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1 Einleitung

Die Digitalisierung der Industrie wird meist mit der Einführung avancierter Robotik und neuerdings auch mit der umfassenden Vernetzung von Industrieanlagen gleichgesetzt. Das Narrativ der Industrie 4.0, das als Chiffre für einen Innovationsschub in der industriellen Fertigung platziert wurde, fördert diese Fixierung auf die Produktionstechnik. Weniger Aufmerksamkeit erhalten technische Neuerungen in der Industrie, die sich nicht auf die Fertigungs- und Montageprozesse selbst beziehen, sondern auf die bessere Verfügbarmachung der Produkte, das heißt die Einbettung in neue Formen der Distribution – des Marketings, des Vertriebs und der Logistik.

Diese Engführung auf Produktionstechnik ist in gewisser Weise anachronistisch. Schließlich wurde vielfach herausgearbeitet, dass die Digitalisierung nicht nur die Produktions-, sondern auch die Distributionsseite betrifft und darin sogar das eigentliche Novum der gegenwärtigen Digitalisierungsphase besteht: Shoshana Zuboffs Überwachungskapitalismus (2018) dreht sich um die Aneignung von Kundendaten für die Optimierung des Vertriebs, Philipp Staabs Digitaler Kapitalismus (2019) konzentriert sich auf die Etablierung digitaler Plattformen als neue Form privatwirtschaftlich angeeigneter Marktplätze und Sabine Pfeiffer (2021) verallgemeinert ihre Befunde in der Aussage, dass sich die aktuelle Phase der Digitalisierung vor allem durch eine technische Weiterentwicklung der Distributivkräfte auszeichne, womit alle Prozesse gemeint sind, die sich zwischen Unternehmen und ihren Kunden abspielen. Auch innerhalb industrieller Wertschöpfungsketten, in sogenannten Business-to-Business-Transaktionen, ergeben sich bedeutsame Veränderungen, indem neue digitale Kommunikationskanäle eingerichtet werden, um Auftraggeber und Anbieter zu vernetzen (Butollo und Schneidemesser 2021) oder um Logistikprozesse zu organisieren (Verfürth et al. 2023).

Das vornehmlich kleinbetrieblich organisierte Industriesegment der Teilefertigung ist von solch distributionsseitigen Innovationen gekennzeichnet. Durch Innovationen an der Kundenschnittstelle, die Entstehung von Online-Kontraktfertigung und digitalen Fertigungsplattformen deuten sich erhebliche Veränderungen an.

In unserem Beitrag thematisieren wir auf Grundlage unserer explorativen Forschung die unterschiedlichen Modelle der distributionsseitigen Innovation und diskutieren ihre Implikationen für die Struktur und Geografie der Wertschöpfung in der Teilefertigungsindustrie. Wir arbeiten heraus, welche Effekte die neuen Fertigungsmodelle auf die Position etablierter kleiner und mittlerer Unternehmen (KMU) haben, und erörtern mögliche Abhängigkeiten infolge einer Monopolisierung der Marktzugänge. In Bezug auf die veränderte Geografie der Wertschöpfung identifizieren wir unterschiedliche Szenarien der Verfügbarmachung von Produktionskapazitäten: Während das Online-Kontraktfertigungsmodell eher auf eine regionale Integration von Kunden und Anbietern setzt, kommt es durch die digitalen Fertigungsplattformen wahrscheinlich auch zu einer weiteren Globalisierung bisher eher intraregional organisierter Kleinserien- und Prototypenproduktion. Die Wirkung der Plattformmodelle auf die Fertigungspartner erweist sich als ambivalent. Zum einen ermöglichen die Plattformen den KMU, ihre Reichweite zu erhöhen, und machen somit neue Kunden, auch in internationalen Märkten, verfügbar. Zum anderen schaffen die Plattformen größere Preistransparenz und der (internationale) Konkurrenzdruck steigt für lokale Anbieter, vor allem in Ländern mit höheren Lohnkosten.

Die empirische Grundlage für diesen Artikel sind 35 Interviews. Diese wurden mit 15 Expert*innen aus Unternehmen, Verbänden und Forschung geführt sowie im Rahmen von Fallstudien zu einem Online-Kontraktfertiger, vier digitalen Fertigungsplattformen und zwei Plattformalternativen. In den Fallstudien zu digitalen Fertigungsplattformen wurden Interviews mit sieben Teilefertigern in Deutschland, Osteuropa und China geführt, die mit digitalen Fertigungsplattformen kooperieren. Mit diesem Sample wurden die Unternehmensstrategien und -praktiken der meisten relevanten Akteure in der Nische der digitalen Plattformen in der Teilefertigung auf dem europäischen Markt erfasst und zusätzlich Erfahrungen der Fertigungspartner der Plattformen aufgenommen. Die qualitativen Eindrücke von Vertreter*innen der KMU wurden durch ein Onlinesurvey unter 59 Teilefertigern validiert, in dem wir sie zu ihren Erfahrungen in der Kooperation mit digitalen Fertigungsplattformen befragt haben.

Ergänzt wurde das empirische Material durch den Aufbau einer Datenbank zu Anbietern digitaler Fertigungsplattformen weltweit, eine Dokumentenanalyse und die Beobachtung der Berichterstattung über die Geschäftsentwicklung der Teilefertigungsbranche. Es handelt sich hier um eine explorative Studie, in einem in der Arbeits- und Digitalisierungsforschung wenig beachteten Feld.

Zur Einordnung der aktuellen Entwicklungen skizzieren wir zunächst kurz die Struktur und jüngere Geschichte der Teilefertigungsindustrie (2). Daran anschließend stellen wir basierend auf Unternehmensfallstudien die gegensätzlichen Ansätze der Online-Kontraktfertigung (3) und der digitalen Fertigungsplattformen (4) dar. Danach diskutieren wir die Entwicklungsoptionen der Fertigungsplattformen zwischen einem Szenario, das von größerer Abhängigkeit der KMU von Plattformen und einem Dumpingwettlauf unter ihnen gekennzeichnet ist, und einem High-Road-Szenario, in dem digitale Plattformen die Aufwertung der Unternehmen unterstützen (5). Wir bilanzieren, in dem wir die wichtigsten Variablen potenzieller Veränderungen herausarbeiten und Möglichkeiten der politischen Einflussnahme diskutieren (6).

2 Spezialisierung und Konkurrenzdruck in der Teilefertigungsindustrie

Die Fertigung von Komponenten aus Metallen oder Kunststoffen ist grundlegend für eine breite Palette industrieller Erzeugnisse. Im Zuge der Ausdifferenzierung und der zunehmenden Komplexität von Produkten haben die Varianz und die Anzahl der verbauten Komponenten stetig zugenommen. Ein Automobil besteht heute beispielsweise aus rund 10.000 bis 40.000 Einzelteilen (Kerkow et al. 2012). Darunter sind standardisierte Teile, die in großer Stückzahl von Händlern oder Produzenten bezogen werden können, ohne dass hierfür spezifische Anforderungen kommuniziert werden müssen. Insbesondere in Branchen mit einer hohen Produktvarianz und geringen Stückzahlen wie zum Beispiel dem Maschinenbau werden Teile nach spezifischen Designvorgaben gefertigt (Niederdrenk 2001). Dies geschieht entweder inhouse, produziert vom jeweiligen Unternehmen, das diese Teile zu Baugruppen oder Produkten montiert, oder durch Outsourcing, wenn Aufträge an spezialisierte Zulieferer vergeben werden (Grömling 2007). Für diese Lohn- bzw. Auftragsfertigung gibt es eine branchenübergreifende Zulieferindustrie, die sich auf die Fertigung von Einzelteilen für andere Betriebe aus dem produzierenden Gewerbe spezialisiert (Grote und Feldhusen 2014, S. 139): die Teilefertigungsindustrie.

Klassische Produkte der Teilefertigung reichen von Metall- und Kunststoffobjekten mit geringer Fertigungstiefe, wie beschichtete und abgekantete Bleche, Spritzgussteile oder gespante und gefräste Metallteile, bis hin zu einbaufertigen Präzisionsteilen. Die Produktion der Teile geschieht mittels einer großen Bandbreite an Werkzeugmaschinen und Bearbeitungsverfahren, wie Zerspanung, Blechbearbeitung, 3D-Druck, Guss- und Schmiedeverfahren sowie Oberflächenbehandlung.

Manche Unternehmen spezialisieren sich auf einzelne Prozesse, wie den Zuschnitt von Blechen durch Laserschneideverfahren, andere decken mit unterschiedlichen Maschinen verschiedenste Produktionsverfahren ab. Klassische Kundenindustrien der Teilefertiger neben dem Automobil- und Maschinenbau sind die Luft- und Raumfahrttechnik, die Medizintechnik, aber auch die Elektro- und die Möbelindustrie. Viele Teilefertiger versuchen mit ihrem Angebotsspektrum, sowohl einfache Standardteile als auch Spezialanfertigungen abzudecken, um eine geeignete Mischung aus hoher Kapazitätsauslastung und lukrativen Aufträgen für komplexere Teile zu erreichen.

Die Konturen der Teilefertigungsindustrie sind unscharf. Als branchenübergreifende Industrie wird sie in den Statistiken und der Literatur meist als Teil der jeweiligen Kundensektoren behandelt, wobei ihr auch dort oft keine große Aufmerksamkeit gezollt wird.Footnote 1 Das Marktvolumen der kleinbetrieblichen Teilefertigungsindustrie in Deutschland geht in das Marktvolumen der kleinbetrieblichen Vorleistungsgüterindustrie ein, das 2020 einen Betrag von 125 Mrd. EUR erreichte (Destatis 2021). Unter den Teilefertigern gibt es wahrhafte Global Player, insbesondere wenn diese in die Produktion von technisch avancierten Modulen integriert sind, wie dies beispielsweise bei Systemzulieferern in der Automobilindustrie verbreitet ist. Diese technologischen Vorreiter haben meist Standorte in mehreren Industrieregionen der Welt und beliefern hauptsächlich überregionale Kunden. Die Masse der Teilefertiger besteht jedoch aus KMU, die meist eher intraregionale Lieferketten bedienen.

Mit den Endkunden der Produkte, für die Teile produziert werden, besteht in der Regel kein direkter Kontakt. Teilefertiger haben keinen Einfluss auf die Konjunkturen der Abnehmerbranchen und die Marktentwicklung ihrer Kunden, die aber maßgeblich für ihre eigene Geschäftsentwicklung sind. Dies begünstigt Abhängigkeiten und Machtasymmetrien, die sich auch in einer oft geringen Verhandlungsmacht gegenüber den Kunden bemerkbar machen (Niederdrenk 2001, S. 12; Kurtzke und Döth 2010, S. 7). Umgekehrt wirken sich Störungen der Komponentenproduktion oft massiv auf nachgelagerte Industrien aus, da die Teilefertigung als Bindeglied zwischen der Rohstoffproduktion und der Endmontage fungiert. Diese Abhängigkeit wurde seit 2020 durch die Lieferkettenprobleme in der Corona-Pandemie und infolge des russischen Angriffs auf die Ukraine sichtbar. Durch das Fehlen weniger Einzelteile stand in deutschen Betrieben die Produktion still (Hofer 2022). Die Wertschöpfungsbeziehungen sind somit durch ein wechselseitiges Abhängigkeitsverhältnis zwischen Lohnfertigern und Abnehmern gekennzeichnet.

Als separates Industriesegment hat die Teilefertigung seit den 1970er Jahren an Bedeutung gewonnen. Bereits Ende der 1980er Jahre war die Auftragsvergabe an spezialisierte Teile-, Modul- oder Entwicklungslieferanten im Maschinenbau und der Automobilindustrie weit verbreitet (Altmann et al. 1993, S. 27). Im Zuge der Umsetzung von Lean Production ab den 1990er Jahren wurden mehr und mehr Produktionsschritte outgesourct und die Lieferketten noch komplexer. Neben der Finanzialisierung der Unternehmen, in deren Folge sich eine Konzentration auf lukrativere Kernkompetenzen durchsetzte, war der Grund hierfür auch eine erhöhte Anzahl und Diversität an Komponenten, wodurch die Inhouse-Fertigung zunehmend an Grenzen stieß (Womack et al. 1992; Schwarz-Kocher et al. 2019, S. 32).

Da es sich bei der Teilefertigung aufgrund der meist geringen Fertigungstiefe um einen sehr kostensensiblen Bereich handelt, reagiert die Branche stark auf Veränderungen in der allgemeinen Konjunkturlage. In Zeiten von Konjunkturschwäche führt die Auslastungsproblematik zu einem Unterbietungswettbewerb der Fertiger mit Dumpingangeboten, teilweise unterhalb der Herstellungskosten, um Aufträge und damit Auslastung zu sichern. Dieser Kostendruck wird auch an die Beschäftigten weitergegeben, die in solchen Fällen auf Entgeltbestandteile verzichten und unbezahlte Mehrarbeit leisten sollen. Auch der Einsatz von Leiharbeit und befristeten Verträgen ist weit verbreitet. Weitere Strategien zur Kostenreduktion liegen im Abbau von Lagerkapazitäten und der Senkung von Materialkosten (Dispan 2009, S. 14 ff.).

Die Branche ist insofern von einem hohen Kosten- und Konkurrenzdruck gekennzeichnet. Es gilt als gängige Praxis, dass Zulieferer Verluste einkalkulieren, um Kundenkontakte zu stabilisieren. Oftmals herrscht zudem ein asymmetrisches Machtgefüge zwischen Auftraggebern und Zulieferern, da letztere sich nur schwer bezüglich der Produktqualität und des Fertigungsspektrums von den zahlreichen Konkurrenten abheben können (Butollo et al. 2016). Mit der Entstehung kommerzieller Internetanwendungen Anfang der 2000er kam es zudem erstmals zu Internetauktionen im industriellen Bereich, die die Margen in der Produktion weiter drückten (Vieweg et al. 2002, S. 46). Aufgrund der geringen Fertigungstiefe, des hohen Konkurrenzdrucks und der damit verbundenen geringen Margen sind Investitionen in neue Anlagen für viele KMU schwer zu stemmen (Dispan 2009, S. 14). Diese können nur durch eine hohe Anlagenauslastung refinanziert werden, was angesichts der oft volatilen Nachfrage nicht leicht zu gewährleisten ist. An dieser Stelle setzen die Geschäftsmodellinnovationen an, die die etablierte kleinbetriebliche Struktur der Branche herausfordern und die in den folgenden Abschnitten beschrieben werden: die Online-Kontraktfertiger (OKF) und die digitalen Fertigungsplattformen (DFP).

3 Skaleneffekte und geografische Konzentration: Die Online-Kontraktfertigung

Das Management eines von uns untersuchten OKF formulierte im Interview eine drastische Prognose über die weitere Entwicklung der Teilefertigungsindustrie. Demnach werden die KMU kaum als unabhängiger Unternehmenstyp weiterexistieren. Kleine Teilefertiger seien zunehmend dem Konkurrenzdruck größerer OKF ausgesetzt oder gerieten in Abhängigkeit von DFP. Das Hauptproblem der „kleinen Buden“ sei, dass sie die hohen Investitionen in das benötigte modernere Equipment kaum refinanzieren könnten, da ihre Kapazitäten selten ausgelastet seien. In der Konsequenz werde das alte Equipment „so lange genutzt, bis nichts mehr geht“. Zwar hätten die kleinen Anbieter gewisse Vorteile aufgrund des traditionell engen Kontaktes mit den Kunden, sie kämen aber mehr und mehr unter Druck und würden mittelfristig verschwinden.

Diese Schwachstellen nutzt das gerade erst entstehende Modell der OKF und verzeichnet Wettbewerbsvorteile aufgrund einer besseren Maschinenauslastung und einer offensiven Strategie des technologischen Upgradings. Unser erst 2007 gegründetes Fallunternehmen ist auf die Laserschneidetechnik und das Abkanten von Blechen spezialisiert, hat über 500 Mitarbeiter*innen an vier Standorten und knapp 20.000 Kunden. Der durchschnittliche Auftragswert ist mit etwa 500 € sehr gering und Auftraggeber aus der Automobilindustrie mit sehr großen Stückzahlen werden bewusst gemieden.Footnote 2 Kern und Ursprung des Geschäftsmodells ist die Entwicklung einer eigenen Software, mit der automatisiert Angebote erstellt und Aufträge in die Produktion übermittelt werden. Ähnlich wie bei Online-Druckereien können die Kunden die technischen Zeichnungen der gewünschten Blechschnitte direkt auf der Webseite des Unternehmens hochladen, wobei verschiedene Liefertermine zu unterschiedlichen Konditionen ausgewählt werden können. Diese digitale Schnittstelle ermöglicht es, das Modell der Kontraktfertigung auch für kleinere Stückzahlen verfügbar zu machen. Dadurch unterscheidet es sich von der konventionellen Kontraktfertigung (vgl. Lüthje et al. 2002), für die sowohl die Fertigung großer Stückzahlen als auch teilweise hohe Fertigungstiefen charakteristisch sind.

Die Aufträge werden vermittelt, indem auf Grundlage der vom Kunden zur Verfügung gestellten Daten automatisch ein Angebot erstellt und die Zeichnung in die Produktion übermittelt wird. Mithilfe von Produktionsplanungs- und Nesting-Software, die die platzsparende Anordnung verschiedener Schnitte auf einem Blechstück erleichtert, können auch Kleinstaufträge effizient in die automatisierten Produktionsabläufe integriert werden. So erzielt das Unternehmen eine relativ konstante und ökonomisch effiziente Auslastung der Werke. Neben Skaleneffekten kann es auch eine hohe Termintreue realisieren. Durch die Software kann zudem erheblich bei den kognitiven Tätigkeiten in der Auftragsvorbereitung (v. a. Angebotserstellung) eingespart werden. Insbesondere bei Aufträgen mit kleinen Stückzahlen machen die Arbeitskosten in diesem Bereich sonst einen beträchtlichen Teil der Produktionskosten aus. Im untersuchten Unternehmen wird geschätzt, dass allein 35 Mitarbeiter*innen mit der Angebotserstellung befasst sein müssten, wenn diese nicht von der Software übernommen werden würde.

Der Produktionsprozess selbst entspricht den üblichen Verfahren im Bereich des Laserschneidens. Die Anlagen sind jedoch vergleichsweise neu und die Fertigung ist hochautomatisiert, im Unterschied zu vielen Unternehmen der Branche, die zum Teil noch mit jahrzehntealtem Equipment operieren. Manuell werden in der Fertigung nur noch die Bleche eingelegt, die geschnittenen Blechteile sortiert oder Bleche bei gewissen Schneidprozessen stabilisiert. Abgesehen davon übernehmen die Arbeiter*innen die Überwachung der automatisierten Produktion und manche Funktionen der Auftragsvorbereitung. Gemäß der Aussage des CEO der Firma, brauche man „keine hochausgebildeten Mitarbeiter auf dem Shopfloor“. Bei einem Großteil der Beschäftigten handelt es sich um Quereinsteiger*innen, beispielsweise aus dem Bäckereigewerbe oder auch dem Straßenbau. Ihnen kommt, so der CEO, die digitale Vereinfachung und Assistenz zugute:

„Man sieht auf dem Schirm, wie man das Blechteil halten muss. Das wird ja automatisch kontrolliert. Und das wird alles durchgerechnet und, sagen wir, weiter gebracht aus der [Software-, d. Verf.]Plattform. Das ist viel einfacher als in der Vergangenheit. Zufälligerweise war ich während meines Studiums in so einem alten Unternehmen in der Blechverarbeitung. Das war 1989, und ich habe dort mein Praktikum gemacht […]. Da wurde so gemessen und eingestellt. Viel Fingerspitzengefühl, Fachmannschaft. Das hat gedauert und eigentlich haben die meisten Leute keine Ausbildung in der Blechverarbeitung.“

Obwohl also weniger Spezialkenntnisse erforderlich seien, betonte das Management die Vorzüge des dualen Systems der Berufsausbildung. Das Unternehmen bildet selbst in einer eigens gegründeten Bildungsakademie im grenznahen Ausland aus. Bewusst setzt das Management eher auf Automatisierung, Skaleneffekte und eine systemische Integration der Arbeitsschritte (Lean Production) als auf die Reduktion der Arbeitskosten.

Das untersuchte Blechschneideunternehmen verfolgt eine dezidiert regional ausgerichtete Marktstrategie. Sie knüpft an die lokalisierten Traditionen dieser Branche an, was auch mit dem Produkt – oft großflächige Bleche – zu tun hat. Laut dem CEO des Unternehmens sollte die geografische Distanz zu den Kunden 300, maximal 400 km betragen. Das Monitoring der Auftragseingänge bestimmt die Investitionsstrategie des Unternehmens. Sobald sich Aufträge in einer Region konzentrieren, wird die Gründung eines neuen Standortes in Erwägung gezogen: „Wir bauen zuerst einen Kundenkreis auf, aus den Werken, die wir haben. Und wenn es genügend Volumen gibt, kann man ein Werk bauen.“ Das Geschäftsmodell scheint zu funktionieren, das Umsatzwachstum beträgt etwa 30 % jährlich und zwei neue Standorte werden aufgebaut.

Das hier beschriebene Unternehmen steht exemplarisch für einen Transformationspfad in der Teilefertigung, der auch von anderen Akteuren auf dem Markt verfolgt wird. Zu den Strategien zählt eine stärkere Konzentration der Fertigungskapazitäten bei spezialisierten Produzenten, die in Konkurrenz zu etablierten KMU der Branche treten. Die OKF entwickeln Wettbewerbsvorteile durch hochautomatisierte Geschäfts- und Produktionsprozesse. Auf diese Weise können Kosten in der Auftragsvorbereitung und im Kundenkontakt eingespart und die Kapazitäten in der Fertigung besser ausgelastet werden. Durch die Automatisierung der Schlüsselfunktionen in der Auftragsabwicklung, also Angebotserstellung, Produktionsplanung und Nesting, können die Aufträge relativ bruchlos über eine Online-Plattform vermittelt werden, wodurch sich die Reichweite der Kontraktfertigung in der Branche erhöht.

4 Digitale Fertigungsplattformen: E-Commerce in der Industrie

DFP kommen zu einer ähnlichen Brancheneinschätzung wie die Kontraktfertiger. Sie bemängeln die Ineffizienz der kleinbetrieblichen Struktur, die mit Investitionsdefiziten und niedriger Kapazitätsauslastung einhergeht. Anders als die OKF setzen sie jedoch auf die Nutzung der bestehenden Branchenstruktur, in der sie sich als Intermediäre etablieren. Über eine neue digitale Schnittstelle wird industriellen Kunden der Zugang zu einem breiten Spektrum an Produktionsdienstleistungen erleichtert, während den vielen KMU der Branche vereinfachter Zugang zu Aufträgen gewährt wird.

DFP integrieren E-Commerce-Ansätze in industrielle Lieferketten. Vertreter*innen der führenden DFP gehen davon aus, dass sie die Branche aufgrund der Transaktionskostenvorteile transformieren könnten und ziehen Vergleiche zu Plattformmodellen im Einzelhandel oder in der Essensauslieferung. Aktuell spielen sie im Lieferkettenmanagement der Teilefertigung allerdings nur eine marginale Rolle. So wird nur ein Bruchteil der 800 Mrd. US-Dollar des globalen Marktvolumens über die vier größten DFP für mechanische Teile generiert. Weltweit sind unseren Recherchen zufolge jedoch bereits 64 Plattformen in diesem Markt aktiv und vergrößern kontinuierlich ihre Reichweite. Im Jahr 2022 verzeichnete die Plattform Xometry beispielsweise über 381 Mio. US-Dollar Umsätze, was einen Zuwachs von 75 % zum Vorjahr darstellt (Xometry 2023).

Das Geschäftsmodell dieser Plattformen funktioniert dabei wie folgt: Die Plattformbetreiber verfügen in der Regel über keine eigenen Produktionskapazitäten. Stattdessen machen sie ein Netzwerk aus Zulieferern mit Produktionsequipment und Expertise für die unterschiedlichen Fertigungsverfahren verfügbar, unter denen Kunden bedarfsgerecht wählen können. Dies ist ein Unterschied zum Modell der OKF, bei dem meist recht spezialisierte Fertigungsdienstleistungen angeboten werden. Die DFP und ihre dezentralen Produktionsnetzwerke ermöglichen es den Industriekunden, Transaktionskosten für die Suche nach geeigneten Lieferanten zu senken, flexibel maßgeschneiderte Produkte zu beziehen und die Beschaffungszeiten zu verkürzen. Der CEO einer DFP gab an, dass seine Plattform die Beschaffungszeit gegenüber regulären Bestellungen um 50 % reduziert. Bislang sind DFP besonders dort attraktiv, wo Unternehmen Produkte mit einer hohen Varianz und in geringen Mengen beschaffen müssen, beispielsweise beim Prototyping und bei Kleinserien. Doch auch Großserien mit Losgrößen von mehreren Zehntausend Teilen werden zunehmend über DFP nachgefragt.

Die Kunden der DFP können CAD-Zeichnungen und weitere Spezifikationen der gewünschten Komponenten über eine Webseite hochladen. Nach Eingang und Prüfung wird der Auftrag an passende Fertigungspartner vermittelt. Das geschieht in einem Auktionsverfahren, bei dem neben dem Preis auch Faktoren wie die Lieferzeit und Qualitätskriterien eine Rolle spielen, oder zu einem Festpreis (der jedoch auch unterboten werden kann). In anderen Fällen werden Partnerbetriebe direkt zur Abgabe eines Angebots aufgefordert. DFP treten dem Teilefertiger gegenüber als Kunde und dem Auftraggeber des Produkts gegenüber als Zulieferer auf. Sie stellen sich somit zwischen Kunden und Produzenten und unterbinden meist die direkte Kontaktaufnahme zwischen beiden, sodass der Versand der Teile oftmals über die Logistik der Plattformbetreiber abgewickelt wird. Die DFP erwirtschaften ihre Einnahmen aus ihrer Funktion als Zwischenhändler, aus der Differenz zwischen dem Einkaufspreis der Komponenten und dem Verkaufspreis gegenüber den Endkunden.

Indem sie ein dezentrales Netzwerk von KMU mit Kunden verknüpfen, die maßgeschneiderte Produkte benötigen, erreichen die DFP, was das Industrie-4.0-Narrativ verspricht: die hocheffiziente Herstellung von individualisierten Produkten. Anders als in der Zukunftsvision der Industrie 4.0 bedarf es dafür jedoch keiner technologisch komplexen (und kapitalintensiven) „Smart Factories". Flexibilität wird im DFP-Szenario nicht durch digital vernetzte und sich selbst optimierende Produktionsprozesse erreicht, sondern durch Innovationsleistungen in der Distribution. Das Matchmaking der DFP bietet die Grundlage für eine neue Form dezentraler On-Demand-Produktion. Die beteiligten KMU müssen meist keine hohen technischen Anforderungen bezüglich der Digitalisierung ihrer eigenen Produktionsprozesse erfüllen. Die unbedingt erforderliche Digitalisierung beschränkt sich auf die Kundenschnittstelle und liegt aufseiten der DFP, nicht ihrer Fertigungspartner. Die Plattformen setzen dabei – ähnlich wie auch die OKF – automatisierte Angebotskalkulationen ein. Manche Plattformen verwenden zudem Matchmaking-Algorithmen, um den Aufträgen automatisiert geeignete Anbieter zuordnen zu können.

In der konkreten Ausgestaltung dieses Geschäftsmodells zeigt sich eine gewisse Varianz zwischen den einzelnen DFP. Die für diese Studie untersuchten DFP unterscheiden sich hinsichtlich des Einsatzes algorithmischer Systeme zur Angebotskalkulation und Auftragsvermittlung, der Größe und geografischen Struktur des Partnernetzwerks sowie der Entwicklungsmöglichkeiten für Partnerunternehmen. Technologische Vorreiter unter den DFP verfügen über eine hochautomatisierte Auftragsabwicklung. Für jede hochgeladene Zeichnung wird unmittelbar eine automatisierte Machbarkeitsprüfung durchgeführt und ein verbindlicher Preis berechnet. In einem eigenen Bereich auf der Plattform werden jedem Partner die individuell passenden Aufträge angezeigt. Die Fertigungspartner können diese direkt annehmen oder ein Angebot dafür abgeben. All diese Vorgänge werden auf der Plattform dokumentiert und gespeichert. Andere DFP beschränken sich auf ein digitales Interface zum Upload von Zeichnungen und 3D-Modellen, wickeln die Angebotserstellung und die Vergabe der Aufträge jedoch auf etabliertem Weg per E-Mail und Telefon ab. Eine von uns untersuchte DFP begründete dieses Vorgehen damit, dass viele Kunden Zeichnungen und Modelle noch immer lieber per E-Mail schickten, statt das digitale Interface zu nutzen, und eine weitere Automatisierung die Kunden eher überfordern bzw. den Prozess verkomplizieren würde. Unabhängig davon, welchen Stellenwert der Einsatz algorithmischer Systeme in den Geschäftsmodellen hat: Hinter allen DFP stehen Unternehmen mit Beschäftigten, die nicht nur mit der Softwareentwicklung befasst sind. Ein Großteil der Mitarbeiter*innen ist mit Kunden- und Partnerbetreuung, Beratung, Qualitätskontrolle, Onboarding und Auditing neuer Partnerunternehmen, Marketing und Logistik beschäftigt. Die Digitalisierung der Auftragsvermittlung erfordert insofern einen beträchtlichen Aufwand menschlicher Arbeit.

Einige Varianz zwischen den DFP besteht auch hinsichtlich der Größe ihrer Netzwerke und ihrer geografischen Reichweite. So lässt sich zwischen Plattformen mit kleinem (bis zu 300 Partner) und großem Produktionsnetzwerk (mehr als 1000 Partner) unterscheiden. Bezüglich der geografischen Verortung des Produktionsnetzwerks lassen sich drei Strategien beobachten: Erstens existieren Plattformen, die den Großteil ihrer Partner in den Regionen ihrer Kundenmärkte – USA und Europa – rekrutieren und komplementär dazu einige Partnerbeziehungen in anderen Weltregionen unterhalten. Diese Strategie zielt auf ein möglichst resilientes Partnernetzwerk ab, das Krisen durch die regionale Verschiebung von Aufträgen abfedern kann. Zweitens gibt es DFP, deren Partnernetzwerk sich vorwiegend außerhalb ihrer westeuropäischen Kundenmärkte in Regionen mit niedrigen Produktionskosten befindet, primär in Osteuropa und Asien, insbesondere in China. Drittens werden intraregionale Lieferbeziehungen unterhalten, um schnelle Lieferzeiten zu gewährleisten und beim Thema Klimaverträglichkeit zu punkten. Das Modell der DFP ist somit mit unterschiedlichen räumlichen Arrangements kompatibel. Alle genannten Strategien haben sich bisher bewährt, was auch damit zusammenhängt, dass das Segment der DFP insgesamt ein deutliches Wachstum verzeichnet.

Wie auch in herkömmlichen Zulieferbeziehungen wird die Geografie der Lieferketten nicht allein von Kostenkriterien und den technischen Grundlagen der Marktkoordination beeinflusst, sondern auch von Transportkosten und -aufwand, der Qualität und der Liefertermintreue. Dennoch ist es bemerkenswert, dass durch DFP ähnlich wie im E-Commerce eine direkte Vergleichbarkeit der Konditionen und Preise erleichtert wird, was einen globalen Unterbietungswettlauf in der Branche befördern kann. Der CEO einer DFP beschrieb den Prozess dieser weltweiten Standardisierung durch DFP am Beispiel der Lieferzeiten wie folgt:

„Eines der Dinge, die wir tun, ist Standards weltweit anzugleichen. Zum Beispiel beträgt die Lieferzeit in Europa normalerweise vier bis sechs Wochen, während in den USA und Asien ein bis zwei Wochen normal sind. [...] Wenn wir also mit europäischen CNC-Lieferanten sprechen, sagen wir ihnen, dass unsere Standardlieferzeit für Kunden zwei Wochen beträgt.“Footnote 3

Die Folgen dieser Standardisierung spüren die Produktionsunternehmen, die mit DFP kooperieren. Indizien dafür finden sich auch in unserer Umfrage unter einer nicht-repräsentativen Stichprobe von Fertigungspartnern von DFP. Darin gab eine Mehrheit der Befragten an, dass bei über DFP abgewickelten Aufträgen ein größerer Wettbewerbsdruck vorherrschend sei (69 % Zustimmung) und kürzere Lieferzeiten gefordert werden (64 % Zustimmung).

Eine solche Angleichung der globalen Standards könnte zu einer weiteren Globalisierung der Lieferketten beitragen, zumal die Matchmaking-Funktion der Plattformen zu einer erhöhten Markttransparenz führt. Über die Datenbanken der Plattformen wird schnell ersichtlich, welche KMU angesichts ihres Leistungsspektrums und der angebotenen Konditionen für die Aufträge infrage kommen. Dadurch könnten Produzenten in Hochlohnländern stärker als bisher von Unternehmen mit niedrigeren Produktionskosten in Asien, Osteuropa, Afrika oder Lateinamerika herausgefordert werden – die ihrerseits von dieser Entwicklung profitieren könnten. Bemerkenswert ist, dass dies nun auch für Bereiche der Kleinserienproduktion gilt, in denen in der Vergangenheit eher intraregionale Geschäftsbeziehungen vorherrschend waren.

Aus Sicht der Fertigungspartner – auch das zeigt die bereits erwähnte Umfrage – ist die Kooperation mit DFP somit ambivalent. Als Vorteil und Gewinn wird wahrgenommen, dass Teilefertiger über Plattformen zusätzliche Aufträge erhalten, ihr Geschäft ausweiten und sogar ausländische Märkte erschließen können, die bisher nur schwer zugänglich waren. Vertreter*innen der Plattformen betonten im Interview, dass es KMU erleichtert wird, mit niedrigem Aufwand an passende Aufträge zu kommen, was sich positiv auf ihre Geschäftsentwicklung auswirkt. Allerdings sind die KMU zugleich einem verstärkten Wettbewerbsdruck ausgesetzt, insbesondere auch mit Konkurrenten in Ländern mit niedrigeren Produktionskosten. In der ohnehin von einem hohen Kosten- und Konkurrenzdruck sowie von Tarifflucht gekennzeichneten Teilefertigungsbranche entstehen durch den Einfluss der DFP kaum günstigere Bedingungen für eine Aufwertung der Industriearbeit. Es ist vielmehr zu befürchten, dass sich der Kostendruck in der Branche weiter verschärft und an die Beschäftigten weitergegeben wird.

Die Zusammenarbeit mit DFP könnte für KMU und ihre Beschäftigten jedoch auch positive Effekte haben. Derzeit nutzen die meisten Unternehmen die DFP, um ihr reguläres Kundengeschäft zu ergänzen, wodurch sie ihre Kapazitäten besser auslasten können. In unserer Umfrage gaben 52 % der Unternehmen an, weniger als 10 % ihres Umsatzes über DFP zu generieren. Nur für 8 % der KMU sind die Aufträge der Plattform von existenzieller Bedeutung, sie generieren mehr als 75 % des Umsatzes über DFP. Viele Fertigungspartner schaffen es dadurch, Schwankungen im Geschäftsbetrieb abzufedern und ihre Produktionsanlagen stärker auszulasten, was in dieser volatilen Branche deutliche Vorteile bietet und ein Grund für das schnelle Wachstum der DFP sein dürfte.

Wesentliche Profiteure der Transformation werden voraussichtlich die Plattformbetreiber sein, vorausgesetzt, sie schaffen es, ein nachhaltiges Geschäftsmodell zu entwickeln.Footnote 4 Die DFP können von Netzwerkeffekten profitieren: Ein ausreichend großes Partnernetzwerk, das zahlreiche Fertigungsverfahren anbietet, macht sie attraktiv für Kunden. Zugleich muss die DFP dafür sorgen, dass die Fertigungspartner ausreichend mit Aufträgen versorgt sind. Daten über Transaktionsprozesse und über die hochgeladenen Produktentwürfe können die Plattformen aufzeichnen und zweitverwerten. Sie trainieren mit den Zeichnungsdaten ihren Preisbildungsalgorithmus und entwickeln Software, die die Herstellbarkeit von Teilen anhand der CAD-Datei der jeweiligen Bestellung überprüfen kann. Transaktionsdaten (Preis, Liefertreue, Kommunikation etc.) werden dazu genutzt, die Produktionspartner anhand einer Reihe von Kategorien zu bewerten, was sich wiederum auf die Chancen des Produktionsunternehmens auswirkt, in Zukunft Aufträge über DFP zu erhalten.

Der Aufstieg der DFP als neue Akteure in einem Kernbereich der industriellen Produktion wird mittlerweile innerhalb der Industrien, in denen die DFP aktiv sind, aufmerksam und kritisch beobachtet. Dies liegt mutmaßlich an der Ähnlichkeit ihrer Geschäftsmodelle zu jenen des E-Commerce und der Gig-Economy, wo die Oligopole des digitalen Kapitalismus Produzenten und Konsumenten weitreichend kontrollieren und stetig in neue Geschäftsfelder expandieren. Eine aktuelle Studie zu den Geschäftspraktiken von Amazon-Händlern seit Gründung der Plattform zeichnet einen auch für die Teilefertiger möglichen Entwicklungspfad nach. Auch wenn Amazon-Händler (temporär) erfolgreiche Geschäftsmodelle aufbauen können, ist ihr Erfolg eng an die Governance der Plattform gebunden. Regeländerungen können in kurzer Zeit ganze Geschäftsmodelle obsolet machen (Weigel 2023). Einer unserer Interviewpartner beschreibt die Parallele zur Gig-Economy im Interview: „Es gibt so unendlich viele [DFP, d. Verf.] und das Problem ist, […] die schieben sich zwischen meinen Kunden, der kleinen Blechbude, und deren Kunden, da schiebt sich diese Plattform dazwischen, so wie es die Uber macht.“

5 Plattformalternativen: Neutrale Vermittlung und Aufwertung der KMU?

Da die Branche negative Folgen einer Plattformisierung in der Industrie befürchtet, wird verstärkt über Plattformalternativen diskutiert. Durch sie sollen Vorteile in der digitalen Vermittlung von Produktionskapazitäten genutzt werden, ohne dass Gefahren der Marktkonzentration und neue Abhängigkeiten von proprietären Plattformen entstehen. Stattdessen wird die technologische Aufwertung der KMU ins Zentrum dieser Plattformarchitektur gerückt. Ein mittelständischer Teilefertiger und Anbieter von Produktionsplanungs- und Angebotskalkulationssoftware (AL1) und ein Forschungsprojekt im Rahmen einer Kooperation von Einrichtungen in Deutschland und Südkorea (AL2) schlagen beispielsweise andere Wege ein als reguläre DFP.

Der Gründer und CEO von AL1 kritisiert, dass die bislang existierenden DFP nur aufgrund ihrer Risikokapitalfinanzierung überleben könnten. Wirklich nachhaltige Geschäftsmodelle würden erst dann entstehen, wenn eine durchgängige Digitalisierung zwischen Angebotserstellung und Fertigung erreicht werde:

„Wir haben uns damals, entgegen dem Trend, eigentlich dazu entschieden, dass wir das als Eigenfertiger alleine aufbauen wollen, weil wir der Meinung sind, dass die Zeit noch nicht reif ist, um das effizient als Netzwerk durchführen zu können. […] [D]ie Digitalisierung endet [bei den DFP, d. Verf.] im Backoffice, also ab dem Zeitpunkt, wo der Teilebedarfs-Kunde die Bestellung abgedrückt hat oder abgeschickt hat […]. Ab dem Zeitpunkt läuft das alles analog.“

Die Entwickler*innen von AL2 wiederum kritisieren die Gefahr einer Abhängigkeit der Teilefertiger von proprietären Plattformen, sollte sich eine Marktmonopolisierung einstellen, wie sie im E-Commerce (Amazon) oder in der Vermittlung von Unterkünften (Booking.com/Airbnb) zu beobachten ist:

„Im Bereich der Digitalisierung, im Bereich der IT haben Sie immer das Problem, wenn Sie sich genau an einen Anbieter hängen, der eine proprietäre Schnittstelle anbietet, dann sind Sie verhaftet, dann kommen Sie da nicht raus, dann haben Sie den Lock-in und das will man nicht. Das ist aus Plattformbetreibersicht vielleicht ideal, weil man dann natürlich den Lieferanten gewissermaßen auch im Griff hat. Und das macht auch Xometry. Das geht ja viel weiter, als einfach nur so eine Drehscheibe zu sein für Anbieter […]. Der Lieferant ist quasi völlig ausgeliefert. Wenn es andere Plattformen gäbe, vielleicht mit der gleichen Schnittstelle, dann hätte Xometry sofort eine Konkurrenz und würde sich anders verhalten.“

AL2 ist als Prototyp im Rahmen eines Testbeds des Industrial Internet Consortium (IIC) entstanden und wird von Unternehmen wie Microsoft und SAP unterstützt. Das Ziel der Entwickler*innen ist es, auf Basis offener Standards eine Plattformarchitektur für digitale industrielle Marktplätze zu erarbeiten, die Lock-ins verhindert.

AL1 nimmt die Digitalisierung der Prozesse der Teilefertiger zum Ausgangspunkt, um ein nachhaltiges Geschäftsmodell zu entwerfen. Dafür kombiniert AL1 die Eigenfertigung mit dem Vertrieb einer Produktionsplanungs- und Kalkulationssoftware. Diese Software wurde ausgehend vom eigenen Bedarf gestaltet und wird nun auch anderen KMU in der Größenordnung bis 50 Mitarbeiter*innen angeboten. Mittels eines KI-Algorithmus werden die Charakteristika des Fertigungsbetriebs (z. B. Maschinentyp, Produktionsprozesse, verfügbare Materialien) erfasst, um die Produktionsplanung und Angebotskalkulation treffsicherer zu machen. Dem Gründer von AL1 zufolge liegt in der adaptionsfähigen Software ein wesentlicher Unterschied zu den im vorherigen Abschnitt beschriebenen DFP, die ausschließlich über eine generische Software verfügen, die Besonderheiten der Ausstattung des jeweiligen KMU nicht berücksichtigt. Damit tragen DFP immer ein beträchtliches Restrisiko, da sie dem Kunden auf Basis ihrer generischen Preiskalkulation einen Preis zusagen, für den sie dann eventuell keinen Produzenten finden.

Ein weiterer Vorteil der Software von AL1 liegt in der Beschleunigung der Arbeitsschritte in der Auftragsakquise. Die Zeit für eine Angebotskalkulation verringert sich von etwa 15 auf etwa 3 Minuten. Da die Kalkulation der Angebote ein großer Kostenfaktor für Teilefertiger ist, entsteht hierdurch eine deutliche Kosteneinsparung. Während solche Softwarelösungen auch von OKF und DFP angeboten werden, zielt AL1 auf eine weitreichendere Integration zwischen Kundenanforderungen und den Produktionsprozessen. Perspektivisch sollen Bestellungen über die Plattform automatisch in die Produktionsplanung eingesteuert werden. Dies wird aktuell in der Eigenfertigung von AL1 getestet:

„Also wir wissen, in dem Moment, wo jemand bei uns was hochlädt, wissen wir schon, wann und auf welcher Maschine, mit welchem Rohmaterial, mit welchen Spannmitteln dieses Teil letztendlich gefertigt wird, wenn es bestellt wird. Und das wissen die Plattformen nicht. Und wenn es dann bestellt wird, dann laufen im Endeffekt die ganzen Daten vollautomatisch ins ERP-System.“

Folgt man der Argumentation des CEO von AL1, so kann das Plattformmodell erst gewinnbringend funktionieren, wenn KMU ihre Prozesse durchgehend digitalisiert haben, beispielsweise mithilfe der Software von AL1: „Kunden [unserer Software, d. Verf.] werden in Zukunft potenzielle Netzwerkfertiger sein, die digital und effizient in einer Plattform auch arbeiten können.“ Solange die digitale Integration zwischen Fertiger und Plattform fehlt, bleibt die Vermittlung durch DFP hingegen auf einen hohen Anteil menschlicher Arbeit angewiesen. Nach Auffassung von AL1 seien die neuen Geschäftsmodelle deswegen unprofitabel, was gegenwärtig nur durch die Finanzierung durch Wagniskapitalfonds verdeckt werde.Footnote 5

Sollte AL1 es schaffen, eine kritische Zahl an Teilefertigern für die Nutzung der eigenen Softwarelösung und für das angedachte Plattformmodell zu gewinnen, so könnte dies durchaus ein High-Road-Szenario für Produktionsbetriebe in der aktuellen Transformation der Teilefertigung darstellen, das heißt ein Zukunftsszenario, das auch eine positive Weiterentwicklung für die KMU der Teilefertigungsbranche bedeutet. Das Angebot von AL1 richtet sich primär an regionale Lohnfertiger und wird als Instrument verstanden, diese durch technische Aufwertung zu stärken. Bei dem Modell von AL1 handelt es sich jedoch um ein proprietäres Plattformkonzept, das sich diesbezüglich nicht wesentlich von anderen DFP unterscheidet: Die „Vision“ sei, „in zwei bis drei Jahren das Amazon der Fertigung [zu, d. Verf.] werden“. Die Plattform von AL1 schiebt sich insofern genauso wie die zuvor beschriebenen DFP zwischen die KMU der Teilefertigung und ihre Kunden, was langfristig zu einem Abhängigkeitsverhältnis führen könnte.

Ob sich im Feld der Produktionsplattformen überhaupt ähnliche Lock-in-Effekte einstellen werden, wie im Feld des konsumentenseitigen Internets, ist derzeit allerdings noch nicht absehbar. Diese Erwartung, die am stärksten von AL2 formuliert wurde, speist sich aus den Erfahrungen mit der tatsächlichen Monopolstellung von Internetplattformen infolge von Netzwerkeffekten und der faktischen privaten Aneignung von Marktplätzen (Staab 2019). Aktuell ist die Struktur des DFP-Marktes jedoch weit von einer Monopolisierungsdynamik entfernt. Weltweit operieren zahlreiche DFP und Lock-in-Effekte sind derzeit kaum sichtbar. Eine Monopolisierung des DFP-Segments ist perspektivisch aber durchaus denkbar. Die Voraussetzung dafür wäre – analog zu den Entwicklungen im E-Commerce –, dass eine DFP es versteht, ihr Geschäftsmodell schnell zu skalieren, dabei Netzwerkeffekte zu nutzen und eine Überlegenheit in der Softwareentwicklung ins Feld zu führen. Allerdings bleibt fraglich, ob Netzwerkeffekte in der Teilefertigungsindustrie eine ähnliche Rolle spielen werden wie im konsumentenseitigen E-Commerce. Denn es ist aktuell nicht erwiesen, dass die DFP mit den meisten Fertigungspartnern günstigere oder passendere Angebote anbieten kann als die Konkurrenz.

6 Restrukturierung der Teilefertigung: Chance oder Bedrohung für die Beschäftigten?

Das beschäftigungsintensive Industriesegment der Teilefertigung steht vor einem deutlichen Wandel, der weniger durch produktionstechnische Veränderungen als durch die Transformation der Geschäftsmodelle an der Schnittstelle zu den Kunden angestoßen wird. Die Digitalisierung des Matchmaking, der Auftragsvermittlung und (in einigen Fällen) mancher Funktionen der Produktionsvorbereitung schaffen neue Möglichkeiten, Aufträge über Online-Portale und -Plattformen abzuwickeln. So gelingt aus Kundensicht eine flexiblere Verfügbarmachung von Produktionskapazitäten auch für die Kleinserienproduktion und Einzelteilfertigung. Bisherige Lieferantenbeziehungen können dadurch transformiert werden, dass KMU durch OKF verdrängt werden oder DFP sich zwischen sie und ihre Auftragnehmer stellen. Zwar bestehen die geschilderten neuen Geschäftsmodelle der OKF und DFP bislang nur an den Rändern der Branche – und im Falle der Plattformalternativen eher als Konzepte, denn als Praxis –, es ist jedoch wahrscheinlich, dass sie in Zukunft weiter expandieren, da sie an realen Problemen der Branche ansetzen: der mangelnden Kapazitätsauslastung der KMU und deren beschränkter Kapazitäten zur Markterschließung und Kundeninteraktion. Die Digitalisierung der Distributionskanäle, die für alle Modelle kennzeichnend ist, macht Unternehmen verfügbarer und sichtbarer für Kunden, senkt Transaktionskosten und vergrößert dadurch die Spielräume für die beteiligten Akteure.

Das kapitalintensive Modell der OKF zielt auf die hohe Auslastung eines im Vergleich zu herkömmlichen KMU technisch avancierten Maschinenparks. Es steht für Konzentrationsprozesse in der Branche, aber auch für Aufwertungspotenziale, die sich durchaus in Spielräumen für bessere Konditionen für die Beschäftigten widerspiegeln können. Im untersuchten Fallbeispiel ist das Geschäftsmodell dezidiert regional ausgerichtet. Das Unternehmen muss sich daher kaum der Weltmarktkonkurrenz stellen und kann profitabel wirtschaften. Das Spektrum der angebotenen Leistungen ist jedoch kleiner als bei den DFP, die als wesentlicher Herausforderer der OKF angesehen werden können.

Die Strategien der DFP wiederum sind heterogen ausgerichtet. Sie eint jedoch das Ziel, Kapazitäten der Fertigungspartner für industrielle Kunden mithilfe einer Online-Plattform und Softwarelösungen zur Vereinfachung der Transaktionen verfügbar zu machen. Erträge durch verringerte Transaktionskosten werden dabei anteilig von den DFP eingestrichen. Die beteiligten KMU können dennoch Vorteile erzielen, wenn sie Aufträge von den DFP nutzen, um ihre Kapazitäten besser auszulasten und neue Kunden zu erschließen. Sie stehen jedoch auch unter einem schärferen Konkurrenzdruck in einem transparenteren Markt, der stärkere Disziplin bezüglich der Preisgestaltung und der Lieferzeiten abverlangt. Einige DFP fungieren hierbei sogar als Transmissionsriemen des globalen Kostenwettlaufs, indem sie Fertigungspartner aus allen Weltregionen in Konkurrenz zueinander setzen.

Auch wenn sich daraus gravierende Probleme für bestehende KMU und ihre Beschäftigten ergeben können, wäre es verfehlt, DFP grundsätzlich als Bedrohung zu interpretieren. Zum einen würde dies auf eine Idealisierung der bestehenden Teilefertigungsbranche mit ihrem Innovationsrückstand und verbreiteten Praktiken der Tarifflucht hinauslaufen. Zum anderen liegt bei den DFP der Teufel im Detail: Die Effekte auf KMU hängen davon ab, wie die Governance zwischen Kunden und Fertigungspartnern ausgestaltet wird, ob Gewinne aus Transaktionskosten auch an die beteiligten Partner weitergegeben werden, in welchem Ausmaß die KMU Vorteile in Marktzugängen und Angebotserstellung nutzen können und wie stark sie in eine ruinöse Preiskonkurrenz getrieben werden. In der kritischen Diskussion über digitale Plattformen im B2C-Bereich und in den sozialen Medien wurden Forderungen entwickelt, die Machtasymmetrien zwischen Plattformen und ihren Nutzern thematisieren. Die Debatten über Informationsasymmetrien, Lock-in-Effekte und Datengovernance sind ebenso relevant für die Gestaltung der Transformation der Teilefertigungsindustrie. Sie finden den stärksten Widerhall in den beschriebenen Ansätzen der Plattformalternativen. Im Gegensatz zu den OKF und DFP existieren diese bislang jedoch nur als Vision, die droht, von den realen Entwicklungen der Branche abgehängt zu werden. Wie im Bereich des konsumentenseitigen Internets sollte die Gestaltung von Industrieplattformen eine Frage der Regelsetzung durch Industrieverbände und staatliche Regulierungsinstanzen sein.