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1 Digitalisierung vergleichend analysieren – Co-Ethnografie

Digitalisierung ist ein komplexer und heterogener Prozess (Büchner et al. 2022). Nicht nur die Vielzahl digitaler Technologien, sondern vor allem ihre vielgestaltige soziotechnische Einbettung in unterschiedlich stark organisierte Handlungsfelder und unterschiedliche Organisationstypen stellt Forschende vor Herausforderungen (Pfeiffer 2019, S. 234). Um digitale Durchdringungen dieser Gesellschaftsbereiche zu beforschen, muss geprüft werden, wie sich Ähnlichkeiten und Unterschiede handlungsfeld- und organisationstypenübergreifend erfahren, beobachten und analysieren lassen. Neue Einsichten in die Heterogenitäten der Digitalisierung versprechen hier vergleichende Perspektiven (Gläser et al. 2018; Heintz und Wobbe 2021) und insbesondere ethnografische Zugänge (Niewöhner und Scheffer 2010). Doch wie lässt sich ethnografische Digitalisierungsforschung so gestalten, dass Vergleichspotenziale stärker als bisher, also über die gemeinsame Analyse und Interpretation von Artefakten und Feldnotizen hinaus (Reichertz 2013), erschlossen werden? Der Beitrag stellt die Methode der Co-Ethnografie vor, die darauf basiert, bereits während des Feldaufenthalts Vergleichspotenziale zu nutzen und in der Datengenerierung zu berücksichtigen. Konzipiert und erprobt wurde die Methode im Forschungsprojekt „Digital Cases“ (2019–2025).Footnote 1

1.1 Digitale Infrastruktur in fallförmigen Organisationen beforschen

Forschungsleitend für „Digital Cases“ ist die Frage, wie digitale Infrastrukturen (u. a. Büchner 2018a; Karasti und Blomberg 2018) die Bearbeitung von Fällen beeinflussen. Wir vergleichen dazu digitale Infrastrukturen in Organisationen, die sich mit Fällen befassen, also mit Problemkomplexen, die an Personen rückgebunden sind (Büchner 2018b, S. 24 f., 80). Insbesondere betrachten wir Fallinformationssysteme, die zur Behandlung von Patient*innen in Krankenhäusern oder als Hilfe für Familien in Jugendämtern eingesetzt werden. Mit diesen Systemen ist häufig das Ziel verbunden, Prozesse zu optimieren. So sollen beispielsweise Vorwarnung und Alarmierung über den Zustand von Patient*innen informieren, sobald bestimmte Werte überschritten werden, oder das Jugendamt in Kinderschutzfällen eine Gefährdung sieht. Der Feldzugang zu diesen Organisationen ist entsprechend hochschwellig und vorbereitungsintensiv, aber auch mental herausfordernd, da Forschende schwierige Fälle und ihre Verläufe miterleben – emotionsgeladene Elterngespräche ebenso wie sterbende Patient*innen.

Digitale Fallinformationssysteme setzen sich meist aus komplexen Einheiten zusammen und durchdringen organisationale Kontexte unterschiedlich stark. Besonders deutlich wird dies auf Intensivstationen, die durch den sensorischen Zugriff auf Patient*innenkörper Vitaldaten erzeugen, die in Fallinformationssysteme einfließen. Die Heuristik der Durchdringung aufgreifend, stellt sich die Frage, wie Fallinformationssysteme in verschiedenen Organisationskontexten die Bearbeitung von Fällen vorgeben und mitgestalten. Dabei wird entsprechend der Kritik an einer essentialistischen Unterscheidung von Sozialem und Technischem (Bijker und Law 1994; Schubert 2016) nicht nach sozialen Effekten von Fallsoftware als technischer Infrastruktur gefragt. Orientiert an der von Bruni (2005) entwickelten Perspektive des Software Shadowings werden stattdessen Prozesse, wie die Alarmierung, als ausdrücklich soziomateriell und heterogen angenommen. Fallsoftware wird damit zu einem Element unter anderen, eingebettet in eine Assemblage heterogener Materialitäten und Praktiken (Bruni 2005, S. 358). Diese Einbettungen können durch sensorische menschliche Aufmerksamkeit geschehen oder durch verkörperlichtes implizites Wissen, aber auch durch nichtmenschliche Elemente wie Telefone und Post-its. Die heuristische Frage der (digitalen) Durchdringung von sozialen Prozessen wird damit modifiziert und empirisch offener untersuchbar. So kann die Relevanz lediglich analytisch unterscheidbarer sozialer, technischer und soziotechnischer Elemente für Prozesse in verschiedenen Handlungsfeldern herausgearbeitet werden.

1.2 Organisationaler Heterogenität durch Vergleiche ethnografisch begegnen

Die Methode der Co-Ethnografie wurde als Ethnografiephase im letzten Drittel der Feldaufenthalte im Projekt „Digital Cases“ konzipiert und erprobt. Bei dieser spezifischen Form der Team-Ethnografie geht es um einen begleiteten Wechsel des Forschungsfeldes: Die Forschenden verlassen vorübergehend ihr primäres Forschungsfeld und begeben sich in das von ihrem Teammitglied beforschte (sekundäre) Feld. Damit kann die Mit-Strukturierung von Software nicht nur in einem Organisationstyp, sondern vergleichend untersucht werden. Darüber hinaus wird der Prozess der Ethnografie stärker und expliziter als Möglichkeit dazu genutzt, „thick comparisons“ (Niewöhner und Scheffer 2010) zu fördern. Co-Ethnografie zeichnet sich folglich dadurch aus, dass sie zwei Vergleichspotenziale kombiniert: den Vergleich zwischen einem primären und einem sekundären Feld sowie den verschiedener Positionalitäten, die durch die unterschiedliche Vertrautheit der Forschenden mit den Forschungsfeldern entstehen.

Im Zuge der Diskussion über multi-sited ethnographies (Marcus 1995) und der Zunahme vergleichend angelegter Forschungsprojekte (Abramson und Gong 2020) hat sich die traditionell starke Einzelfallorientierung von Ethnografien gelöst. So wurden unter anderem ein Krankenhaus und ein Jugendamt multi-sited untersucht. Organisationen wie diese können auf unterschiedliche Weise in Ethnografien auftauchen und sind dabei verschieden stark von organisationstheoretischen Vorannahmen geprägt (Schubert und Röhl 2019; Eberle und Maeder 2021). Wenn wir im Folgenden von Organisationen sprechen, stimmen wir zwar der Annahme zu, dass „[s]tability and order in organisations cannot be adequately described as implementing rational plans” (Schubert und Röhl 2019, S. 8). Wir widersprechen jedoch der Schlussfolgerung, dass Organisationen als „local accomplishments“ (ebd.) gelten müssen, in denen Ordnung „out of constant negotiations at the level of interactions“ (ebd.) hergestellt wird. Die Ordnungsbildung in Organisationen muss gerade nicht rein lokal bewältigt werden, denn Organisationen „erweisen sich […] als soziale Ordnungen, die nicht nur von der Wissenschaft, sondern auch von ihren Mitgliedern im täglichen Leben als System erlebt und behandelt werden“ (Luhmann 1999, S. 41).

Verschiedene ethnografische Ansätze zielen bereits darauf ab, Vergleiche zu fördern. So wird mit Team-Ethnografien angestrebt, individualisierte Zugänge zu Feldern zu überwinden (Erickson und Stull 1998). Eine Grundidee dabei ist, Teams nicht nur punktuell, sondern von Anfang an und umfassend den gesamten ethnografischen Forschungsprozess strukturieren zu lassen – ein ambitioniertes Vorgehen, wie auch Erickson und Stull (1998) mit dem Untertitel „Warnings and Advice“ zu ihrem Beitrag verdeutlichen.Footnote 2 So wird beispielsweise bei der Duoethnografie die unmittelbare Erfahrung desselben Phänomens durch zwei Forschende im eigenen Leben vorausgesetzt (Norris et al. 2012; Sawyer und Norris 2012; Tlale und Romm 2019). Meta-Ethnografien (Noblit und Hare 1988; Doyle 2003; Lee et al. 2015) streben hingegen eine Synthese ausgewählter qualitativer Studien an, wobei diese weniger verallgemeinert als vielmehr gegenseitig übersetzt werden.

Die Co-Ethnografie im Forschungsprojekt „Digital Cases“ arbeitet akzentuierter als die oben beschriebene Team-Ethnografie mit den einzelnen Ethnograf*innen und zielt darauf ab, unterschiedliche Organisationstypen als Vergleichsräume zu nutzen. Damit geht sie auf drei wichtige Herausforderungen aktueller Digitalisierungsforschungen ein: Sie dient dazu, die zunehmende Bedeutung digitaler Infrastrukturen im Alltag von Organisationen (Akemu und Abdelnour 2020; Kette und Tacke 2022) möglichst breit und ergebnisoffen zu analysieren, statt eng begrenzt etwa die Relevanz algorithmischer Entscheidungsunterstützungssysteme für die Bearbeitung von Fällen zu untersuchen. Sie versucht dem Problem einer Übergeneralisierung zu begegnen, das entsteht, wenn aus Ergebnissen von Einzelfallstudien in spezifischen Organisationstypen auf „die Digitalisierung“ (Gläser et al. 2018, S. 124 f.) oder „die Organisation“ geschlossen wird. Und sie entscheidet sich gegen eine Verengung auf Software als isolierte Instanz der Mit-Strukturierung von Prozessen, stattdessen wird diese im Verbund mit anderen Elementen der Fallbearbeitung betrachtet.

Im Beitrag skizzieren wir zunächst die Planung und Erprobung der Co-Ethnografie im Krankenhaus und Jugendamt (2). Darauf aufbauend geben wir exemplarisch einen Einblick in den im Prozess der Co-Ethnografie entstandenen Vergleich von Alarmierungsökologien im Jugendamt und im Krankenhaus (3). Für die Digitalisierungsforschung sind differenzierte Einsichten in soziotechnische Alarmierungen grundlegend, da diese oft vereinfacht und monokausal als technisch initiiertes Auslösen richtigen Handelns verstanden werden. Diese Prozesse finden jedoch organisationstypisch situiert statt (Büchner und Dosdall 2021, S. 348). Insofern sensibilisierte uns die Methodeninnovation während der ethnografischen Erhebung stärker für die Bedeutung von Alarmierungsökologien. Trotz der Herausforderungen in der Planung und Durchführung kommen wir abschließend zu einer positiven Einschätzung von Co-Ethnografie als Mittel, um dichte Vergleiche bereits im Forschungsprozess zu fördern (4).

2 Co-Ethnografie: Zwischen Planung und Entwicklung

Co-Ethnografie als Methode nutzt zwei Vergleichsachsen, indem sie erstens mit einem primären und einem sekundären Vergleichsfeld arbeitet und zweitens unterschiedliche Positionalitäten durch die variierende Vertrautheit der Forschenden mit den Forschungsfeldern aufgreift.

Die Kombination aus zwei Vergleichsachsen ist ausdrücklich nicht von der zu Recht kritisierten szientistischen Idee getragen, die Beobachtungen der Forschenden, in deren primärem Feld die Co-Begleitung stattfindet, unabhängig zu validieren, zu korrigieren oder zu vervollständigen (Hitzler 2016, S. 16). Stattdessen zielt sie darauf ab, das verkörperlichte implizite Wissen (u. a. Coffey 1999; Polanyi 1985) der Forschenden im Feld für Vergleiche fruchtbar zu machen. Durch den Wechsel des Feldes entstehen Fremdheits- und Irritationserfahrungen, die erlebte Selbstverständlichkeiten im primären Forschungsfeld in den Blick rücken und zu ihrer Erklärung anregen. Das in der Begleitung neu erlebte Feld kann dabei zusätzliche Vergleichsmomente im Forschungsprozess anstoßen und so neue Vergleichsräume eröffnen. Damit geht Co-Ethnografie eher von phänomenologisch onto-epistemologischen Annahmen aus (Hadjimichael und Tsoukas 2019, S. 673 f.), begreift also tacit knowledge und andere Arten von Wissen als miteinander verknüpft und in Kompetenzen wie soziomaterielle Praktiken eingebettet (ebd., S. 674).

Co-Ethnografie schafft somit besondere Bedingungen für die Entstehung und Irritation des verkörperlichten impliziten Wissens von Forschenden, sodass sie dieses auch für Vergleiche einsetzen können. Dabei nehmen sie zweimal die für Forschende im Feldeinstieg typische Rolle des „lernwillige[n] Neuling[s]“ (Breidenstein et al. 2013, S. 66) ein: beim Eintritt in das primäre Forschungsfeld und beim Wechsel in das sekundäre Feld. Diese zweite Positionierung als Neuling soll durch die Begleitung sozial abgepuffert und zumutbarer gestaltet werden. Für das Erleben der Forschenden, die den Feldwechsel vollziehen, kann die Positionierung als „begleiteter Neuling“ trotz des Orientierungsbedarfes Freiräume des Erlebens und Beobachtens schaffen und in der Begleitung weiterhin situative „Registerwechsel“ (Breidenstein et al. 2013, S. 67) zwischen starker und schwacher Teilnahme ermöglichen.Footnote 3

Die Co-Ethnografie wurde im Zuge des Forschungsantrages als experimentelles Vorgehen entwickelt, als eigenständiger Forschungsabschnitt geplant und zukünftigen Feldpartnern vorgestellt. Für den Aufenthalt zweier Forschenden im Feld waren umfassende Vorbereitungen nötig, zugleich musste ausreichend zeitliche Flexibilität eingeplant werden. Die Choreografie der Wechsel (Wer wechselt wann in welches Feld?) wurde bewusst erst nach dem Beginn der Einzelfallethnografie in der Forschungsgruppe entschieden. Da diese Entscheidungen sich gegenseitig beeinflussen, entstanden ein höherer Planungs- und Kommunikationsaufwand vor der Begleitung sowie ein größerer Entscheidungsbedarf nach Beginn der Begleitung (Mit welchen an das Feld angepassten Formaten werden die Co-Ethnograf*innen eingeführt, z. B. Video, Steckbrief, persönliche Vorstellung?). Während der Corona-Pandemie mussten die erarbeiteten Pläne für die Begleitung erneut angepasst werden, um auf fragile Personalsituationen im Feld zu reagieren. Zugleich wurden feldseitig eröffnete Chancen zur Anregung von Vergleichen aufgegriffen. Beispielsweise besuchte das gesamte Forschungsteam eine Kurzschulung zum Fallsoftwaresystem des Jugendamts.

Wie bereits kurz erwähnt, ging der Phase der Co-Ethnografie zunächst eine mehrmonatige, klassische Ethnografiephase (Breidenstein et al. 2013) voraus (siehe Abb. 1).

Abb. 1
figure 1

Klassische Ethnografie im primären Feld

Die Forschenden beobachteten in ihren primären Feldern teilnehmend – ähnlich der Rolle von Hospitant*innen. In dieser Phase wurden erste Feldprotokolle erstellt und der Datenkorpus mittels Triangulation (Flick 2011, S. 51 f.) durch teilstrukturierte Interviews sowie Software- und Dokumentenanalysen ergänzt. Die Forschenden entwickelten ein tiefgreifendes und komplexes Wissen über das eigene primäre Forschungsfeld und dessen digitale Fallsoftware. Darüber hinaus erlangten sie in gemeinsamen Analyse- und Vergleichswerkstätten erste Einblicke in die ethnografischen Erfahrungen und Beobachtungen aus den jeweils sekundären Feldern.

Die praktische Integration der Co-Ethnografie erfolgte im Anschluss. Die Forschenden wechselten dabei für mehrere Wochen in das sekundäre Feld und wurden von dem dort forschenden Teammitglied begleitet. Für die so entstehenden Rollen haben sich im Forschungsteam die Bezeichnungen des Hosts, der im primären Feld den Feldeintritt des zweiten Teammitglieds begleitet, und des Kontrasteurs, der in das sekundäre Feld wechselt, etabliert. Der Host begleitet das Feld klassisch ethnografisch und hat es bereits stark durchdrungen. Demgegenüber verfügt der Kontrasteur über erstes Vorwissen und erfährt das sekundäre Feld in der Begleitung als neuen Erfahrungsraum (siehe Abb. 2).

Abb. 2
figure 2

Co-Ethnografie, Wechsel des Kontrasteurs in das sekundäre Forschungsfeld des Hosts

Beide Forschenden erstellten in der Co-Ethnografie weiter eigene Feldnotizen und Feldprotokolle, markierten jedoch zusätzlich Irritationen und Überraschungen zur Art der Einbettung digitaler Infrastrukturen im sekundären Feld. So wurden erlebte und im Gespräch zwischen den Forschenden thematisierte spontan-intuitive Vergleiche in Feldnotizen festgehalten und später als Feldprotokolle für die weitere vergleichende Analyse ausgearbeitet. Ergänzend einigte sich das Forschungsteam in der ersten Ethnografiephase darauf, ein weiteres Format einzuführen, und zwar eine mündliche Tagesreflexion, die zeitlich nach der Erstellung von Feldnotizen und vor der Ausarbeitung des Feldprotokolls genutzt wird. Entsprechend handelt es sich bei dieser Tonaufzeichnung um einen Materialtypus, der nur in der co-ethnografischen Begleitung erstellt werden kann. Unmittelbar nach der Begleitung im Feld zogen sich beide Forschenden dazu räumlich zurückFootnote 4 und reflektierten etwa 15 min lang im Gespräch über das Erleben und Begleiten des Feldes.

Die Co-Ethnografie als integriertes Vorgehen erschöpft sich nicht darin, dass sich zwei Forschende im selben Feld befinden, und ist deshalb nicht mit dem Verlassen des Feldes beendet. Sie setzt auch die gemeinsame Interpretation der Daten voraus, denn die ethnografische Begleitung – also die Ermöglichung zweier dichter Beschreibungen einer Situation – und die Interpretation der dabei gewonnenen Daten sind nicht gegeneinander eintauschbar (Breidenstein et al. 2013). In diesen Auswertungen hat sich das Format der Audioreflexionen als besonders reichhaltig erwiesen, um Irritationen, Überraschungen und Auffälligkeiten während des begleiteten Feldaufenthaltes zu erläutern. Zu diesen Irritationen zählten auch Reflexionen über den eigentümlichen Geräuschteppich der Intensivstation oder das ferndiagnostisch erscheinende Bewältigen typischer Alarmierungen im Jugendamt.

3 Alarmierungsökologien im Jugendamt und Krankenhaus

Alarmierungen sind typische Funktionen, die digitalen und technischen Systemen zugerechnet werden. Als soziotechnische Konditionalprogramme (Luhmann 1973) sollen dadurch Routinen ausgelöst werden, um eine Notsituation zu bearbeiten. Dabei wird die Vorstellung einer Kette evoziert, in der technische Alarmierungen zu sozialem Handeln führen: Besorgniserregende Vitalwerte sollen Prüfroutinen anstoßen und digitale Gefährdungseinschätzungen das Eintreten von Kinderschutzfällen vermeiden. In dieser Kette wird digitalen Systemen oft eine prominente Rolle unterstellt. Im Folgenden erläutern wir ein Ergebnis der Co-Ethnografie, das zeigt, dass Alarmierungen weniger als lineare Ketten und stärker als Verdichtungen unterschiedlicher Elemente zu begreifen sind.Footnote 5 Um diesen Unterschied zu markieren und zugleich zu berücksichtigen, dass unterschiedliche Elemente am Prozess der Alarmierung beteiligt sind, sprechen wir von Alarmierungsökologien.

Die Prozesse der Alarmierung erwiesen sich erst im Feldwechsel als aussichtsreicher Vergleichsgegenstand. Als Basis dienten vor allem die gemeinsam erzeugten Audio-Reflexionen von Host und Kontrasteur. So sind Alarme auf der Intensivstation akustisch-visuell dauerpräsent und gehören zur Normalität. Im Jugendamt hingegen drängen sich Alarmierungen keineswegs als Analyse- und Vergleichsgegenstand auf. Entsprechend finden sich in den Feldprotokollen des Hosts im Jugendamt vor dem Feldwechsel kaum explizite Bezüge zu Alarmen und Alarmierungen. Erst der Wechsel ins Krankenhaus initiierte einen Prozess, den Zerubavel als „attentional sensitization“ und „epistemic preparedness“ (2021, S. 9) beschreibt. Gemeint ist eine im Forschungsprozess entstehende Sensibilität, um Ähnlichkeiten im Unterschiedlichen zu erkennen. Als genau solche Ähnlichkeiten im Unterschiedlichen haben sich in unserer ethnografischen Forschung Alarmierungsökologien herauskristallisiert.Footnote 6 Sie bezeichnen die Gesamtheit aller Beziehungen zwischen heterogenen Elementen, die bei der Betrachtung von Alarmierungen mit einer prozessualen Perspektive zusammenwirken – technische und nicht-technische Elemente, aber auch deren Mischformen. Damit beschreiben wir soziotechnische Zusammenhänge, in denen sich unterschiedliche Elemente typischerweise zu Auslösern von Alarmen verdichten und typische Bearbeitungsweisen nach sich ziehen.

3.1 Jugendamt: Alarmierung als Sequenz, die in die Organisationsumwelt ausgreift

Auch im Jugendamt beeinflusst Fallsoftware weite Bereiche der Fallbearbeitung, jedoch sehr uneinheitlich (Büchner und Gall 2023). Potenzielle Auslöser von alarmierenden Situationen erreichen das Jugendamt meist als Meldungen von außen, insbesondere von Privatpersonen und Institutionen wie Schulen oder Kitas. Diese Meldungen gehen nicht ausschließlich, aber hauptsächlich telefonisch ein und umfassen sachlich ein sehr breites Spektrum. Die Probleme, die von Jugendämtern bearbeitet werden, sind gerade im Vergleich zur klinischen Medizin keine „clear cut problems“ (Abbott 1981, S. 823 f.). Die Verlässlichkeit der Meldungen variiert stark, da sie von Professionellen wie auch von Laien eingehen.

Im folgenden Beispiel war bereits bei Eingang der Meldung wenig Ungewissheit darüber, dass der berichtete Sachverhalt alarmierend ist und ein unmittelbares Einschreiten erfordert. Zugleich zeigte sich, dass im Jugendamt Alarmierungen stark sequenziell, in einem Nacheinander aus einzelfallspezifischen Schritten abgearbeitet werden, wobei die Organisationsumwelt umfassend einbezogen wird.

Die fallzuständige Fachkraft erhält einen Anruf in ihrem Büro und unterbricht ihre Arbeit. Die Mitarbeiterin einer Kita berichtet, dass sie verunsichert ist. In der Einrichtung werden zwei Kinder betreut, für die die Fachkraft aus dem Jugendamt zuständig ist. Nun steht der Vater beider Kinder vor der Kita, obgleich ein Näherungsverbot ausgesprochen wurde. Die Fachkraft versucht, die Situation zu entschärfen, und bittet die Anruferin, den Vater direkt ins Jugendamt zu schicken. Die Kitamitarbeiterin ist einverstanden und beendet das Gespräch. In diesem Moment ist noch unklar, ob der Vater der übermittelten Aufforderung folgt. Die Fachkraft sucht sofort die im Fall vertretende Kollegin für eine kurze Beratung in ihrem Büro auf. Die beiden erörtern, was unternommen werden kann: Bei Nichterscheinen müsse die Polizei alarmiert werden. Für das Szenario, dass der Vater erscheint, wird beraten, welche Konsequenzen ihm im Gespräch aufgezeigt werden. Ziel müsse es sein, dass der Vater verstehe, dass er sich in keinem Fall den Kindern zu nähern habe. Tatsächlich kommt der Vater ins Jugendamt und wird eindringlich belehrt. Direkt im Anschluss ruft die Fachkraft in der Kita an, bedankt sich für die Meldung der Mitarbeiterin und ihr Einschreiten und bittet um sofortigen Anruf, sollte der Vater sich den Kindern erneut an der Kita nähern. Erst jetzt wird die Fallsoftware konsultiert und das Ereignis dokumentiert.

Typisch für diese Alarmierungssituation ist, dass überwiegend telefonische Kommunikation als schnelle Verständigungsform gewählt wird. Die Fachkraft rechnet also mit Anrufen, kann diese aber selten vorher einem bestimmten Fall zuordnen.Footnote 7 Im Aufsuchen der zweiten Fachkraft zeigt sich, dass die berichtete Situation unmittelbar als akut und gefährdend interpretiert wurde. Eine Bearbeitung der Situation vor Ort ist nicht möglich: Das kritische Ereignis, der Verstoß gegen das Näherungsverbot, findet wie die meisten meldungsrelevanten Ereignisse in Jugendämtern in einer Organisationsumwelt statt, die nicht unmittelbar in Augenschein genommen werden kann. Für den ersten Interventionsschritt wird auf Nichtmitglieder zurückgegriffen, hier auf die Kitamitarbeiterin, die die Aufforderung an den Vater übermittelt. Nach erfolgter Belehrung des Vaters vor Ort greift die Fachkraft erneut telefonisch auf die Kitamitarbeiterin zurück und verabredet ein Konditionalprogramm, sollte sich der Vorfall wiederholen. Wie in zahlreichen anderen Situationen mit akutem Handlungsbedarf spielte die in der Fallsoftware hinterlegte Gefährdungseinschätzung unmittelbar nach dem initialen Gespräch keine Rolle. In der sich anschließenden kollegialen Beratung werden, auch dies ist typisch, unterschiedliche Szenarien der Intervention „durchgespielt“ und damit als Rückfallprogramme identifiziert, sollte der Vater nicht im Jugendamt erscheinen. Zum Ende der Sequenz wird diese in der Fallsoftware dokumentiert und dient damit als datafizierte Handlungsbegründung für potenziell folgende Maßnahmen.

Der hier vorgestellte Fall mag auf den ersten Blick darauf hindeuten, dass Fallsoftware für Alarmierungen im Jugendamt weniger wichtig ist. Eine integrierte Perspektive auf Alarmierungsökologien sensibilisiert jedoch für zweierlei: Innerhalb des Jugendamtes werden den Fallinformationssystemen mit ihren Checklisten empirisch große Bedeutung für die Bearbeitung von Gefährdungen zugesprochen („Staging“, Suchman 2007, S. 283). Diese zeigt sich nicht nur in der IT, sondern auch in dienstlichen Vorgaben. Zugleich können Fallinformationssysteme in der Alarmierungsbewältigung, wie im geschilderten Fall, nachträglich relevant werden.

3.2 Krankenhaus: Alarmierung als punktuelle, unmittelbar adressierbare Situation

Die Alarmierungsökologien im Krankenhaus unterscheiden sich stark von denen im Jugendamt. Bearbeitungen finden unmittelbar vor Ort statt und erfolgen damit zeitnah und eher punktuell als in Sequenzen. Zugleich werden andere Elemente relevant, die sich zu Alarmen verdichten.

Die Intensivstation erscheint auf den ersten Blick als Ort steter digitaler Alarmierung, der durch den fortwährenden Teppich aus Tönen und Lichtern sinnlich intensiv erfahrbar ist. Dieser vermeintliche Ausnahmezustand wird jedoch „auf Station“ als Normalität erlebt und dadurch bewältigbar, weil die Warntöne, Signalfarben und Auffälligkeiten der dortigen Patient*innen mit festen Programmkorridoren versehen sind und je spezifische Prüfroutinen auslösen. Es herrscht eine soziale Normalisierung des Überflusses technischer Alarme (Montgomery et al. 2020). Empirisch zeigt sich, dass die soziale Herausforderung technischer Alarmierung darin besteht, die einzelnen Stimuli des akustischen und visuell präsenten Alarmteppichs richtig zu- und einzuordnen. Diese Unterscheidungsfähigkeit ist stark ausgeprägt; so erzählt eine Pflegekraft stolz, dass sie auf der Weihnachtsfeier zum Siegerteam des Alarmtöne-Quiz der Station gehörte. Akute Situationen, die in dem Moment über den Vitalparametermonitor als visuelle Darstellung der Fallsoftware dauerpräsent sind, werden vor Ort und im Regelfall vom engen Kreis der Beschäftigten der Station bewältigt.

Die Prüfung von Alarmen findet typischerweise schnell und weitgehend unkommentiert statt. Nach dem Piepsen in einem Patient*innenzimmer geht die Pflegekraft kurz hinein und wirft einen Blick auf die Werte. Sie scherzt in die Richtung der Forschenden: „Tja, die Geräte, die WOLLEN IMMER WAS!“ (FP-KH-06a) Angesichts dieser Durchdringung der Arbeitssituation mit hochtechnisierten Maschinen, Sensoren und digitaler Infrastruktur sind es nicht ausgewählte technische Alarme, sondern soziotechnische Verdichtungen, an denen die Fachkräfte erkennen, dass eine Situation „tatsächlich“ alarmierend ist. So entgegnet eine Pflegerin auf die Frage, woran sie merke, dass wirklich etwas Wichtiges vorgefallen sei: „Ja, eigentlich, wenn ich gerufen werde. Dann weiß ich, ok, es ist wirklich was los.“ (FP-KH-16)

Hier wird deutlich, dass nicht die technische, sondern die sozial vermittelte Alarmierung diejenige ist, die die höchste Relevanz besitzt. Während bei regelmäßigen technischen Alarmen das Spektrum der Gründe für deren Anschlagen abgrenzbar und bekannt ist, liegen die Gründe für die sozial vermittelte Alarmierung im besten Fall als „gewusstes Nicht-Wissen“ (Wehling 2008, S. 22) vor. Derartige Alarmierungen beschränken sich nicht auf Rufe, sondern werden auch unintendiert als Abweichungen vom normalen Geräuschteppich wahrgenommen. So erklärt die Pflegeleitung auf die Frage, wie sie kritische Situationen erkennt: „Ich merke es immer, wenn der Rea[nimations]-Wagen rollt, der klingt ja ganz anders als alles andere, was gerollt wird. Wenn ich das höre, wie der gerollt wird, dann weiß ich schon, da ist was passiert.“ (FP-KH-18)

Hektik, wahrgenommen über die Rollgeräusche, verdichtet den Alarm, der technisch zwar erzeugt, aber soziotechnisch erst virulent wird: Das Rollen des Reanimationswagens, der über den Flur bewegt wird und anders klingt als alle anderen Rollgeräusche, erhält in der Deutung der Pflegeleitung Alarmcharakter. Dieses Erkennen, oft flankiert von trampelnden Schritten, ist hochgradig voraussetzungsreich: Die Deutungskompetenz beschränkt sich nicht etwa auf das Auswendiglernen von Tönen, die Geräten zugeordnet werden. Vielmehr ist hier differenziertes sensorisches Erfahrungswissen entscheidend, das sich jedoch nur unter hochgradig kontrollierten und standardisierten soziotechnischen Bedingungen und in festen räumlich-sozialen Situationen entwickeln kann. Diese Einsicht kehrt auch die landläufige Kausalität technischer Alarmierung, wie sie etwa im Begriff der „Frühwarnsysteme“ anklingt, um: Nicht die technischen Alarme lösen soziales Handeln aus, sondern die soziale Markierung als Alarmierung evoziert (sozio-)technisches Handeln, wenn etwa das Reanimationsgerät geholt wird.

Stellt man die skizzierten Alarmierungsökologien im Jugendamt und im Krankenhaus gegenüber, werden Unterschiede in soziotechnischen Alarmierungsökologien und damit in der Relevanz digitaler Infrastrukturen für Alarmierungen deutlich. Obgleich es also naheliegt, digitale Infrastrukturen zur Warnung und Früherkennung von Gefährdungen vorzusehen, sensibilisieren die Einsichten der Co-Ethnografie für die Bedeutung der spezifischen organisationalen Situierung der Alarmierung (Büchner und Dosdall 2021, S. 348). So ist eine differenzierte und breite „technische Alarmierung“, wie sie auf der Intensivstation die Normalität ist, auf die Möglichkeit enger Programmkorridore technischer Alarme angewiesen. Und sie setzt voraus, dass technische Alarme selektiert und dann sozial aufgegriffen werden. Technische Alarmierung muss, um Handeln auszulösen, tatsächlich im sozialen Sinne warnen, statt lediglich akustisch aktiv zu sein. Dafür sind im Vergleich zum Jugendamt hochstandardisierte und hochkontrollierte Settings der Fallbearbeitung erforderlich, in denen beispielsweise unmittelbar interveniert und auf Patient*innenkörper zugegriffen werden kann.

4 Herausforderungen und Bewältigungsstrategien der Co-Ethnografie

Co-Ethnografie verknüpft Vergleichsräume und Irritationen mit der Offenheit ethnografischer Forschung. Sie ermöglicht auf diese Weise feldübergreifende Verallgemeinerungen und eröffnet Einblicke in Ähnlichkeiten und Unterschiede von fallförmigen Organisationen. Allerdings ist es dafür erforderlich, sich die besonderen Herausforderungen und Bewältigungsstrategien der co-ethnografischen Methode bewusst zu machen.

Die Anwesenheit von zwei Forschenden – ganz gleich, wie sensibel und professionell sie sich während der Beobachtung verhalten – kann das Feld irritieren und stören, was in der Begleitung kontinuierlich antizipiert werden muss. So ist die Räumlichkeit im Krankenhaus in ihrer Kompaktheit – ganz im Unterschied zum Jugendamt – hochgradig normiert; kein medizinischer Apparat steht zufällig an seinem Platz. Auf der stets stark frequentierten Intensivstation spitzt sich die Schwierigkeit, als Ethnograf*in, nicht im Weg zu stehen, während der Co-Ethnografie zu: Zu zweit einen Blick auf die Dokumentationsarbeit der Pflegekraft am PC zu erhaschen, ohne in dem engen Raum zwischen Wand und Patient*innenbett zu stören, erfordert erhöhte Aufmerksamkeit beim Beobachten (etwa: die Wege freihalten, Positionen tauschen) und häufiges proaktives Adressieren der Forschenden gegenüber dem Feld.

Um die Co-Ethnografie für die Analyse fruchtbar zu machen, muss der Host nicht nur die co-ethnografische Phase vorbereiten und choreografieren (etwa: das Konzept und den Kontrasteur vorstellen und die Terminkoordination übernehmen). Er trägt auch forschungspraktische Verantwortung für den Kontrasteur, indem er dessen Neuheit im Feld gerecht wird und diese sichtbar macht. Im Jugendamt gestaltete sich der Feldeintritt des Kontrasteurs reibungsarm: Er wurde vom Feld als unbewandert adressiert und das Kennenlernen als gemeinsam zu bewältigende Aufgabe verstanden. Im Krankenhaus indes gab es die Erwartung, dass der Host den Kontrasteur umfassend „brieft“. Ein persönliches Kennenlernen und eine erneute Einführung in die Abläufe auf Station standen zu keinem Zeitpunkt zur Disposition. Um sich diesen Besonderheiten situativ anzupassen, müssen Host und Kontrasteur Teile ihrer Aufmerksamkeit von dem Erleben und Beobachten im Feld für die Abstimmung ihrer Dyade aufwenden: Welche eigenen Beobachtungsräume kann sich der Kontrasteur erschließen? Welches Maß an vorgelagerten Briefings ist in einer konkreten Begleitung nötig? Welche Rückfragen des Kontrasteurs signalisieren Irritationen oder Überraschungen?

Die Co-Ethnografie als integrierte Forschungsphase hat sich für die Anregung von Vergleichen der soziotechnischen Einbettung digitaler Systeme der Fallbearbeitung zwischen Feldern als anspruchsvoller und zugleich fruchtbarer Weg erwiesen, um dichte Vergleiche bereits vor der Analyse in Interpretationswerkstätten anzuregen. Selbstverständlichkeiten des Feldes wie akustische Elemente der Alarmierung oder die Rolle telefonischer Koordinations- und Klärungsprozesse können durch die Co-Ethnografie zum Vergleich im Forschungsprozess herangezogen und durch Formate wie die gemeinsame mündliche Tagesreflexion für Auswertungen aufgegriffen werden. Diese Form der Förderung dichter Vergleiche im Feld kreiert „‚new things‘ and modes of empirical work […] [and] gives way to intensified dialogues between data analysis and theorizing“ (Niewöhner und Scheffer 2010, S. 14). Hierbei eröffnen sich induktiv neue Vergleichsräume, die vom Erleben und Beobachten als „proto-concepts“ (Zerubavel 2021, S. 4) eines primären Forschungsfeldes geprägt sind. Diese Vergleichsräume können durch das Erleben und die Reflexionen zwischen Host und Kontrasteur für vergleichende, induktiv gewonnene Analysen in der Digitalisierungsforschung fruchtbar gemacht werden.