1 Digitalisierung der Arbeit als systemische Transformation – ein interdisziplinärer Blick

Mit einer grundlagenorientierten gesellschaftswissenschaftlichen Analyse der digitalen Transformation der Arbeitswelten als Ziel des DFG-Schwerpunktprogramms und der interdisziplinären, empirischen Analyse der Einzelprojekte lassen sich für die erste Phase des Programms einige tentative Schlüsse ziehen, die in der zweiten Phase noch tiefer ausgearbeitet und letztlich inter- und transdisziplinär integriert werden. Gerade mit Blick auf die Frage, inwieweit sich sozialer Wandel in radikal-transformativen Bahnen vollzieht, mussten verschiedenartige Dynamiken erfasst und aus den einzelnen Projektbeiträgen destilliert werden. So lassen sich zunächst allgemeinere Forschungsdesiderate beschreiben, die dann in Beziehung zu den Bewegungsdynamiken der Verselbstständigung, Durchdringung und Verfügbarmachung gesetzt werden, um die Frage nach der Digitalisierung als systemischer Transformation zu beantworten.

Erstens musste die empirische Analyse der Wandlungsprozesse innerhalb der drei Analyseebenen der Arbeitsprozesse (Mikro), der Unternehmen und Wertschöpfungsketten (Meso) sowie der Institutionensysteme (Makro) aufgegriffen und systematisiert werden. Dabei wurde versucht, die neuen Qualitäten der aktuellen Digitalisierungsphänomene gegenüber ihren informationstechnischen Vorläufern herauszuarbeiten, und zwar in ihrem Wechselspiel mit den jeweiligen sozialen Akteuren, betrieblichen Strukturen und gesellschaftlichen Gefügen. Deshalb war es auch zentral, immer eine zeithistorische Einordnung integrativ zu berücksichtigen.

Zweitens war es notwendig, die Interaktionen zwischen diesen Analyseebenen systematischer zu untersuchen, um so zu identifizieren, inwieweit die Wandlungsprozesse einen übergreifenden, systemischen Charakter haben. Auch hier war die Zusammenarbeit zwischen den Sozial- und Geschichtswissenschaften von großer Bedeutung, um die aktuelle Situation mit dem Zeitraum ab den 1970er Jahren zu spiegeln und Dynamiken von Kontinuität und Bruch quer zu den Ebenen von Mikro, Meso und Makro zu beschreiben. Eine Fokussierung der Geschichtswissenschaften auf gesellschaftliche Aushandlungs- und Bewältigungsprozesse zum jüngeren technologischen Wandel in der Arbeitswelt verspricht besondere Erkenntnisgewinne für den derzeitigen Diskurs über Digitalisierung.

Drittens war es prinzipiell erforderlich – und muss fortgesetzt werden –, eine Übersetzung der unterschiedlichen disziplinären Begriffe und Theoriegrammatiken zu leisten. Es ist zu klären, in welchem Verhältnis bestimmte Begriffe etwa zu einem Konzept der systemischen Transformation stehen (Schrape 2021; Wessel et al. 2021). Insbesondere gilt es dabei, bislang nicht aufgearbeitete Schnittpunkte zwischen arbeits- und techniksoziologischen Perspektiven systematisch auszuloten und anschlussfähig zu machen.

Der bereits in der Einleitung dargestellte Forschungsstand und die hier nur kurz skizzierten Desiderate verweisen auf die Fragestellung, auf die das SPP insgesamt abzielt. Erst über das In-Beziehung-Setzen der genannten drei Einzeldesiderate und der Forschungsergebnisse der Einzelprojekte ist zu beantworten, empirisch zu durchdringen und analytisch zu verstehen, in welchen Formen der digitale Wandel aktuell sozial vorbereitet, technisch ermöglicht und diskursiv ausgehandelt sowie gesellschaftlich bewältigt wird. Eine rein additive Bearbeitung der genannten Desiderate kann dafür nicht hinreichend sein. Daher zielt das SPP als Ganzes auf das bedeutsamste und nur in einem interdisziplinär-gesellschaftswissenschaftlichen Zusammenhang bearbeitbare Desiderat: nämlich die Entwicklung des Begriffs der Digitalisierung als einer systemischen Transformation und methodischer Fragen ihrer Erfassung und Erfassbarkeit.

Der Begriff der Transformation wird dabei an klassische (Polanyi 2001) wie auch neuere Ansätze (Burawoy 2000; Wright 2017; Aulenbacher et al. 2019; Pfeiffer 2021b, 2022) angelehnt, um gesellschaftlichen – sozusagen nicht-normalen sozialen – Wandel zu beschreiben. Sozialer Wandel war zentraler Ausgangspunkt der klassischen Soziologie, auch wenn Marx, Durkheim und Weber dabei je unterschiedliche Grundmomente und Dynamiken moderner Gesellschaften ausmachten und mit der Entwicklung technischer Möglichkeiten verbanden. Ein direkter Bezug zu Fragen der Arbeit spielte dabei immer wieder eine bedeutende Rolle. Schon ab den späten 1960er befassten sich Touraine (1985) und Bell (1999) mit den Auswirkungen eines grundsätzlichen Wandels in Wirtschaft, Arbeit und Gesellschaft in Zusammenhang mit digitalen Technologien, später nehmen Castells (2000) oder Bauman und Lyon (2013) diesen Topos auf. Auch in den deutschsprachigen Sozialwissenschaften wurde der Zusammenhang zwischen technischem Wandel und Arbeitsgesellschaft diskutiert (Schmiede 2015; Hirsch-Kreinsen 2020; Pfeiffer 2021a); bereits auf den Kongressen der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in den 1980er Jahren war er ein prominentes Thema (Dahrendorf 1983; Lutz 1987). Sieht man von der eher volkswirtschaftlich inspirierten und bis in die Frühgeschichte der Menschheit zurückreichenden „Matrix der Arbeit“ und ihrer Einordnung von „Arbeit, Technik, Wissen“ (IGZA 2023, S. 205–257) als einem von sechs großen Trends ab, hat es seither kaum mehr systematische Versuche gegeben, soziotechnische Wandlungsprozesse in größeren historischen und gesellschaftlichen Dimensionen zu fassen (Papsdorf 2019; Ohlert et al. 2022; Pfeiffer und Schrape 2023). Generell werden in der früheren Automatisierungs- wie in der aktuellen Digitalisierungsdebatte Geschlechterverhältnisse und von Frauen dominierte Arbeitswelten nur selten in die Analyse einbezogen (Guerrier et al. 2009; Gupta 2015; Kutzner 2018; Wajcman 2019). Aktuelle (teils populärwissenschaftliche) Gesellschaftsdiagnosen blicken ausgehend von einem unterstellten weitgehenden Verschwinden von Erwerbsarbeit auf (utopische oder dystopische) gesellschaftliche Zukünfte (Brynjolfsson und McAfee 2014; Rifkin 2014; Mason 2016; Precht 2018; Staab 2019). Sie bemühen sich aber kaum darum, die aktuelle gesellschaftliche Bearbeitung dieser als überwiegend exogen konzipierten digitalen Herausforderungen empirisch und/oder theoretisch zu fassen.

Historische Arbeiten stehen der Frage ausgesprochen skeptisch gegenüber, ob sich gesellschaftstheoretische Ansätze etwa der Landnahmetheorie (Dörre 2012) oder Polanyis frühe Analyse der ersten Industrialisierung als „Great Transformation“ (2001) auf den aktuellen und von digitalen Phänomenen inspirierten Wandel übertragen lassen. Teilweise verneinen sie dies sogar (etwa Osterhammel 2015). Zudem hat das bei Polanyi zentral gesetzte Konzept der „embeddedness“ nach Beckert (2007) selbst eine große Transformation durchlaufen. Andere Studien der geschichtswissenschaftlichen Forschung thematisieren einen „Strukturbruch“ von revolutionärer Qualität in den 1970er und 1980er Jahren (Doering-Manteuffel et al. 2008).

Während in der Soziologie der Begriff des sozialen Wandels vorherrschend ist, hat Reißig (2009) den Transformationsbegriff als für das 21. Jahrhundert konzeptionell ausbuchstabiert. Er zeigt sich angesichts der erwarteten und einleitend skizzierten Wandlungsdynamiken als angemessen. Reißig (2009) interpretiert den Wandel des gesellschaftlichen Systems als einen Prozess, in den unterschiedliche gesellschaftliche Akteure (mit eigenen und auch kontroversen Motiven) intentional eingreifen und damit bewusst gestalten, der gleichzeitig aber auch eigendynamisch und organisch-evolutionär verläuft (Reißig 2009, S. 34). Transformation umfasst demnach nicht „Wandel im System, sondern Wandel des Systems“; beschrieben und verstanden werden müssen daher nicht nur „Ursachen, Triebkräfte als auch gesellschaftliche Konsequenzen“, sondern auch „die Ereignisgeschichte, die Entstehung des ‚Neuen‘ im ‚Alten‘, die Kontingenz, die Offenheit des Prozesses, die unterschiedlichsten Formen“; dabei geht es auch um „den Verzicht auf Mystifizierung und Heilserwartungen“ (Reißig 2009, S. 33). Wichtig ist in diesem Zusammenhang der Verweis auf die Tatsache, dass Gesellschaften einem ständigen Wandel unterliegen, Transformation jedoch von etwaigen Reproduktionsdynamiken abgegrenzt werden muss. Demnach ändern sich bei einer Transformation drei Strukturierungen gesellschaftlicher Zusammenhänge: die Outputstruktur, das heißt die simple Verteilung der Ergebnisse (wie viel?); die Prozessstruktur, das heißt die Form des Prozesses, der die Produktion und Verteilung erzeugt (wie?) und die Parameterstruktur, das heißt die funktionalen prozessbestimmenden und -beeinflussenden Faktoren, die von Bedeutung sind (was?). Dabei gibt es zwar in der Regel eine grundsätzliche Reproduktionsabsicht der Gesellschaft, doch zeigen sich verschiedene Lücken und Widersprüche in dieser Reproduktion, die transformative Strategien und unbeabsichtigte gesellschaftliche Veränderungen begünstigen (Wright 2017).

Der Transformationsbegriff von Reißig bietet sich aus einem weiteren Grund für die Analyse der Digitalisierung von Arbeit besonders an. Denn er betont den entwicklungsoffenen Charakter von Transformation, in deren Verlauf – jedoch nicht garantierten Gelingensfall – neue, funktions- und entwicklungsfähige Strukturen und neue kulturelle Deutungsmuster entstehen. Es geht in diesem Sinne bei der Digitalisierung der Arbeitswelt nicht nur um Wandel innerhalb des gesellschaftlichen Institutionengefüges rund um Erwerbsarbeit, sondern um dessen eigene Transformation (Berente und Seidel 2022; Pfeiffer 2023a; Pfeiffer und Schrape 2023). Dass sich dieser Prozess in all seiner Dynamik und Widersprüchlichkeit mit den bisherigen Instrumenten moderner (Arbeits-)Gesellschaften partiell einer Gestaltbarkeit entzieht, haben die Beiträge dieses Bandes aufgezeigt.

Modernisierungstheoretische Überlegungen zu einer reflexiven, zweiten Moderne und dem dabei zentralen Nebenfolgentheorem (Beck und Lau 2004) bieten zwar Anknüpfungspunkte für die Grenzen gesellschaftlicher Bearbeitung, bleiben aber ohne Bezug auf soziotechnischen Wandel. Allein die unterschiedlichen Sichtweisen in den Sozial- und Geschichtswissenschaften legen eine interdisziplinäre Bearbeitung des Transformationsbegriffs nahe. Mögliche Brückenschläge etwa für Subjektivierungsprozesse (Doering-Manteuffel et al. 2008) oder zur Historisierung sozialwissenschaftlicher Studien über die Arbeitswelt (vgl. Neuheiser 2013) werden bereits aufgezeigt und sind unter anderem in einem Sammelband zum Strukturbruch dokumentiert (Andresen et al. 2011).

Institutionalistische Arbeiten (etwa Streeck und Thelen 2005, 2014; Streeck 2009; Frenken et al. 2020; Parthiban et al. 2020) untersuchen verschiedene Dynamiken des Wandels, die in Bezug auf die Digitalisierung teilweise einen Widerhall in der techniksoziologischen Debatte finden (Dolata 2011). Dabei werden aber disziplinär bedingt immer nur Teilsphären der Gesellschaft in den Blick genommen und vor allem die arbeitsweltliche Vielfalt unterschätzt. Einen, wenn auch umstrittenen, Versuch, die Digitalisierung synthetisierend für verschiedene Wirtschaftsbereiche in den USA zu beschreiben, hat Cortada (2003) vorgelegt.

Die genannten Diskussions- und Theoriestränge sind als Ausgangspunkt für die Integration der in diesem Band versammelten Arbeiten hilfreich. Es fehlen aber die Instrumente, um den speziell soziotechnischen Charakter der aktuellen Digitalisierung zu fassen und damit die Verwobenheit und das Zusammenwirken technischer und sozialer Mechanismen zu analysieren. Zudem werden in den genannten gesellschaftsdiagnostischen Ansätzen mehrere wesentliche Aspekte kaum systematisch ausgearbeitet: a) eine techniksoziologisch tragfähige Anerkennung der Materialität der Technik mit eigener sozialer Wirkungskraft, b) eine wirtschaftswissenschaftlich belastbare Bezugnahme auf ökonomische Konstellationen, c) eine systematisch-historische Einordnung der diagnostizierten oder prognostizierten Entwicklungen und d) die Ebene der jeweiligen sozialen Praktiken und konkreten Bewältigungsstrategien. Daher wurde im Sammelband auch keine Vorentscheidung über eine gesellschaftstheoretische Fundierung getroffen. Vielmehr soll die interdisziplinäre Analyse zentraler Bewegungsdynamiken der Transformation ermöglichen, ein gemeinsames Verständnis der Digitalisierung der Arbeitswelten als systemischer Transformation zu entwickeln.

2 Die systemische Transformation verstehen – ein erster Schritt

Durchdringung, Verfügbarmachung und Verselbstständigung stellen die hierfür identifizierten allgemeinen Bewegungsdynamiken dar (vgl. Pfeiffer und Nicklich einleitend in diesem Band), die eine Multi-Dimensionalität des Transformationsprozesses sowie die historisch-soziale Vorbereitung und Einordnung soziotechnischen Wandels berücksichtigen. Diese Bewegungsdynamiken strukturieren daher auch diesen Band. Während die Durchdringung der sozialen Wirklichkeit neue Formen und Intensitäten des Zugriffs auf soziale Prozesse, Menschen und ihre Handlungen sowie eine digitale Allgegenwärtigkeit betont, hebt die Verfügbarmachung die Möglichkeiten des Zugriffs (Zugang, Eigentum, Transparenz, Kontrolle) auf Ressourcen aller Art (Infrastrukturen, Informationen, Dinge, Arbeitskräfte) hervor. Die Verselbstständigung wiederum zielt auf die Tatsache, dass sich durch Digitalisierung Entitäten aus bisherigen Verkoppelungen lösen und unabhängig voneinander werden können.

Entscheidend für ein umfassendes Verständnis der digitalen Transformation ist es, diese drei Bewegungsdynamiken nicht als rein technikgetriebene Entwicklungen zu begreifen. Vielmehr werden sie auf unterschiedlichen Ebenen im Zusammenwirken technischer und sozialer Ermöglichung und Begrenzung diskursiv und sozial ausgehandelt und gesellschaftlich bewältigt (vgl. Schrape 2021; Pfeiffer und Schrape 2023). Auch handelt es sich keineswegs um lineare Prozesse, sondern sind mit vielfältigen und auch digitalisierungsspezifisch neuen Widersprüchen und gegenläufigen Dynamiken verbunden.

Gestaltungszwang vs. Gestaltungsgrenzen: Nicht nur die Folgen der Digitalisierung sind hochgradig gestaltungsbedürftig (Bailey und Leonardi 2015; Bailey 2022), auch der Prozess der Digitalisierung selbst ist dies. Stärker denn je erfordert der Einsatz neuer Technologien zwingend ein Mehr an Gestaltung in der Arbeitswelt und durch die Arbeitswelt (Hirsch-Kreinsen 2020; Buss et al. 2021; Mütze-Niewöhner et al. 2021). Einzelne technische Facetten der Digitalisierung sind erst nutzbar nach ihrer intentionalen Gestaltung (so muss die KI erst lernen und „gefüttert“ werden); neue Geschäftsmodelle entstehen nur, wenn verschiedene Technologien miteinander und zudem mit neuen Formen von Organisation, Dienstleistung und Konsum verknüpft werden. All das lässt sich nicht „von der Stange kaufen“; der Digitalisierungsprozess braucht in seiner aktuellen Phase eine intensive soziale, organisationale und gesellschaftliche Bearbeitung. Gleichzeitig ist der Gestaltungsbedarf verknüpft mit neuen Grenzen der Gestaltbarkeit. Digitale Infrastrukturen und smarte Algorithmen beispielsweise entziehen sich als proprietäres Gut oder als Betriebsgeheimnis dem gestaltenden Zugriff. Prozesse realer Technikgenese und wirtschaftlicher Formung finden in anderen Gesellschaften, nach anderem Recht, zu anderen Zeiten und durch andere Akteure statt als ihre Nutzung und ihre Effekte. Pfadabhängigkeiten und sich immer weiter beschleunigende Dynamiken erschweren und unterhöhlen eingespielte Formen betrieblicher und institutioneller Gestaltung, entstehende Defizite müssen oft von den Beschäftigten kompensiert werden (Pettersen 2019; Pfeiffer 2020a, b; Tan und Bailey 2023). Akteure der Arbeitswelt klagen über immer geringere Gestaltungskapazitäten, über fehlende Zeit und einen zu schnell voranschreitenden technischen Fortschritt, über zu hohe Komplexität und geringe Transparenz der neuen Technologien.

Entkopplung vs. Interdependenzsteigerung: Im Zuge der Digitalisierung zeigen sich verschiedene Entkopplungseffekte. So kündigen Akteure der Plattformökonomie bewusst historisch gewachsene und kulturell legitimierte Formen der in Gesellschaft eingebetteten Wirtschaft auf (Innungen, Inhaber-Unternehmer) (Healy und Pekarek 2020; Kirchner und Matiaske 2020; Haipeter et al. 2021; Sydow und Auschra 2022). Formale Verpflichtungen werden reduziert und dereguliert, etwa wenn Crowdwork langfristige Beschäftigungsverhältnisse ersetzt (Cappelli und Keller 2013; Schörpf et al. 2017; Howcroft und Bergvall-Kåreborn 2019; Leimeister et al. 2020; Pfeiffer und Kawalec 2020; Kawalec 2022). Gesellschaften und öffentliche Infrastrukturen werden für globale Geschäftsmodelle genutzt, vernutzt oder missbraucht, ohne etwas lokal in diese Bezüge ökonomisch oder in anderer Form zurückzuspeisen. Gesellschaftliche Sphären und Welten entkoppeln sich, die bislang in klaren und teils institutionell definierten Grenzen komplementär gekoppelt waren, wie Arbeitszeit/Freizeit, Arbeitswelt/Lebenswelt, Arbeit/Konsum, Bürgerin/Arbeitnehmerin, Arbeitssubjekt/Person, Arbeitsplatz/Wohnung usw. Diesen Entkopplungen stehen neue Interdependenzen gegenüber. Heutige Digitalisierungsformen bereiten den Boden für die selbstlernenden, autonomeren Systeme von morgen und legen Pfadabhängigkeiten ohne abschätzbare Folgen. Die zunehmende Vernetzung von immer mehr Prozessen in der Arbeits- und Lebenswelt und auf infrastruktureller Ebene führt zu neuen und noch wenig gestaltbaren Abhängigkeiten und erhöht die Komplexität wie auch die Vulnerabilität des Gesamtsystems (Herold 2016; Becker 2017; Madden et al. 2017).

Die Digitalisierung bringt folglich Fragen nach quantitativen und qualitativen Veränderungen hervor: Inwiefern ist ein Mehr überhaupt möglich? Auf was bezieht sich dieses Mehr oder ein Anderes? Und wie wird es erreicht? Die daran anknüpfenden Bewegungsdynamiken der Durchdringung, Verfügbarmachung und Verselbstständigung stellen allerdings keine bruchlosen, sondern höchst widersprüchliche Entwicklungen dar. Sie treffen auf bestehende ökonomische und gesellschaftliche Interessenlagen, soziale Ungleichheiten und Macht-, Geschlechter- und Herrschaftsverhältnisse und können diese infrage stellen oder verschärfen, (können) sich aber einer gesellschaftlichen Gestaltung auch tendenziell entziehen. Diese drei Bewegungsdynamiken treten zum einen in sich widersprüchlich auf. Wenn sich beispielsweise die Verfügbarmachung bei nur wenigen Akteuren (Google, Facebook usw.) bündelt, kann dies Ungleichheiten und Ausschließungen befördern, aber auch neue schaffen. Zum anderen können sich die Dynamiken auch wechselseitig verstärken oder konträr zueinander wirken. So kann die Durchdringung etwa die Transparenz steigern (z. B. über das Fahrverhalten beim autonomen Fahren), während die Verselbstständigung gleichzeitig eine zunehmende Intransparenz erzeugt (z. B. wenn die Gründe für die Entscheidungen autonomer Systeme nicht nachvollziehbar sind).

Die Heuristik der drei Bewegungsdynamiken Durchdringung, Verfügbarmachung und Verselbstständigung dient dem Forschungsprogramm als analytisches und im Sinn der interdisziplinären Zusammenarbeit zunächst bewusst offenes Werkzeug. Mit diesen drei Dynamiken lassen sich die Widersprüchlichkeit und die damit einhergehenden qualitativ neuen Herausforderungen an die gesellschaftliche Bewältigungsfähigkeit sichtbar machen. Vor allem aber greifen die Prozesse der Durchdringung, Verfügbarmachung und Verselbstständigung in alle Dimensionen von Arbeit ein. Sie verändern Arbeitsmärkte und Unternehmensformen, Geschäftsprozesse und Wertschöpfungsketten, Arbeitsprozesse und Tätigkeiten und den Zugriff auf den Menschen in der Arbeit, bei der Arbeit und bei seiner Auswahl für bestimmte Arbeiten sowie an den Schnittstellen Arbeits- und Lebenswelt. Sie fordern alle Institutionensysteme des Arbeitsmarktes zugleich heraus: den Betrieb als einen sozial zu gestaltenden Ort von Arbeit (Baumhauer et al. 2021; Rat der Arbeitswelt 2021), Sozialpartnerschaft und Mitbestimmung (Haipeter et al. 2019; Kirchner und Matiaske 2019, 2020; Widuckel 2020; Wedde 2023), Arbeitsschutz (Sonntag und Feldmann 2020; Robelski und Sommer 2022; Sonntag 2022), berufliche Qualifizierungssysteme (Pfeiffer 2016; Jordanski et al. 2019; Stockmann 2019; Brater 2020; Becker und Windelband 2021) und schließlich Arbeitsverhältnisse, Entlohnung und alle an Erwerbsarbeit gebundenen Sicherungssysteme sowie über Erwerbsarbeit vermittelte Teilhabe- und Sozialisationsprozesse (Misselhorn und Behrendt 2017; Menz und Nies 2018; Kotthof und Reindl 2019; Rat der Arbeitswelt 2023). Diese drei Bewegungsdynamiken sind gleichwohl nicht zu verstehen ohne einen Blick auf historisch lange zurückliegende Prozesse (vgl. Beninger 1986).

In Tab. 1 wird versucht, anhand einiger Beispiele einen systematisierenden Überblick über die drei Bewegungsdynamiken und ihr Zusammenspiel mit Forschungsperspektiven zu generieren. Durchdringung, Verfügbarmachung und Verselbstständigung werden hier gespiegelt mit a) der Mikroebene (verstanden als das Wechselspiel zwischen Subjekten und Praktiken der Arbeit mit digitalen Artefakten), b) der Mesoebene (als Zusammenspiel von Unternehmensstrukturen, Netzwerkstrukturen, Wertschöpfungsketten und digitalen Systemen) sowie c) der Makroebene (als Zusammenspiel von institutionellen Strukturen der (Arbeits-)Gesellschaft und digitalen Infrastrukturen). Die inhaltliche Füllung der Zellen dieser Heuristiktabelle lässt einerseits die Heterogenität der empirischen Studien des Schwerpunktprogramms erkennen und reduziert andererseits zu Darstellungszwecken zwangsläufig die Komplexität.

Tab. 1 Digitalisierung der Arbeitswelt: exemplarische Einordnungen empirischer Phänomene in die Heuristik aus Bewegungsdynamiken und Analyseebenen

Verfügbarmachung auf der Mikroebene zeigt sich beispielsweise in Apps und Wearables, die in innerbetrieblichen Kontexten als Schnittstellen genutzt werden, um Standardisierungsprozesse in modularisierten Schritt-für-Schritt-Anwendungen zu kommunizieren (Evers et al. 2019; Mateescu und Nguyen 2019; Schreyer 2021; Krzywdzinski et al. 2022). Für die Beschäftigten bedeutet dies, dass Arbeitsprozesse visualisiert verfügbar gemacht werden und das Digitale als Hilfsmittel zur Anzeige benötigt wird. Aber auch in Produktionsplanungssystemen dient digitale Technik als Hilfsmittel, etwa um implizites Erfahrungswissen in explizites umzuwandeln (Hirsch-Kreinsen 2014; Krzywdzinski et al. 2015; Lee und Pfeiffer 2019; Baumhauer und Meyer 2021; Pfeiffer 2023b).Footnote 1

Auf der Mesoebene wird Verfügbarmachung dort sichtbar, wo algorithmische Systeme etwa in den verschiedensten Logistikanwendungen die Geschäftsmodelle erst ermöglichen (Butollo et al. 2017; Hirsch-Kreinsen und Karačić 2018; Pfeiffer und Lee 2018; Pfeiffer 2021a; Schreyer 2021; Buss et al. 2022) oder die Wertschöpfungskette abbilden und durch die inhärenten Daten das Prozessgeschehen so justieren, dass die Geschäftsmodelle (etwa in der Plattformökonomie) maximal skaliert werden (Dolata 2019, 2019; Staab 2019; Pfeiffer 2021a).

Auf der Makroebene zeigt sich Verfügbarmachung, wenn Informationen aus und zu sozialen (ökonomischen, politischen usw.) Prozessen erschlossen und so aufbereitet werden, dass sie für digitale Technologien verwertbar sind.Footnote 2 Die Verfügbarmachung mittels Daten führt damit zu einer sukzessiven Ausbreitung und Vertiefung des Einsatzes digitaler Technik, was sowohl auf der Mikro- und Mesoebene der Beschäftigten als auch gesamtgesellschaftlich wirksam wird, indem etwa die Akzeptanz innerhalb der Bevölkerung steigt (Glikson und Woolley 2020; Choung et al. 2023; Zipfel et al. 2023). Allerdings nehmen damit auch die Möglichkeiten zur Vermessung des Sozialen insgesamt zu (Hille 2016; Mau 2017; Zuboff 2019). Da sich Verfügbarmachung nicht gleichzeitig vollzieht, wird so immer auch soziale Ungleichheit reproduziert.Footnote 3

Durchdringung auf der Mikroebene verwirklicht sich als das Wechselspiel zwischen Subjekten und Praktiken der Arbeit mit digitalen Artefakten (Pfeiffer 2013; Bloomfield und Vurdubakis 2015; Rammert 2016; Eckhardt 2023) und verweist am Beispiel der Produktionsplanungssysteme auf einen engen Zusammenhang zur Verfügbarmachung (Pfeiffer 2008; Pfeiffer et al. 2010; Klur und Nies 2023; Mengay 2023) – denn das Stoffliche der Arbeitsprozesse wurde ins Digitale materialisiert. Die Durchdringung wird dadurch sichtbar, dass etwa die automatisierten Produktionsplanungssysteme ohne das Digitale nicht mehr funktionsfähig sind: Wenn ein Display ausfällt, kann der Prozess nicht einfach weitergeführt werden. Eine ähnliche Logik der Durchdringung zeichnet sich in der Zusammenarbeit von Mensch und Roboter ab. Um diese überhaupt zu ermöglichen, bedarf es standardisierter Arbeitsvollzüge, die je nach Prozess eine unterschiedliche Durchdringungstiefe erreichen (Fernández-Macías et al. 2023; Heinlein und Huchler 2023; Schulz-Schaeffer et al. 2023), da diese abhängig von der Strukturiertheit der Umgebung und der Form der Zusammenarbeit ist.Footnote 4 Nach einer solchen Durchdringung ist ein intensivierender Zugriff der digitalen Technik auf Arbeit zu beobachten. In verschiedenen Kontexten werden die Umgebungen und die Kollaboration anhand der technischen Bedarfe ausgerichtet.

Auf der Mesoebene der Unternehmen vermitteln zunehmend technische Infrastrukturen Interaktionsbeziehungen und innerorganisationale Praktiken.Footnote 5 Dies weist auf eine digitale Durchdringung hin, da nun nicht mehr an der technischen Infrastruktur vorbeigearbeitet werden kann. Gleichzeitig setzt Durchdringung auf Quantität, in dem Sinne, dass die Verbreitung zu einer Skalierung führt, wodurch Unternehmen gesamtgesellschaftliche Wirkkraft erlangen könnten, indem sie kulturell zum Faktum werden.

Auf der Makroebene werden Operationsprozesse und Sozialgefüge von neuen Verfahren entlang institutioneller und politischer Konstellationen und deren Wechselwirkungen mit den diskursiven Interessen und Erwartungen durchdrungen.Footnote 6 Außerdem zeigt sich die Durchdringung dort, wo unterschiedliche Prozesse (soziale, ökonomische, politische, kulturelle) und mit ihnen verbundene Handlungs- und Entscheidungsprobleme durch digitale Technologien bewältigbar werden (Pongratz und Bormann 2017; Balasubramanian et al. 2022; Herrmann und Pfeiffer 2023). Dadurch öffnen und schließen sich Möglichkeitsspielräume. Jedoch nur was digital abbildbar ist, kann dabei berücksichtigt werden, wodurch sich der Erwartungsraum verengt. Gleichzeitig wird somit das Digitale zum Maßstab erhoben und alles, was nicht komplett digital gehalten wird, erfordert eine gesonderte Rechtfertigung.

Verselbstständigung erzeugt eine zunehmende Handlungsautonomie und -intelligenz bei Robotern. Dadurch bildet sich ein komplexes Wechselverhältnis von Entmündigung und Emanzipation als Erleben und Erfahrung heraus.Footnote 7 Ebenso verselbstständigen sich verfügbar gemachte Daten von ihrem ursprünglichen Erhebungskontext, wodurch Neues entsteht (Malsch 1987; Balasubramanian et al. 2022). Auf der Mesoebene finden Bewegungen der Verselbstständigung statt, die Alternativen so sehr einschränken, dass es zu neuen Abhängigkeiten kommt (etwa von Unternehmen und Plattformen) (Zysman und Kenney 2017; Kenney und Zysman 2018). Dabei zeigt sich, dass der Stand der Technik gleichzeitig die Nutzungsform vorgibt. Deswegen ist hier von einer technisch vermittelten Verselbstständigung von Nutzungsformen die Rede, die vor allem in determinierten proprietären Umgebungen angesiedelt ist.

Die Normierung der Technik führt dann auf der Makroebene nicht nur zu Pfadabhängigkeiten,Footnote 8 sondern auch zu einem Effekt der Verselbstständigung, der aufgrund der vorgegebenen Standards hohe Kosten verursachen würde, sollte davon abgewichen werden. Dabei kann die Verselbstständigung auch beendet werden. Am Beispiel verschiedener Plattformen zeigte sich, wie diese als treibende Kraft der Verselbstständigung digitaler Technologien wirken, aber auch zu einer Begrenzung ihrer Weiterentwicklung beitragen.Footnote 9 Durchdringung und Verfügbarmachung führen in dieser Logik zu einer Verselbstständigung der Verselbstständigung. Daraus erwachsen neue Wechselverhältnisse und Verstrickungen, die sich wiederum auch in verselbstständigten Diskursformationen über digitale Technologien wiederfinden und so eine eigene Realität schaffen.

In einer ersten zusammenführenden Betrachtung zeichnen sich aus unserer Sicht folgende erste Bezüge und Verdichtungen ab:

Über die verschiedenen Analyseebenen hinweg kristallisiert sich ein Verständnis von Verfügbarmachung heraus, das sich um Informationen aus und über soziale Prozesse als Daten zentriert. Diese werden weiterentwickelt, aufbereitet und verarbeitet, um sie so für weitere digitale Technologien/Tools nutzen zu können bzw. nutzbar zu machen. Die eingesetzte Technik weist dabei eine gestiegene Flexibilität und Adaptivität auf und kann deshalb komplexere soziale Gegenstände vermessen. Dadurch werden Prozesse besser abbildbar, weil ein prozesshaftes Aufzeichnen leichter und oft ohne zusätzliche Aufwände möglich ist. Verfügbarmachung ist gleichzeitig eng mit Durchdringung verbunden, kann aber nicht mit dieser gleichgesetzt werden – oft genug lässt sich die Grenze zwischen den beiden Dynamiken allenfalls analytisch ziehen.

Durchdringung verweist auf neue Formen und Intensitäten des Zugangs zu sozialen Prozessen, Menschen und deren Handlungen. Sie beinhaltet eine (Quasi-)Omnipräsenz, die eine Beteiligung jenseits des Digitalen zunehmend unmöglich macht. Durchdringung ist somit mehr als nur quantitative Verbreitung – oft aber davon auch nicht trennbar. Vor allem wird deutlich, dass digitale Technik vielfach und zunehmend zum kaum hintergehbaren Gatekeeper für verschiedenste gesellschaftliche wie arbeitsweltliche Prozesse wird bzw. längst geworden ist. Als Zugangsvoraussetzung verursacht Durchdringung phänomenal unterschiedliche Effekte auf der Mikro-, Meso- und Makroebene, wobei sich in diversen Bereichen qualitative Unterschiede abzeichnen, die wiederum oft mit der Quantität der im Vorfeld verfügbargemachten Digitalisierung verbunden sind.

Betrachtet man die Diskurse rund um die Digitalisierung von Arbeit der letzten Jahre, zeigt sich: Ein Forcieren von Durchdringung und Verfügbarmachung von digitaler Technik erscheint kaum legitimierungsbedürftig, sich der Digitalisierung zu entziehen hingegen schon. Die Gesellschaft als Ganzes scheint aufgehört zu haben, über digitale Redundanz nachzudenken. Stattdessen ist Digitalisierung zu einer (diskursiven) Selbstverständlichkeit geworden. So wird nicht über die Notwendigkeit als solche nachgedacht, sondern nur über etwaige Gefahren und Risiken – oft genug aber, ohne sich mit diesen ernsthaft zu befassen (Lazonick und Mazzucato 2013; Bailey 2022). Situationen, wie ein Blackout des Stromnetzes, werden als Bedrohungsszenarien für die Gesellschaft wahrgenommen und verweisen darauf, dass die Beziehung zwischen dem Stofflichen/Materiellen und dem Abstrakten/Digitalen als ein Schlüsselfaktor gesellschaftlicher Gestaltung betrachtet werden müsste. Allzu oft aber betonen ökonomische wie narrative Dynamiken die vermeintlichen Chancen und erwähnen die Risiken eher am Rande.

Zur Illustration ein Beispiel aus unserer Heuristiktabelle: Produktionsplanungssysteme sind schon lange dazu übergegangen, Arbeitsprozesse bis ins kleinste Detail festzulegen. Die Durchdringung auf der Mikroebene, die Datenaggregation und die Effizienzprüfung des Controllings diffundieren auf die Mesoebene und werden ihrerseits wiederum zur datenbasierten Infrastruktur für Managementprozesse (die Bewegungen der Arbeitsschritte können in Echtzeit über ein Dashboard überwacht werden) und zur datengetriebenen Basis für Managemententscheidungen. Damit werden ebendiese Managementprozesse selbst auch von den digitalen Technologien durchdrungen und verfügbar gemacht. Dies kann mit einer Verselbstständigung verknüpft sein, wenn beispielsweise das damit sichtbarer gewordene Managementhandeln bei mikropolitischen Spielen oder harten Ressourcenkämpfen zwischen Abteilungen zum Argumentationsgegenstand anderer Akteure im Management oder auch der Interessenvertretung wird.

Durchdringung kann immer auch dazu führen, dass sich Möglichkeiten reduzieren und verengen – Pfadabhängigkeiten sind sozusagen die kleine Schwester der Durchdringung. Verselbstständigung dagegen bewirkt eine Abnahme der Gestaltungs- und Steuerungsoptionen. Beides überschneidet sich und ist empirisch oft schwer auseinanderzuhalten. Pfadabhängigkeiten erschweren Umsteuerungen zwar und können sie aufwendig machen, prinzipiell aber wären sie zu umgehen, zu unterlaufen, mit Alternativen austauschbar. Verselbstständigung jedoch führt zu einer nicht mehr hintergehbaren Dynamik. Daher liegt es nahe, dass eine quantitativ maximale Durchdringung sozusagen einen qualitativen Umschlag in Richtung Verselbstständigung nach sich ziehen kann.

Die Beispiele unserer Tabelle zeigen aber vor allem den Zusammenhang auf zwischen Verselbstständigung und einer starken Eigenlogik der digitalen Technik. Verselbstständigung schränkt die Wahlmöglichkeiten ein, da immer mehr digitale Umgebungen schon vorgegeben sind. Dadurch werden niedrigschwellige Neuverhandlungen unmöglich und es können sich sozusagen unentwirrbare Aufschichtungen von Pfadabhängigkeiten oder sachlich-technisch grundsätzlich nicht veränderbare Pfadabhängigkeiten ergeben. Man könnte auch sagen, Verselbstständigung zeitigt einen Effekt: Das Digitale – als vermeintlich „nur“ Technisches – wird unter der Hand zu einer institutionellen Tatsache. Die hervortretende, verselbstständigte Eigenlogik des Digitalen verweist dabei auf der Vorderbühne (im front-end) auf das in die digitalen Infrastrukturen eingebettete Wissen, das auf der Hinterbühne (im back-end) jedoch quasi ungesehen, ‚hinter dem Rücken der Akteure‘ nicht intendierte Folgen hat, aus denen ebenfalls etwas Neues entstehen kann, was sich dann wiederum verselbstständigt – als Verselbstständigung der Verselbstständigung.

Verselbstständigen können sich aber nicht nur die digitalen Strukturen, sondern auch die Diskurse über das Digitale. Die sich auf die Digitalisierung richtenden Diskursformationen haben nicht nur alle Ebenen durchdrungen und versprechen unbegrenzte Verfügbarmachung. Sie haben sich auch insofern verselbstständigt, als sie – jenseits aller erfahrbaren Grenzen und selbst angesichts von Scheiterns- und Enttäuschungserfahrungen – immer wieder das Versprechen der „neuen“ (noch nicht verfügbaren) Technik betonen (Pfeiffer 2017; Hirsch-Kreinsen 2018, 2023; Sauer und Nicklich 2023), die vorhandenen betrieblichen oder gesellschaftlichen Probleme zu lösen. Und dies am besten grundsätzlich und ein für alle Mal. Wie in jedem gesellschaftlich wirkmächtigen Diskurs spielen dabei verschiedene Interessenslagen eine zentrale Rolle. Bei einem verselbstständigten Diskurs aber relativieren sich diese gegensätzlichen Positionen nicht zu einem realisierbaren Kompromiss. Vielmehr wird der Diskurs von in Gegensätzen verharrenden Entitäten (Arbeitgebende vs. Arbeitnehmende) befeuert, die sich so wechselseitig bestärken.

Insgesamt legen die kursorischen Beispiele in unserer Tabelle nahe, dass die drei Heuristiken durch rekursive Beziehungen untereinander verbunden sind. Sie stehen zwar jeweils für sich selbst, gleichzeitig sind sie aber auch miteinander verknüpft, bedingen sich gegenseitig bzw. widersprechen sich sogar zum Teil. Das Soziale ist hierbei auch immer von technischen Artefakten durchdrungen, die verfügbar sind und sich wiederum verselbstständigen. Und wenn sich umgekehrt eine Technik verselbstständigt hat, dann gelingt eine immer tiefere Durchdringung und Verfügbarmachung umso leichter. Die Zuordnung digitaler Beispiele zu Bewegungsdynamiken und Analyseebenen ist in der Tabelle nicht ganz eindeutig. So besteht zwischen analytischen Heuristiken und empirischer Realität notwendigerweise ein „fuzzy gap“. In manchen Fällen aber – so zumindest unser vorsichtiger Eindruck – überschreiben die Bewegungsdynamiken die Zuordnungszellen zwischen den Analyseebenen schon und/oder zeigen sich längst auf mehr als einer Analyseebene. Quer und hinter dieser zweidimensionalen Tabelle muss zudem mitgedacht (und mit erforscht) werden, dass die Logik der Digitalisierung sich nicht immer mit den Interessen einzelner Akteure oder den Eigenlogiken unterschiedlicher Handlungsfelder und sozialer Systeme deckt, sondern genau an diesen Reibungsstellen Konflikte und Pluritemporalitäten entstehen, mindestens aber gesellschaftlicher Bearbeitungsbedarf.

Geht man von einem transformativen Prozess aus – was letztlich erst am Ende des Prozesses und rückwirkend entschieden werden kann –, ist umso mehr klar, dass es fast unmöglich sein dürfte, den zeitlichen oder qualitativen „Punkt“ zu bestimmen, an dem sich die Transformation sozusagen gerade befindet. Unsere Tabelle regt dazu an, systematischer über Zusammenhänge, Übergänge, Wechselwirkungen nachzudenken und Schnittstellen zwischen den jeweiligen Zellen zu kartografieren. So können Prozesse auf der Mikroebene beginnen, sich über die Meso- zur Makroebene – und vice versa – entwickeln und sich somit als transformative Bewegung entfalten. Bisher zeigen sich transformative Phänomene der Digitalisierung, wenn sich die drei Bewegungsdynamiken auf allen drei Analyseebenen nachzeichnen lassen. Solange sich ein spezifisches Phänomen auf eine Zelle beschränkt – was durchaus noch für viele Digitalisierungsbeispiele der Fall ist –, würden wir dazu neigen, allenfalls von technisch-sozialem Wandel, statt von Transformation zu sprechen. Ein Verschwimmen oder Verschieben der Grenzen zwischen den Zellen dagegen könnte als Hinweis auf eine transformativere Entwicklung interpretiert werden. Erst wenn ein Verschwimmen oder gar Verschwinden der Zellengrenzen zum vordergründigen Befund würde, wäre aus unserer Sicht die Diagnose einer systemischen Transformation angebracht. Diese wiederum ließe sich nicht allein mit der Heuristik von Bewegungsdynamiken und Analyseebenen und anhand einzelner digitaler Beispielphänomene diagnostizieren. Damit einhergehend wäre ein qualitativer Umschlag der institutionellen gesellschaftlichen Bearbeitung der Veränderungsprozesse nötig. Die erste wie die reflexiv gewordene Moderne „können“ sozusagen Wandel. Moderne Institutionensysteme sind genau dies: Bearbeitungsagenten für das Prozessieren und Gestalten von Wandel. Eine umfassender zu denkende, systemische Transformation müsste demnach mit einem empirisch zu beobachtenden radikalen Umbau dieses Institutionensystems einhergehen. Dies scheint uns bislang – und notwendigerweise beschränkt auf die Ergebnisse der Einzelprojekte unserer ersten Förderphase – nicht der Fall zu sein.

Unser Verständnis einer systemisch gewordenen Transformation bedeutet in dieser Lesart nicht, dass sich die Gesellschaft als Ganzes – also komplett in alle Dimensionen und Verästelungen des Sozialen hinein – verändert. Digitalisierung als systemische Transformation allerdings würde implizieren, dass die Digitalisierung zu einer notwendigen Bedingung des Transformativen geworden wäre. Systemisch wäre die Transformation also, wenn alles, was in der Arbeitswelt passiert, nicht mehr ohne Digitalisierung denkbar, verstehbar, gestaltbar wäre. Wir gehen allerdings weiterhin davon aus, dass das Wesen transformativer Prozesse fließend und schwer zu klassifizieren ist. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn man annehmen muss, sich in dieser Dynamik zu befinden und sich kaum außerhalb von dieser bewegen zu können. Da wir davon ausgehen, dass sich der Prozess der Transformation aktuell um uns herum vollzieht, fehlt der Abstand, um mit Sicherheit zu sagen, ob es sich um eine systemische Transformation handelt und wie sie genau aussehen wird. Die bislang nicht auszumachende historische Zäsur, die sich an einer massiven und radikalen Veränderung aller Institutionen der Arbeitswelt festmachen würde, scheint uns ein klarer Indikator dafür zu sein, dass die digitale Transformation noch anhält, sowohl kulturell als auch gesellschaftlich – und dass ihr systemischer Charakter sich allenfalls in ersten zarten bis zaghaften Phänomenen (bzw. ersten zellenübergreifenden Zuordnungen in unserer Tabelle) zeigt.

Daher scheint es uns produktiver und seriöser, zum jetzigen Zeitpunkt nicht schon von einer systemischen Transformation zu sprechen, sondern von einer proto-transformativen Situation. Es sind damit durchaus ernstzunehmende Elemente der systemischen Transformation empirisch zu finden, die bislang verwendete Heuristik bleibt insbesondere für die interdisziplinäre Verständigung im Schwerpunktprogramm und für den Aufeinanderbezug der sehr unterschiedlichen empirischen Felder und methodischen Zugriffe weiterhin ein hilfreiches Instrument.

Zusammenfassend kann also gesagt werden, dass systemische Transformation als ein mehrdimensionaler sozialer Wandel auf der Mikro-, Meso- und Makroebene komplementärer gesellschaftlicher Institutionen zu verstehen ist, bei dem sich eine Qualität von Wandel (hinsichtlich von Output, Prozess und Parametern) ergibt, dem man sich nicht – oder lediglich zum Preis völliger gesellschaftlicher Isolation – entziehen kann. Man ist geradezu gezwungen, sich mit dieser Transformation auf die eine oder andere Weise (bis zur Negation) auseinanderzusetzen. Gleichzeitig bleibt die Problematik bestehen, dass Transformation immer erst im Nachhinein komplett bestimmbar ist und in ihrer Auswirkungsqualität begreifbar sein wird. Und so sehen auch wir in der Zusammenschau der bisherigen Einzelprojekte des Schwerpunktprogramms Aspekte, die sich einer so weitreichenden Bestimmung der systemischen Transformation entziehen, und solche, in denen das Potenzial einer systemischen Transformation sich bereits abzeichnet, auch wenn sich diese noch nicht über alle Ebenen und Dynamiken gleichermaßen vollzogen hat. Auch deswegen erscheint es angemessener, von einer proto-transformativen Situation zu sprechen, die die zweite Phase des Schwerpunktprogramms als Koordinatensystem rahmt. Die Konfrontation historischer Perspektiven mit sozial- und wirtschaftswissenschaftlichen Diagnosen – das machen die in diesem Band versammelten Beiträge der ersten Förderphase unseres Schwerpunktprogramms deutlich – verspricht weiterhin wichtige Erkenntnisse für das Verstehen der Gegenwart und das Aufspüren transformativer Verschiebungen. Auf dem Weg zu einem tiefergreifenden und interdisziplinär noch stärker verschränkten Verständnis der Digitalisierung der Arbeitswelten als systemischer Transformation stellen alle hier versammelten Beiträge nur einen ersten Meilenstein dar, dem nächste folgen werden. Weitere drei Jahre Forschungsarbeit liegen dafür vor uns.