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1 Softwareentwickler*innen aller Länder, vernetzt euch!

In den vergangenen Jahren hörte man vor allem von Kollektivierungsprozessen, Protestaktionen und Gewerkschaftsbildungen seitens der Beschäftigten sogenannter Gigwork- und Cloudwork-Organisationen (Küppers 2022; Tassinari und Maccarrone 2020). Doch auch abseits dieser digitalen „Plattformunternehmen“ (Dolata und Schrape 2022) kommt es in Organisationen zu verschiedenen verorganisierten Protestformen (Buchter 2021; Briscoe und Gupta 2016). Diesen sozialen Phänomenen ist gemein, dass sie Widerspruch gegen bestehende Organisationsstrukturen oder -praktiken kommunizieren und eigenständig für deren Verbesserung eintreten. Daraus ergibt sich die Frage, wie sich solche Widerspruchsformen durch die Digitalisierung von Organisationen verändern und inwiefern digitale Kommunikationsplattformen bei der Äußerung von Widerspruch und der Vernetzung der Organisationsmitglieder eine Rolle spielen.

Ich möchte dieser Frage mithilfe einer empirischen Fallstudie nachgehen, in der ich das digitale Widerspruchsnetzwerk Software Development NetworkFootnote 1 (im Folgenden: SDN) untersucht habe. Hierbei handelt es sich um ein Netzwerk von Softwareentwickler*innen (im Folgenden: SE) innerhalb eines deutschen Technologiekonzerns, dessen Mitglieder mit den bestehenden Organisationsstrukturen unzufrieden sind. Das Netzwerk entstand 2019 nach einer organisationsweit verbreiteten Widerspruchsäußerung eines Softwareentwicklers, der auf der digitalen Kommunikationsplattform die „Softwarekultur“ des Konzerns bemängelte und die Organisation daraufhin verließ. Andere SE nutzten dieses Moment, um ebenfalls ihre Frustration zu äußern. Doch statt abzuwandern, gründeten sie das informale Netzwerk SDN, das sich für ihre Interessen sowie eine Optimierung der Arbeitsbedingungen einsetzt. Es erstreckt sich über den Konzern und seine Tochtergesellschaften mit insgesamt ca. 400.000 Mitarbeitenden und bestand 2021 bereits aus ca. 2500 Mitgliedern. Das Netzwerk arbeitet ausschließlich online zusammen und nutzt dafür die digitalen Infrastrukturen des Konzerns. Das heißt, die Organisation selbst stellt die digitalen Mittel zur Verfügung, mit deren Hilfe Unzufriedenheit bekundet und Kooperation organisiert wird. Aus dieser Beobachtung leite ich die zentrale These des Beitrags ab, dass Organisationen es ihren Mitgliedern durch die Verfügbarmachung von digitalen Kommunikationsplattformen erleichtern, sich jenseits der Formalstruktur zu vernetzen und Widerspruch zu kommunizieren.

Um diese These zu plausibilisieren, schließe ich an Hirschman (1970, 2010) an, der illustriert, dass Akteure insbesondere auf zweierlei Art auf einen „Leistungsabfall“ sozialer Beziehungen oder den Verfall „geordneter Verhältnisse“ reagieren: Entweder sie wandern ab oder sie äußern Widerspruch (Hirschman 2010, S. 204). Im untersuchten Beispiel lässt sich über die bisherigen Beobachtungen von Widerspruch hinaus erkennen, dass die digitale Plattform der Organisation genutzt wurde, um ein Netzwerk als informale Interessenvertretung zu gründen. Die SE schlossen sich demnach nicht einer Gewerkschaft an oder konsultierten den Betriebsrat, sondern wurden selbst jenseits der organisationalen Formalstruktur aktiv. Hier knüpfe ich an Studien an, die zeigen, wie erfolgreich sich Netzwerkzusammenschlüsse mehrerer Organisationen – in Gegenüberstellung mit Gewerkschaften – für die Interessen ihrer Mitglieder einsetzen (z. B. Heckscher und Carré 2006) und wie neue Formen der betrieblichen Partizipation in der Post-Industrialisierung organisiert werden (z. B. Ittermann 2009; Müller-Jentsch 1999).

Dabei verdeutlicht das empirische Beispiel, dass der aktivistische Widerspruch und die Vernetzung zumindest zu Beginn für den Konzern eine Gefährdung darstellen. Um diese zu relativieren, kooptiert die Organisation das Netzwerk und bietet ihm formale Strukturen zur Unterstützung an. Zur Beschreibung dieses Prozesses nutze ich die Theorie von Selznick (1949), der unter dem Begriff der „Kooptation“ darlegt, wie Organisationen solche Gefährdungen abwenden, indem sie die Einheiten in die eigene Formalstruktur integrieren. Die Widersprechenden werden von der Organisation legitimiert und befriedet, indem sie in den Lösungsprozess offiziell einbezogen werden (Selznick 1949, S. 260).

Im folgenden Kap. 2 werde ich diese theoretischen Vorannahmen explizieren. Anschließend stelle ich die Methode vor (3) und rekonstruiere den empirischen Fall entlang der folgenden drei Fragen als Prozess (3.1–3.2): Was sind die Gründe für den Widerspruch des Netzwerks und wie äußert er sich? Wie organisiert sich das Netzwerk, um brauchbare Lösungen für seine Probleme zu entwickeln? Wie kooptiert der Konzern das Netzwerk, um damit einhergehende Gefahren abzuwenden? In der anschließenden Diskussion (4) wird deutlich, dass der Fall für die Digitalisierungsdebatte insofern relevant ist, als die Digitalisierung nicht nur die Kommunikation von Widerspruch vereinfacht, sondern auch neue Formen der Interessenvertretung ermöglicht.

2 Zum Verhältnis von Organisationen, Widerspruch und (Widerspruchs-)Netzwerken

Organisationen begünstigen die Entstehung von Netzwerken. Unter ihrem Dach können die Mitglieder Beziehungen zueinander aufbauen, eingehen oder sie für eigene Zwecke nutzen (Tacke 2000, S. 6, 24). Problematisch werden Netzwerke für Organisationen nur dann, wenn sie deren Ressourcen „parasitieren“ oder die Netzwerkstrukturen die formalen Kommunikationswege und Arbeitsteilungen übergehen (Holzer und Fuhse 2010, S. 321). Um derartige Belastungen zu vermeiden, kooptieren Organisationen die Gefahrenquellen, indem sie sie mit formalen Strukturen unterstützen und sie so von sich abhängig machen (vgl. Selznick 1949, S. 259). Für die Netzwerke wiederum ist es vorteilhaft, die formalen Strukturen der Organisation zu nutzen. Denn im Gegensatz zu Organisationen, die die Leistungserbringung ihrer Mitglieder über formale Mitgliedschaftsbedingungen sicherstellen (Luhmann 1999), können Netzwerke ihre Erwartungen nur auf Reziprozität und Vertrauen gründen (Holzer und Fuhse 2010, S. 321; Tacke 2000, S. 17). Das heißt, Mitglieder von Netzwerken kommunizieren untereinander gegenseitige Erwartungen an zukünftig zu erbringende Leistungen (Bommes und Tacke 2007, S. 15). Daraus ergibt sich eine Art „netzwerkspezifisches Leistungsspektrum“ (Bommes und Tacke 2007, S. 16), durch das sich Netzwerke als soziale Systeme von einer sie umgebenden Umwelt abgrenzen (Holzer und Fuhse 2010, S. 318). Mitglieder von Netzwerken lassen sich nicht einfach exkludieren, wenn sie Leistungserwartungen nicht erfüllen. Arbeitsverweigerungen in Organisationen hingegen können zu Abmahnungen, Repressalien oder Exklusion führen (Hirschman 2010, S. 206). Gleiches gilt für offen kommunizierten Widerspruch, den die Organisation nur bei dessen verdeckter Kommunikation akzeptieren kann (Kühl 2011, S. 32).

Neben offen kommuniziertem Widerspruch (voice) gibt es laut Hirschman (1970, 2010) die Möglichkeit der Abwanderung (exit), wenn Akteure mit einer sozialen Beziehung unzufrieden sind. Unter sozialen Beziehungen versteht er solche von Mitgliedern einer Organisation, in Familien, von Konsument*innen von Waren oder Bürger*innen eines Staates (Hirschman 2010, S. 204). Während Abwanderung zwar ein mächtiges Werkzeug dafür ist, das Management von Organisationen auf Fehler hinzuweisen, ist es ungeeignet, um konkrete Verbesserungen anzustoßen (Hirschman 2010, S. 205). Anders verhält es sich mit Widerspruchskommunikation, die auch auf Probleme aufmerksam macht, aber zugleich die Situation verbessern möchte (Hirschman 2010, S. 207).Footnote 2 Der ausschlaggebende Mechanismus für die Wahl des Widerspruchs ist Loyalität (loyalty) gegenüber der Organisation (Hirschman 2010, S. 207). Diese Loyalität führt dazu, dass unzufriedene Organisationsmitglieder – statt zu einer konkurrierenden Organisation zu wechseln – sich kollektivieren, um erstarkt Forderungen an die Managementebene zu adressieren (Hirschman 2010, S. 209).

Forderungen an das Management wurden und werden oftmals von Interessenvertretungen der Beschäftigten formuliert, wie beispielsweise von Betriebsräten oder Gewerkschaften (vgl. Müller-Jentsch 1999). Doch gerade derartige Beschäftigtenvertretungen haben sich im Zuge der Digitalisierung und der New Economy verändert (Ittermann 2009, S. 11). So zeigen die Theorien industrieller Beziehungen, dass es vor allem in kleinen und mittleren Unternehmen zu neuen Formen der Beschäftigtenpartizipation und Selbstvertretung kommt, während Großunternehmen weiterhin durch die Institutionen der industriellen Beziehungen, insbesondere Betriebsräte, geprägt sind (Ittermann 2009, S. 13 ff.). Gewerkschaften und Betriebsräte haben auf die Entwicklungen der Digitalisierung reagiert, erste Schritte in Richtung einer digitalen Arbeitspolitik unternommen und Initiativen im Bereich der Plattformwirtschaft ins Leben gerufen, wie beispielsweise die Fair Crowd Work der IG Metall (ausführlich hierzu Haipeter et al. 2021, S. 29 ff.; Haipeter und Hoose 2019, S. 4 ff.; Lee und Staples 2018, S. 513). Zugleich gilt der analoge und persönlich hergestellte Zusammenhalt von Organisationsmitgliedern und ihren betrieblichen oder gewerkschaftlichen Repräsentant*innen weiterhin als der „Königsweg zur Genese von Solidarität“ (Lee und Staples 2018, S. 502), die mittels digitaler Interaktion nicht erreicht werden könne. Das Argument meines Textes schließt hier an, widerspricht aber dieser Beobachtung: Die Verfügbarmachung der digitalen Kommunikationsplattform ermöglicht den unzufriedenen Mitgliedern nicht nur die organisationsöffentliche Kommunikation von Widerspruch, sondern begünstigt zusätzlich die Kollektivierung in einem Netzwerk als alternative Interessenvertretung in einem Großunternehmen. Im folgenden Kapitel wird nach einer Skizze des methodischen Vorgehens der empirische Fall rekonstruiert und vorgestellt.

3 Software Development Network: Vom Widerspruch zum kooptierten Netzwerk

Für die Fallstudie habe ich Anfang 2021 insgesamt 15 qualitative, leitfadengestützte Interviews (vgl. Klemm und Liebold 2017) mit Vertreter*innen aller Einheiten des Netzwerks geführt (zu den verschiedenen Einheiten siehe ausführlicher Abschn. 3.2 und 3.3). Zusätzlich zu den Interviews (im Folgenden: I) gab es im zweiwöchentlichen Abstand kurze Abstimmungsgespräche mit den zwei Ansprechpartner*innen im Feld. Zum Ende der Erhebung wurde ein Abschlussworkshop veranstaltet, bei dem einzelne Thesen getestet und diskutiert wurden. Die Interviews wurden transkribiert und pseudonymisiert, die Gespräche und der Workshop dicht protokolliert. Alle Daten wurden nach der Methode von Kuckartz und Rädiker (2022) inhaltsanalytisch ausgewertet und mit den Ergebnissen aus Dokumentenanalysen trianguliert (siehe hierzu Flick 2011). Die Daten wurden in einem Zweischritt ausgewertet: Nach einer ersten induktiven Kategorienbildung und anschließenden Sortierung in einem hierarchischen Kategoriensystem erfolgte eine weitere deduktive Auswertung mithilfe systemtheoretischer Vorannahmen über Organisationen (insbesondere Luhmann 1999), ergänzt durch theoretische Konzepte über Netzwerke (Tacke 2000; Holzer und Fuhse 2010; Heckscher und Carré 2006), Widerspruch (Hirschman 1970; 2010), industrielle Beziehungen (Müller-Jentsch 1999; Ittermann 2009) und Protest oder Aktivismus in Organisationen (Tratschin 2016; Briscoe und Gupta 2016). Die Ergebnisse legten es nahe, die Daten im Sinne der „temporal bracketing strategy“ (Langley 1999, S. 703) in zeitliche Perioden zu zerlegen, um anschließend eine systematische und chronologische Geschichte des Netzwerks erzählen zu können. Die Geschichte beginnt vor der Gründung des selbstorganisierten Netzwerks mit der Unzufriedenheit der SE, die schließlich zum initialen Widerspruchs-Posting auf der digitalen Kommunikationsplattform führte.

3.1 Geschichten aus Absurdistan oder die Gründe des Widerspruchs

Als maßgeblicher Grund für den initialen Widerspruch der SE wurde die fehlende Wertschätzung ihrer Arbeit seitens des Konzerns genannt (I1; I12).Footnote 3 Die SE verweisen dazu auf strukturelle Probleme, mit denen sie sich in der Organisation konfrontiert sehen. Sie bemängeln etwa, dass die Managementebene Entscheidungen für die SE trifft, aber selbst keinen IT-Hintergrund hat: „Wie kommt es, dass wir von Management-Persönlichkeiten geführt werden, die unsere Domäne, die Softwareentwicklung, nicht verstehen?“ (I10) Diese Wahrnehmung wird dadurch verschärft, dass die Fachexpert*innen zur Entscheidungsfindung zwar zurate gezogen werden, das finale Ergebnis dann aber von der Führungskraft als eigene Idee präsentiert wird (vgl. I12).

Auf Managementebene fehlt es überwiegend an IT-spezifischen Qualifikationen – worin ebenfalls Frustrationspotenzial für die SE besteht –, da es für die SE keinen fachlichen Karrierepfad gibt. Das heißt, SE können sich fachlich zwar weiterentwickeln, steigen damit aber nicht in der Hierarchie auf (I11): „Jedes gute IT-Unternehmen hat das, wo ein Entwickler sieht: Okay, das erwartet mich in den nächsten fünf bis zehn Jahren, das sind die Möglichkeiten, die ich habe.“ (I2) Wenn die SE also weiterhin fachlich arbeiten und Software entwickeln möchten, können sie das nur ohne formalen Karriereaufstieg.

Ein anderes strukturelles Problem ist der Mangel an entsprechender Hard- und Software sowie fehlende Zugangsrechte. Bezüglich der unzureichenden Hardware berichtet ein Interviewpartner: „Ich komme hier an Tag eins an, […] dann kriege ich einen Rechner in die Hand gedrückt, auf dem habe ich gar keine Adminrechte, also ich kann da nichts installieren. Und die USB-Ports sind geblockt, da denke ich, ihr scheint mir ja wirklich zu vertrauen.“ (I12) Um Software schreiben zu können, bedarf es bestimmter digitaler Programme und Lizenzen zu Code-Datenbanken. Diese fehlen den Entwickler*innen, sodass sie ihren Job nicht gut machen können: „Wenn man eine moderne Software entwickelt, dann hat man normalerweise Github und eine CI/CD-Pipeline und alles, was dazugehört. Und das ist ein Riesenkrampf, diese normalerweise ‚State of the Art‘-Umgebung hier aufgesetzt zu kriegen.“ (I12; ähnlich auch in I9).

Eine weitere Schwierigkeit ist die Dauer der Bearbeitungszeit des zentralen IT-Supports, an den sich SE bei Problemen wenden müssen: „Man macht dann ein Ticket auf und dieses Problem, was in einer modernen IT-Firma innerhalb von wahrscheinlich zehn Minuten gefixt wird, ist jetzt seit Anfang letzter Woche offen. Und ich habe noch nicht mal eine Reaktion.“ (I12) Diese Herausforderungen trugen dazu bei, dass einzelne SE die Organisation verließen, was bei den Übriggebliebenen zusätzliche Frustration auslöste (vgl. I10).

Ein SE hat zu seinem Organisationsaustritt ein Wut-„Posting“ auf der organisationsinternen Kommunikationsplattform verfasst, in dem er diese herausfordernde Situation beschreibt. Das Posting wurde in kürzester Zeit über 700 Mal kommentiert, hatte über 100.000 Views und wurde ca. 4000 Mal geliked: „Und er war nicht der Erste, der es gemacht hat, aber er hat offensichtlich den Nerv der Zeit getroffen. Und das Ding ging dann viral, und wir haben dann direkt gesagt, okay, geil ein Shitstorm, lasst uns den irgendwie produktiv nutzen. Und haben angefangen, mit den Leuten auf der Plattform zu diskutieren.“ (I2) Diese erste Phase der Unzufriedenheit führte 2019 zum Zusammenschluss einzelner SE, die etwas verändern wollten und dem Management mit Abwanderung drohten, wenn die Strukturen nicht angepasst würden. In einer anschließenden organisationsinternen Konferenz zu Software-Engineering gründete sich das Netzwerk, das es sich zum Ziel machte, die „Softwarekultur“ im Konzern zu verbessern. Das folgende Kapitel beleuchtet diese zweite Phase der Organisierung und Strukturierung des Netzwerks, die es brauchte, um Lösungen für seine Probleme zu entwickeln.

3.2 Von der Not zur Tugend: Zur Organisierung des digitalen Widerspruchnetzwerks

Wesentliche Grundlage für die Phase der Vernetzung und Kollaboration der SE war die digitale Kommunikationsplattform, die der Konzern zur Verfügung stellte. Innerhalb dieser Plattform hat das Netzwerk eine Art eigenen digitalen Kommunikationsraum, den jedes Organisationsmitglied „betreten“ kann und damit offiziell Mitglied des Netzwerks wird. Zum Zeitpunkt der Interviews hatte dieser Kommunikationsraum ca. 2500 Mitglieder, von denen sich ungefähr 200 Personen aktiv im Netzwerk beteiligen (vgl. I2). Das Netzwerk arbeitet je nach Aufgabe mithilfe zahlreicher weiterer digitaler Tools, die die Organisationsinfrastruktur bereithält (vgl. I1; I9).

Neben der digitalen Kommunikationsplattform brauchte das Netzwerk weitere Strukturen, um sich zu organisieren. Zunächst wurde ein „Hauptkreis“ ernannt, der aus den acht Gründungsmitgliedern bestand. Seine Aufgabe ist es, das Netzwerk zu strukturieren, das nötige Arbeitsumfeld zu schaffen, Kontakte herzustellen und die Arbeit auf der Kommunikationsplattform zu moderieren (vgl. I2). Inzwischen werden die Mitglieder des Hauptkreises jährlich von den 2500 Mitgliedern des Netzwerks online über die Plattform gewählt (I9; I11; I13). In der ersten offiziellen Legislaturperiode 2021, also dem Zeitraum, in dem die Interviews stattfanden, hatte der Hauptkreis zehn gewählte Aktive.

Neben dem Hauptkreis gibt es mehrere „Lösungskreise“, die sich Lösungen für die in 3.1 beschriebenen Probleme der SE überlegen und umzusetzen (vgl. I1; I2). Es geht also etwa darum, einen Fachkarrierepfad für die Entwickler*innen zu etablieren, eine Github-Cloud als Code-Datenbank zu implementieren oder ein Mentoring-Programm für die Managementebene zu entwickeln, um diese in Softwarethemen weiterzubilden. Innerhalb eines Lösungskreises arbeiten vier bis zehn Mitglieder zusammen, die alle aus verschiedenen Organisationseinheiten kommen und ihren Beitrag zum Netzwerk in Online-Meetings während ihrer Freizeit leisten. Weitere Lösungskreise entstehen, wenn Entwickler*innen ein strukturelles Problem wahrnehmen, dieses mit einer ersten Lösungsskizze im Kommunikationskanal des Netzwerks beschreiben und daraufhin eine Diskussion startet. Wenn sich mindestens vier Personen an einer Lösungsentwicklung beteiligen würden, legt ihnen der Hauptkreis nahe, „das von der Idee zu überführen in was Aktives“ (I1).

Der Hauptkreis wiederum unterstützt die Lösungskreise, ist der Kommunikationsweg in die restliche Organisation und hilft dabei, „die richtigen Leute mit ins Boot zu holen“ (I2). Zudem hat er zu Beginn Werte und Prinzipien festgelegt, nach denen sich die Mitglieder richten sollten. Diese Prinzipien sind Offenheit, Transparenz, Freiwilligkeit, Selbstorganisation und Meritokratie (vgl. I1; I2).

Die Verfügbarmachung der digitalen Tools und die selbstgeschaffenen Strukturen in dieser zweiten Phase ermöglichen es dem Netzwerk, arbeitsfähig zu sein. Da sich das Netzwerk kurz vor Ausbruch der Covid-19-Pandemie gründete, engagierten sich die Mitglieder ausschließlich über die digitalen Kanäle der Organisation. Ergänzend dazu waren in einer dritten Phase weitere Ressourcen und Strukturen der Mutterorganisation notwendig, um Lösungen zu entwickeln und in der Organisation zu implementieren. Wie sehen diese Strukturen aus und wie kooptiert der Konzern das Netzwerk, um die damit einhergehenden Gefahren abzuwenden und die erarbeiteten Lösungen zu nutzen?

3.3 Autarkie oder Kooptation? Zur Formalisierung des Netzwerks

Die SE verfügen über einen machtvollen Hebel, der dafür sorgt, dass das Management das Netzwerk duldet und die Nutzung der Digitalplattform erlaubt: Der Konzern möchte seine Softwaresparte ausbauen und ist daher auf dafür nötige Qualifikationen angewiesen. Jede Kündigung von SE ist teuer, da Rekrutierung und Einarbeitung lange dauern und dringende Arbeit liegen bleibt (vgl. I12). Um auch eine spätere Abwanderung der SE zu verhindern, bot das Management dem Netzwerk formale Strukturen zu dessen Unterstützung an.

In dieser dritten Phase half das Management dem Netzwerk – zusätzlich zu den digitalen Tools – mit einer kapazitiven Abstellung der Mitglieder des Hauptkreises. Das heißt, dass sich alle zehn gewählten Mitglieder zu einem festgelegten Prozentsatz ihrer Arbeitszeit für das Netzwerk engagieren dürfen (vgl. I1; I12) – im Gegensatz zu den Mitgliedern der Lösungskreise, die in ihrer Freizeit für das Netzwerk arbeiten. Bei manchen SE des Hauptkreises wird ihr Engagement sogar in der jährlichen Zielvereinbarung mit ihren Vorgesetzten festgehalten. Damit stellen die Führungskräfte sicher, dass in der zur Verfügung gestellten Zeit Ergebnisse produziert werden.

Eine weitere formale Struktur sind „Partner*innen“ in der Regelorganisation, die die Lösungskreise bei ihrer Arbeit unterstützen und die Ergebnisse in die Organisationsstrukturen diffundieren. Diese Lösungspartner*innen kommen aus verschiedenen zentralen Bereichen des Konzerns (vgl. I2). Sie sind bei allen Hürden behilflich, die in der Organisation auftreten, wenn ein neues Produkt eingeführt werden soll: „Wenn wir über die GitHub-Cloud reden, brauche ich eine Erlaubnis des Konzernbetriebsrates, dass wir das nutzen dürfen. Ich muss ein Security Assessment machen, dass es freigegeben wird. Ich muss mit dem Einkauf klären, dass der Hersteller legal ist für uns. Ich muss mit unserem Data Security Officer klären, dass die personenbezogenen Daten nur die minimalen sind. Ich habe da eine ewig lange Liste, durch die ich mich arbeiten muss“ (I13; vergleichbar in I4).

Neben diesen formalen Leitplanken, die die Organisation vorsieht, besteht eine der größten Herausforderungen für das Netzwerk darin, die Lösungen dauerhaft zu finanzieren: „Da ist dann ein Projekt und das kostet 15 Mio. über drei Jahre. Dann hat [SDN] nicht die Mittel, um das zu lösen. Und haben nicht mal die Mittel, um einen Prototyp zu bauen“ (I11). Zum Zeitpunkt der Interviews wurde deshalb daran gearbeitet, sogenannte Botschafter*innen zu identifizieren und zu etablieren. Diese Botschafter*innen sitzen zwischen dem mittleren Management und der Bereichsleitung im Konzern und sollen das SDN unterstützen, indem sie bei ihren Mitarbeitenden für das Engagement im Netzwerk werben und sich auf der eigenen und den nächsthöheren Hierarchieebenen dafür einsetzen, dass Budgets für die Lösungen des Netzwerks bereitgestellt werden (vgl. I2). Darüber hinaus gibt es noch sogenannte Sponsor*innen im Vorstand des Konzerns. Diese können zwar kein Budget verteilen, haben aber Einfluss auf die nötigen sozialen Kontakte: „Sie können Zugang verschaffen zu allen möglichen Sachen, Partnerinitiativen oder anderen Organisationstrukturen, wo wir unsere Ideen platzieren müssen, um deren Unterstützung zu kriegen“ (I2). So wurde in den Interviews wiederholt Dankbarkeit des Netzwerks gegenüber der Organisation geäußert: „Auch aus dem Gesichtspunkt, dass ich es wirklich unheimlich toll finde von der Firma, das überhaupt zu erlauben und zu ermöglichen. Es ist ja nicht selbstverständlich“ (I13; ähnlich auch in I4 und I14).

Insgesamt hat sich das Netzwerk über die drei Phasen hinweg die Wertschätzung der Organisation erarbeitet, die es zu Beginn des ersten offenen Widerspruchs gefordert hat. Es hat die Organisation und deren „Softwarekultur“ für sich attraktiver gemacht und sieht sich durch die organisationale Unterstützung in seinem Engagement bestärkt. Festzuhalten bleibt, dass sich das Netzwerk aufgrund der verschiedenen Abteilungs- und Bereichszugehörigkeiten seiner Mitglieder über den gesamten Konzern erstreckt, seine Zusammenarbeit ausschließlich digital erfolgt und die Kooperation mit den Partner*innen, Botschafter*innen und Sponsor*innen ebenfalls online stattfindet. Erst über die Verfügbarmachung der digitalen Infrastrukturen wurden das konzernweite Netzwerk und seine digitale Kollaboration möglich.

4 Die Ehrenrettung aller: Organisationale Kooptation des digitalen Widerspruchsnetzwerks

Das empirische Beispiel bestätigt Hirschmans Beobachtung, dass auf die Unzufriedenheit in einer sozialen Beziehung – in diesem Fall zwischen der Organisation und ihren Mitgliedern – mit Abwanderung oder Widerspruch reagiert wird. Doch entgegen der Theorien industrieller Beziehungen (Müller-Jentsch 1999) wenden sich die unzufriedenen Organisationsmitglieder nicht an den Betriebsrat oder eine Gewerkschaft, sondern bauen eine eigene Interessenvertretung in Form des digitalen Netzwerks auf. Eine mögliche Begründung hierfür könnte die Beobachtung von Lee und Staples (2018, S. 514) sein, dass die traditionellen Strukturen klassischer Gewerkschaften ins Wanken geraten, während von digitalen Communitys parallel ein Anspruch auf Selbstorganisation betont wird, verbunden mit Freiräumen zur Selbstrepräsentation (ähnlich auch Üyük 2021, S. 187). Die Anwesenheit von Betriebsräten wird oft nicht mehr als notwendig erachtet, weshalb eine wachsende Zahl von Arbeitnehmenden sich weniger für die institutionalisierten Vertretungsformen interessiert (Staples und Whittall 2021, S. 142, 154).

Durch diese weitgehend autonome Kollektivierung jenseits der organisationalen Formalstrukturen und den digital ermöglichten, organisationsweiten Widerspruch könnte das Netzwerk nicht nur eine Gefährdung für das Management, sondern auch für den Konzernbetriebsrat darstellen. Das Management könnte diesen Entwicklungen auf der Plattform entgegensteuern, die Beteiligung am Widerspruch beobachten und Beschäftigte bei deren Kritikäußerung sanktionieren (vgl. Üyük 2021, S. 189). Doch stattdessen „kooptiert“ (Selznick 1949, S. 259) das Management das Netzwerk. Das heißt, das Netzwerk wird in die Formalstrukturen der Organisation eingegliedert, indem ihm digitale Infrastrukturen, Personal und Finanzierung zur Verfügung gestellt werden. Da das Netzwerk auf derartige Unterstützung angewiesen ist, kann es der Formalisierung nicht aus dem Weg gehen. Indem es von der Organisation anerkannt und gefördert wird, nimmt es die Wertschätzung wahr, auf deren Fehlen es seinen initialen Widerspruch gründete.

Auffällig ist, dass erst die Digitalisierung der Organisation – hier sichtbar als die konzernweite Verfügbarmachung und Nutzung der digitalen Kommunikationsplattform – die Schlagkraft des Widerspruchs ermöglichte: Das initiale Wut-Posting erreichte die gesamte Organisation. Auch für die Größe des Netzwerks – 2500 Mitglieder im gesamten Konzern – und seine langfristige Kollaboration ist die Digitalplattform die entscheidende Voraussetzung. Mit der Plattform wurde eine digitale Infrastruktur verfügbar gemacht, die ortsunabhängige, egalitäre und weitgehend transparente Vergemeinschaftungsprozesse für eine große Zahl an Partizipierenden gewährleistet (vgl. Lee und Staples 2018, S. 507).

Doch als eher diffuse Einheit ist es für Netzwerke schwierig, sich über einen längeren Zeitraum aufrechtzuerhalten. Heckscher und Carré (2006, S. 619–620) nennen vier Bedingungen, um dieser Herausforderung zu begegnen: „shared information platforms“, „shared behavioral norms“, eine „common mission“ und „governance“. Diese Elemente lassen sich im SDN finden, gleichzeitig wird aber deutlich, dass das Netzwerk nicht mehr abseits der Organisation operiert, sondern seine Strukturen mit denen der Organisation verwoben sind:

Über den organisationalen Arbeitszusammenhang und die Verfügbarmachung der digitalen Infrastrukturen als „shared information platforms“ stabilisiert die Organisation die „kommunikative Reproduktion“ (Tratschin 2016, S. 197) und erhöht damit die Wahrscheinlichkeit nachhaltiger Operationen des Netzwerks. Zusätzlich lassen sich über das Adressverzeichnis der Organisation (Tacke 2000) weitere potenzielle Mitglieder kontaktieren und rekrutieren. Als „shared behavioral norms“ hat sich das Netzwerk die fünf Prinzipien der Zusammenarbeit auferlegt, wobei es Netzwerken generell schwerfällt, die Einhaltung der „shared behavioral norms“ zu gewährleisten, da es kaum Sanktionsmöglichkeiten gibt (siehe hierzu Heckscher und Carré 2006, S. 623). Einig sind sich die SE in ihrer „common mission“, die Softwarekultur des Konzerns zu verbessern. Diese gemeinsame Aufgabe hilft, die Mitglieder zu vereinen und in dieselbe Richtung zu lenken (vgl. Heckscher und Carré 2006, S. 624). Der Hauptkreis erfüllt die „governance“-Funktion im Netzwerk (vgl. Heckscher und Carré 2006, S. 619) als Steuerungsgremium zur Entscheidungsfindung, als digitale Primäradresse und zur Überprüfung der Beiträge der Lösungskreise. Durch dessen kapazitative Abstellung vergütet das Management das Engagement und durch die Finanzierung der Lösungen sorgt es für deren nachhaltige Nutzung. Damit stellt das Management sicher, dass das Netzwerk sich nicht diffus auflöst und sich das investierte Budget rentiert.

Hier wird das Abhängigkeitsverhältnis zwischen Organisationen und ihren protestierenden Mitgliedern deutlich: Organisationsinterne Aktivist*innen müssen sich bei ihren Handlungen an die übergeordneten formalen Erwartungen der Organisation halten, da sie auf deren materielle und soziale Ressourcen angewiesen sind (vgl. Üyük 2021, S. 184–185). Organisationen wiederum benötigen die Arbeitskraft ihrer Mitglieder und die Sicherheit, dass deren oftmals wertvolle Informationen nicht nach außen getragen werden (Briscoe und Gupta 2016, S. 679–680). Das Netzwerk und das Management wenden dieses originäre Problem produktiv: Über die Lösungsentwicklungen im Netzwerk und die Unterstützung der Organisation, nehmen die Widersprechenden eine Verbesserung der Situation wahr. Gleichzeitig wird die Organisation durch das Netzwerk entlastet, indem es einen Großteil der strukturellen Veränderungen selbst vorantreibt und das Management weitgehend aus der Verantwortung nimmt.

5 Fazit

Auf den vergangenen Seiten wurde deutlich, dass die mit der Digitalisierung zunehmende Verfügbarmachung digitaler Technologien in Arbeitsorganisationen dazu führt, dass sich vermehrt Widerspruchsnetzwerke bilden können. Zugleich wurde gezeigt, mit welchen Herausforderungen gerade SE in großen Konzernen konfrontiert werden, da sie dafür zuständig sind, die Digitalisierung voranzutreiben. Doch statt sich deshalb an den Betriebsrat zu wenden, gründen die SE ihre eigene Interessenvertretung und erarbeiten Problemlösungen eigenständig. Indem die Organisation das Netzwerk über dessen Kooptation unterstützt, wird die durch die Digitalisierung begünstigte Belastung zu einer Entlastung: für das Netzwerk, da die formale Förderung die Widerspruchskommunikation legitimiert und Lösungen realisiert werden; für die Organisation, da die anfängliche Gefährdung eingehegt wird und das Netzwerk maßgeblich zur Verbesserung der strukturellen Bedingungen beiträgt.

Interessant wäre, sich das Netzwerk zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal anzuschauen. Wird es parallel zur Betriebsratsstruktur zu einer vollständig formalisierten Organisationseinheit, die als etablierte Interessenvertretung für die Gruppe der SE agiert? Werden Netzwerke oder ähnliche Aktivitäten langfristig in die Arbeit der Betriebsräte und Gewerkschaften integriert? Scheitert die organisationale Einbindung der Problemlösungen, sodass die Mitglieder des Netzwerks wieder mit ihrem originären Problem konfrontiert sind? Zudem wäre es spannend, die These des Beitrags in anderen Organisationen zu überprüfen. Kann die Verfügbarmachung digitaler Plattformen tatsächlich als Katalysator für die Kommunikation von Widerspruch betrachtet werden? Lassen sich auch in anderen Großunternehmen alternative Formen der Beschäftigtenvertretung finden, weil die Nutzung digitaler Plattformen dies zulässt? Antworten auf diese Fragen sind nicht nur relevant für die Organisationssoziologie oder für die Diskussion um Organisation und Digitalisierung, sondern auch für den Diskurs um sich verändernde industrielle Beziehungen. Sie zeigen, dass digitale Kommunikationstechnologien nicht nur für Effizienzsteigerungen oder Rationalisierungsvorhaben eingesetzt werden können, sondern auch, um bessere Arbeitsbedingungen für Organisationsmitglieder auszuhandeln.