Prozessen eingesetzt. Zweck der Simulation ist es, Rückschlüsse auf das reale Prozessverhalten unter bestimmten Bedingungen, d. h. in Abhängigkeit bestimmter Parameter zu ziehen. Mittels Simulation lassen sich diverse Aussagen machen (EABPM 2014, S. 156), beispielsweise:

  • über die Prozessleistung und wie sich diese unter verschiedenen Bedingungen verändert (z. B. Vorhersage der Durchlaufzeiten in Abhängigkeit bestimmter Mengen)

  • ob Prozessmodelle in Simulationsdurchläufen dieselben Ergebnisse erzielen wie der operative Prozess (Validierung des Modells)

  • welche Variablen den grössten Einfluss auf die Prozessleistung haben

  • wie sich unterschiedliche Prozessablaufvarianten bzw. Änderungen im Prozessmodell auf die Prozessleistung auswirken

Simulationsfunktionalität kann über eine spezialisierte Simulations‐Software eingekauft oder entwickelt werden. Die Simulations‐Engine kann generisch oder auf einen spezifischen Anwendungskontext ausgerichtet sein. Verschiedene BPM‐Suiten bieten teilweise Simulationsfunktionen an, die für die Analyse von Prozessmodellen oder von implementierten Workflows einsetzbar sind.

4 Handlungs‐ und Anpassungsfähigkeit

Generell konnte der Prozessablauf im Supply‐Prozess mit der Wirkstoffproduktion, der Lieferplanung und der Lieferdurchführung von klinischen Studien unter Berücksichtigung aller relevanten Einflussfaktoren mithilfe der Simulationsergebnisse standardisiert und optimiert werden.

Das Simulationsteam kann nun während der Prozessdurchführung Risiken schneller und genauer identifizieren und somit rechtzeitig darauf reagieren. Ändern sich Annahmen, so können innerhalb von wenigen Minuten die Auswirkungen auf die Studie simuliert werden. Wesentlich für die Relevanz der Simulation ist, dass die Annahmen möglichst realitätsnah getroffen werden und dass die an der Studie beteiligten Hospitäler und Depots die Daten zeitnah und korrekt erfassen.

5 Ergebnisse, Wissenszuwachs, Perspektiven

Die mit der Einführung der Simulationssoftware angestrebten Ziele wurden ausnahmslos erreicht. Die Simulation hält den Rentabilitätsprüfungen des Controlling stand. Der mit der Simulation verbundene Aufwand steht in einem klaren Verhältnis zu einem nachweisbaren Nutzen.

Der generierte Nutzen lässt sich wie folgt zusammenfassen:

  • Reduktion von «Overage», d. h. signifikante Kosteneinsparungen durch weniger Überschussproduktion

  • Minimiertes Risiko von «Stock outs». Das Risiko, Patienten nicht ausreichend mit Wirkstoffen versorgen zu können, ist reduziert.

  • Objektive Entscheidungsgrundlage, welche Wirkstoffmengen wann produziert und geliefert werden müssen, d. h. optimierte Lieferhäufigkeit und ‐mengen (Distributionskosten)

  • Integrierte Betrachtungsmöglichkeiten der komplexen Zusammenhänge im Bereitstellungsprozess durch die Software.

Eine besondere Herausforderung in der Anwendung der Simulationssoftware liegt darin, die Qualität der manuellen Dateneingabe auf Seiten der Hospitäler und Depots sicherzustellen, da gute Simulationsergebnisse nur auf der Grundlage korrekter Daten möglich sind. Ausserdem müssen die Simulationszeitpunkte gut gewählt werden. Wird zu früh simuliert, gibt es noch keine stabilen Daten, wird zu spät simuliert, gibt es weniger Möglichkeiten, Entscheide zu beeinflussen.

In einem nächsten Schritt ist die Erweiterung der bestehenden Lösung (siehe Abb. 6.5) mit einem Feedback‐Loop für die Simulation geplant. Zu diesem Zweck sollen Ist‐Prozessdaten («Actuals») automatisch von einem Drittsystem in die Simulationslösung integriert werden.

Abb. 6.5
figure 5

Lösungsarchitektur

6 Fazit: Worin steckt die Prozessintelligenz?

Abb. 6.6 fasst die wesentlichen Aspekte der Fallstudie im Kontext des Studienrahmenwerks zusammen.

Diese Fallstudie zeigt, dass Simulation eine sehr effektive Methode darstellt, um Risiken und Kosten in der klinischen Supply Chain zu kontrollieren. Die eingesetzte Simulations‐Engine liefert wertvolle Entscheidungsgrundlagen, um Vorhersagen über optimale Produktions‐ und Liefermengen machen zu können. Dabei bleiben die Prozessanalysen nicht auf theoretischen «a priori»‐Annahmen beschränkt, sondern werden mit Ist‐Daten aus den laufenden Studien angereichert, um eine zeitnahe Reaktion auf veränderte Anforderungen der Produktions‐ und Supply‐Planung zu ermöglichen. Durch eine automatisierte Integration von Ist‐Prozessdaten könnte diese Reaktionszeit noch weiter verbessert werden.

Abb. 6.6
figure 6

Einbettung der Fallstudie F. Hoffmann‐LaRoche in das Rahmenwerk

Der Einsatz von Simulation geht über die operative Prozesssteuerung hinaus. Die Tatsache, dass der Bereitstellungsprozess auf der Grundlage der Simulationsergebnisse fortlaufend optimiert und standardisiert wird, macht deutlich, dass Simulation kein rein analytisch‐taktisches Instrument ist, sondern durchaus Impulse für die kontinuierliche Verbesserung der Prozesskette liefert.