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1 Einleitung

Arbeitsmärkte haben in modernen kapitalistischen Gesellschaften großen Einfluss auf die Strukturen sozialer Ungleichheit (Abraham und Hinz 2018). Sie erschließen Positionen in Organisationen, die mit Einkommen und sozialer Sicherung, mit gesellschaftlicher Anerkennung und sozialen Aufstiegschancen verbunden sind (Goedicke 2006). Der Arbeitsmarktzugang bildet neben der Vermögensverteilung den wichtigsten ökonomischen Faktor für den sozialen Status von Personen und privaten Haushalten. Die Digitalisierung als dominierende technologische Entwicklung im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts beeinflusst diesen Zusammenhang auf zweierlei Weise. Zum einen verändert sie die Nachfrage nach Arbeitskraft: Manche Tätigkeitsbereiche werden obsolet, andere geraten unter starken Anpassungsdruck, und es entstehen neue Aufgabenfelder (Dengler und Matthes 2015). Zum anderen erfolgt der Zugang zu Erwerbschancen zunehmend über digitalisierte Such- und Vermittlungsprozesse am Arbeitsmarkt (Pongratz 2022a).

Diesem zweiten Aspekt widmet sich die folgende Analyse mit der Frage, wie sich die Digitalisierung privatwirtschaftlicher Dienstleistungen am Arbeitsmarkt auf die Verteilung von Erwerbschancen auswirkt: Tragen Plattformdienste und Rekrutierungssoftware zum Abbau ungleicher Strukturen bei oder führen sie zu deren Verfestigung? Diese Frage lässt sich nur explorativ und mit vorläufigen Hypothesen beantworten. Denn die Instrumente der digitalisierten Rekrutierung von Personal sind ausgesprochen vielfältig und noch schwer überschaubar (Pongratz 2021). Viele sind erst seit kurzem im Einsatz, befinden sich in permanenter Weiterentwicklung und lassen kaum stabile Effekte erkennen. Ihre Erforschung steht noch am Anfang, sie befasst sich primär mit einzelnen Rekrutierungstools oder Plattformdiensten, aber kaum mit deren Zusammenwirken oder Arbeitsmarkteffekten. Dabei wird eine schon länger bestehende Forschungslücke offenbar: Die Praxis von Stellensuche und Bewerbung, von Personalvermittlung und -rekrutierung ist aus sozialwissenschaftlicher Perspektive wenig erforscht (Pongratz 2022a).

Ziel der Analyse ist es, erste Forschungsbefunde mit arbeitsmarkttheoretischen Erklärungsansätzen zu verknüpfen und daraus Hypothesen zu den Ungleichheitseffekten der digitalen Transformation des Arbeitsmarkts abzuleiten. Auf die forschungsleitende Annahme verweist der Titel des Beitrags: Digitale Rekrutierungstechnologien ermöglichen und nutzen virtuelle Inszenierungen von Arbeitskraft. Den Raum dafür öffnen Plattformen wie die Karrierenetzwerke Linkedin oder Xing mit Online-Profilen und Kommunikationsangeboten, ebenso wie Rekrutierungssoftware, die Arbeitskraftdaten erfasst und erzeugt, sie auswertet und ins Verhältnis zu den Anforderungen einer Position setzt.Footnote 1 Inszenierung ist als strukturelles Erfordernis des Marktes zu verstehen: Nur wer mit seinen Fähigkeiten sichtbar wird, hat Chancen, für Positionen ausgewählt zu werden. Das ist auch ohne digitale Instrumente der Fall, wenn etwa Selbstdarstellungen in Form von Lebensläufen verlangt oder Bewerbungsgespräche arrangiert werden. Die sich zunehmend verselbstständigende digitale Beschäftigungsindustrie erweitert diese „Bühne“ in mehrere Richtungen: Den Erwerbspersonen bietet sie Online-Optionen zur Präsentation als geeignete Arbeitskraft, der Arbeitgeberseite erleichtert sie die Sammlung und Auswertung der Daten von Kandidat*innen. Dazwischen platzieren sich Zeitarbeitsfirmen und Personalberatungen als traditionelle Vermittlungsinstanzen mit digitalisiertem Instrumentarium (Pongratz 2021).

Der digitale Zugang zu Erwerbschancen, ob als Einstieg, Aufstieg oder zur Mobilität, führt, so lautet die Ausgangsannahme, über virtuell nachvollziehbar gemachte Arbeitsbefähigung. Digitalisierte Darstellungs- und Prüfverfahren gewinnen so maßgeblichen Einfluss auf die Reproduktion von Ungleichheitsstrukturen am Arbeitsmarkt. Diese Ausgangslage wird im Folgenden mit einer Skizze zentraler Elemente der Digitalisierung des Arbeitsmarkts konkretisiert (Abschn. 3). Mit Bezug auf ein breites Spektrum von Arbeitsmarkttheorien werden relevante Wirkungszusammenhänge vorgestellt (Abschn. 4). Erste Forschungsergebnisse zu Ungleichheitswirkungen digitalisierter Rekrutierungsverfahren (Abschn. 5) bilden den Ausgangspunkt, um theoretisch begründete Hypothesen zu formulieren (Abschn. 6). Im Gesamtbild lassen diese Thesen bei Fortsetzung bisheriger Entwicklungen erwarten, dass sich soziale Ungleichheiten auf dem Arbeitsmarkt verfestigen. Um dieser Problematik in der arbeitsmarktpolitischen Diskussion stärkeres Gewicht zu verleihen, ist die Forschung dazu aufgerufen, solchen Zusammenhängen im Detail nachzugehen (Abschn. 7).

Zum Einstieg wird die Inszenierungsproblematik am Beispiel der Arbeitsmarktrelevanz der Karrierenetzwerke veranschaulicht: Im Mittelpunkt steht die Plattform Linkedin als virtueller beruflicher Inszenierungsraum, zu dem bereits aufschlussreiche Studien vorliegen (Abschn. 2). Der paradigmatische Fall Linkedin zieht sich als roter Faden durch die weitere Argumentation.

2 Illustration: Der Inszenierungsraum beruflicher sozialer Netzwerke

Die weiteste Verbreitung unter den arbeitsmarktorientieren Internetplattformen weisen die beruflichen sozialen Netzwerke auf: Global führend ist Linkedin mit über 850 Mio. registrierten Mitgliedern weltweit und etwa 19 Mio. in der DACH-Region (Deutschland, Österreich, Schweiz). Viele andere Karrierenetzwerke sind auf Regionen und Sprachräume ausgerichtet, so etwa Xing mit etwa 21 Mio. Mitgliedern im DACH-Raum. Für Deutschland beansprucht somit jede der beiden Plattformen, etwa ein Drittel aller Erwerbspersonen zu erfassen. Angelegt zur Vernetzung der Mitglieder, ähnlich wie Facebook als privates soziales Netzwerk, erzielen sie ihre Einnahmen weniger über Mitgliedsgebühren als mit Personaldienstleistungen: Sie werten die Daten ihrer Mitglieder auf deren Leistungspotenzial hin aus und bieten sie Personalberatungen (Headhunting-Firmen) und Personalabteilungen für Rekrutierungszwecke an.Footnote 2 Professionelle Recruiter*innen nutzen Linkedin inzwischen standardmäßig für die Suche nach Fach- und Führungskräften (Zide et al. 2014; Jeske und Shultz 2016; für Deutschland siehe Brändle et al. 2023).

Der Inszenierungsraum eines Karrierenetzwerks (van Dijck 2013) umfasst zunächst die Angaben im Nutzerprofil (in der Regel mit Foto) zu Berufsverlauf, Kompetenzen sowie Aus- und Weiterbildung, die vergleichbar sind mit einer klassischen Bewerbung. Zusätzlich wird das Kommunikationsverhalten auf der Plattform sichtbar: das Spektrum der persönlichen Kontakte, die geposteten Beiträge (und Reaktionen darauf) sowie eigene Kommentierungen und Verlinkungen. Zudem registriert die Plattform Verhaltensspuren ihrer Mitglieder: Häufigkeit und Regelmäßigkeit von Beiträgen, Antwortverhalten bei Kontaktanfragen oder Jobangeboten etc. Für die Mitglieder bleibt dabei intransparent, welches Bild ihrer Arbeitsbefähigung die Plattformalgorithmen konstruieren und an die Kundschaft übermitteln. In Internetblogs finden sich Mutmaßungen zur Frage, wie die Linkedin-Algorithmen funktionieren und wie sich die eigene Netzwerkkommunikation optimieren lässt. Rund um dieses Thema ist ein sekundäres Geschäftsfeld mit Literatur, Videos und Beratungsangeboten für mehr Sichtbarkeit und Reichweite auf der Plattform entstanden.

Beide Seiten entwickeln entsprechende Strategien und Kompetenzen: Erwerbstätige, um in einem günstigen Licht für die weitere Vernetzung zu erscheinen (Tifferet und Vilnai-Yavetz 2018), Recruiter*innen, um geeignete Kandidat*innen zu ermitteln und zu kontaktieren (Dannhäuser 2017). Zwar ist niemand zur Mitgliedschaft gezwungen, aber ein fehlendes Profil reduziert nicht nur die Online-Sichtbarkeit, sondern wird auch als erklärungsbedürftige Lücke bei Bewerber*innen identifiziert. Denn Plattformen werden im Recruiting sowohl zur Suche nach Kandidat*innen als auch zu ihrer Überprüfung genutzt: Cybervetting bezeichnet die Online-Recherche nach Informationen über Bewerber*innen, die sie von sich aus nicht preisgeben. Diese Praxis ist im Headhunting wie in Personalabteilungen weit verbreitet (Berkelaar und Buzzanell 2015; Berkelaar 2017), obgleich sie moralisch und rechtlich umstritten ist (McDonald et al. 2022; Wilcox et al. 2022). Vor diesem Hintergrund kann ein Linkedin-Profil auch als Versuch verstanden werden, die eigene Online-Sichtbarkeit zu kontrollieren.

3 Überblick zur digitalen Beschäftigungsindustrie

Das Feld der Digitalisierung des Arbeitsmarkts umfasst neben den Karrierenetzwerken viele weitere Akteure, die Such- und Vermittlungsprozesse beeinflussen. Der folgende Überblick konzentriert sich auf Plattformen und Softwareangebote, die für die Inszenierung von Arbeitskraft besonders relevant sind. Eine nicht zu unterschätzende Rolle kommt aber auch Personalberatungen und Zeitarbeitsfirmen als bereits etablierten Akteuren zu, die diese Instrumente intensiv nutzen und mit ihrer Branchenerfahrung zu deren Weiterentwicklung beitragen. Diese intermediären Unternehmen schaffen eine ausgedehnte privatwirtschaftliche digitale Infrastruktur am Arbeitsmarkt – in unterschiedlichen Kooperationen und weitgehend unabhängig von den Institutionen der öffentlichen Arbeitsverwaltung und der industriellen Beziehungen. Das gesamte Feld lässt sich als digitale Beschäftigungsindustrie beschreiben (Pongratz 2021)Footnote 3, und ihre zunehmende institutionelle Eigenständigkeit als Prozess der Verselbstständigung interpretieren. Eine erste These lautet: Die sich verselbstständigende digitale Beschäftigungsindustrie verändert grundlegend die Bedingungen für die Inszenierung von Arbeitskraft.

Die Basis haben Online-Jobbörsen gelegt, die seit Mitte der 1990er Jahre die Stellensuche im Internet ermöglichen. Neben wenigen großen, weltweit aktiven Plattformen (z. B. Monster, Stepstone) entwickelte sich ein breites Spektrum fachlich und regional spezialisierter Stellenbörsen (Kuhn und Skuterud 2004). Auf deren Informationsangebot greifen wiederum Stellensuchmaschinen wie Google for Jobs (im Hintergrund jeder Google-Suche) und Indeed zu (Hoppner et al. 2018). Große Teile des globalen Stellenangebots sind so per Internetanschluss einfach zugänglich geworden, der Suchaufwand bleibt aufgrund von Auswahlproblemen angesichts der Fülle der Plattformen allerdings hoch. Ergänzende Informationen zu den Beschäftigungsbedingungen in den Betrieben liefern Plattformen wie Glassdoor und Kununu, auf denen Beschäftigte ihre Arbeitgeber bewerten können (ähnlich wie das für Restaurants oder Hotels möglich ist) (Dube und Zhu 2021). Mit Stellenofferten (Jobbörsen, Stellensuchmaschinen), Beschäftigungsbedingungen (Arbeitgeberbewertung) und Erwerbspersonen (Karrierenetzwerke) bilden die Plattformen Angebot und Nachfrage am Arbeitsmarkt als öffentlich zugängliche Informationen ab.

Parallel dazu haben zahllose Start-up-Firmen eine breite Palette von Software geschaffen, um Informationen über alle Phasen eines Rekrutierungsprozesses hinweg zu gewinnen und zu verarbeiten: von der Bedarfsanalyse und Stellenausschreibung bis hin zur Auswahlentscheidung und Einarbeitung (Onboarding). Ein aktueller Überblick (Talent Tech Labs 2023) listet 42 verschiedene Felder von Talent Acquisition Technology auf (einschließlich der eben genannten Plattformtypen). Für die Inszenierung von Arbeitskraft besonders relevant sind digitale Kommunikationstools und automatisierte Auswertungsverfahren. So erzeugen Chatbots und Videointerviews neue Daten, indem sie Verhaltensweisen der Bewerber*innen registrieren und analysieren (Brenner et al. 2016). Aus Sprachmustern im Chatbot oder aus Stimme und Mimik im Videointerview wird beispielsweise versucht, auf Persönlichkeitseigenschaften zu schließen. Das automatisierte Einlesen von Lebensläufen (CV-Parsing bzw. Resume Screening), das inzwischen bei vielen großen Unternehmen üblich ist, wirft die Frage auf, welche Angaben zu Qualifikationen und Berufserfahrungen von der Software nach standardisierten Kriterien „verstanden“ und wie sie zueinander ins Verhältnis gesetzt, also interpretiert, werden (Noble et al. 2021). Bewerber*innen müssen damit rechnen, dass ihre digitalen Äußerungen festgehalten und mit algorithmischen Verfahren im Hinblick auf ihr Leistungspotenzial analysiert werden.

Auf der Nachfrageseite wird Rekrutierungssoftware neben den HR-Abteilungen auch von Personalberatungen und Zeitarbeitsfirmen für ihre Vermittlungsdienste genutzt. Das Beispiel Randstad als global umsatzstärkster Zeitarbeitsfirma (mit Sitz in den Niederlanden, führend auch in Deutschland) zeigt, wie die Digitalisierung als Konzernstrategie über die Diversifizierung der Geschäftsfelder und die Integration innovativer Technologien umgesetzt wird (Pongratz 2021; Cárdenas Tomažič 2022): Die Diversifizierung hat Randstad durch die Akquisition von Personalberatungen und Freelancer-Agenturen, aber auch von Crowdworking-Plattformen vorangetrieben; parallel dazu investiert der Randstad Innovation Fund in Start-ups zur Entwicklung von Software, die dann im Konzern Praxistests unterzogen werden kann. Für Personalberatungen sind neben innovativer Software die über die Karrierenetzwerke verfügbaren Daten zu einem zentralen Rekrutierungsinstrument geworden (siehe Abschn. 2). Bereits ihr ursprüngliches Geschäftsmodell, die Suche nach Führungskräften, basierte auf der Nutzung beruflicher Netzwerke für die Personalsuche; mithilfe digitaler Technologien weiten sie diese Strategie nun auf Fachkräftesegmente mit knappem Angebot aus (Coverdill und Finlay 2017).

Noch befindet sich die Branche mitten in der digitalen Transformation und es ist nicht klar zu erkennen, welche Akteure sich mit welchen Geschäftsmodellen langfristig durchsetzen können und die Branchenstrukturen künftig prägen werden (vgl. die Szenarien zur „Beschäftigungsindustrie der Zukunft“ in Pongratz 2023a). Die entscheidende technologische Herausforderung liegt in der integrativen Zusammenführung der zahlreichen Instrumente zur Informationsgewinnung und -verarbeitung und in ihrer effizienten Einbindung in den Alltag der Rekrutierungspraxis. Denn die einzelnen Technologien wurden in der Regel unabhängig voneinander, oft in Konkurrenz miteinander und mit wenig Wissen über Praktiken der Rekrutierenden entwickelt (Pongratz 2022a). Inzwischen verstärken sich die Bestrebungen, die einzelnen Software-Tools in Bewerbermanagementsysteme (Applicant Tracking Systems ATS) einzubinden (Holm 2020). Große Hersteller von ERP-Software (Enterprise Resource Planning) wie SAP und Oracle haben durch Akquisitionen umfangreiche HR-Software-Pakete für die Personalarbeit zusammengestellt. Auch aufseiten der Plattformen spielen Akquisitionen eine wichtige Rolle bei der Integration von Datenzugängen (Pongratz 2022b): So sind die größte Stellensuchmaschine Indeed und die führende Arbeitgeberbewertungsplattform Glassdoor von der japanischen Zeitarbeitsfirma Recruit Holdings aufgekauft und in einem neuen Geschäftsbereich „HR Technology“ zusammengefasst worden.

In dieser Umbruchsituation ist es schwierig, den Wandel der Bedingungen für die Inszenierung von Arbeitskraft für das ganze Feld der Beschäftigungsindustrie zu bestimmen. Der Bezug auf die Karrierenetzwerke (siehe Abschn. 2) zur Identifizierung zentraler Entwicklungslinien liegt aus mehreren Gründen nahe: Sie bieten den Erwerbstätigen neue Inszenierungsräume, und ihre Dienste werden von Recruiter*innen auf breiter Ebene nachgefragt. Linkedin investiert zudem in die gesellschaftliche Legitimation der eigenen Datenbasis mit einer spezifischen Arbeitsmarktberichterstattung: dem Economic Graph als „digital representation of the global economy“.Footnote 4 Das zentrale Problem aufseiten der Erwerbspersonen liegt in der Intransparenz, wie Daten durch Plattformen und Rekrutierungssoftware generiert und genutzt werden. Selbst wenn sie Informationen eigenständig eingeben (etwa im Online-Profil oder in der Kommunikation mit Recruiter*innen), bleibt ihnen verborgen, welchen automatisierten Auswertungsverfahren diese unterliegen. Als Folge der digitalen Transformation des Arbeitsmarkts sind die Bedingungen der Inszenierung von Arbeitskraft zunehmend von Heterogenität, Wandel und Intransparenz gekennzeichnet.

4 Erklärungsansätze der Arbeitsmarkttheorie

Bevor die empirische Forschung zu Ungleichheitseffekten des digitalisierten Arbeitsmarkts gesichtet und Thesen vorgeschlagen werden, wird ein kurzer Überblick zu geeigneten Bezugskonzepten der Arbeitsmarkttheorie gegeben (siehe Hinz und Abraham 2018; Weingärtner 2019). Humankapitaltheorie und Segmentationstheorie bilden die dominierenden Erklärungsansätze sozialer Ungleichheit am Arbeitsmarkt. Die Humankapitaltheorie verweist in individualistischer Perspektive auf Bildung und Qualifizierung als Voraussetzung für den Zugang zu höherwertigen beruflichen Positionen (Becker 1964). Ungleich bewertete Stellen gelten als Anreiz für Bildungsanstrengungen, die als Investition in das individuelle Arbeitsvermögen verstanden werden: Im Selbstverständnis einer Leistungsgesellschaft werden Bildungsrenditen in sozialem Aufstieg eingelöst.

Die Segmentationstheorie bestimmt strukturelle Grenzziehungen als Arbeitgeberstrategie zur flexiblen Nutzung von Arbeitskraft (Doeringer und Piore 1971): Das interne betriebliche Segment bietet stabile Beschäftigungsbedingungen als Gegenleistung für eine enge Betriebsbindung, das externe Segment gesteht Arbeitskräften als Flexibilitätsreserve dagegen nur unstete Beschäftigung zu ungünstigen Konditionen zu. Für Deutschland wird daneben ein berufsfachlicher Teilarbeitsmarkt unterschieden, der aufgrund der Qualitätsstandards formaler Bildung gegen entsprechende Nachweise gute Erwerbschancen auch bei geringer Betriebsbindung eröffnet; institutionell abgesichert ist dieses Segment durch Regelungen der Arbeits- und Bildungspolitik (Lutz und Sengenberger 1974). Damit ist die Segmentationstheorie anschlussfähig an institutionalistische Arbeitsmarkttheorien, die auf ungleichheitsregulierende Einflüsse insbesondere der öffentlichen Verwaltung (u. a. Arbeitsagenturen, Jobcenter) sowie von Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften mit ihren tarifpolitischen Rahmensetzungen verweisen.

Die genannten Theorien führen aus, wie Ungleichheit mit Bildungsinvestitionen legitimiert, durch Arbeitgeberstrategien strukturiert und von institutionellen Kontexten beeinflusst wird; die Inszenierung von Arbeitsbefähigung bleibt unberücksichtigt. Dieser Aspekt rückt mit Signal- und Filtertheorien ins Blickfeld, die als Varianten der Humankapitaltheorie betonen, dass eher die von Bildungsabschlüssen ausgehenden Signalwirkungen zum beruflichen Aufstieg beitragen als das damit verbundene Wissen. Eine kritische Perspektive darauf eröffnen Annahmen der Neuen Institutionenökonomik, wonach die Arbeitgeber als Prinzipale mit „hidden characteristics“ und „hidden intentions“ von Bewerber*innen als potenziellen Agenten rechnen müssen (Weingärtner 2019, S. 44 ff.). In Anbetracht derartiger Agenturprobleme lässt sich Personalauswahl als Prozess verstehen, mit dem die von Bildungszertifikaten und Lebenslauf ausgehenden Signale geprüft und hinterfragt werden. Die Inszenierungen der Bewerber*innen sind umgekehrt darauf ausgelegt, derartigen Prüfverfahren standzuhalten.

Direkt adressiert wird die Inszenierungsproblematik in arbeits- und wirtschaftssoziologischen Analysen zum Wandel der Arbeitsanforderungen, die eher im Randbereich der Arbeitsmarktforschung liegen. Vor allem die Ausweitung von Projektarbeitsstrukturen erfordert Motive und Fähigkeiten zu selbstorganisiertem Arbeiten, die über rein fachliche Maßstäbe von Interesse und Kompetenz hinausgehen. Das Konzept des „unternehmerischen Selbst“ umreißt den erweiterten Anforderungsrahmen an die Subjektivität von Arbeitskraft und bezieht sich dabei auf vom neoliberalen Diskurs geprägte Managementliteratur (Bröckling 2007): Als „unternehmerisch“ gilt die eigenverantwortliche Leistung in abhängiger Beschäftigung, die auf optimale Verwertung der persönlichen Ressourcen abzielt. Die Ratgeberliteratur spiegelt solche Erwartungen in Konzepten von „CEO-of-yourself“ und „personal branding“ wider (Gershon 2017). Die These vom Arbeitskraftunternehmer als neuem Leittypus von Arbeitskraft bildet diesen Aspekt in der Dimension der Selbst-Ökonomisierung ab: Der veränderte Verwertungskontext von Arbeit erfordert es nicht nur, die eigene Leistungsfähigkeit (analog zur Humankapitaltheorie) durch Qualifizierung anzupassen, sondern auch, sie aktiv individuell zu vermarkten (Voß und Pongratz 1998).

Ergänzende Perspektiven liefern Arbeitsmarkttheorien mit soziokulturellem Bezug, vor allem Netzwerktheorien und Diskriminierungsanalysen. Granovetter (1973) hat den Einfluss sozialer Netzwerke auf den Erfolg der Stellensuche nachgewiesen und so den Blick auf das Sozialkapital als Arbeitsmarktressource gelenkt („weak vs. strong ties“): Aufbau und Pflege sozialer Netzwerke können als das Humankapital ergänzende Investitionen verstanden werden und erweitern die Bühne zur Selbstdarstellung. Von der Bedeutung sozialer Wahrnehmungen und kultureller Zuschreibungen zeugen Studien zur Diskriminierung aufgrund von Herkunft oder Geschlecht am Arbeitsmarkt (z. B. Kalter und Granato 2018). Sie thematisieren zudem einen vernachlässigten Aspekt der Humankapitaltheorie: Der Bildungserfolg hängt nicht nur von individueller Bereitschaft und Fähigkeit ab, sondern auch von den Sozialisationserfahrungen, die ihnen zugrunde liegen (Achatz 2018).

Diese Skizze theoretischer Erklärungen von Ungleichheitseffekten am Arbeitsmarkt verweist auf komplexe Wirkungszusammenhänge, die bisher nur in Teilen aufgeklärt sind. Die Inszenierung von Arbeitskraft kommt dabei erst in zweiter Linie zur Geltung. Denn zum einen sind Inszenierungshandlungen und ihre Effekte analytisch schwer zu fassen, zum anderen blieb der Spielraum zur Selbstdarstellung als Arbeitskraft im Prozess der Stellensuche bislang eng umgrenzt. Letzteres, so die zentrale These dieser Analyse, ändert sich grundlegend mit den Plattformdiensten und Software-Tools der digitalen Beschäftigungsindustrie.

5 Empirische Befunde zu Ungleichheitseffekten

Noch lassen sich Ungleichheitseffekte nicht empirisch valide auf das Wirken der digitalen Beschäftigungsindustrie zurückführen. Das liegt an der Vielfalt der Plattformen und Apps, aber auch an einseitigen Forschungsschwerpunkten (siehe Abschn. 3). Besonders intensiv untersucht wurden die Beschäftigungsbedingungen von Fahr- und Lieferdiensten (Uber, Lieferando etc.) und im Crowdworking (Upwork, Fiverr etc.) als ortsgebundenen bzw. ortsunabhängigen Formen der Plattformarbeit. Diese Plattformen haben für marginalisierte Arbeitsmarktgruppen neue, aber überwiegend unsichere Erwerbsgelegenheiten geschaffen: schlecht bezahlt, bei hoher Plattformabhängigkeit und mit ungewissen Perspektiven (zum Forschungsstand siehe Pongratz 2023b). Plattformarbeit wird meist als Nebenerwerb betrieben, erfordert Einkommenskombinationen und dient oft zum Einstieg oder als Übergang in schwierigen Erwerbsphasen. Sie erleichtert vielfach das Überleben in einer prekären Existenz, führt jedoch selten daraus heraus. Plattformarbeit zeigt typische Merkmale von Teilarbeitsmärkten, die in der Segmentationstheorie als extern und sekundär oder als „Jedermannsmärkte“ (Lutz und Sengenberger 1974) gelten.

Weit weniger erforscht sind Plattformen und Software zur Personalrekrutierung. Die Analysen richten sich zumeist auf einzelne Instrumente und fragen selten nach Arbeitsmarkteffekten. Die verstreut vorliegenden Befunde wecken allerdings wenig Hoffnung, die digitale Beschäftigungsindustrie könne generell zu gerechteren Zugangschancen zu beruflichem Erfolg beitragen. Exemplarisch dafür stehen Studien zur Arbeitsmarktrelevanz des Karrierenetzwerks Linkedin, dem in Abschn. 2 zur Illustration gewählten Fall. Zwei qualitative US-Studien widmen sich eingehend der Nutzung von Linkedin durch arbeitslose Stellensuchende, einschließlich der Befragung von Rekrutierenden und dem Besuch einschlägiger Workshops: Gershon (2017) und Sharone (2017) kommen übereinstimmend zu dem Ergebnis, dass die Selbstdarstellung auf Linkedin auf dem US-Arbeitsmarkt zu einer Notwendigkeit geworden ist, die Stellensuchende erheblich unter Druck setzt. „If you are not on LinkedIn, you are invisible“, zitiert Sharone (2017, S. 8) eine typische Workshop-Botschaft. Beide sehen diesen Inszenierungszwang eng verbunden mit „personal branding“ als aktive Vermarktung der eigenen Arbeitskraft (vgl. Vallas und Hill 2018).

Sharone zufolge ist für Ungleichheitseffekte entscheidend, dass Linkedin-Profile die Kontrollmöglichkeiten der Rekrutierenden steigern:

„The same visibility that makes it easier for job seekers to expand their networks and for employers to find and recruit them, also makes it possible for employers to classify, compare, and screen out entire categories of job seekers on the basis of job seekers’ pictures or political activities.“ (Sharone 2017, S. 3)

Zur Benachteiligung von Stellensuchenden führten nicht nur Merkmale wie Herkunft oder Geschlecht, sondern auch Abweichungen von Normalitätsvorstellungen des Erwerbsverlaufs, etwa Erwerbspausen oder Karrierebrüche. Derartige Merkmale würden in herkömmlichen Bewerbungsunterlagen weit weniger sichtbar als in den sozialen Netzwerken. Exemplarisch verweist Sharone auf Porträtfotos (2017, S. 13 f.): Während sie in CVs inzwischen aufgrund der Diskriminierungsproblematik vermieden würden, bildeten sie in den sozialen Netzwerken den erwünschten Standard (vgl. Baert 2018). Fehlende Fotos und Informationslücken generell wecken bei Rekrutierenden den Verdacht, da wolle jemand etwas verbergen, und werden als Warnzeichen interpretiert (McDonald et al. 2022, S. 927).

Die Herausforderungen der Selbstdarstellung angesichts digitalisierter Rekrutierungsverfahren verdeutlichen Studien zum Cybervetting, also der Suche nach Informationen über Bewerber*innen in den sozialen Medien, vor allem auf Facebook und Linkedin. Cybervetting ist eine bei Personalberatungen und HR-Abteilungen in den USA verbreitete Praxis: Stellensuchende berichten von Rekrutierenden, die sie um das Passwort für ihren Facebook-Account gebeten haben (Schneider et al. 2015; Gandini und Pais 2018, S. 142). Wegen der Überschreitung der Grenzen zwischen beruflichen und privaten Informationen ist Cybervetting ethisch umstritten, zudem bleibt der auf subjektiven Werturteilen beruhende Nutzen zweifelhaft (Wilcox et al. 2022). Es besteht nicht nur die Gefahr der Diskriminierung aufgrund sozialer Vorurteile, sondern auch der indirekten Benachteiligung durch Selektionskriterien kultureller Ähnlichkeit. Studien zur Rekrutierungspraxis in „elite professional service firms“ belegen ein „cultural matching“, das Bewerber*innen bevorzugt, die den Rekrutierenden „in terms of leisure pursuits, experiences, and self-presentation styles“ (Rivera 2012, S. 999) entsprechen (vgl. auch Amis et al. 2020, S. 198 f.; Tholen 2023). Solche Merkmale werden auf Linkedin ebenso wie in den privaten sozialen Medien sichtbar.

Die Digitalisierung der Rekrutierungspraxis stellt Stellensuchende nicht nur vor die Anforderung, ihre privaten Informationen im Internet zu schützen, sondern auch vor Dilemmata der Gestaltung ihres beruflichen Online-Profils (Gershon 2017; Sharone 2017). So hat der durch die Plattformarchitektur erzeugte Druck zur Standardisierung (z. B. mit Foto und chronologischem Lebenslauf) paradoxe Folgen: „Everyone is engaging with standardized forms to represent themselves, but they have to use these standardized forms to represent themselves as distinctive.“ (Gershon 2017, S. 62) Recruiter*innen nutzen solche Standards typischerweise zur Vorauswahl, indem sie zunächst automatisierte Verfahren wie das CV-Parsing einsetzen und sich erst anschließend einen persönlichen Eindruck von den verbleibenden Bewerber*innen verschaffen. An den algorithmischen Verfahren droht zu scheitern, wer formale Vorgaben verfehlt, und in der subjektiven Wahrnehmung hat Nachteile, wer von soziokulturellen Vorstellungen der Rekrutierenden abweicht. Bei den von Gershon und Sharone befragten Stellensuchenden löst diese Situation „deep ambivalences and anxieties about the effects“ (Sharone 2017, S. 3) aus: In Workshops zur Linkedin-Nutzung wird ihnen nicht nur bewusst, wie hoch der Inszenierungsaufwand ist, sondern auch, mit welchen Risiken er einhergeht.

6 Thesen zur Ungleichheitsreproduktion im digitalisierten Arbeitsmarkt

Die Digitalisierung der Such- und Auswahlprozesse am Arbeitsmarkt ist für das gesamte Spektrum abhängiger Beschäftigung relevant: Jede*r mit Internetzugang kann auf Online-Stellenbörsen suchen, sich in einem Karrierenetzwerk präsentieren und muss bei Bewerbungen damit rechnen, Gegenstand automatisierter Selektionsverfahren zu werden. Die globale Verbreitung von Smartphones hat den Internetzugang zur Normalität gemacht; wer ihn nicht nutzt, bleibt von weiten Bereichen des Arbeitsmarkts ausgeschlossen. Stellensuchende geraten unter Druck (Sharone 2017), ein Profil auf Linkedin oder einem anderen Netzwerk zu veröffentlichen und sich im Rahmen dieser Informationsarchitektur als Arbeitskraft online sichtbar zu machen (Abschn. 2). Die empirische Forschung liefert Indizien dafür (Abschn. 5), dass der Zwang zur virtuellen Inszenierung unter Bedingungen der digitalen Beschäftigungsindustrie (Abschn. 3) mit Ungleichheitseffekten verbunden ist. Die folgenden Thesen greifen diese Hinweise auf und verbinden sie mit arbeitsmarkttheoretischen Erklärungen (Abschn. 4). Als hypothetische Annahmen bedürfen sie zur genaueren Prüfung der weiteren Erforschung.

  1. a)

    Signalfunktion und digitale Filterverfahren. Die Instrumente der digitalen Beschäftigungsindustrie nutzen die Signalfunktion von Bildungs- und Erwerbsverläufen auf vielfältige Weise. Ein Linkedin-Profil macht berufsbezogene Daten öffentlich und per automatisierter Suche auffindbar, ohne dass sie in Form von Bewerbungsunterlagen eingereicht werden. Die Filterverfahren der zur Rekrutierung eingesetzten Analyseinstrumente sind auf berufliche Standards wie Bildungsabschluss, Qualifikationsnachweis oder Beschäftigungszeit ausgerichtet. Neben den beruflichen Leistungen macht die Online-Präsenz auch atypische Merkmale des Berufswegs sichtbar. Seltener gefunden, negativer bewertet und früher aussortiert wird, so die These, wessen Angaben von expliziten oder impliziten Normalitätserwartungen abweichen.

  2. b)

    Inszenierungskompetenz als Humankapital. Befragungen von Stellensuchenden machen die Herausforderungen an Zeitaufwand und Darstellungskompetenz zur kontinuierlichen Pflege eines Online-Profils deutlich. „Digital job search skills“ (Karaoglu et al. 2022) umfassen den Umgang mit sozialen Medien ebenso wie die Handhabung der Kommunikationstools und Testverfahren digitalisierter Rekrutierung. Als ökonomisch verwertbares Humankapital lassen sich diese Fähigkeiten insofern verstehen, als sie dazu beitragen, den voraussichtlichen Nutzen und damit den Wert der Arbeitskraft zu bestimmen. Im Idealfall erfolgt das zum beiderseitigen Vorteil, indem das Passungsverhältnis zwischen Aufgabenprofil und Kompetenzspektrum geklärt wird. Zu prüfen bleibt die Frage, inwieweit Investitionen in diese Form von Humankapital von finanziellen und kulturellen Voraussetzungen abhängig sind und in welchem Zusammenhang sie mit der sozialen Herkunft stehen.

  3. c)

    Informationsasymmetrien. Der Institutionenökonomik zufolge gehen Rekrutierende von positiv gefärbter Selbstinszenierung der Stellensuchenden aus und entwickeln Strategien zur Aufdeckung von „hidden characteristics“ (Göbel 2002, S. 292 ff.). Per Cybervetting als personenbezogener Internetsuche wird nach Warnsignalen („red flags“ im Branchenjargon) gefahndet, die auf persönliche Eigenheiten mit Problempotenzial für den Arbeitgeber hindeuten. Der automatisierte Abgleich von Personendaten aus unterschiedlichen Quellen kann Lücken oder Ungereimtheiten in den Angaben aufdecken. Die These lautet, dass die digitale Beschäftigungsindustrie das Informationsinstrumentarium für die Arbeitgeberseite erweitert und dadurch Erwerbspersonen benachteiligt, bei denen berufliche oder private Schwierigkeiten digitale Spuren hinterlassen haben.

  4. d)

    Wechselwirkungen der Netzwerke. Der Netzwerktheorie zufolge stehen die verschiedenen sozialen Kontaktfelder von Erwerbstätigen – offline und online, privat und beruflich – in Wechselwirkung miteinander. Wer offline und privat über ein großes Netzwerk verfügt, kann es als soziales Startkapital für ein online aufzubauendes berufliches Netz nutzen. Netzwerke haben zudem Signalcharakter: Zu welchen sozialen Milieus hat eine Person Zugang und in welchen Fachkreisen ist sie anerkannt? Auf welche Sozialkompetenzen und Kommunikationsstrategien lässt die Vernetzung schließen? Die Offenlegung beruflicher und privater Online-Netzwerke, ob freiwillig mit Linkedin oder unfreiwillig als Resultat von Cybervetting, gibt Aufschluss darüber, inwieweit das soziale Umfeld von Kandidat*innen den soziokulturellen Erwartungen auf Arbeitgeberseite entspricht. Die digitalen sozialen Medien, so lässt sich als These folgern, erleichtern die Personalauswahl nach Kriterien sozialer Homogenität und fördern soziale Schließungsprozesse.

  5. e)

    Institutionelle Indifferenz. Die privatwirtschaftlichen Plattformen haben sich unabhängig von staatlichen Arbeitsverwaltungen entwickelt, die gesonderte Stellenbörsen und Vermittlungsdienste anbieten. Ein entscheidender Unterschied ist, dass sich in den Karrierenetzwerken vorwiegend Stelleninhaber*innen präsentieren, selbst wenn sie nicht auf der Suche sind (als sogenannte passive Kandidat*innen). Für Stellensuchende, insbesondere als Erwerbslose, bedeutet das ein doppeltes Problem: Zum einen erhalten sie zusätzliche Konkurrenz durch Stelleninhaber*innen, denen bisher kein derartiges Forum offenstand, zum anderen können sich diese Konkurrent*innen aufgrund ihres beruflichen Erfolgs wirkungsvoller in Szene setzen. Die institutionellen Akteure der industriellen Beziehungen und der Arbeitsverwaltung reagieren bisher kaum auf diese Wettbewerbsverschärfung. Die These ist, dass die institutionelle Indifferenz gegenüber privatwirtschaftlichen Informationsdiensten derartige Ungleichgewichte begünstigt.

  6. f)

    Strategien der Selbstvermarktung. Die bislang formulierten Thesen gehen von einer Verstärkung bestehender Ungleichheiten durch die Instrumente der digitalen Beschäftigungsindustrie aus. Eine andere Perspektive erschließen die Theoriekonzepte des unternehmerischen Selbst und der Selbst-Ökonomisierung, weil der digital erweiterte Inszenierungsraum in dieser Richtung neue Gestaltungsfelder eröffnet. Die empirischen Befunde sind diesbezüglich ambivalent: Einerseits zeigen sich Stellensuchende verunsichert von Inszenierungszwängen des „personal branding“, andererseits entwickeln sie Strategien zur Selbstvermarktung, indem sie ihre gesamte Online-Präsenz anpassen und sich entsprechende Kompetenzen aneignen (Gershon 2017; Sharone 2017). Dies legt eine Differenzierungsthese nahe, wonach es Randgruppen am Arbeitsmarkt mit höchst unterschiedlichem Erfolg gelingt, das eigene Potenzial als Arbeitskraft online in ein vorteilhaftes Licht zu rücken.

  7. g)

    Ein neuer Teilarbeitsmarkt? Strategien und Kompetenzen der Selbstvermarktung lassen es immerhin als möglich erscheinen, dass die digitale Beschäftigungsindustrie bestehende Segmentationslinien aufbricht oder grundlegend verschiebt. Berufliche Erfolge, breite Netzwerke und ambitionierte Ziele lassen sich im digitalen Raum wirkungsvoll darstellen und als Mittel zur Positionsverbesserung einsetzen. Für verschiedene Berufsgruppen bestehen Anreize, in Kompensation für oder als Ergänzung zu fachlichen Qualifikationen die eigene flexible Leistungsfähigkeit demonstrativ in Szene zu setzen. Langfristig kann dadurch, so die abschließende These, ein neues Arbeitsmarktsegment mit einer fachlich mobilitätsbereiten und in der Selbstvermarktung aktiven Erwerbspopulation entstehen.

Unberücksichtigt bleiben in der Formulierung dieser sieben Thesen die Wechselwirkungen zwischen verschiedenen digitalen Dienstleistungsangeboten sowie der Einfluss von sozialen und ökonomischen Kontextfaktoren, die unabhängig von Rekrutierungstechnologien sind. Aufgrund der Einzeltendenzen sind auch von deren Wechselwirkungen primär ungleichheitsverstärkende Effekte zu erwarten. Gegenbewegungen setzen voraus, dass Diskriminierungsrisiken und Exklusionswirkungen erkannt und als sozial ungerecht oder ökonomisch ineffektiv bewertet werden. Als nicht-technischer Einflussfaktor bleibt insbesondere der aktuelle Fachkräftemangel zu berücksichtigen, der starke Anreize setzt, das gesellschaftliche Arbeitskräftepotenzial umfassend zu erschließen. Als forschungsleitende Annahmen sind die hier formulierten Thesen deshalb einzubetten in Kontextanalysen zu den sozialen und kulturellen, politischen und ökonomischen Bedingungen im zu untersuchenden Feld.

7 Fazit

„Hiring practices shape unequal outcomes and opportunities“, dieses Fazit von Tholen (2023, S. 15) zur Arbeit von Personalberatungen korrespondiert mit der hier vorgestellten Analyse; es verweist darauf, dass Rekrutierungspraktiken nicht erst im digitalisierten Arbeitsmarkt Ungleichheitseffekte zur Folge haben. Positive Selbstdarstellungen in Bewerbungsunterlagen werden von Rekrutierenden generell nach „hidden characteristics“ durchforstet, Inszenierungszwänge bestimmen die Kommunikation auch in den in Präsenz geführten Vorstellungsgesprächen. Die hier anhand einer noch schmalen Forschungsbasis formulierten Thesen implizieren, dass das digitale Instrumentarium der Beschäftigungsindustrie derartige Interaktionsdynamiken verstärkt und dadurch bestehende Ungleichheiten am Arbeitsmarkt verschärft.

In dem von Plattformdiensten und Softwareangeboten erweiterten Inszenierungsraum für Stellensuchende werden vermehrt personale Merkmale und soziale Zuschreibungen für den Auswahlprozess relevant. So machen digitale Daten einerseits zusätzliche Erfahrungen und Fähigkeiten sichtbar, andererseits legen sie zugleich persönliche Schwachstellen, beruflicher wie privater Art, offen. Nach verschiedenen arbeitsmarkttheoretischen Interpretationen kommen derartige Digitalisierungsfolgen Kandidat*innen zugute, deren Bildungs- und Berufsverlauf Normalitätserwartungen der Rekrutierenden erfüllt, während sie die Zugangsprobleme von Randgruppen des Arbeitsmarkts zuspitzen. Inwieweit sich dieses Ungleichgewicht durch Kompetenzen und Strategien der Selbstvermarktung kompensieren lässt, bleibt eine offene Forschungsfrage. Selbstdarstellungen als Arbeitskräfte treffen auf das umfangreiche technologische Instrumentarium der Beschäftigungsindustrie. Auf Arbeitgeberseite wird die Informationskontrolle in häufig intransparenter Weise verfeinert und verdichtet, während für Erwerbspersonen die Erweiterung des Inszenierungsraums mit einem Verlust an Kontrolle über die Daten zur eigenen Person verbunden ist.

Ungleichheitseffekte empirisch nachzuweisen, ist für die Sozialforschung schwierig, wenn es sich wie im Fall von Arbeitsmarktprozessen um multikausale Konstellationen handelt, in denen die Wirkungen einzelner Faktoren schwer voneinander zu trennen sind. Umso bedeutsamer ist die Erklärungskraft der theoretischen Ansätze: Die Analyse hat gezeigt, dass sich Ungleichheitseffekte digitalisierter Such- und Auswahlverfahren aus unterschiedlichen arbeitsmarkttheoretischen Annahmen ableiten lassen. Da sie verschiedene Aspekte in den Blick nehmen, ist nicht nur ihre jeweilige Erklärungskraft zu überprüfen, sondern auch die Form ihres Zusammenwirkens. Viele der diskutierten Faktoren laufen in Strategien der Selbstvermarktung („personal branding“) zusammen, die die Fähigkeit voraussetzen, Kompetenzsignale auszusenden und sich soziale Netzwerke zunutze zu machen. Die Empirie zur Arbeitskraftunternehmer-These hatte vor längerer Zeit gezeigt, wie schwer es vielen Erwerbstätigen fällt, sich auf Anforderungen der Selbst-Ökonomisierung einzulassen (Pongratz und Voß 2003). Die digitale Beschäftigungsindustrie liefert nunmehr ein Instrumentarium, das die Schwelle zum Marketing der eigenen Arbeitskraft senkt und gleichzeitig den Druck erhöht, sie zu überschreiten.

Durch die Zusammenführung erster empirischer Befunde mit arbeitsmarkttheoretischen Erklärungen zu ungleicher Chancenverteilung konnten Thesen formuliert werden, die weitere Forschung anregen und ihr als Anknüpfungspunkte dienen sollen. Forschungsbedarf besteht zunächst hinsichtlich der bisher nur punktuell analysierten Entwicklungen der digitalen Beschäftigungsindustrie, insbesondere zu den Strategien der Betreiber von Plattformen und der Anbieter von Rekrutierungssoftware sowie zur Nutzung ihrer Dienste in der Rekrutierungspraxis. Eigene Analysen lassen auf Probleme der digitalen Dienste bei der Integration der Daten schließen, wodurch die Automatisierung von Entscheidungen und die digitale Durchdringung der Vermittlungsprozesse erheblich erschwert wird (Pongratz 2022a). Dennoch hat sich längst die Basis einer privatwirtschaftlichen digitalen Infrastruktur am Arbeitsmarkt konstituiert (Pongratz 2022b). Die digitale Transformation des Arbeitsmarkts erfolgt in sich wandelnden Kooperationen, an denen die Institutionen der öffentlichen Arbeitsverwaltung und die Akteure der industriellen Beziehungen bisher nur am Rande beteiligt sind.

Diese institutionelle Verselbstständigung der expandierenden digitalen Beschäftigungsindustrie wäre Grund genug, sich vonseiten der Arbeitspolitik, insbesondere der Gewerkschaften, der Arbeitgeberverbände und der Arbeitsverwaltung, intensiv damit auseinanderzusetzen. Das ist bisher unter anderem deshalb nicht erfolgt, weil dringender arbeitspolitischer Handlungsbedarf nicht offensichtlich ist. Diese in Thesenform als institutionelle Indifferenz interpretierte Haltung trägt indessen selbst zur Verschärfung der Problematik bei, weil sie kein Gegengewicht zu den mutmaßlich ungleichheitsverstärkenden Wirkungen des digitalisierten Dienstleistungsangebots schafft. Politik und Forschung befassen sich generell wenig mit der Thematik der Personalrekrutierung, obwohl es dabei um eine zentrale Schnittstelle im Verhältnis von Organisation und Gesellschaft geht. Zunehmend entscheidet sich über automatisierte Auswahlverfahren, welche Qualifikationen und Motivationen, welche Erfahrungen und Einstellungen Eingang in die Belegschaft finden – und umgekehrt: welche Personen Chancen auf Erwerbseinkommen, berufliche Karriere und damit letztlich auf sozialen Erfolg haben.