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1 Einleitung

Radfahrende mit knallbunten, klobigen Rucksäcken, die Essen von Restaurants an Verbraucher*innen liefern, sind weltweit zu einem Symbol der sogenannten Gig-Economy geworden. In diesem Segment der Plattformökonomie besteht das Geschäftsmodell digitaler Plattformen darin, Arbeit auf neue Art und Weise verfügbar zu machen. Sie vermitteln einzelne Arbeitsaufgaben an Dritte und nehmen dabei Einfluss auf die Organisation der Arbeit. Die zunehmende Verbreitung der Gig-Economy und ihre Verfügbarmachung von Arbeitskraft wird von Wissenschaftler*innen als „Uberization“ bezeichnet (Davis und Sinha 2021).

Plattformarbeit ist ein vielfältiges Phänomen, das sich dadurch charakterisieren lässt, welches Qualifikationsniveau zu ihrer Durchführung notwendig ist, wie umfangreich die Tätigkeit ist, ob sie online oder ortsgebunden ausgeführt wird, wer die konkrete Aufgabe zuweist und wie die Verbindung zwischen Dienstleister*innen und Kund*innen zustande kommt (Eurofound 2018, S. 4 f.). Eine ortsgebundene Dienstleistung, die über Plattformen vermittelt wird, wird hier als Gigwork definiert.

Das gängige Narrativ über Gigwork besagt, dass diese Arbeit von Selbstständigen und nicht von Beschäftigten erbracht wird. Die Selbstständigkeit wird sogar häufig als wichtiges Charakteristikum der Gig-Economy angesehen (Kirchner 2019, S. 4; Schmidt 2016; Schor et al. 2020) und fließt, wie bei Koutsimpogiorgos et al. (2023), in die Definitionskriterien der Gig-Economy mit ein: „We define the gig economy here as encompassing ‚ex ante specified, paid tasks carried out by independent contractors [Herv. d. Autorin] mediated by online platforms‘.“ (Koutsimpogiorgos et al. 2023, S. 2).

Bei genauerer Betrachtung zeigt aktuelle Forschung allerdings, dass die These einer allumfassenden und einheitlich verlaufenden Transformation der Arbeitswelt durch Plattformen in der „Uberization“-Logik (Davis und Sinha 2021) nicht haltbar ist. In der Gig-Economy etablieren sich sehr unterschiedliche Geschäfts- und Arbeitsmodelle (Vallas und Schor 2020; Kenney und Zysman 2019). Auch in der von Uber maßgeblich geprägten Shared-Mobility-Branche existieren verschiedene Geschäfts- und Arbeitsmodelle (Kirchner et al. 2022). Sogar Uber selbst verfügt über ein differenziertes Produktportfolio und organisiert in vielen Märkten Fahrdienstleistungen keineswegs ausschließlich über die Arbeit mit Selbstständigen (Valdez 2022). Zudem gelingt es digitalen Plattformen als neuen Marktakteuren häufig nicht oder nur begrenzt, ihre Vorstellungen zur Governance von Märkten im multiskalaren Feld der Macht durchzusetzen (Pernicka und Schüßler 2022). Auch für Essenslieferdienste gilt, dass sie nicht einförmig global mit Selbstständigen operieren, sondern unterschiedliche Arbeitsmodelle einsetzen (Defossez 2022). So gibt es sogar bei demselben Unternehmen in einem Land unterschiedliche Arbeitsmodelle (Hauben et al. 2021, S. 31). Dennoch scheinen Plattformen für Essenslieferungen die Arbeit mit Selbstständigen zu präferieren, denn dieses Modell ist in Europa nach wie vor vorherrschend (Groen et al. 2021, S. 65).

Daher stellt sich die Frage, unter welchen Bedingungen sich Gigwork-Plattformen für ein bestimmtes Arbeitsmodell entscheiden. Wann gelingt es ihnen, ihre Vorstellungen der Arbeitsorganisation umzusetzen und welche Faktoren stehen einer Umsetzung entgegen?

In diesem Beitrag wird diese Frage anhand einer Fallstudie zu Plattformen für Essenslieferungen in Deutschland untersucht. Damit sind Unternehmen gemeint, die sich als Intermediäre zwischen Konsument*innen fertiger Speisen und Restaurants positionieren und die Vermittlung und Lieferung der Bestellung organisieren. Diese Dienstleistung steht zwar geradezu symbolisch für Gigwork bzw. die Gig-Economy (Vandaele 2022, S. 205), sie wird jedoch durch ein atypisches Merkmal charakterisiert. Gerade Essenslieferungen werden häufiger in einem Beschäftigungsverhältnis erbracht als andere Formen von Gigwork, wobei der Erwerbsstatus zwischen den Ländern stark variiert (Eurofound 2018, S. 19). Bei dieser Art von Plattformarbeit ist zudem das Risiko der Scheinselbstständigkeit besonders hoch (Eurofound 2018, S. 19). Die Struktur der Arbeit bei Plattformen für Essenslieferungen (ortsgebunden, in der Öffentlichkeit, Begegnungen von Liefernden bei Depots und Restaurants) vereinfacht darüber hinaus, dass sich die Kurier*innen organisieren und mobilisieren (Vandaele 2018, S. 13–17).

Plattformen für Essenslieferungen agieren in einem seit Jahren hart umkämpften Wachstumsmarkt. Laut den „Digital Market Insights“ von Statista (2022) hat sich zwischen 2017 und 2021 in Deutschland der Umsatz im Marktsegment der Essenslieferungen mehr als verdoppelt und liegt nun bei circa 5,98 Mrd. EUR. Neben der ökonomischen Bedeutung des deutschen Marktes und der dynamischen Zunahme der Geschäftstätigkeit der Plattformen für Essenslieferungen ist Deutschland aus einem weiteren Grund als Untersuchungsfall interessant. So haben sich Plattformen für Essenslieferungen hier dahingehend entwickelt, dass sie ausschließlich mit Beschäftigten operieren, sich also gegen die Selbstständigkeit entschieden haben (Ewen 2021; Koutsimpogiorgos et al. 2020, S. 529).Footnote 1 Wie Funke und Picot (2021) herausgearbeitet haben, entspricht dies den Erwartungen an die koordinierte Marktökonomie und den sozialversicherungsbasierten Wohlfahrtsstaat in Deutschland (Funke und Picot 2021, S. 351). Man hätte jedoch annehmen können, dass sich Plattformen für Essenslieferungen in einem Segment des dualisierten Arbeitsmarktes bewegen, in dem sie nicht unter Anpassungsdruck an das Muster der Normalbeschäftigung stehen. Dass im Bereich der geringqualifizierten Tätigkeiten Plattformen weiterhin durchaus mit Selbstständigen operieren, zeigt der Fall von Helpling (Koutsimpogiorgos et al. 2023, S. 14 ff.). Die Entscheidung von Plattformen für Essenslieferungen gegen ein Selbstständigen-Modell wurde nicht durch eine spezifische Regulierung hervorgerufen (Funke und Picot 2021, S. 348; Eurofound 2021). In Deutschland gibt es, anders als mittlerweile in Spanien, keine Regelungen, die sich explizit auf Plattformen, Plattformarbeit oder (Essens-)Lieferdienste beziehen.

Der Beitrag hat das Ziel, dieses empirische Phänomen mit einer historisch-soziologischen Analyse der Branchenentwicklung zu erklären. Zudem soll eine Heuristik erarbeitet werden, mit der sich Faktoren, die zur Entscheidung der Unternehmen gegen die Selbstständigkeit geführt haben, differenzieren lassen.

Im nächsten Schritt wird dargelegt, was über die Regulierung und die institutionellen Rahmenbedingungen auf Gigwork-Plattformen bekannt ist. Im Anschluss werden Daten und Vorgehensweise erläutert. Daraufhin wird ein kurzer Überblick über die Entwicklung von Plattformen für Essenslieferungen in Deutschland gegeben und gezeigt, dass sie sich gegen das Selbstständigen-Modell entschieden haben. Im Anschluss wird die Heuristik skizziert, mit deren Hilfe die Beweggründe für die Entscheidung gegen Selbstständigkeit strukturiert dargestellt werden können. Die Risikobereitschaft und Risikowahrnehmung der Unternehmen hinsichtlich der Scheinselbstständigkeit haben sich dabei als zentrale Faktoren erwiesen. Abschließend wird entlang von vier Dimensionen erklärt, wie es dazu kam, dass im Jahr 2021 alle Plattformen für Essenslieferungen, die in Deutschland aktiv waren, mit Beschäftigten operierten.

2 Stand der Forschung

Zur Frage, wie Gigwork-Plattformen mit institutionellen Rahmenbedingungen in Ländern umgehen, liegen in der Literatur erste Ergebnisse vor. Thelen (2018) zeigt, dass sich Gigwork-Plattformen an diverse Rahmenbedingungen in einem Land anpassen. Aktuell kristallisiert sich heraus, dass die Reaktion von Gigwork-Plattformen auf Regulierung und institutionelle Rahmenbedingungen durch eine Kombination aus organisationalen und institutionellen Bedingungen erklärbar wird. So verfolgen Muszyński et al. (2022) die These, dass Plattformen, die international ausgerichtet sind, und Plattformen, die sich auf einen nationalen Markt konzentrieren, unterschiedlich auf Produktmarktregulierung reagieren. Dies wirkt wiederum auf Arbeitsmodelle und -bedingungen zurück. Sie kommen zu dem Schluss, dass sich international orientierte Plattformen eher als national ausgerichtete der nationalen Regulierung entziehen und versuchen, ein global einheitliches Arbeitsmodell durchzusetzen. National ausgerichtete Plattformen passen sich dagegen an Regulierungen an und bieten Beschäftigung sowie bessere Arbeitsbedingungen (Muszyński et al. 2022, S. 9, 15–17).

Ilsøe und Söderqvist (2022) fragen, wie sich Gigwork-Plattformen in Dänemark und Schweden in die bestehenden Systeme der Arbeitsbeziehungen einfügen. Dafür untersuchen sie die Shared-Mobility-Plattform Uber sowie zwei Plattformen für Essenslieferungen. Während Uber in beiden Ländern abgelehnt hat, in einen sozialen Dialog zu treten, haben die Plattformen für Essenslieferungen in beiden Ländern Tarifvereinbarungen abgeschlossen. Beide Herangehensweisen an Regulierung können einen Wettbewerbsvorteil für Plattformen bedeuten (Ilsøe und Söderqvist 2022, S. 2). Dass Plattformen die Regulierung ihrer Arbeitsbedingungen durchaus als vorteilhaft einschätzen können, beschreibt auch Lamannis (2023). Dies gelte vor allem für Plattformen, die starkem Wettbewerb ausgesetzt sind, wie beispielsweise Plattformen für Essenslieferungen (Lamannis 2023, S. 32 f.). Auch Ilsøe und Larsen (2023) arbeiten heraus, dass zur Erklärung von Plattformstrategien organisationale Faktoren, das heißt das Geschäftsmodell und institutionelle Rahmenbedingungen, also das „regulatory regime“, berücksichtigt werden sollten (Ilsøe und Larsen 2023, S. 10).

Die große Bedeutung organisationaler und institutioneller Rahmenbedingungen für Plattformstrategien lässt vermuten, dass damit auch erklärt werden kann, warum sich eine Plattform für Essenslieferungen für einen Erwerbsstatus entscheidet. Auf diese These aufbauend, wird in diesem Beitrag zudem berücksichtigt, dass es starke Indizien dafür gibt, dass das Thema Scheinselbstständigkeit für Gigwork-Plattformen hierbei eine Rolle spielt. So kommen Funke und Picot (2021) zu dem Schluss, dass die wichtigste institutionelle Bedingung, die Plattformarbeit in Deutschland behindert, die Frage nach der Scheinselbstständigkeit ist (Funke und Picot 2021, S. 358). Auch Koutsimpogiorgos et al. (2023) identifizieren das Risiko der Scheinselbstständigkeit als zentral für Gigwork-Plattformen. Sie untersuchen, wie Unternehmen auf „the regulatory risk of their gig workers being classified as employees“ (Koutsimpogiorgos et al. 2023, S. 6) reagieren. Während ihre Ergebnisse zeigen, dass die Beschäftigungsverhältnisse bei der untersuchten Plattform Helpling „unternehmerischer“ werden (Koutsimpogiorgos et al. 2023, S. 19), weisen Funke und Picot jedoch darauf hin, dass Plattformen ihre Beschäftigten anstellen oder den Markt verlassen (Funke und Picot 2021, S. 358). Plattformen gehen also durchaus unterschiedlich mit dem Risiko der Scheinselbstständigkeit um.

3 Daten und Methode

Methodisch liegt diesem Beitrag eine soziologische Fallstudie über die Branche plattformbasierter Essenslieferdienstleistungen zugrunde, in der vor allem unternehmerische Entscheidungsprozesse rekonstruiert wurden. Dafür wurde ein induktives Vorgehen gewählt, um Bedingungen zu identifizieren, die die Entscheidung von Plattformen für Essenslieferungen gegen das Selbstständigen-Modell erklären. In ländervergleichender Perspektive nimmt der deutsche Fall mit der Abkehr vom Selbstständigen-Modell eine Extremposition im Möglichkeitsspektrum ein. Gerade wegen dieser zugespitzten Situation ist der Fall geeignet, analytisch allgemeinere Mechanismen herauszuarbeiten. In dieser Hinsicht ist die Analyse eines „Extreme Case“ (Gerring 2007, S. 101–105) von Vorteil, weil mögliche Erklärungsfaktoren vergleichsweise einfach mit Hintergrundwissen über andere Fälle abgeglichen werden können.

Für die Fallstudie, auf der dieser Beitrag beruht, sind verschiedene Datenerhebungsmethoden genutzt worden. Um die Geschichte der Branche in Deutschland zu rekonstruieren, wurden aus Tageszeitungen (FAZ, Die Zeit, Die Zeit online, Handelsblatt, Börsenzeitung und TAZ) Artikel über Plattformen für Essenslieferungen inhaltsanalytisch ausgewertet. Dafür wurde eine Datenbank mit 966 Zeitungsartikeln aus dem Zeitraum von 2011 bis 2021 erstellt. Aus der Berichterstattung ließ sich in einem ersten Zugriff eine Deutung der Geschichte der Plattformen für Essenslieferungen in Deutschland ableiten. Für eine tiefergehende Analyse, die auch auf die Frage nach den relevanten Faktoren für die Gestaltung des Arbeitsmodells eingeht, waren weitere Erhebungen unerlässlich. Hierfür wurde auf Experteninterviews zurückgegriffen (Gläser und Laudel 2010). Experteninterviews kommt laut Nullmeier (2021) in Prozessanalysen eine herausragende Bedeutung zu, wobei sich dabei grundsätzlich zwei Ziele verfolgen lassen: „Zum einen sollen sie helfen, die Chronologie zu erstellen, zum anderen sollen sie auch Hinweise liefern für die Erklärung des gesamten Prozesses über kausale Mechanismen.“ (Nullmeier 2021, S. 286) Es wurden elf Experteninterviews geführt, unter anderem mit Unternehmens- und Gewerkschaftsvertretern. Die Interviews fanden von Dezember 2021 bis Januar 2023 statt und wurden ebenfalls inhaltsanalytisch ausgewertet. Dabei sollten vor allem Erklärungen für die Wahl des Arbeitsmodells ermittelt und relevante Kontextbedingungen in Deutschland identifiziert werden.

4 Plattformen für Essenslieferungen in Deutschland: Geschäfts- und Arbeitsmodelle

Plattformen für Essenslieferungen in Deutschland verfolgen vielfältige Geschäftsmodelle, die sich historisch entwickelt haben. Diese Diversität bleibt bisher in der Forschung weitgehend unberücksichtigt, was zum Vergleich äußerst unterschiedlicher Unternehmen führt (Muszyński et al. 2022). Diese unterschiedlichen organisationalen Bedingungen stellen aber einen wichtigen Faktor dafür dar, für welches Arbeitsmodell sich das Unternehmen entscheidet. Deshalb soll im Folgenden die Diversität von Geschäftsmodellen systematisch betrachtet werden.

Es lassen sich idealtypisch zwei Varianten von Plattformen für Essenslieferungen unterscheiden. Zum einen haben sich seit den späten 1990er Jahren Online-Bestellplattformen entwickelt, die Informationen aggregieren, Bestellungen vermitteln und Zahlungen abwickeln. Zum anderen entstehen seit 2015 Own-Delivery-Plattformen, die insbesondere für Restaurants, die keinen eigenen Lieferservice unterhalten, die Lieferung anbieten. Diese beiden Plattformen-Typen sind nicht in Reinform anzutreffen, jedoch setzen unterschiedliche Unternehmen unterschiedliche Schwerpunkte.

Die Abb. 1 zeigt die Entwicklung von Plattformen für Essenslieferungen in Deutschland. Farbige Linien verdeutlichen Geschäftsübernahmen, Quadrate die Einstellung des Geschäftsbetriebs. Nach einer kurzen, intensiven Gründungsphase und einer raschen Marktkonsolidierung der Own-Delivery-Plattformen (2013–2015) verblieben in Deutschland nur Deliveroo und Foodora als dezidierte Own-Delivery-Plattformen. Daneben bestanden die Angebote der traditionellen Online-Bestellplattformen Lieferheld und Pizza.de (Marken der Delivery Hero-Gruppe) und Lieferando (2014 von Takeaway übernommen). Erst mit der Entwicklung der Own-Delivery-Plattformen kam die Frage nach dem Arbeitsmodell bei Plattformen für Essenslieferungen auf.

Abb. 1
figure 1

Plattformen für Essenslieferungen in Deutschland

Schon 2016 finden sich bei Foodora und Deliveroo unterschiedliche Zugänge zur Organisation der Arbeit (Heiland 2020, S. 18). Foodora wickelte seine Lieferungen von vornherein mit Beschäftigten in Festanstellung ab, die in Voll- oder Teilzeit tätig waren (Messmer 2016). Deliveroo hingegen war in Deutschland die einzige Own-Delivery-Plattform, die mit dem Selbstständigen-Modell arbeitete. Deliveroo beschäftigte Liefernde in geringem Umfang zunächst zwar auch direkt (Heiland 2020, S. 18), beendete diese Praxis aber 2018 und griff dann ausschließlich auf Selbstständige zurück. 2019 schied Deliveroo aus dem deutschen Markt aus und damit der einzige Anbieter, der mit dem Selbstständigen-Modell operierte. Kurz darauf übernahm Takeaway das gesamte Deutschlandgeschäft von Delivery Hero. Damit war Takeaway mit der Marke Lieferando für eine kurze Zeit (Ende 2019 bis Mitte 2020) die einzige aktive Plattform für Essenslieferungen in Deutschland, die aber hauptsächlich als Online-Bestellplattform auftrat. Nur 3 % aller Lieferungen wurden 2019 durch eigene Kurier*innen durchgeführt (Kapalschinski 2019), die bei der Logistiktochter von Lieferando angestellt sind (Interview 22, Pos. 47).

Die Monopolstellung von Lieferando im deutschen Markt weckte den Ehrgeiz anderer Plattformen für Essenslieferungen. In den kommenden Jahren traten vier Own-Delivery-Plattformen in den deutschen Markt ein, die international hauptsächlich mit einem Selbstständigen-Modell operieren. In Deutschland entschieden sich aber alle vier Plattformen gegen das Selbstständigen-Modell. Wolt und Foodpanda beschäftigten ihre Kurier*innen direkt bei der Plattform, DoorDash und UberEats arbeiten mit Flottenpartnern zusammen (Interview 25, Pos. 59).

Dieser Überblick zeigt, dass das Selbstständigen-Modell bei Plattformen für Essenslieferungen in Deutschland von vornherein nur eine untergeordnete Rolle gespielt hat, zu Beginn der Ära des Own-Delivery aber eingesetzt wurde. Seit 2019 hat aber kein Unternehmen in Deutschland mehr mit diesem Modell operiert.

5 Bedingungen für die Entscheidung gegen Selbstständigkeit

Anhand des empirischen Materials wurde ein Analyserahmen entwickelt, mit dem erklärt werden kann, warum sich Plattformen für Essenslieferungen gegen das Selbstständigen-Modell entscheiden. Im Mittelpunkt steht hier die Wahrnehmung des Risikos der Scheinselbstständigkeit durch Unternehmen, die im Zusammenspiel mit ihrer organisational bedingten Risikobereitschaft die Entscheidung gegen Selbstständigkeit bestimmt. Auch in der Literatur wird das Risiko der Scheinselbstständigkeit als wichtiger Faktor für das Handeln der Unternehmen genannt (Funke und Picot 2021, S. 358; Koutsimpogiorgos et al. 2023, S. 2). In diesem Beitrag wird das Risiko der Scheinselbstständigkeit aber nicht als objektives, sondern als wahrgenommenes Risiko betrachtet.

Das Risiko der Scheinselbstständigkeit entsteht aus der grundlegenden Spannung, dass die Erwerbstätigkeit bei Plattformen für Essenslieferungen als Beschäftigungsverhältnisse gedeutet werden können, die Plattformen aber (teilweise) Selbstständigkeit der Kurier*innen bevorzugen. Für die Entscheidung der Unternehmen ist nicht relevant, ob es sich bei der Erwerbstätigkeit faktisch um das eine oder andere handelt. Ausschlaggebend ist vielmehr, wie hoch ihre Risikobereitschaft ist und für wie wahrscheinlich und folgenreich sie negative Konsequenzen halten, die aus einer Verletzung des Arbeitsrechts resultieren würden, das heißt, wie sie das Risiko wahrnehmen. Es stellt sich dann die Frage, wovon die Risikobereitschaft und die Risikowahrnehmung von Plattformen für Essenslieferungen abhängen.

Die Auswertung des Interviewmaterials hat zu vier Dimensionen geführt, die die Risikobereitschaft und die Wahrnehmung des Risikos der Scheinselbstständigkeit bestimmen. Für die Risikobereitschaft spielen organisationale Bedingungen eine entscheidende Rolle (1). Für die Wahrnehmung des Risikos der Scheinselbstständigkeit sind vor allem drei Dimensionen institutioneller Bedingungen entscheidend. Diese drei Dimensionen weisen voneinander unabhängige Dynamiken auf, die erst im Zusammenspiel ihre Wirkung entfalten. Bei den drei Dimensionen handelt es sich um: das etablierte Kontrollregime des Erwerbsstatus (2), die öffentliche Meinung und den damit verbundenen politischen Druck (3) sowie die anlassbezogene Rechtsprechung (4).

5.1 Organisationale Bedingungen

Die Risikobereitschaft der Plattform wird maßgeblich vom gewählten Geschäftsmodell bestimmt. Dabei besteht die zentrale Differenz darin, ob es sich bei der jeweiligen Plattform für Essenslieferungen tendenziell um eine Own-Delivery-Plattform oder um eine Online-Bestellplattform handelt.

Bei Online-Bestellplattformen gehören Lieferungen nur begrenzt zum Geschäftsmodell dazu. Hier ist vor allem das Plattformunternehmen JustEatTakeaway zu nennen, das 2019 aus der Übernahme von JustEat durch Takeway entstanden ist. Auch als JustEatTakeaway setzt die Plattform hauptsächlich auf ihre Funktion als Online-Bestellplattform und wickelt unter 5 % aller Bestellungen in eigener Verantwortung ab. Für diese Aufgabe werden international auch Selbstständige beschäftigt, vor allem in den ursprünglich zu JustEat zählenden Unternehmensteilen. Takeaway hatte erst im Jahr 2016 begonnen, selbst auszuliefern. Der Kunde habe zunehmend erwartet, dass man nicht nur bei den klassischen Lieferdiensten bestellen könne. Auf diese Nachfrage hätten sich auch Gastronomen einstellen wollen, für die das Liefergeschäft nicht zu ihrem Kerngeschäft gehöre, so ein Interviewpartner, und man habe als Unternehmen darauf reagiert (Interview 22, Pos. 37). Das Liefergeschäft ist für Lieferando bzw. JustEatTakeaway heute zwar ein notwendiger, aber dauerhaft unprofitabler Geschäftsbestandteil:

„Wir machen mit jeder Auslieferung, die wir machen, Verlust. Also im Schnitt. […] Also der große, der profitabelste Bereich des Geschäfts liegt einfach in der Vermittlung der Bestellung an die Restaurants. Dem Marktplatz-Modell. […] und wir kriegen aber daraus auch die Logistik quersubventioniert.“ (Interview 22, Pos. 57)

Mit der Konzentration auf die Vermittlung von Bestellungen ist man aber auch gar nicht darauf angewiesen, dass die relativ wenigen Kurier*innen, bezogen auf die Gesamtzahl der vermittelten Bestellungen, einen entscheidenden Beitrag zum Geschäftsergebnis erbringen. Stattdessen erfüllen die Kurier*innen für Lieferando andere wichtige Funktionen: als präsente Werbeträger, zur Sicherstellung von Serviceverfügbarkeit und als Angebot für einige wenige Restaurants, die keinen eigenen Lieferservice unterhalten. Insgesamt also bedeutet für Plattformen für Essenslieferungen, die vor allem als Online-Bestellplattformen operieren, die Anstellung von Kurier*innen einen eher geringen Nachteil. Ihr Geschäftsmodell ist nicht auf Lieferungen ausgerichtet, wodurch sie vergleichsweise wenige Kurier*innen benötigen. Da sie also das Risiko der Scheinselbstständigkeit nicht eingehen müssen, ist ihre Risikobereitschaft in diesem Punkt gering ausgeprägt.

Own-Delivery-Plattformen bevorzugen hingegen aufgrund ihres Geschäftsmodells eher das Selbstständigen-Modell. Für diese Unternehmen spielen die institutionellen Rahmenbedingungen daher eine wichtigere Rolle, wenn sie sich gegen Selbstständigkeit entscheiden.

5.2 Kontrollregime Erwerbsstatus

Plattformen für Essenslieferungen nehmen das Kontrollregime des Erwerbsstatus in Deutschland als ein erhebliches Geschäftsrisiko wahr. Das Kontrollregime des Erwerbsstatus ist in der Deutschen Rentenversicherung (DRV) verankert. Diese ist befugt, in einem sogenannten Statusfeststellungsverfahren zu entscheiden, ob es sich bei Erwerbstätigen um Beschäftigte oder Selbstständige handelt. Die möglichen Folgen und Strafen einer Scheinselbstständigkeit sind auch für die Führungskräfte persönlich gravierend. Sie reichen von der Nachzahlung der Sozialversicherungsbeiträge für bis zu vier Jahre über Geldstrafen bis hin zu Freiheitsstrafen. Auch in der Literatur werden die Sozialversicherungen, darunter insbesondere die DRV, als wichtigstes institutionelles Hemmnis der Entfaltung von Gigwork in Deutschland angesehen (Funke und Picot 2021, S. 359). Auf das Statusfeststellungsverfahren angesprochen, führt ein Unternehmensvertreter aus:

„Es geht darum, fest[zu]stellen: bist du selbstständig oder nicht? Also wirklich, oder ist es nur Scheinselbstständigkeit? Und wenn man scheinselbstständig ist, dann hast du als Arbeitgeber oder Auftraggeber, der dann zum Arbeitgeber wird, ein richtiges Problem. Und da ist aber [...] sehr viel passiert in den ganzen Jahren davor, wo [...] immer deutlicher wurde, dass das Risiko, dass es da eine Reklassifizierung gibt, dass dieses Verfahren gemacht wird und untersucht wird und dann so festgestellt wird ‚Hey, die Tausenden von Fahrern, die du in letzten Jahren angestellt hast, die sind alle gar nicht selbstständig, die sind alle Arbeitnehmer‘. Das heißt, du musst Sozialversicherungen nachzahlen, du musst Strafen zahlen für falsche Anmeldungen. Die Geschäftsführer sind persönlich haftbar.“ (Interview 14, Pos. 23)

In der Wahrnehmung dieses Unternehmens ist das Risiko der Scheinselbstständigkeit in den letzten Jahren gestiegen. Jedoch weist nichts darauf hin, dass Plattformen für Essenslieferungen in besonderem Maße im Fokus der DRV gestanden haben. Die Risikowahrnehmung lässt sich daher nur eingeschränkt mit dem Kontrollregime in Verbindung bringen. Auch wurden bei den regulären Prüfungen von Plattformunternehmen keine besonderen Auffälligkeiten festgestellt, insbesondere keine vermehrte Klassifikation von Kurier*innen als Beschäftigte (E-Mail DRV, Interview 24). Im Gegenteil, die Kontrolle von Scheinselbstständigkeit im Bereich der geringqualifizierten Tätigkeiten wird von politischen Beobachtern als ungenügend bewertet. Die Situation in Deutschland sei etwas schizophren, so eine Interviewpartnerin. Im Bereich geringqualifizierter Arbeit werde unzureichend kontrolliert, bei hochqualifizierten Personen, die weniger vor dem Risiko der Scheinselbstständigkeit geschützt werden müssten, hingegen zu viel (Interview 21, Pos. 60).

Durch diese übermäßige Kontrolle lässt sich möglicherweise die starke Risikowahrnehmung von Scheinselbstständigkeit bei Plattformen für Essenslieferungen erklären, denn eine für sie relevante Berufsgruppe ist tatsächlich vermehrt von Reklassifizierung betroffen: selbstständige IT-Fachkräfte (Verband der Gründer und Selbstständigen e. V. 2019). Es ist daher wahrscheinlich, dass bei Plattformen angestellte IT-Fachkräfte – bewusst oder unbewusst – damit rechnen, dass die Rentenversicherung streng gegen Scheinselbstständigkeit vorgeht. Diese starke Risikowahrnehmung als nicht intendierte Nebenfolge der übermäßigen Kontrolle bestimmter Berufsgruppen könnte auf Kurier*innen projiziert werden.

Zudem entsteht aus dem Kontrollregime in Deutschland ein im Zeitverlauf steigendes Risiko für die Unternehmen (Funke und Picot 2021, S. 358). Durch die mögliche Pflicht zur Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen wächst mit fortgesetzter Geschäftstätigkeit das finanzielle Risiko der Arbeitgeber. Diese Beträge spielen bei der Entscheidung gegen Selbstständigkeit für Plattformen durchaus eine Rolle, wobei jedoch eine Führungskraft betont, dass die Entscheidung auch ohne eine Kostenkalkulation des Risikos völlig eindeutig gewesen sei:

„Es ist jetzt weniger so, dass man da jetzt rangeht und sagt, ‚Okay, jetzt gucken wir mal, wo das Ganze landet, und wenn es unter einen Betrag ist, dann machen wir das und über dem Betrag machen wir es nicht.‘ So ist es nicht, sondern, da war schon klar, okay, es geht rechtlich nicht, deswegen machen wir es nicht. Aber, um den Punkt noch mal zu verstärken, gab es dann auch diese Berechnung, die hätte es jetzt aber auch nicht gebraucht in dem Fall, weil, es war ja sehr klar, das geht nicht und dann macht es auch keinen Sinn.“ (Interview 14 , Pos. 41)

Die Ausgestaltung des Kontrollregimes des Erwerbsstatus in Deutschland trägt also dazu bei, dass Plattformen für Essenslieferungen das Risiko der Scheinselbstständigkeit als besonders hoch wahrnehmen. Einerseits trifft es zu, dass das deutsche Regime vergleichsweise durchsetzungsstark und eine entsprechende Strafe kostspielig ist. Andererseits ist es möglich, dass die hohe Risikowahrnehmung der Unternehmen eine Nebenfolge dessen ist, dass das Kontrollregime in anderen Wirtschaftsbereichen durchgesetzt wird.

5.3 Öffentliche Meinung und politischer Druck

Wie Plattformunternehmen in Deutschland das Risiko der Scheinselbstständigkeit wahrnehmen, wird auch von der öffentlichen Meinung und dem politischen Druck beeinflusst. Ein Unternehmensvertreter beschreibt die Wirkung politischen Drucks folgendermaßen:

„Es war zusätzlich so, dass der politische Druck auf Deliveroo – das findet man auch ganz gut online – sehr hoch war. Dass zum Beispiel auch der Arbeitsminister Hubertus Heil sehr stark gegen das Konzept von Selbstständigen auf Plattformen –also Lieferplattformen in dem Zusammenhang – [war]. Und das war so ein bisschen mit einer der zentralen Punkte glaube ich, warum auch [...] vor allem im Lieferbereich, nie wieder jemand auf dieses Modell gesetzt hat.“ (Interview 25.2, Pos. 10)

Eine wichtige institutionelle Innovation bestand in diesem Zusammenhang darin, dass sich das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) für das Thema Plattformarbeit zuständig erklärt hat. Dies geschah bereits unter Andrea Nahles, die als Bundesarbeitsministerin die Frage in den Vordergrund rückte, wie sich die Digitalisierung auf Arbeit auswirkt (BMAS 2015). So gerieten auch die Plattformtätigen in den Blick des Ministeriums, was nicht selbstverständlich ist, denn „Selbstständige sind eigentlich Thema des Wirtschaftsministeriums“ (Interview 6, Pos. 4).

Das BMAS initiierte 2018 im Rahmen der Denkfabrik des BMAS einen Diskussionsprozess mit Stakeholdern über das Thema Plattformökonomie. Obwohl dieser Diskussionsprozess partnerschaftlich und ergebnisoffen gedacht war, verschärfte Bundesarbeitsminister Hubertus Heil im Juni 2018 den Ton gegenüber der Plattformökonomie im Allgemeinen und Lieferdiensten im Speziellen. In einem Interview sagte er: „Ich denke zum Beispiel an manche Erscheinungen der Plattformökonomie, etwa Lieferdienste für Essen. Die tun cool, behandeln ihre Mitarbeiter aber schlecht. Sozialpolitischer Wilder Westen.“ (Crocoll und Haerder 2018, S. 38) Im November 2020 gelangte der Prozess mit der Veröffentlichung des Eckpunktepapiers „Faire Arbeit in der Plattformökonomie“ (Denkfabrik Digitale Arbeitsgesellschaft 2020) zu einem vorläufigen Höhepunkt.

Das Eckpunktepapier sowie die Äußerungen von Hubertus Heil haben bei Unternehmensvertreter*innen einen bleibenden Eindruck hinterlassen, wie sich in den Interviews zeigte. So wies ein Interviewpartner darauf hin, dass Hubertus Heil als Arbeitsminister deutlich gemacht habe, dass das Selbstständigen-Modell nicht erwünscht sei (siehe oben). Ein anderer Unternehmensvertreter war über Pressemitteilungen im Zusammenhang mit dem Eckpunktepapier verärgert, da man dort als Arbeitsplattform mit Selbstständigen adressiert worden sei, obwohl man ausschließlich mit Beschäftigten arbeite (Interview 22, Pos. 67).

Das Bundesarbeitsministerium brachte sich unter Hubertus Heil in der 19. Wahlperiode (GroKo, Kabinett Merkel IV) auch auf europäischer Ebene zu diesem Thema ein. Hier trat man ebenfalls für eine intensivere Regulierung von Plattformarbeit ein und befürwortete die Richtlinie zur Verbesserung der Arbeitsbedingungen von Plattformtätigen. Diese wurde durch die Europäische Kommission unter Ursula von der Leyen im April 2021 formal angestoßen. Auch die Oppositionsparteien machten sich zu dieser Zeit für eine Regulierung von Plattformarbeit stark. So legte die Fraktion Die Linke im September 2020 einen Gesetzesantrag im Bundestag vor, in dem es um die Arbeitsbedingungen von Plattformtätigen ging (DIE LINKE 2020), ebenso die Fraktion Bündnis 90/Die Grünen im März 2021 (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN 2021). Sogar die FDP positionierte sich in einer kleinen Anfrage im Mai 2021 kritisch gegen Essenslieferdienste bzw. Lieferando, wobei es allerdings lediglich um die Wettbewerbspraktiken ging (FDP 2021). In Deutschland gab es demnach parteiübergreifend eine gewichtige Tendenz, Plattformen für Essenslieferungen zu regulieren.

Das wachsende politische Interesse an den Arbeitsbedingungen und dem Erwerbsstatus bei Plattformen lässt sich ohne das zunehmende öffentliche Interesse an dem Thema nicht erklären. Dieses wurde wesentlich durch aktivistisches Engagement befördert. So standen Deliveroo und Foodora immer wieder im Fokus von Protesten und Arbeitskämpfen (Heiland und Schaupp 2020, S. 53).

Infolge dieser Proteste kam es bereits im Juli 2017 in Köln zur Wahl eines Betriebsrats bei Deliveroo und daraufhin zu Betriebsräten an weiteren Standorten (Heiland und Schaupp 2020, S. 63). Erst nach der Wahl der Betriebsräte stellte Deliveroo vollständig auf das Selbstständigen-Modell um. Zuvor hatte Deliveroo teilweise Kurier*innen als eigene Angestellte beschäftigt. Mit dem vollständigen Übergang zum Selbstständigen-Modell immunisierte sich Deliveroo zwar gegen Ansprüche von Beschäftigen, rettete damit aber nicht die Geschäftstätigkeit in Deutschland. Schon 2018 verkleinerte sich das Unternehmen und im August 2019 stellte es den Geschäftsbetrieb in Deutschland ein. Die Strategie, den Erwerbsstatus als Mittel zur Bekämpfung von Arbeitnehmer*innenrechten zu instrumentalisieren, dürfte dazu beigetragen haben, dass sich die Kritik an der Plattformarbeit auf diesen Punkt konzentrierte. Insofern wundert es nicht, dass der Rückzug von Deliveroo aus dem deutschen Markt von einem Interviewpartner als „Sargnagel“ des Selbstständigen-Modells in Deutschland bezeichnet wird (Interview 25, Pos. 107).

Zwischen 2017 und 2021 wurde in Deutschland erhebliche öffentliche und politische Kritik an den Arbeitsbedingungen und der Frage des Erwerbsstatus bei Plattformen für Essenslieferungen geübt. Es gab keine politische Unterstützung für das Selbstständigen-Modell.

5.4 Rechtsprechung zu Plattformarbeit

Die Rechtsprechung zu Plattformarbeit in Deutschland trägt dazu bei, dass sich Plattformen für Essenslieferungen gegen das Selbstständigen-Modell entscheiden. Die gerichtlichen Interpretationen der Rechtslage werden von Plattformen intensiv rezipiert und beeinflussen ihre Risikowahrnehmung.

In Interviews wurde wiederholt auf ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) im Dezember 2020 hingewiesen (BAG, Entscheidung vom 01.12.2020). In diesem Urteil entschied das Gericht, dass zwischen einer Micro-Task-Plattform und einem Plattformtätigen ein Arbeitsverhältnis besteht. Das Urteil ist aber sehr vorsichtig formuliert, sodass daraus nicht geschlossen werden kann, dass alle Plattformtätigen als Beschäftigte eingestuft werden (Stoffels 2020). Noch ist nicht abschließend geklärt, was dieses Urteil für Plattformen für Essenslieferungen bedeutet. Es verstärkte jedoch entscheidend die Risikowahrnehmung bei den Unternehmen. Dies macht ein Interviewpartner deutlich, der die Planungen einer Plattform für den Markteintritt 2021 in Deutschland beschreibt:

[Es] [...] wurde sich angeschaut, ob man Freelancer machen kann. [...] Ich glaube wirklich so Ende 2020, kurz bevor wir gestartet sind, gab es ein Urteil in irgendeinem, ich weiß nicht, ob es ein Landesgericht war, oder was auch immer. Da ging es nicht um die Food Delivery-, aber da ging es um irgendeine andere Industrie, wo das Gericht festgestellt hat, dass wenn [...] die App sozusagen das Mittel der Arbeitsauftragskoordination ist, dann ist es [...] ganz klar ein Arbeitnehmer und dann ist es kein Freelancer mehr. Also okay, das war ein relativ eindeutiges Urteil.“ (Interview 14, Pos. 17)

Auch ein anderer Unternehmensvertreter verweist auf das Urteil des BAG, als er erläutert, dass die Rechtslage in Deutschland mittlerweile so sei, dass Arbeitsplattformen nicht mit Selbstständigen arbeiten könnten. Hier habe ein Gericht entschieden, dass, „wenn man über [ei]ne App arbeitet – jetzt ganz leicht runtergebrochen – […] Angestellter [ist]“ (Interview 17, Pos. 39). Mit diesem Urteil seien Lieferunternehmen dann zu der Einschätzung gelangt, dass man nicht mit Selbstständigen arbeiten könne, da das Risiko einer Reklassifizierung der Plattformtätigen vor Gericht zu hoch geworden sei, so der Interviewpartner weiter.

Auch politische Beobachter*innen vertreten die Auffassung, dass durch Gerichtsverfahren Druck auf Unternehmen entsteht. Da seien zum einen die schlechte Presse und der schlechte Ruf, den man dadurch bekomme. Zum anderen sei es abschreckend, so lange so riskant zu agieren und in Kauf zu nehmen, dass irgendwann doch ein Gericht entscheidet, dass es sich um Beschäftigte handelt (Interview 13, Pos. 66).

6 Fazit

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Entscheidung von Plattformen für Essenslieferungen in Deutschland gegen die Selbstständigkeit ihrer Kurier*innen mithilfe von vier Dimensionen erklärt werden kann. In diesen Dimensionen werden die Risikobereitschaft und die Risikowahrnehmung der Unternehmen bezüglich einer möglichen Scheinselbstständigkeit bestimmt. Zum einen gilt es, organisationale Gründe wie das Geschäftsmodell der Plattformen zu berücksichtigen. Hier ist insbesondere die Unterscheidung zwischen Online-Bestellplattformen und Own-Delivery-Plattformen relevant. Zum anderen spielen die institutionellen Rahmenbedingungen in einem Land eine wichtige Rolle. In Deutschland haben in dieser Hinsicht Entwicklungen in drei Dimensionen einen entscheidenden Beitrag geleistet.

Zum Ersten gibt es in Deutschland ein relativ strenges, gut ausgebautes und für die Frage von Scheinselbstständigkeit sensibilisiertes Kontrollregime des Erwerbsstatus, das wesentlich in der Deutschen Rentenversicherung angesiedelt ist. Obwohl sich keine Hinweise auf eine steigende Prüfintensität finden ließen, verstärkte sich in den letzten Jahren die mit dem Kontrollregime verbundene Risikowahrnehmung bei den Unternehmen.

Zum Zweiten entwickelte sich parteiübergreifend eine äußerst ablehnende öffentliche und politische Meinung gegenüber dem Modell der Selbstständigkeit bei digitalen Arbeitsplattformen im Allgemeinen und bei Lieferdiensten im Speziellen. Dabei spielten die Proteste und Arbeitskämpfe eine Rolle, die in Deutschland zwischen 2017 und 2019 prominent mit Deliveroo geführt wurden, das mit dem Selbstständigen-Modell arbeitete.

Zum Dritten hat sich die Rechtsprechung in Deutschland in eine Richtung entwickelt, die von Plattformen für Essenslieferungen dahingehend interpretiert wird, dass sie der Möglichkeit widerspricht, Kurier*innen als Selbstständige zu beschäftigen. Noch 2020 wurde in einem Unternehmen darüber nachgedacht, den Markteintritt in Deutschland mit einem Selbstständigen-Modell zu realisieren. Davon wurde jedoch nach dem BAG-Urteil im Dezember 2020 Abstand genommen.

In dem Beitrag wurde die These untersucht, dass zur Erklärung von Gigwork-Plattform-Strategien die organisationalen und institutionellen Bedingungen berücksichtigt werden müssen (Ilsøe und Larsen 2023). Es wurde deutlich, wie wichtig es ist, die vielfältigen Geschäftsmodelle von Plattformen für Essenslieferungen zu betrachten, statt von einem uniformen Arbeits- oder Geschäftsmodell auszugehen. Zudem sollten zur Erklärung von Gigwork-Plattform-Strategien auch die Rolle von öffentlichem und politischem Druck sowie die Entwicklungen der Rechtsprechung hinzugezogen werden. Dass die öffentliche Meinung für die kundenorientierten Gigwork-Plattformen relevant ist, unterstreicht schon die Konzeptualisierung von Plattform-Macht durch Culpepper und Thelen (2020). Culpepper entwickelte zudem das Konzept der „Quiet politics“. Dieses könnte für zukünftige Forschung zu Plattform-Strategien nützlich sein. Dabei geht es darum, dass das Ausmaß an öffentlicher Aufmerksamkeit für ein Thema die Macht von Unternehmen in diesem Themenbereich beeinflusst. Culpepper formuliert: „The more the public cares about an issue, the less managerial organizations will be able to exercise disproportionate influence over the rules governing that issue. In other words, business power goes down as political salience goes up.“ (Culpepper 2011, S. 177) Wenn man sich also dafür interessiert, ob und wie Gigwork-Plattformen ihre Strategien an institutionelle Rahmenbedingungen anpassen, muss man berücksichtigen, dass Plattformen unterschiedlich viel öffentliche Aufmerksamkeit erfahren.

Für die Verfügbarmachung von Arbeit durch Plattformen ergibt sich daraus, dass sich entgegen der ursprünglichen Erwartung bei Essenslieferplattformen keineswegs einheitlich ein Selbstständigen-Modell in der „Uberization“-Logik (Davis und Sinha 2021) durchgesetzt und verbreitet hat. Vielmehr hat sich in Deutschland der Wirtschaftszweig so entwickelt, dass sich Selbstständigkeit bei keiner Plattform für Essenslieferungen mehr zeigt. Durch ein Zusammenspiel von Ereignissen und Faktoren scheuen die Plattformen für Essenslieferungen das Risiko der Scheinselbstständigkeit, ohne dass dies exemplarisch je hätte verdeutlicht werden müssen. Im Unterschied zum bisherigen Forschungsstand (Muszyński et al. 2022) zeigt die Entwicklung in Deutschland zudem, dass sich auch die international marktführenden Plattformunternehmen auf das Angestellten-Modell einlassen. Sie erkennen es als die für den deutschen Standort praktikabelste Lösung der Verfügbarmachung an. Bei den Plattformen für Essenslieferungen in Deutschland ist Selbstständigkeit aktuell kein Thema mehr.